Pathophysiologie und klinische Bedeutung

Multiple Endokrine Neoplasien (MEN) sind hereditäre Tumorsyndrome, deren Unterteilung in MEN1, MEN2A, MEN2B und MEN4 auf der unterschiedlichen Lokalisation und Kombination der Tumore bzw. unterschiedlichen genetischen Aberrationen beruht.

Die polyglanduläre, auch als Wermer-Syndrom bezeichnete Multiple Endokrine Neoplasie 1 tritt sowohl sporadisch als auch familiär auf und ist gekennzeichnet durch eine variable Kombination endokriner sowie auch nicht-endokriner Tumoren. Der familiären (hereditären) Form liegen in der Mehrzahl der Fälle Keimbahnmutationen des MEN1-Gens, einem Tumorsuppressorgen, zugrunde.

Symptomatik und klinische Diagnostik

Die Tumore entwickeln sich im Laufe des Lebens, bei der familiären Form häufig im jungen Erwachsenenalter. Es wurden aber auch Manifestationsalter zwischen 5 und 81 Jahren berichtet. Mehrere Tumoren sowie Persistenz eines primären Hyperparathyreoidismus (PHPT) nach einer Nebenschilddrüsenoperation sind als Hinweis auf MEN1 zu werten und bilden die Grundlage der klinischen Diagnostik, die dann durch bildgebende Verfahren ergänzt wird. Lebenslimitierend sind die häufig bösartigen Gastrinome und neuroendokrinen Karzinome des Pankreas.

Die häufigsten endokrinen Tumoren, die durch eine Überproduktion von Hormonen auffallen, treten mit folgenden Lokalisationen auf:

  • Nebenschilddrüsen: Von einem primären Hyperparathyreoidismus (Leitsymptom der MEN1) mit Hyperkalzämie, bedingt durch eine Überproduktion von Parathormon, sind mehr als 95 % der Patienten, meist als erste Manifestation, betroffen.

  • Differenzierte endokrine Tumore des Gastrointestinaltraktes/der Inselzellen treten in 40 % der MEN1-Patienten auf. Die Tumoren Gastrin-produzierender Zellen (Gastrinome) im Pankreas und im oberen Dünndarm, auch als Zollinger-Ellison-Syndrom (ZES) bezeichnet, sind häufig malign.

    Hypoglykämien werden durch Insulin sezernierende, Hyperglykämien, Anorexie, Glossitis und Anämie durch Glukagon sezernierende Tumoren verursacht, während das WDHA-Syndrom (Watery Diarrhea Hypokalemia und Achlorhydria) durch Vasoactive Intestinal Peptide sezernierende Tumoren (VIPOMAs) im Pankreas verursacht werden.

  • Tumoren der Hypophyse sind in ca. 30 % der Patienten zu beobachten und inkludieren Somatrotropin, Corticotropin und vor allem Prolaktin sezernierende Tumoren. Letztere äußern sich bei Frauen als Oligo/Amenorrhoe, bei Männern auch als Gynäkomastie.

Nicht-endokrine Tumore sind Angiofibrome im Gesicht (88 % der Patienten) und Kollagenome (72 %) in der Haut, Cafe-au-lait-Flecken (34 %) und Lipome (34 %) oder Adenokarzinome. Tumoren des Zentralnervensystems (Meningiome und Ependymome) wie auch Leiomyome (gutartige Tumoren der glatten Muskulatur) treten selten auf.

Genetische Diagnostik

Vererbung und Häufigkeit

Die geschätzte Häufigkeit für MEN1 liegt zwischen 1:10.000–1:100.000. Die Mehrzahl (80–90 %) der an der hereditären Form von MEN1 erkrankten Patienten weisen Keimbahnmutation im MEN1-Gen auf, einem am Chromosom 11q13 liegenden Tumorsuppressorgen, das das aus 610 Aminosäuren aufgebaute Protein MENIN kodiert (1 nichtkodierendes und 9 kodierende Exons). MENIN ist ein ubiquitär exprimiertes nukleäres Protein, das Tumorsuppressor-Funktion hat und als „Gerüstprotein“ (Scaffold protein) Transkription, Genomstabilität, Zellzyklus und Proliferation regelt.

MEN1 wird autosomal dominant vererbt, sodass statistisch gesehen 50 % der Kinder eines erkrankten Elternteils die MEN1-Mutation erben und erkranken, wobei die Genotyp/Phänotyp-Korrelation eine schlechte ist. In 80–90 % der MEN1-Familien sind MEN1-Keimbahnmutationen nachweisbar, 10–20 % dieser pathogenen Varianten treten „de novo“ auf, 80 % der Mutationsträger erkranken vor dem 50. Lebensjahr, Leitsymptom ist der primäre Hyperparathyreoidismus.

Eine vorliegende MEN1-Keimbahnmutation („first hit“) wird nach den Mendelschen Regeln vererbt und liegt in jeder Körperzelle vor. Wird auch das zweite MEN1-Gen durch eine somatische Deletion („second hit“, LOH – loss of heterozygosity) inaktiviert, führt dies aufgrund des Verlustes der Tumorsuppressor-Funktion zu klonalem Wachstum und Tumorentstehung (Knudson’s „Two-hit-Hypothese“).

Indikationen für eine molekulargenetische MEN1-Diagnostik

Indexpatienten mit

  • zwei oder mehreren endokrinen Tumoren

  • 1 Tumor + positiver MEN1-Familienanamnese

  • PHPT oder scheinbar sporadischem (endokrinen) Tumor vor dem 30. Lebensjahr

  • Rezidivierendem oder multifokalem (endokrinen) Tumor

  • Gastrinom oder multiplen Inselzelltumoren

Verwandte 1. Grades eines Familienmitgliedes, das eine MEN1-Mutation aufweist

Ab welchem Alter ein prädiktiver MEN1-Gentest durchgeführt werden soll, wird unterschiedlich diskutiert (ab 5, ab 16 J?).

Genetische Beratung und Implikationen bei genetischer MEN1-Diagnostik

Bevor eine humangenetische Analyse durch eine zuständige, einschlägige FachärztIn veranlasst und im Labor durchgeführt wird, ist die PatientIn entsprechend aufzuklären und zu beraten. Diese Beratung muss dokumentiert werden und die PatientIn hat der Analyse schriftlich zuzustimmen. Das Ergebnis der genetischen Analyse muss in schriftlicher Form mitgeteilt und mit einer genetischen Beratung abgeschlossen werden. Die PatientIn kann die Durchführung der Analyse bzw. die Mitteilung des Ergebnisses zu jedem Zeitpunkt und ohne Angabe von Gründen widerrufen.

Nachweis einer MEN1-Mutation

  • Bestätigung der klinischen Verdachtsdiagnose

  • Bei asymptomatischen Anverwandten: Systematisches Vorsorgeprogramm starten

  • PHPT oder Hypophysenadenom bei MEN1-Anverwandten: Systematisches Vorsorgeprogramm für weitere Manifestationen starten

  • Aufgrund der fehlenden Genotyp/Phänotyp-Korrelation können Zeitpunkt und Ausprägung der Erkrankung trotz positivem Mutationsnachweis nicht vorausgesagt werden.

Keine MEN1-Mutation nachweisbar

  • Bei Indexpatienten liegt entweder kein MEN1 vor, oder es liegt ein MEN1 vor mit einer pathogenen Variante im nichtkodierenden Bereich, die aufgrund der Methodik nicht detektierbar ist.

  • Bei ausgeprägter Symptomatik kann auch in <1 % der MEN1-Fälle ein MEN4 (OMIM 610755) vorliegen. Diesem liegen pathogene Varianten des das Zellzyklusprotein p27 kodierenden CDKN1B-Gens (12p13.1-p12) zugrunde, für das Genanalysen mittlerweile auch schon routinemäßig durchgeführt werden können.

  • Bei asymptomatischen Anverwandten (wenn pthogene Variante bei IndexpatientIn vorliegt): psychische Entlastung, Wegfall der Vorsorgeuntersuchungen

  • PHPT oder Hypophysenadenom bei MEN1-Anverwandten: Es liegt kein MEN1, sondern eine Phänokopie vor, Wegfall weiterer Vorsorgeuntersuchungen

Methodik

Bislang wurden mehr als 1000 heterozygote pathogene Varianten im MEN1-Gen in den Exons 2–10 und in den angrenzenden Introns beschrieben, die großteils zu einem verkürzten Protein führen. Da es keine Hot Spots gibt, werden der gesamte kodierende Bereich und die Exon/Intron-Übergänge mittels Sequenzanalyse hinsichtlich Punktmutationen (Nonsense, Frameshift, Missense, Splice-Site) und mittels MLPA (Multiplex Ligation Dependent Probe Amplification, MRC Holland) hinsichtlich großer Deletionen (bei 1–4 % der PatientInnen vorliegend) untersucht.