Die konservativ-funktionelle Therapie der proximalen Humerusfraktur nach Poelchen war in Sachsen bis Anfang der 1990er Jahre die am weitesten verbreitete Behandlungsform. Durch die demografische Entwicklung der deutschen Bevölkerung und die daraus folgende Zunahme der proximalen Humerusfrakturen im hohen Lebensalter, das hohe Operationsrisiko beim sehr alten Patienten und die ökonomischen Zwänge im Gesundheitswesen wird die Frage nach der Indikation zur konservativen Therapie der proximalen Humerusfraktur wieder aktuell.

Geschichte der so genannten „Poelchen-Behandlung“

Der Chirurg Richard Poelchen arbeitete 1878 in der chirurgischen Nebenabteilung der Berliner Charitè, die von einem Oberstabsarzt Starcke geleitet wurde. Dort sah er die ausschließlich funktionelle Frakturbehandlung ohne „jeden feststellenden“ Verband, die Starcke im deutsch-französischen Krieg 1871/1872 in den Lazaretten von Metz, die der Kieler Chirurg von Esmarch leitete, gelernt hatte. Durch den Massenanfall von Verletzten konnte bei Frakturen häufig kein Gips angelegt werden, sondern die verletzte Extremität wurde nur durch Lagerung oder überhaupt nicht behandelt. Von Esmarch stellte zu seiner Überraschung fest, dass die nach damaligen Maßstäben nur ungenügend retinierten Frakturen häufig bessere funktionelle Ergebnisse aufwiesen als die mit einer korrekten Gipsbehandlung. Von Esmarch hatte aber selbst nie etwas über diese Beobachtungen veröffentlicht.

Richard Poelchen wurde nach seiner Ausbildung Oberarzt und später Chefarzt des Krankenhauses in Zeitz, einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, die damals zu Preußen gehörte und bis 1815 sächsisch war. Er widmete sich bei seiner chirurgischen Arbeit v. a. der Versorgung Unfallverletzter und musste feststellen, dass die damals vorherrschende Unfallheilkunde nach den Richtlinien von Lorenz Böhler mit der Perfektionierung der Gipsbehandlung und der damit verbundenen Immobilisation erhebliche Nachteile besonders bei der funktionellen Wiederherstellung aufwies. Er erkannte, dass eine frühfunktionelle Behandlung in vielen Fällen Vorteile gegenüber der immobilisierenden Therapie aufwies. Besonders die Reintegration in den Beruf war damals bei der kaum vorhandenen sozialen Absicherung entscheidend für das weitere Schicksal des Verletzten und nicht zuletzt auch seiner Familie. So richtete Poelchen in seiner Praxis einen Raum ein, in dem die Arbeitsfähigkeit von Patienten mit Armverletzungen durch frühestmöglichen, therapeutischen Gebrauch von Werkzeugen wiederhergestellt wurde. Er ist damit einer der Väter der Ergotherapie. Mit der Behandlung von Knochenbrüchen durch frühfunktionelle Behandlung unter Verzicht auf eine Immobilisation und möglichst anatomische Reposition stand er im Widerspruch zur Böhler-Schule, bei der die korrekte Reposition und Retention der Fraktur bis zur knöchernen Konsolidierung im Mittelpunkt standen. Erst durch die moderne Unfallchirurgie der 1970er Jahre mit der übungsstabilen Osteosynthese konnte dieser Widerspruch aufgelöst werden.

Poelchen war zu seiner Zeit ein Außenseiter, der sich erst am Ende seines Berufslebens entschlossen hatte, seine Erfahrungen niederzuschreiben. Im Jahr 1940 veröffentlichte er sein Buch mit dem Virchow-Zitat als Motto „Bewegung ist Leben, Ruhe ist der Tod“ (Abb. 1) [22]. Darin grenzte er sich auch zur Frakturbehandlung mit passiver Bewegungstherapie und Massage von Lukas-Championnière ab [22]. Er wurde von den zu dieser Zeit „meinungsbildenden“ Chirurgen ignoriert oder belächelt. Die Ironie der Geschichte ist, dass im gleichen Jahr noch ein anderer Wegbereiter der modernen Unfallchirurgie mit seiner bahnbrechenden Idee der intramedullären Frakturschienung von der Elite der deutschen Chirurgie abgelehnt wurde, der Sachse Gerhard Küntscher. Er stand allerdings am Anfang seiner chirurgischen Laufbahn und hatte noch das Glück, den Durchbruch seiner genialen Methode zu erleben.

Abb. 1
figure 1

Im Jahr 1940 von Richard Poelchen unter dem Motto Virchows „Bewegung ist Leben, Ruhe ist Tod.“ im Hippokrates-Verlag veröffentlichtes Buch

Eine weitere Brücke kann man in die heutige Zeit und zu einer aktuellen Aufgabe der Unfallchirurgie schlagen, dem Zusammenwachsen der Unfallchirurgie mit der Orthopädie. Das Buch von Poelchen wäre dem Vergessen anheim gefallen, wenn nicht der Berliner Ordinarius für Orthopädie, Hermann Gocht, die Bedeutung der frühfunktionellen Behandlung nach Poelchen bei Verletzungen der oberen Extremität erkannt, unterstützt und in der eigenen Klinik praktiziert hätte. Gocht schrieb das Geleitwort für Poelchens Buch und verlieh diesem damit die notwendige Legitimation, sodass sich die Methode im klinischen Alltag etablieren konnte. Nach seiner Meinung zeichnete sich die frühfunktionelle Behandlung nach Poelchen durch 5 Merkmale aus:

“1. in der Stärkung des Willens und der Zuversicht des Verletzten von vornherein,

2. in ihrer möglichst schmerzlosen und seelisch nicht belastenden Einleitung und Durchführung,

3. in ihrer Einfachheit,

4. in der Kürze der Behandlungszeit,

5. in ihren guten, endgültigen Ergebnissen bezüglich der wiedererreichten Funktion und damit der Leistungsfähigkeit. „ [22]

Dass Richard Poelchen nicht dogmatisch bei der Umsetzung seiner frühfunktionellen Behandlung unter weitgehendem Verzicht auf die Reposition war, kommt in folgender Passage der Einleitung Gochts zum Ausdruck:

“... Poelchen [ist] dieser Einseitigkeit nie verfallen, er nimmt bei besonders ungünstigen Knochenverschiebungen die einmalige, genaue Brucheinstellung vor, er wird in Notfällen dem operativen Vorgehen gerecht, verwirft auch die Gipsschiene nicht ein für allemal.“ [22].

„Poelchen-Behandlung“ der proximalen Humerusfraktur

Die klassische Poelchen-Behandlung der proximalen Humerusfraktur ist die möglichst frühe, aktive Bewegung des Arms („Selbstinnervation“ nach Poelchen) in Form von Pendelübungen, wobei ein Gewicht von etwa 15 N (1,5 kp) mit einer Schlinge am Handgelenk befestigt wird. Durch den Zug des Gewichts kommt es zu einer Schmerzreduktion und zur Straffung der Weichteile der Schulter, wodurch eine Schienung der Fraktur erreicht wird, wie es auch Sarmiento für die Oberarm- und Unterschenkelschaftfraktur mit Hilfe eines Brace beschrieben hat. Die früher regelmäßig angelegte Gipslonguette mit Schultereinschluss, die auch zur Extension eingesetzt wurde und eine vorzeitige Abduktion des Arms verhindern sollte, bezeichnete man fälschlicherweise als Poelchen-Gips. Poelchen hatte nie eine derartige Gipsschiene empfohlen, und sie wurde wahrscheinlich als Zugeständnis an die weit verbreitete Extensionsbehandlung Teil der Therapie.

Material und Methode

Im Rahmen einer Promotion [28] wurden 313 Patienten mit einer proximalen Humerusfraktur erfasst, die von 1974–1995 am Universitätsklinikum „Carl Gustav Carus“ in Dresden (bis September 1993 Medizinische Akademie Dresden) behandelt wurden (Abb. 2). Ausschlusskriterien waren:

  • ein Alter zum Unfallzeitpunkt von weniger als 16 Jahren,

  • Patienten mit pathologischen Frakturen,

  • ein Alter zum Zeitpunkt der Einbestellung von mehr als 90 Jahren sowie

  • ein weiter Anreiseweg zur Nachuntersuchung.

Es konnten 197 Patienten in die Studie eingeschlossen werden. Diese wurden angeschrieben, um die Beantwortung eines Fragebogens gebeten und zur Nachuntersuchung einbestellt. Die Fragen wurden von 123 Patienten (62,4%) (66 nach konservativer und 57 nach operativer Therapie) beantwortet. Von den 66 Patienten mit konservativer Therapie waren 46 (70%) weiblich und 22 (30%) männlich. Das Durchschnittsalter zum Unfallzeitpunkt betrug 57,9 Jahre (16–78 Jahre).

Von den 74 Patienten, die nicht in diese Studie einbezogen werden konnten, waren 31 unbekannt verzogen, 3 Pflegefälle, 16 bereits verstorben und 24 nicht zur Teilnahme an der Studie bereit.

Abb. 2
figure 2

Behandlungsmethoden der proximalen Humerusfraktur im Zeitraum 1974–8/1993 (n=200) und 9/1993–1995 (n=113)

Zur Nachuntersuchung erschienen 90 Patienten (45,7%), davon 51 nach konservativer Therapie. Der mittlere Nachuntersuchungszeitraum betrug 52,8 Monate (6–261 Monate).

Fragebogen

In ihm wurden erfasst:

  • Patientenzufriedenheit,

  • Aktivitätseinschränkungen durch die Fraktur und

  • die subjektiven Parameter des Constant- sowie des Neer-Scores.

Klinisch-radiologische Nachuntersuchung

Der Constant- und der Neer-Score wurden bestimmt. Außerdem wurden der Nackengriff, der Schürzengriff und der Kratztest nach Apley geprüft.

Die Unfallaufnahmen wurden hinsichtlich Qualität und Vollständigkeit beurteilt und der Frakturtyp nach Neer [20] bestimmt.

Bei der Nachuntersuchung wurden die betreffende Schulter in der a.-p. und axialen Ebene geröntgt und das Behandlungsergebnis nach den Kriterien des Neer-Scores beurteilt [20].

Statistik

Der Einfluss von Variablen auf das Ergebnis wurde mit dem χ2-Test geprüft. Es wurden das Konfidenzintervall mit α=0,05 festgelegt, die Standardabweichung SD sowie die Irrtumswahrscheinlichkeit p bestimmt und das Signifikanzniveau mit 0,05 determiniert.

Ergebnisse

Behandlungsmethoden

Im Zeitraum 1974–8/1993 wurden 93% der stationären Patienten konservativ behandelt, wobei mit 62% die so genannte „Poelchen-Behandlung“ die bevorzugt verwendete Methode war (Abb. 2). Im Zeitraum 9/1993–1995 ging der Anteil der konservativ behandelten Patienten auf 23% zurück, wobei nur noch bei 4% der Patienten explizit der Begriff der „Poelchen-Behandlung“ gewählt wurde. Der überwiegende Teil der Patienten mit konservativer Behandlung wurde durch eine Ruhigstellung im Gilchrist-Verband behandelt.

Auswertung des Fragebogens

Schmerzen

Nach den Kriterien des Constant-Scores gaben 42 (64%) der konservativ behandelten Patienten keine oder nur leichte Schmerzen an. 18 Patienten (27%) klagten über mäßige und 6 (9%) über beträchtliche Schmerzen.

Beeinträchtigung der Lebensgewohnheiten oder des Berufs

Bei der Frage nach den Auswirkungen der Beschwerden auf die Lebensgewohnheiten gaben 49 Patienten (74%) keine Beeinträchtigung an. Nur 16 Patienten (24%) berichteten über Beschwerden mit Beeinträchtigung der Lebensgewohnheiten oder des Berufs. In 1 Fall (2%) führte der Unfall zur Aufgabe des Berufs.

Zufriedenheit

49 Patienten (74%) waren sehr zufrieden oder zufrieden mit dem Behandlungsergebnis. Nur bedingt zufrieden waren 13 (20%) und nicht zufrieden 4 Patienten (6%).

Röntgenologische Klassifikation der Fraktur nach Neer

In 36 Fällen (71%) handelte es sich um die prognostisch günstigeren Typen I, III/2, IV/2, IV/3. Mit jeweils 1 Fall waren die Typen II, VI/3 und VI//4 vertreten.

Bei 12 (24%) der konservativ behandelten Patienten war aufgrund schlechter Aufnahmequalität, Röntgenbild in nur einer Ebene oder fehlender Aufnahmen eine Klassifizierung nicht möglich.

Klinisches Ergebnis

Bewegungsumfang

Die Bewegungseinschränkung bei Elevation und Abduktion betrug im Mittel 33° (0–110°, SD=34,9). In 22 Fällen (43%) zeigten sich Verminderungen der Elevation/Abduktion bis 10°, in 10 Fällen (20%) 11–30°, bei 6 (12%) 31–60° und bei 13 (25%) mehr als 60°.

Funktionsfähigkeit

Im Neer-Score erreichten die konservativ behandelten Patienten bei der mit maximal 30 Punkten bewerteten Funktionsfähigkeit im Mittel 24,7 Punkte (8–30 Punkte, SD=5,9), wobei in diese Bewertung Kraft, Gebrauchspositionen des Arms und Stabilität eingingen [20, 30].

Subjektiver Teil des Constant-Scores

Es wurden im Mittel 26 (6–35 Punkte, SD=8) von maximal 35 Punkten erreicht, wobei Schmerzen und Alltagsaktivitäten berücksichtigt wurden [30].

Bewegungsausmaß und Kraft im Constant-Score

Es konnten im Mittel 42,7 (8–65 Punkte, SD=16,3) von maximal 65 Punkten erreicht werden, wobei das Bewegungsausmaß mit 40 Punkten und die Kraft mit 25 Punkten in die Beurteilung eingingen [30].

Röntgenologisches Ergebnis

Die Auswertung der Röntgenbilder zeigte entsprechend den Kriterien des Neer-Scores bei 12% keine, bei 39% geringe, bei 29% mäßige und bei 20% beträchtliche Veränderungen.

Bei der statistischen Überprüfung des Zusammenhangs zwischen der Schwere der Veränderungen im Röntgenbild und dem Ergebnis konnte sowohl für den Neer- (p<0,05) als auch für den Constant-Score (p<0,05) ein statistisch signifikanter Zusammenhang gesichert werden.

Gesamtergebnis

Neer-Score

Bei der Beurteilung des Behandlungsergebnisses wurden im Mittel 73,7 Punkte (16–100 Punkte, SD=23) erreicht. Ein ausgezeichnetes Ergebnis erreichten 15 (29%), ein befriedigendes 13 (25%) und ein unbefriedigendes 6 Patienten (12%). Bei 17 Patienten (34%) musste ein Misserfolg konstatiert werden (Abb. 3).

Constant-Score

Der Punkteverlust der verletzten gegenüber der gesunden Schulter betrug 23 Punkte (0–82 Punkte, SD=22).

Abb. 3
figure 3

Ergebnisse der konservativ behandelten Patienten nach dem Neer-Score (n=51)

Diskussion

Richard Poelchen ist als Vater der frühfunktionellen Nachbehandlung von Frakturen und der Ergotherapie heute in Vergessenheit geraten [22]. Diese Arbeit soll zunächst diesen Chirurgen wieder in Erinnerung rufen und helfen, ihm den Platz in der chirurgischen Tradition zu geben, den er verdient. Gerade seine Tätigkeit als Durchgangsarzt für die gesetzliche Unfallversicherung in einer Zeit, in der eine soziale Absicherung bei Arbeitsunfähigkeit so gut wie nicht vorhanden war, führte ihn zu dem zukunftsweisenden Therapieansatz der Ergotherapie. Er machte die Erfahrung, dass die Gebrauchsfähigkeit der oberen Extremität am besten durch das spielerische Verrichten von gewohnten handwerklichen und berufsorientierten Arbeiten zu erreichen ist. Aus heutiger Sicht erscheint dieses Prinzip gerade als generelle Vorgehensweise auch bei instabilen Frakturen und unter Verzicht auf die Reposition undifferenziert und nicht mehr zeitgemäß. Es bildete aber den Gegenpol zu der damals herrschenden Böhler-Schule, die eine Frakturbehandlung durch Reposition und Retention durch Immobilisation in der Regel im Gipsverband propagierte. Die Intention von Poelchen, eine frühestmögliche, aktive Übungsbehandlung nach einer Fraktur zur Vermeidung von Immobilisationsschäden wie Muskelatrophie und Gelenkkontrakturen zu erreichen, ist erst durch die moderne, übungsstabile Osteosynthese möglich geworden.

Gerade für die Therapie der proximalen Humerusfraktur wurde nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland die konservativ-funktionelle Therapie nach Poelchen ein etabliertes und breit eingesetztes Behandlungsverfahren. In den wegweisenden Arbeiten von Neer [20] wurde die konservative Therapie für die gering dislozierten Frakturen (1-Teil-Fraktur) als „Goldstandard“ definiert und durch mehrere Studien bestätigt [1, 12, 15, 33]. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass als Neer-Kriterium für eine geringe Dislokation eine Angulation bis 45° und eine Dislokation bis 1 cm definiert sind (Abb. 4). Für die Dislokation des Tuberculum majus ist die tolerable Dislokation nach kranial später auf weniger als 5 mm korrigiert worden [10].

Obwohl sich das Konzept der Fragmentdefinition („part“) durch den Grad der Dislokation klinisch bewährt hat, ergeben sich hieraus auch die offensichtlichen Probleme bei der Reproduzierbarkeit der Neer-Klassifikation. Frakturlinien, die röntgenologisch auf eine Separation aller 4 Segmente nach Codman schließen lassen, begründen bei geringer Dislokation eben nicht die Einteilung als 4-Teile-Fraktur nach Neer. Die Klassifikation von Habermeyer [5, 6] hat sich trotz logischer Verbindung der Frakturmorphologie mit der zu erwartenden Prognose und besserer Reproduzierbarkeit leider nicht durchsetzen können. Nach Habermeyer [5, 6] sind es die nicht dislozierten Typ-0-Frakturen, die gut konservativ behandelt werden können.

Abb. 4
figure 4

a III/2-Fraktur nach Neer (instabil), b Reposition unter Bildwandlerkontrolle, c Röntgenkontrolle nach 3 Wochen frühfunktioneller Behandlung mit Zeichen der Instabilität und ausbleibender knöcherner Konsolidierung, deswegen Ruhigstellung im Gilchrist-Verband für 3 Wochen, danach geführte Bewegungen, d Röntgenkontrolle nach 8 Wochen mit Ausbildung einer lateralen Kallusbrücke (Pfeil), e funktionelles Ergebnis

Unsere Arbeit zeigt, dass bei einer undifferenzierten Indikationsstellung zur konservativen Therapie in etwa 1/3 der Fälle mit einem schlechten Behandlungsergebnis zu rechnen ist. Schlechte Ergebnisse hatten v. a. Patienten mit:

  • Spaltbruch des Humeruskopfs,

  • Luxationsfraktur und

  • 4-Teile-Fraktur.

Bereits in einer vor fast 30 Jahren veröffentlichten Arbeit von Weise et al. [32] wurde dies klar herausgearbeitet und hat nach wie vor Gültigkeit. Zu diesem Ergebnis kam auch Leyshon [17] in einer Studie an 42 Patienten mit konservativer Therapie, bei der alle 8 Fälle einer 4-Teile-Fraktur ein schlechtes Behandlungsergebnis aufwiesen. Keene et al. [12] konnten Analoges bestätigen. Inwieweit aber die Osteosynthese der 4-Teile-Fraktur signifikant bessere Ergebnisse bringt, ist bis heute noch nicht sicher geklärt. Die klassische Plattenosteosynthese mit der T-Platte erbringt nach eigenen Ergebnissen bei der 3- und 4-Teile-Fraktur keine besseren Resultate als die konservative Therapie [28]. Dagegen wurde über gute Ergebnisse der minimalinvasiven Osteosynthese nach Resch von verschiedenen Arbeitsgruppen berichtet [9, 24, 29]. In einer randomisierten Studie von Zyto et al. [35] zum Vergleich der operativen und konservativen Therapie der 3- und 4-Teile-Fraktur konnten nach Zuggurtungsosteosynthese keine besseren Ergebnisse als nach konservativer Therapie festgestellt werden. Auch Fjalestad et al. [3] kamen zu diesem Ergebnis. Die retrospektiven Untersuchungen von Ichmann et al. [11], Rasmussen et al. [23] sowie Zyto [34] zeigten befriedigende Ergebnisse bei konservativer Therapie dislozierter Frakturen des proximalen Humerus.

Durch die Einführung der winkelstabilen Plattenosteosynthese und der Nagelsysteme mit anatomiegerechter und stabiler Fixation der Verriegelungsschrauben im Humeruskopf hat eine neue Epoche der Frakturversorgung am proximalen Humerus begonnen. Mehrere Arbeitsgruppen konnten überzeugende Ergebnisse gerade auch bei der Versorgung der 3- und 4-Teile-Frakturen zeigen [7, 8, 13, 14]. Die Humeruskopfprothese ist beim Kalottenspaltbruch und auch bei der 4-Teile-Fraktur eine Alternative und für verschiedene Autoren die Therapie der Wahl [4, 25, 26, 27]. Nicht selten kann erst intraoperativ die Entscheidung getroffen werden, ob die Fraktur mit einem winkelstabilen Implantat stabil versorgt werden kann oder ob ein primärer Humeruskopfersatz notwendig ist.

Eine besondere Situation besteht beim sehr alten Menschen, ab einem Lebensalter ab 80 Jahren [2, 17, 18, 19]. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird dieser Bevölkerungsanteil in den nächsten Jahren stark zunehmen. Durch die regelmäßig anzutreffende, hochgradige Osteoporose ist auch die winkelstabile Plattenosteosynthese durch eine beachtliche Zahl an Komplikationen wie Schraubenperforation am Humeruskopf und Plattenausriss belastet [31]. Ein weiteres Problem sind häufige und schwere Begleitkrankheiten, die ein hohes Operationsrisiko bedingen, besonders auch für evtl. notwendige Revisionsoperationen [10, 31].

In der vorliegenden Studie zur konservativ-funktionellen Therapie nach Poelchen waren 3/4 der Patienten mit dem Behandlungsergebnis zufrieden oder sehr zufrieden, 2/3 der Patienten hatten keine Schmerzen, und 3/4 waren in ihrem täglichen Leben durch die Folgen der Fraktur nicht beeinträchtigt. Es zeigte sich, dass ältere Patienten häufig mit dem Behandlungsergebnis zufrieden waren und über keine relevante Behinderung durch die Folgen der proximalen Humerusfraktur klagten, obwohl objektiv eine deutliche Einschränkung der Schulterfunktion festzustellen war. Tingart et al. [30] konnten ebenfalls zeigen, dass besonders bei alten Patienten eine Diskrepanz zwischen dem durch Constant- und Neer-Score gemessenen Behandlungsergebnis und der Patientenzufriedenheit besteht.

Schlussfolgerung

Wenn die Indikation zur konservativ-funktionellen Therapie gestellt wird, sollte grundsätzlich durch eine dynamische Bildwandleruntersuchung die Stabilität der Fraktur beurteilt werden. Bewegt sich der Humeruskopf synchron zur passiven Bewegung des Arms mit, kann nach einer kurzen Ruhigstellung im Gilchrist-Verband von etwa 1 Woche mit Pendelübungen begonnen werden. Zeigt sich eine instabile Fraktur und soll diese aufgrund von Kontraindikationen zur Operation konservativ behandelt werden, ist eine Ruhigstellung im Gilchrist-Verband von etwa 3 Wochen notwendig (Abb. 4) [16]. Erst dann kann mit Pendelübungen begonnen werden. Die Röntgenkontrolle a.-p. und transskapulär sollte nach 1 Woche im Stehen mit angelegtem Gilchrist-Verband wiederholt werden, da die Fraktur in dieser Position verheilen wird [5]. Eine regelrechte konservative Therapie erfordert eine regelmäßige klinische und röntgenologische Kontrolle durch einen Unfallchirurgen, der mit dem regulären Heilungsverlauf einer proximalen Humerusfraktur vertraut ist.

Abb. 5
figure 5

Luxationsfraktur, konservative Therapie, a Röntgen zum Unfallzeitpunkt, b Röntgen nach 10 Jahren, c,d Schulterfunktion nach 10 Jahren

Offensichtlich ist im angloamerikanischen Raum und in Skandinavien die konservative Therapie der proximalen Humerusfraktur weiter verbreitet. Ob die aktuellen Verhältnisse im deutschen Gesundheitssystem eine regelrechte Durchführung dieser aufwändigen, ambulanten Therapie überhaupt zulassen, muss bezweifelt werden. Wir sehen deshalb gerade beim alten Menschen mit einem biologischen Alter von über 80 Jahren eine Indikation zur konservativ-funktionellen Therapie der proximalen Humerusfraktur nach Poelchen neben der 1-Teil-Fraktur nach Neer nur bei hohem Operationsrisiko und bei Vorliegen einer 2- und 3-Teile-Fraktur. Bei der 4-Teile-Fraktur, der Luxationsfraktur sowie beim Kopfspaltbruch ist bei konservativer Therapie nicht mit einem befriedigenden Ergebnis zu rechnen, weshalb diese nur beim Vorliegen von Kontraindikationen zur Operation konservativ behandelt werden sollten (Abb. 5).