Klinische Relevanz von Tumordispositionssyndromen

Als erbliche Tumorsyndrome werden Krankheitsbilder mit einem deutlich erhöhten Lebenszeitrisiko für die Entstehung bestimmter, z. T. frühmanifester Tumoren bezeichnet. Die Disposition beruht meist auf einer hochpenetranten Keimbahnmutation in einem einzelnen Gen.

Vererbt wird die genetische Disposition für ein erhöhtes Tumorrisiko

Es handelt sich somit um klassische erblich bzw. genetisch bedingte Krankheitsbilder, die den Mendel-Gesetzen der Vererbung (dominant, rezessiv) folgen. Vererbt wird dabei nicht der Tumor selbst, sondern die genetische Disposition für ein erhöhtes Tumorrisiko; präziser spricht man deshalb von Tumordispositionssyndromen (TDS). In Abb. 1 ist ein autosomal-dominanter Erbgang am Beispiel des Li-Fraumeni-Syndroms dargestellt. Für Kinder einer betroffenen Person bzw. eines Anlageträgers besteht eine 50%ige Wahrscheinlichkeit, das mutierte Allel oder das Wildtyp-Allel zu erben.

Abb. 1
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Autosomal-dominanter Erbgang am Beispiel des Li-Fraumeni-Syndroms mit Nachweis der heterozygoten Keimbahnmutation c.818G>A; p.(Arg273His) im TP53-Gen. Erläuterung s. Fallbeispiel. CA Karzinom

Bei bis zu 30 % der Patienten mit malignen Erkrankungen beobachtet man eine familiäre Häufung von Tumoren, die an eine erbliche Form denken lässt. Das Vorliegen eines TDS ist deshalb eine häufige Verdachtsdiagnose bei der Erhebung der Eigen- und Familiengeschichte. Etwa 5 % aller (soliden) Krebserkrankungen beruhen auf einer monogen erblichen Veranlagung; je nach Tumortyp und Erkrankungsalter kann der Anteil aber deutlich höher liegen [14]. Damit treten in Deutschland jährlich mindestens 20.000 Malignome im Rahmen eines TDS auf.

Die Erkennung und korrekte Einordnung monogen erblicher Tumorformen ist von hoher klinischer Relevanz, da Patienten, Risikopersonen und asymptomatische Anlageträger eine im Vergleich zu Patienten mit sporadischen Krebserkrankungen spezielle, intensivere und langfristigere medizinische Betreuung benötigen. Einerseits besteht ein hohes Lebenszeitrisiko für Tumoren eines bestimmten und z. T. breiten Spektrums sowie ein hohes Wiederholungsrisiko bei verwandten Familienangehörigen; andererseits ist durch intensivierte Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen sowie chirurgische Maßnahmen häufig eine effiziente Krebsprävention möglich. Zum Teil bestehen auch spezifische medikamentöse Therapieansätze.

Hereditäre Tumorformen stehen deshalb paradigmatisch für ein äußerst erfolgreiches Konzept der präventiven Onkologie und individualisierten Medizin. Sie begegnen dem Arzt in jeder Altersgruppe und zeigen eine mitunter ausgeprägte klinische Variabilität, auch innerhalb einer Familie. Für die professionelle Betreuung der Patienten und ihrer Angehörigen ist in besonderem Maße eine multidisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Humangenetik, Pathologie und verschiedenen klinischen Disziplinen notwendig. Spezialisierte interdisziplinäre Zentren sollten deshalb in Diagnostik und Koordination der Behandlung und Früherkennung eingebunden sein.

Klinische Hinweise, Differenzialdiagnostik

Für die Identifizierung häufigerer bzw. charakteristischer TDS wurden spezifische diagnostische Kriterien entwickelt, die beispielsweise bei der Website GeneReviews nachzulesen sind (Infobox 1). Allgemeine klinische Hinweise für ein TDS sind in Infobox 2 aufgeführt [1, 10].

Bei Verdacht auf Vorliegen eines TDS ist es sinnvoll, den Patienten und seine Familienangehörigen in einer humangenetischen Sprechstunde vorzustellen [7] (Infobox 1), wo mittels Stammbaumanalyse und Beurteilung klinischer Informationen eine differenzialdiagnostische Einschätzung erfolgt (Abb. 2). Je nach Verdachtsdiagnose können dann ggf. die genetische Diagnostik eingeleitet und zusammen mit anderen klinischen Fachbereichen individuell angemessene („risikoadaptierte“) Empfehlungen für Vorsorge- bzw. Früherkennungsuntersuchungen gegeben werden sowie weitere Risikopersonen in der Familie benannt werden.

Abb. 2
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Diagnostischer Algorithmus zur Abklärung eines erblichen Tumorsyndroms

Die seit Langem bekannte unzureichende Identifizierung und medizinische Betreuung der von TDS betroffenen Familien liegt insbesondere an der mangelnden Sensitivität etablierter klinischer Kriterien, komplexer diagnostischer Pfade, der unzureichenden Erhebung aussagekräftiger Familienanamnesen im klinischen Alltag, der eingeschränkten Qualität familienanamnestischer Angaben und kleiner Familien sowie der vergleichsweise noch geringen ärztlichen Aufmerksamkeit der Problematik gegenüber.

Seltene Tumoren versus seltene TDS

Als selten wird in diesem Beitrag eine Tumorerkrankung mit einer jährlichen Inzidenz von weniger als 6 von 100.000 Personen (entsprechend weniger als 5000 Betroffene in Deutschland) bezeichnet (Daten des Robert Koch-Instituts).

Bei vielen seltenen TDS wird das Tumorspektrum wesentlich von häufig vorkommenden Karzinomen bestimmt; so z. B. vom Mammakarzinom beim Li-Fraumeni-Syndrom (LFS) oder PTEN-Hamartom-Tumor-Syndrom (PHTS). Andererseits können sehr seltene Tumoren auf häufigere TDS hinweisen: Talgdrüsenneoplasien oder das Dünndarmkarzinom finden sich beispielsweise beim erblichen Darmkrebs („hereditary nonpolyposis colorectal cancer“, HNPCC/Lynch-Syndrom); das Rhabdomyosarkom gehört zum Tumorspektrum der Neurofibromatose Typ 1.

Seltene spezifische Tumoren treten relativ häufig im Rahmen eines TDS auf

Insbesondere seltene spezifische Tumoren treten relativ häufig im Rahmen eines TDS auf. Sie stellen deshalb diagnostisch wichtige Leittumoren zur Identifizierung einer hereditären Ätiologie dar und sollten an das mögliche Vorliegen eines TDS denken lassen [1, 10]. So finden sich dem LFS zugrunde liegende TP53-Keimbahnmutationen bei etwa 50 % von Kindern mit einem Nebennierenrindenkarzinom oder Plexus-chorioideus-Karzinom und bei bis zu 70 % von Kindern mit Rhabdomyosarkomen vom embryonal-anaplastischen Subtyp [6]. Bei etwa 30 % der Patienten mit einem medullären Schilddrüsenkarzinom lässt sich eine RET-Keimbahnmutation nachweisen und damit die Diagnose einer multiplen endokrinen Neoplasie Typ 2 (MEN2) stellen.

Das Auftreten eines seltenen Tumors rechtfertigt deshalb oft bereits die genetische Abklärung mittels Keimbahndiagnostik, auch ohne auffällige Familienanamnese. Eine Auswahl klinisch relevanter, seltener, überwiegend maligner Tumoren mit den wichtigsten, differenzialdiagnostisch zu berücksichtigenden TDS findet sich in Tab. 1, eine Beschreibung der entsprechenden TDS in Tab. 2.

Tab. 1 Übersicht seltener Tumoren, die im Rahmen von erblichen Tumorsyndromen auftreten können
Tab. 2 Übersicht der Tumordispositionssyndrome, die mit seltenen Tumoren assoziiert sein können

Somatische versus Keimbahnmutation

In jedem Tumor treten während der Tumorgenese im neoplastischen Gewebe entstandene Mutationen auf, die z. T. als sog. Driver-Mutationen die Tumorentwicklung vorantreiben („jeder Krebs ist genetisch“). Diese somatischen Mutationen sind in der Regel auf den Tumor begrenzt und verschwinden mit der erfolgreichen Behandlung bzw. Entfernung der Neoplasie. Demgegenüber handelt es sich bei den für TDS ursächlichen genetischen Veränderungen um Keimbahnmutationen (konstitutionelle Mutationen), die in der Regel von einem Elternteil vererbt wurden und in allen Körperzellen des Betroffenen/Anlageträgers vorliegen. Keimbahnmutationen können jedoch auch bei dem Betroffenen bzw. in einer Keimzelle der Eltern neu (de novo) entstehen; häufig ist die Familienanamnese dann unauffällig.

Die bei der genetischen Analyse eines Tumors nachgewiesenen Mutationen erlauben in der Regel keine sichere Unterscheidung zwischen einer somatischen, nur im Tumor selbst auftretenden und einer konstitutionellen Mutation – für den sicheren Nachweis einer Keimbahnmutation im Rahmen der Diagnostik eines TDS ist deshalb die Untersuchung von gesundem Gewebe notwendig, meistens anhand von Leukozyten-DNA einer EDTA-Blutprobe.

Molekulargenetische Diagnostik

TDS beruhen auf Keimbahnmutationen in einem von derzeit über 100 bekannten Genen [16], (CancerGeneCensus, Infobox 1). Die molekulargenetische Untersuchung eines oder mehrerer Gene in einer Familie sollte – wann immer möglich – zuerst bei einer sicher erkrankten Person (Indexpatient) gezielt auf der Basis einer möglichst präzisen klinischen Verdachtsdiagnose erfolgen. Inzwischen werden hierzu fast ausschließlich auf Hochdurchsatztechniken (Next-Generation-Sequencing; NGS) basierende Multi-Gen-Analysen („Gen-Panel“) eingesetzt, bei denen alle bekannten, sicher ursächlichen Gene des Krankheitsbilds sowie die Gene relevanter Differenzialdiagnosen simultan oder als Stufendiagnostik untersucht werden.

Je typischer das klinische Bild ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, eine kausale Keimbahnmutation zu identifizieren. Eine erfolglose Mutationssuche stellt allerdings eine klinisch eindeutige Diagnose nicht infrage; so können beispielsweise Mutationen in intronischen oder regulatorischen Bereichen der Gene oder Mutationsmosaike heute oft noch nicht routinemäßig erkannt und interpretiert werden.

Durch den Einsatz breiter Multi-Gen-Analysen bei Verdacht auf Vorliegen eines häufigen TDS (z. B. des erblichen Brust- und Eierstockkrebses) werden inzwischen auch seltene TDS wie das LFS vermehrt außerhalb klassischer etablierter klinischer Kriterien gezielt oder als Zusatzbefund identifiziert [18]. Daneben spielt die zunehmend umfassendere prätherapeutische somatische Tumordiagnostik im Rahmen individualisierter Therapiekonzepte und nachfolgende Keimbahndiagnostik als separate Eintrittspforte eine immer größere Rolle bei der Identifizierung betroffener Familien.

Die Steigerung der diagnostischen Sensitivität durch eine umfangreiche Keimbahnanalyse bei allen neu diagnostizierten Tumorpatienten unabhängig von klinischen Verdachtsmomenten eines TDS wird insbesondere im pädiatrischen Bereich langsam umgesetzt, wo bis zu 9 % der Betroffenen Anlageträger eines TDS sind, häufig mit unauffälliger Familienanamnese [31]. Der deutlich höheren Detektionsrate stehen derzeit aber auch problematische Aspekte gegenüber, z. B. der Umgang mit bestimmten Mutationstypen (Missense-Varianten, intronische Varianten), deren funktionelle Relevanz derzeit häufig noch nicht sicher einzuschätzen ist („variants of unknown significance“, VUS).

Prädiktive genetische Testung

Der Nachweis einer ursächlichen Keimbahnmutation bei einer klinisch betroffenen Person ist entscheidend für die differenzialdiagnostische Abgrenzung und die Einschätzung des Wiederholungsrisikos (Erbgang); darüber hinaus ermöglicht er die sichere prädiktive (vorhersagende) Testung (noch) asymptomatischer Verwandter (Abb. 12 und 4). Dies bedeutet, dass die aufgrund des Erbgangs hochgradig gefährdeten Familienangehörigen („Risikopersonen“) frühzeitig bezüglich ihres Anlageträgerstatus untersucht werden können. Wird die familiäre Keimbahnmutation bei der Risikoperson ausgeschlossen, besteht im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung kein erhöhtes Erkrankungsrisiko und damit keine Notwendigkeit einer spezifischen Vorsorge und entsprechend eine psychische Entlastung. Anlageträger haben hingegen – abhängig von der Penetranz der Mutation – ein hohes Erkrankungsrisiko. Ursächlich unklare Keimbahnvarianten (VUS) können nicht zur prädiktiven Testung genutzt werden.

Minderjährige sollen nur bei zeitnahen Konsequenzen prädiktiv getestet werden

Bei den TDS hat die prädiktive genetische Untersuchung eine neue Dimension der Krebsprävention eröffnet. Die Kenntnis einer erblichen Veranlagung – und damit das Wissen um ein deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko – kann für den Einzelnen und die Familie aber auch mit erheblichen psychosozialen Belastungen verbunden sein. Die prädiktive Diagnostik ist deshalb an strikte Vorgaben gebunden: Sie orientiert sich an den Richtlinien der Bundesärztekammer und dem Gendiagnostikgesetz (GenDG) und wird bei volljährigen Personen nach humangenetischer Beratung und auf freiwilliger Basis durchgeführt. Ausnahmen sind Risikopersonen für frühmanifeste Erkrankungen. Minderjährige sollen in der Regel aber erst dann prädiktiv getestet werden, wenn sich aus dem Befund zeitnah präventive oder therapeutische Konsequenzen ergeben [9]. Die informationelle Selbstbestimmung des Kindes wird hier über den Wunsch der Eltern nach Kenntnis einer kindlichen Anlageträgerschaft gestellt.

Interdisziplinäre Versorgung/Prävention/Früherkennung

Aufgrund des breiten Tumorspektrums und der vielfältigen diagnostischen, präventiven und therapeutischen Maßnahmen lässt sich die adäquate medizinische Versorgung von Familien mit TDS meist nur innerhalb eines interdisziplinären Konzepts realisieren. Für die häufigeren Formen wurden spezifische Vorsorge- bzw. Früherkennungsprogramme etabliert, die von gesicherten Mutationsträgern und den Erkrankten selbst sowie – bei nicht identifizierbarer Mutation in der Familie – von allen erstgradig Verwandten eines klinisch Erkrankten (Risikopersonen) wahrgenommen werden sollten. Für seltene TDS und seltene Manifestationen häufigerer TDS existieren derzeit allerdings meist (noch) keine standardisierten Empfehlungen; es handelt sich in der Regel um Expertenmeinungen bzw. Good Clinical Practice, deren Wirksamkeit aufgrund geringer Fallzahlen schwer zu validieren ist. Aktuelle Empfehlungen finden sich z. B. bei GeneReviews oder dem National Comprehensive Cancer Network (NCCN; Infobox 1).

Fallbeispiele

Fallbeispiel Li-Fraumeni-Syndrom

Bei der Abklärung von Zephalgien wurde bei einer 26-jährigen Patientin (Indexpatientin) in der kranialen MRT ein Astrozytom Grad II diagnostiziert (Abb. 1). Sie war bereits mit 15 Jahren an einem Osteosarkom des linken Beckens erkrankt, welches kurativ therapiert werden konnte. Aufgrund der auffälligen Anamnese war der Verdacht auf das Vorliegen eines TDS gestellt worden und der Patientin die Vorstellung in der humangenetischen Sprechstunde empfohlen worden.

Die auffällige Familienanamnese mit einem frühmanifesten Lymphom beim Vater und prämenopausalem Brustkrebs bei einer Cousine väterlicherseits ließ in Kombination mit der Eigenanamnese an ein Li-Fraumeni-Syndrom (LFS) denken. Mittels molekulargenetischer Abklärung an Leukozyten-DNA wurde bei der Patientin die pathogene Keimbahnmutation c.818G>A;p.(Arg273His) im TP53-Gen identifiziert und dadurch molekulargenetisch das Vorliegen eines LFS gesichert. Die Diagnose wurde bei der Therapieplanung der Indexpatientin durch Vermeidung einer Strahlentherapie bei erhöhtem Risiko strahleninduzierter Malignome berücksichtigt.

Die Patientin wurde gebeten, ihre Familienangehörigen über die Möglichkeit einer Vorstellung in der humangenetischen Sprechstunde zu informieren, wo dann ggf. auch eine prädiktive genetische Testung erfolgen kann. Die Mutter der Patientin und ein kinderloser Onkel väterlicherseits wünschten keine genetische Untersuchung. Mit dem Nachweis der TP53-Mutation bei der an Brustkrebs erkrankten Cousine väterlicherseits bestätigte sich dann später die bereits anhand der Familienanamnese naheliegende Vermutung, dass die Indexpatientin die Mutation von ihrem Vater geerbt hat. Die Keimbahnmutation konnte anschließend bei einem Bruder der Indexpatientin ausgeschlossen werden; seine Kinder haben somit kein erhöhtes Risiko für ein LFS und bedürfen keiner prädiktiven Testung. Bei der gesunden 31-jährigen Schwester wurde die Mutation hingegen nachgewiesen, sodass ihre 3‑jährige Tochter und ihr 7‑jähriger Sohn ein 50%iges Risiko der Anlageträgerschaft aufweisen. Da beim LFS bereits ab der Geburt Früherkennungsuntersuchungen angeboten werden [12, 30], könnte bei den Kindern der Schwester bereits eine prädiktive Testung erfolgen. Die Schwester und ihr Mann sind noch unschlüssig, ob und in welchem Alter die Kinder getestet werden sollen.

Auch wenn noch keine allgemein etablierten Krebsfrüherkennungsuntersuchungen für Patienten mit LFS existieren, wurde den Mutationsträgern der Familie ein engmaschiges, auf wissenschaftlichen Pilotstudien basierendes interdisziplinäres Krebsfrüherkennungsprogramm angeboten, welches u. a. jährliche Ganzkörper-MRT- und Schädel-MRT-Untersuchungen vorsieht [12, 30]. Diese Untersuchungen sollten möglichst an einem interdisziplinären Zentrum für erbliche Tumorerkrankungen im Rahmen von Studien erfolgen.

Fallbeispiel Multiple endokrine Neoplasie Typ 2

Ein 36 Jahre alter Patient stellt sich auf Empfehlung der Klinik für Endokrinologie mit Verdacht auf das Vorliegen eines TDS in der klinisch-genetischen Ambulanz vor. Bei der Abklärung eines schmerzlosen Knotens im Halsbereich wurde kürzlich ein medulläres Schilddrüsenkarzinom detektiert. Zusätzlich wurde bei erhöhten Kalzium- und Parathormonwerten ein Nebenschilddrüsenadenom nachgewiesen. Bis auf einen Hyperparathyreoidismus der Mutter ist die Familienanamnese unauffällig (Abb. 3).

Abb. 3
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Stammbaum zur Fallgeschichte in Bezug auf multiple endokrine Neoplasie Typ 2 (MEN2)

Mit einem unauffälligen genetischen Befund ist die Diagnose eines TDS nicht ausgeschlossen

Die Kombination eines medullären Schilddrüsenkarzinoms und eines Nebenschilddrüsenadenoms ist hochverdächtig auf das Vorliegen einer multiplen endokrinen Neoplasie Typ 2A (MEN2A). Trotz erfüllter klinisch-diagnostischer Kriterien ließ sich molekulargenetisch keine Keimbahnmutation im RET-Gen identifizieren. Mit dem unauffälligen genetischen Befund ist die Diagnose einer MEN2 aber nicht ausgeschlossen, da mit den Methoden der Routinediagnostik nicht alle denkbaren Mutationen eines Gens nachweisbar sind.

Bei RET-Mutationsträgern richten sich die Empfehlungen bezüglich des Alters prophylaktischer Operationen und des Beginns von biochemischen Früherkennungsuntersuchungen nach der spezifisch vorliegenden Mutation. Ohne Nachweis einer genetischen Ursache bei dem erkrankten Patienten kann den Familienangehörigen keine prädiktive genetische Diagnostik angeboten werden. Erstgradig verwandten Risikopersonen eines Patienten mit genetisch ungeklärter, aber klinisch bestehender MEN2 können aber trotzdem risikoadaptierte Früherkennungsprotokolle, die insbesondere bildgebende und biochemische Untersuchungen umfassen, angeboten werden; eine prophylaktische Thyreoidektomie wird in der Regel allerdings nur genetisch gesicherten Anlageträgern empfohlen.

Fallbeispiel HNPCC/Lynch-Syndrom

Aufgrund unklarer Oberbauchschmerzen wurde eine 52-jährige Patientin in der internistischen Sprechstunde vorstellig. In der Gastroduodenoskopie zeigte sich ein Karzinom im Duodenum, koloskopisch wurden zwei tubuläre Adenome abgetragen. In der Familienanamnese fiel auf, dass der Vater mit 45 Jahren an Darmkrebs verstorben war. Seine Schwester sei mit 60 Jahren an „Unterleibskrebs“ erkrankt, genauere Informationen hierzu waren nicht erhältlich (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Stammbaum zur Fallgeschichte in Bezug auf erblichen Darmkrebs („hereditary nonpolyposis colorectal cancer“, HNPCC/Lynch-Syndrom). CA Karzinom

Aufgrund des geringen Erkrankungsalters des Vaters waren die revidierten Bethesda-Kriterien erfüllt, sodass klinisch der Verdacht auf ein HNPCC/Lynch-Syndrom bestand [27]. Zur weiteren Abklärung wurde eine immunhistochemische Untersuchung des Tumorgewebes der Patientin eingeleitet, die einen kombinierten Expressionsverlust der DNA-Mismatch-Reparatur-Gene MSH2 und MSH6 ergab. Die Patientin stellte sich daraufhin in der humangenetischen Sprechstunde vor, wo anhand einer EDTA-Blutprobe eine Mutationssuche in den Genen MSH2 und MSH6 veranlasst wurde. Diese ergab den Nachweis der heterozygoten pathogenen Keimbahnmutation c.942+3A>T im MSH2-Gen. Das Vorliegen eines HNPCC/Lynch-Syndroms wurde somit bestätigt. Die Patientin wurde daraufhin in ein engmaschiges Vorsorgeprogramm eingeschlossen, welches insbesondere ein- bis zweijährliche Koloskopien und Gastroduodenoskopien beinhaltet [11]. Wegen des erhöhten Endometriumkarzinomrisikos wurde mit ihr die Möglichkeit einer prophylaktischen Hysterektomie besprochen. Im Fall eines Rezidivs der Tumorerkrankung ist eine Behandlung mit PD1-Blockern zu erwägen, da Lynch-Syndrom-assoziierte Tumoren, die hoch immunogen sind, gut auf diese Behandlung ansprechen.

Bei der 30-jährigen Tochter der Patientin wurde die MSH2-Mutation mittels prädiktiver Testung ebenfalls nachgewiesen. Sie wurde in das engmaschige Vorsorgeprogramm eingeschlossen und entschied sich zudem für eine Hormonspirale, um ihr Risiko für ein Endometriumkarzinom zu senken. Ihr 5‑jähriger Sohn wird sich im Erwachsenenalter in der humangenetischen Sprechstunde vorstellen. Die Indexpatientin informiert auch ihre Angehörigen väterlicherseits über die Diagnose einer erblichen Tumorerkrankung in der Familie und die Möglichkeit einer prädiktiven Testung.

Expertenzentren, Vernetzung, Referenznetzwerke

Nach derzeitigen Schätzungen werden etwa 70–80 % der von TDS betroffenen Patienten nicht erkannt. Eine Chance zur verbesserten Versorgung und Erforschung von TDS ist der Aufbau und die stärkere Vernetzung von Expertenzentren, wie sie auf nationaler Ebene bereits durch Zentren für erbliche Tumorsyndrome bzw. Zentren für seltene Erkrankungen erfolgt. Auf europäischer Ebene wurde als weitere Maßnahme zur Verbesserung der Situation 2017 von der EU-Kommission das europäische Referenznetzwerk für erbliche Tumorsyndrome (ERN GENTURIS – GENetic TUmor RIsk Syndromes) als eines von insgesamt 24 ERN für seltene Erkrankungen etabliert (Infobox 1).

Das ERN GENTURIS befasst sich mit TDS und vereint die Expertise der beteiligten klinischen Zentren aus derzeit 12 europäischen Ländern. Es soll durch enge Vernetzung der Experten zum einen standardisierte Diagnostik‑, Behandlungs- und Präventionskonzepte inklusive interdisziplinärer Fallbesprechungen schaffen sowie Informations- und Lehrmaterialien für Patienten und ihre behandelnden Ärzte bereitstellen. Um die Maßnahmen optimal auf die Bedürfnisse der Patienten abzustimmen, sind Patientenvertreter in alle Arbeitsbereiche eingebunden. Demnächst sollen erste europäischen Leitlinien für zwei seltene TDS, das PHTS und das LFS (TP53-assoziiertes TDS), veröffentlicht und langfristig in die nationalen Leitlinien implementiert werden.

Expertenzentren und Selbsthilfegruppen dienen der verbesserten Versorgung von Patienten mit TDS

Aus Deutschland sind derzeit drei klinische Zentren am ERN GENTURIS beteiligt (Infobox 1). Diese Zentren fungieren als primärer Ansprechpartner für GENTURIS in Deutschland, sodass sich Ärzte, die hierzulande Patienten mit TDS betreuen, bezüglich Informationen zur Patientenversorgung an diese Zentren wenden können. Für einige seltene TDS existieren bereits überregionale Selbsthilfegruppen, die den Patienten Unterstützung bieten können (Infobox 1).

Infobox 1 Mehr Informationen zum Thema: Internetlinks

Datenbanken/Informationen zu Tumordispositionssyndromen (TDS)

Europäische Referenznetzwerke; humangenetische Beratungsstellen

Patientenvertretungen und Selbsthilfegruppen

Infobox 2 Allgemeine klinische Hinweise für ein monogen erbliches Tumorsyndrom

  • Ungewöhnlich frühes Erkrankungsalter für den Tumor

  • Synchrone/metachrone Tumoren bei einer Person

  • Familiäre Häufung von Tumoren

  • Typisches Spektrum der Tumoren in Eigen‑/Familienanamnese

  • Seltene Tumoren (Tab. 1)

  • Spezifische molekulare Tumorbefunde

Fazit für die Praxis

  • Die Einordnung und korrekte Differenzialdiagnose eines TDS ist entscheidend für die Erfassung der Risikopersonen, Empfehlung angemessener intensivierter Früherkennungsuntersuchungen, präventiver Maßnahmen und Anbindung der Familien an spezialisierte Zentren.

  • Die möglichst präzise Verdachtsdiagnose auf der Basis einer angemessenen klinisch-histologischen Untersuchung und sorgfältigen Familienanamnese ist häufig die Voraussetzung einer gezielten rationalen Mutationssuche beim Indexpatienten.

  • Das Auftreten eines seltenen Tumors rechtfertigt allerdings oft bereits die genetische Abklärung mittels Keimbahndiagnostik – unabhängig von der Familienanamnese.

  • Die prädiktive genetische Diagnostik asymptomatischer Risikopersonen ermöglicht die Beschränkung präventiver Maßnahmen auf die Anlageträger einer Familie und erfolgt im Rahmen einer humangenetischen Beratung.