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1 Einleitung

Die Corona-Krise führte zu einem Anstieg an Zukunftspessimismus in Österreich (Prandner et al. 2020a). Während 2018 ca. 17 % der Österreicher*innen davon ausgingen, dass sich ihre persönlichen Lebensumstände in den nächsten Jahren verschlechtern werden, waren es während der ersten Phase der Corona-Krise im Frühjahr 2020 ca. 26 %. Mehr als 60 % gehen von einer Verschlechterung der Lebensumstände in Österreich in den nächsten Jahren aus, 2018 lag dieser Anteil bei ca. 40 %.

Allerdings gab es bereits vor der Corona-Krise eine zunehmende Tendenz von einer Verschlechterung der Lebensumstände auszugehen (Hofmann 2016). Der Anstieg von Zukunftspessimismus wird als Konsequenz vielfältiger Krisenerscheinungen gesehen. Sowohl in der Europäischen Union als auch in Österreich lässt sich in den letzten Jahren eine sukzessive Verschärfung ökonomischer, politischer und kultureller Problemlagen beobachten. Wachsende Polarisierungstendenzen in der Bevölkerung führten zu einer Vertiefung von Gräben, womit weitreichendere soziale Umbrüche einhergehen (Aschauer 2017). Die damit verbundene (Wieder-)Erstarkung sozialer Trennlinien, welche sich in Form von Verteilungsungleichheiten – z. B. betreffend materieller Güter aber auch Teilhabechancen – manifestieren und spürbar sind, führen zu pessimistischen Erwartungen an die Entwicklung der Lebensumstände (Hofmann 2016, S. 247; Prandner et al. 2020b; Verwiebe und Bacher 2019, S. 505).

Pessimismus, aber auch Optimismus, bestimmen Handlungen von Individuen mit; beispielsweise im Bereich des Gesundheitsverhaltens (Segerstrom und Sephton 2010), aber auch ökonomische Entscheidungen (z. B. Puri und Robinson 2005). Zukunftsaussichten – und deren Einschätzung – sind eingebettet in die aktuelle individuelle Lebenssituation sowie den wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten unter den gegebenen Rahmenbedingungen (Schmidtke 2016). Auch gesellschaftliche Abstiegsängste (z. B. Nachtwey 2016) nehmen Einfluss. Dabei sind Einschätzungen bezüglich der Entwicklung persönlicher Lebensumstände optimistischer, während die gesellschaftliche Zukunft pessimistischer gesehen wird (Fritsche et al. 2017; Prandner et al. 2020b).

Erwartungen an zukünftige Entwicklungen unterliegen aber auch situativen Einflüssen (Kaniel et al. 2010). Ein so weitreichendes, gesellschaftlich disruptiv wirkendes Ereignis wie die Corona-Krise hat Auswirkungen auf den Handlungsspielraum von Individuen. Damit einhergehende Veränderungen führen dazu, dass über antizipierte Entwicklungen reflektiert werden muss. Knapp 1,5 Mio. Österreicher*innen im erwerbsfähigen Alter waren bereits zu Beginn der Krise im April 2020 arbeitslos und die Zahl geleisteter Arbeitsstunden reduzierte sich deutlich (Statistik Austria 2020). Im Spätherbst des Jahres wurde davon ausgegangen, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Österreichs um bis zu 8 % zurückgehen könnte (OECD 2020). Eine Rückkehr auf das Niveau vor der Corona-Krise wird frühestens für Ende 2022 erwartet und ist, vor dem Hintergrund schwer absehbarer Entwicklungen (z. B. die Entwicklung der Infektionszahlen) mit Unsicherheit verbunden (Schiman 2021). Für den Euroraum wird ein Rückgang des BIP in einer Größenordnung von 7,5 % prognostiziert. Die Mitgliedsstaaten sind dabei unterschiedlich stark betroffen (OECD 2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie betreffen weite Gesellschaftsbereiche – von Wirtschaft, Bildung, familiärem Zusammenleben bis hin zur Freizeitgestaltung (für einen Überblick siehe European Commission 2021). Trotz zeitweiliger Lockerungen blieben Vorgaben, welche die Lebensführung betreffen (z. B. Social Distancing) aufrecht.

Es ist deshalb anzunehmen, dass konkrete Ereignisse – wie die oben genannten – sich in Erwartungen an zukünftige Entwicklungen widerspiegeln. Solche Einschätzungen werden auf Basis von Vergleichen getroffen: Vergleiche mit Bezug auf Referenzzeitpunkte (z. B. vor und nach der Krise) oder Vergleiche mit anderen (Anhut und Heitmeyer 2000, S. 33). In optimistischen bzw. pessimistischen Erwartungen für die Zukunft drücken sich nicht nur die aktuellen Ängste der Österreicher*innen hinsichtlich der persönlichen aber auch der gesamtgesellschaftlichen Situation aus, sondern auch die Zuversicht, ob und wie gut es gelingen kann, die Krise mit ihren Begleiterscheinungen zu bewältigen. Entsprechend rückt der Beitrag drei Fragen in den Vordergrund:

  1. 1.

    Welche Erwartungen haben die Befragten an die Entwicklung der Lebensumstände in den nächsten Jahren in Europa und in Österreich, wie wird sich die persönliche Situation verändern? Und vor diesem Hintergrund: Lässt sich auch in der Krise das Phänomen des unrealistischen Optimismus beobachten, dass also die Erwartungen pessimistischer sind, je weiter diese von der persönlichen Lebenssphäre entfernt sind?

  2. 2.

    Da Lebenschancen ungleich verteilt sind, stellt sich zudem die Frage: Bei welchen sozialen Gruppen dringt Zukunftspessimismus während der Corona-Krise bis in die persönliche Sphäre vor?

  3. 3.

    Und in weiterer Folge: Welche Determinanten außerhalb von Soziodemografie und Sozialstruktur lassen sich für Zukunftspessimismus finden?

Als empirische Grundlage zur Diskussion dieser Aspekte werden Umfragedaten aus dem Austrian Corona Panel Project (ACPP) (Kittel et al. 2020) herangezogen (siehe auch Kap. 12 von Dimitri Prandner (2022) in diesem Band).

2 Theoretische Annahmen und Hypothesenbildung

Nicht alltägliche Ereignisse, wie eine Krise, wirken sich auch auf Lebenschancen aus (Kraemer 2010) und bergen wirtschaftliche, aber auch politische Risiken. Dabei verweist bereits das Wort „Krise“ auf die Brisanz der Entwicklungen. Auch wenn im Zuge der Covid-19-Pandemie in der politischen wie öffentlichen Diskussion die gesundheitlichen und ökonomischen Einschnitte im Zentrum standen, dürften die Konsequenzen weitreichender sein. Aus soziologischer Perspektive wird die Frage relevant, wie und ob sich diese Zäsur nachhaltig auf Einstellungen und Weltwahrnehmungen auswirkt.Footnote 1

Vor dem Hintergrund der Finanzkrise resümierte bspw. Aschauer (2017), dass infolge von negativen gesellschaftlichen Entwicklungen ausgegangen wird (vgl. auch Heitmeyer 2010). In vielen Ländern erstreckt sich aber ein solcher Zukunftspessimismus noch nicht auf die eigene Lebenssituation. Erwartungen divergieren bezüglich des Referenzpunkts. Diese Diskrepanz lässt sich mit dem Konzept des unrealistischen Optimismus umschreiben. Damit ist gemeint, dass die Zukunft grundsätzlich optimistischer gesehen wird, je näher Entwicklungen an der eigenen Lebensrealität sind (Weinstein 1980). Individuen ignorieren mögliche negative Folgen für sich selbst, d. h. potenzielle Gefahren werden zwar erkannt, dass diese aber auch auf das persönliche Leben Auswirkungen haben könnten, wird mitunter vernachlässigt. Es werden beispielsweise Gefahren von Corona für die Gesellschaft gesehen, das Individuum ist aber der Überzeugung, Auswirkungen auf die persönlichen Lebensbedingungen durch eigenes Handeln abwenden zu können. Die persönliche Sphäre erscheint kontrollierbarer. Deshalb wird weniger oft von Einschnitten in der persönlichen Sphäre ausgegangen, auch wenn sich Rahmenbedingungen – auf die weniger direkt Einfluss genommen werden kann – verschlechtern. Oder anders ausgedrückt: Zumindest in westlichen Gesellschaften scheint das gesellschaftliche Unbehagen größer zu sein als das individuelle (Heitmeyer 2010). (Unrealistischer) Optimismus in Bezug auf die eigenen Lebensbedingungen gilt dabei als relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal (Armor und Taylor 1998).

Es ist davon auszugehen, dass auch in Zeiten der Krise das Phänomen des unrealistischen Optimismus zu beobachten ist. Das heißt, dass die Entwicklung der persönlichen Lebensumstände positiver gesehen wird, als die Entwicklung der Lebensumstände in Österreich und in weiterer Folge auch, dass die Entwicklung der Lebensumstände in Österreich weniger pessimistisch gesehen wird als die Entwicklung jener in der EU. Abstiegsängste im Sinne eines erhöhten Risikos von Wohlstandsverlusten in Form von Verschlechterungen von Lebensbedingungen orientieren sich an „sozialen Nachbarn“ (Kraemer 2010 mit Bezug auf Simmel 1992). Österreich zählt einerseits zu einem der Mitgliedsstaaten mit einem hohen Wohlstandsniveau und andererseits zu jenen Ländern, in denen nationalen Institutionen mehr Vertrauen entgegengebracht wird als jenen der EU (Aschauer 2017). Als analytisch-empirische Indikatoren können dafür Zukunftserwartungen und wie sich diese zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen ausdifferenzieren, herangezogen werden. Die Wahrnehmung eines sozialen Niedergangs muss nicht notwendigerweise auch zu erwarteten Änderungen in den eigenen Lebensbedingungen führen. Speziell in der Mittelschicht lässt sich eine klare Distinktion beobachten zwischen einer persönlichen Zukunft, die eher positiv konnotiert ist, und einer gesamtgesellschaftlichen, die kritischer und als unkontrollierbarer gesehen wird (Dörre et al. 2011, S. 46; Skeggs 2013, S. 15). Im Rahmen von Hypothese 1 wird deshalb geprüft, ob das Ausmaß an Zukunftspessimismus ansteigt, je weiter die Einschätzungen hinsichtlich der Entwicklungen der Lebensbedingungen in den nächsten Jahren von der persönlichen Sphäre entfernt sind.

Nicht alltägliche Ereignisse, wie beispielsweise die Corona-Krise, wirken sich nicht nur auf Lebenschancen im Allgemeinen aus, sondern sind eingebettet in bereits bestehende soziale Ungleichheitsstrukturen (Kraemer 2010). Krisen bedeuten aber auch Umstellungszumutungen, oft die Verschärfung sozialer Ungleichheit und auch neue wirtschaftliche und politische Risiken. Nichtsdestotrotz ist anzunehmen, dass nicht alle sozialen Gruppen im gleichen Ausmaß von einem solchen Ereignis betroffen sind. Da Lebenschancen ungleich verteilt sind, ist davon auszugehen, dass auch die Entwicklung der Lebensumstände unterschiedlich beurteilt wird. Es wird vermutet, dass Unterschiede nach Erwerbsposition, höchstem Bildungsabschluss sowie nach Alter und Geschlecht bestehen (Hypothese 2).

Vor dem Hintergrund der weitreichenden mit Corona verbundenen Einschnitte, ist anzunehmen, dass die wahrgenommene Gefahr durch Corona sich auch in den Zukunftserwartungen niederschlägt (Hansen 2018; Kaniel et al. 2010; Nussio et al. 2019): Je stärker die Gefahrenwahrnehmung durch Corona – gesundheitlich sowie ökonomisch – desto eher dringt Pessimismus hinsichtlich der Entwicklung der Lebensumstände bis in die persönliche Lebenssphäre vor (Hypothese 3).

Unsicherheiten sind aber nicht notwendigerweise mit konkreten Krisenerfahrungen verknüpft (Nussio et al. 2019). Viel mehr basieren Einschätzungen über die Zukunft auf Vergleichen mit anderen und über die Zeit. Mit Bezug auf die Finanzkrise 2008 stellten beispielsweise Kaniel et al. (2010) fest, dass die Krise bei US-amerikanischen Studierenden zu vermehrtem Zukunftspessimismus führte, nicht aber bei chinesischen Studierenden. Caïs et al. (2020) stellten für das wirtschaftlich stark angeschlagene Spanien fest, dass die sich dort vertiefende Euro-Krise zu einem Absinken von Institutionsvertrauen führte, nicht aber zum Absinken des sozialen Vertrauens. Genauso hat der lange Sommer der Migration 2015 dazu geführt, dass in Europa soziales Vertrauen – insbesondere, wenn es Migrant*innen betrifft – gesunken ist (Hansen 2018; Nussio et al. 2019).

Die Wahrnehmung von sozialen Ungleichheiten ist dabei eine entscheidende Erklärungsgröße für das Urteil (Hofmann und Weiss 2018). Soziale Ungleichheiten beeinflussen konkrete Handlungsmöglichkeiten und formen dadurch auch die Erwartungen an zukünftige Entwicklungen. Eine Selbstwahrnehmung als unterprivilegiert – im individuellen Vergleich oder auch im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen – führt zu kritischen Urteilen hinsichtlich der Entwicklung eigener, aber auch gesamtgesellschaftlicher Lebensbedingungen (Anhut und Heitmeyer 2000).

Im Fall von Österreich treffen hier verschiedene, teils gegensätzliche Tendenzen aufeinander. Während die subjektive Wahrnehmung von Status und Lebenszufriedenheit in Österreich über die Zeit als stabil beurteilt wird (Hadler und Klebel 2019, S. 129), weisen andere Publikationen darauf hin, dass soziale Mobilität schwieriger geworden ist (Bacher und Moosbrugger 2021). Allgemein lässt sich feststellen, dass subjektive Abstiegsängste zugenommen haben (Kraemer 2010). Zwar lässt sich bezogen auf die letzten Jahrzehnte für die europäischen Gesellschaften festhalten, dass intergenerationale Aufstiegsmobilität stärker ausgeprägt ist als Abwärtsmobilität. Allerdings gibt es auch Hinweise dafür, dass das Verhältnis zwischen Auf- und Abstiegen kleiner wird (bspw. Kraemer 2010 für Deutschland; Breen und Luijkx Ruud 2004 für Europa). Aus der Argumentation von Hofmann (2016) lässt sich zusätzlich ableiten, dass die Zunahme sozialer Ungleichheit, sowie die Wahrnehmung, dass Teile der Bevölkerung zurückgelassen werden, mitunter als Versagen der Politik interpretiert werden.

Dieses Reibungsverhältnis zwischen subjektiven Wahrnehmungen und objektiven Strukturen, manifestiert sich in hochgradig volatilen modernen Gesellschaften: Einerseits verfügen diese über ein hohes Integrationspotenzial, sind andererseits anfällig für Krisen (Imbusch und Heitmeyer 2012). Krisen bedeuten fundamentale, unvorhergesehene Umbrüche und Veränderungen – Umstellungszumutungen (Imbusch und Heitmeyer 2012, S. 9) – für das Leben. Bereits bestehende soziale Trennlinien dürften durch die Corona-Krise verstärkt ins Bewusstsein der Österreicher*innen gelangt sein, was eine ernsthafte Herausforderung für soziale Integration sein kann. Heitmeyer (2007, S. 43) folgend, lässt sich der Zustand einer Gesellschaft daran festmachen, wie gut es gelingt, ökonomische Teilhabe, politische Partizipation und soziale Zugehörigkeit sicherzustellen. In Erwartungen an die Entwicklung der Lebensumstände spiegeln sich damit nicht nur die aktuellen Ängste der Österreicher*innen hinsichtlich der eigenen und der gesamtgesellschaftlichen Situation wider, sondern auch das wahrgenommene Potenzial einer Gesellschaft, Krisenphänomene zu bewältigen und Integration unter den gegebenen Umständen (wieder-)herzustellen. Speziell vor dem Hintergrund einer tief greifenden Krise dürfte gelten, dass eine

„Gesellschaft, deren politisches System [nicht] entscheidungsfähig ist oder deren Wirtschaftssystem elementare Leistungen der Produktion und Distribution nicht zu erbringen vermag, […] auch ihren sozialen Zusammenhalt verlieren und somit Tribalismus, innere Feindseligkeit und soziale Anomie begünstigen“ wird (Imbusch und Rucht 2005, S. 15).

Soziale (Des)Integration lässt sich auf drei zentrale Dimensionen herunterbrechen (Anhut und Heitmeyer 2000):

  1. 1.

    Sozialstrukturell: Einerseits sind es strukturelle Gegebenheiten (bspw. die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse, höhere Flexibilitätsanforderungen, Working Poor etc.), die dazu führen, dass (immer größere) Teile der Bevölkerung von Unsicherheiten betroffen sind (Fritsche et al. 2017; Imbusch und Heitmeyer 2012). Dementsprechende Beobachtungen können in der Wahrnehmung einer Strukturkrise enden (Anhut und Heitmeyer 2000). Damit ist der Eindruck gemeint, dass es nicht gelingt, einen als gerecht empfundenen Zugang zu materiellen Gütern in einer Gesellschaft herzustellen (Heitmeyer und Imbusch 2012, S. 62). Andererseits ist es die affektive Ebene, die eine Rolle spielt (Rippl und Baier 2005): Personen fühlen sich integriert, wenn sie davon ausgehen, dass sie materielle Güter in dem Umfang erhalten, den sie selbst als gerecht empfinden.

    Phänomene der tatsächlichen und wahrgenommenen Ungleichverteilung von Lebenschancen dürften sich durch die Corona-Krise weiter verstärkt haben und sich auch in den Zukunftserwartungen niederschlagen. Im Rahmen von Hypothese 4a wird daher geprüft, ob die Wahrnehmung sozialstruktureller Desintegration auch unabhängig von der mit Corona einhergehenden Gefahr das Ausmaß an Zukunftspessimismus beeinflusst.

  2. 2.

    Regulatorisch: Soziale Integration im regulatorischen Sinne bezieht sich nach Anhut und Heitmeyer (2000) auf Mechanismen zum Ausgleich konfligierender Interessen und fußt darin, dass Personen sich mit ihren Ansichten und Interessen im gesellschaftlichen Diskurs wahrgenommen fühlen. Eine Regulationskrise entsteht, wenn eine Entfremdung von politischen Prozessen wahrgenommen wird. In Österreich ist die traditionelle politische Partizipation rückläufig (Glavanovits et al. 2019, S. 446) und die Gruppe derer, die sich von Politik distanzieren angewachsen (Prandner und Grausgruber 2019). Ähnliche Tendenzen lassen sich für Europa finden (für einen Überblick vgl. bspw. Moosbrugger et al. 2019). Darin können Hinweise für eine Regulationskrise gesehen werden. Neben politischer Involvierung (Caprara et al. 2009) ist es auch das – inhaltlich damit verwobene – Vertrauen in zentrale gesellschaftliche Institutionen, welches als Determinante für den Zustand einer Gesellschaft und Zukunftsoptimismus gilt (Zmerli und Newton 2017, S. 121).

    Speziell vor dem Hintergrund der umfangreichen Maßnahmen die von politischen Akteur*innen – insbesondere den Regierungen – zur Bewältigung der Corona-Krise gesetzt und kommuniziert wurden, ist anzunehmen, dass nicht vorhandenes Institutionsvertrauen und ein Mangel an politischer Involvierung dazu beitragen, dass an der Bewältigbarkeit der Krise gezweifelt wird, was sich in einem pessimistischeren Blick in die Zukunft niederschlägt (Hypothese 4b).

  3. 3.

    Kohäsion: Die Überzeugung, dass man anderen Menschen grundsätzlich Vertrauen kann, ist die Basis für ein verbindendes Gemeinschaftsgefühl (Newton und Zmerli 2011). Sinnhafte Beziehungen zu anderen ermöglichen soziale Interaktion und damit verbunden Anerkennung (Heitmeyer und Imbusch 2012). Eine Kohäsionskrise äußert sich demnach in mangelndem sozialen Vertrauen und dem Gefühl der Exklusion.

    Eine Situation, in der Praktiken wie Social Distancing zum Schutz der Allgemeinheit präsent sind, bedingt die Notwendigkeit, auf andere zu vertrauen. Zum Beispiel, dass diese sich an die Maßnahmen halten. Ein Mangel an sozialem Vertrauen und die Wahrnehmung sozialer Exklusion dürften negativ mit der Beurteilung der Entwicklung der Lebensumstände in den nächsten Jahren zusammenhängen (Hypothese 4c).

Die Hypothesen 4a bis c befassen sich entsprechend dieser Argumentation mit dem Zusammenhang von Desintegrationserfahrungen und Zukunftspessimismus. Mit der Wahrnehmung von Krisenphänomenen auf individueller und gesamtgesellschaftlicher Ebene könnte das Vertrauen in das Integrationspotenzial der Gesellschaft ins Wanken geraten, was sich in pessimistischeren Erwartungen für die Zukunft äußert und dazu führt, dass Zukunftspessimismus auch in die persönliche Lebenssphäre vordringt. Konkret: Je ausgeprägter die Wahrnehmung sozialer Desintegration, desto ausgeprägter Zukunftspessimismus. Es werden nicht nur Verschlechterungen der gesellschaftlichen Lebensbedingungen (EU und Österreich) sondern auch bezüglich der persönlichen Lebensbedingungen erwartet, unabhängig von den mit Corona verbundenen Gefahren. Ein zusammenfassender Überblick über die Hypothesen ist in Tab. 11.1 zu finden.

Tab. 11.1 Hypothesen

3 Datengrundlage und Analyseverfahren

Als Datengrundlage werden Umfragedaten aus dem ACPP herangezogen. Dabei handelt es sich um eine wöchentlich durchgeführte Onlineumfrage bei der seit Beginn des ersten Lockdowns bis in die frühen Sommermonate ca. 1500 Personen regelmäßig, basierend auf einem Online-Access-Panel mittels Quotenverfahren, befragt wurden (Alter, Geschlecht, Bundesland, Wohnortgröße und Bildungsabschluss) (Kittel et al. 2020). Die für den Beitrag verwendeten Daten stammen aus Welle 5 (durchgeführt zwischen 24. und 29. April 2020), ergänzt durch einzelne Items aus Welle 8 (durchgeführt zwischen 15. und 20. Mai 2020). Im Zentrum der Betrachtung stehen die Einschätzungen der Befragten, ob sich die Lebensumstände a) in der EU und b) in Österreich, aber auch c) die persönlichen Lebensumstände in den nächsten Jahren verschlechtern oder verbessern werden.

Die Entwicklung der persönlichen Lebensumstände wird weder optimistisch noch pessimistisch beurteilt (vgl. Tab. 11.2). Anders die Situation bei der Beurteilung der Lebensumstände in Österreich und für die EU: Hier gehen die Befragten von Verschlechterungen aus (vgl. hierzu auch folgenden Abschnitt).

Tab. 11.2 Krisendimensionen

Weiblich sind 51 % der Befragten. Die Altersspanne reicht von 15 bis 85 Jahre, wobei das Durchschnittsalter bei 47 Jahren (St.Abw.: 17,81) liegt. Als höchsten Bildungsabschluss gaben ca. 21 % maximal einen Pflichtschulabschluss an, ca. 47 % einen berufsbildenden Abschluss (Polytechnikum, BMS, Lehre oder Berufsschule), ca. 17 % Matura (AHS oder BHS) und die restlichen ca. 16 % einen darüber hinausgehenden tertiären Abschluss. Etwas mehr als die Hälfte (53 %) war zum Befragungszeitpunkt erwerbstätig (selbst- oder unselbstständig), ca. 27 % bereits pensioniert oder in Rente. Die restlichen 20 % waren entweder noch in Ausbildung, arbeitslos, in Karenz oder ausschließlich haushaltsführend. Ca. 27 % der Befragten weisen einen Migrationshintergrund auf. Das heißt, die Person selbst oder ein bzw. beide Elternteile sind nicht in Österreich geboren. Diese mittels Quotenverfahren erreichte Verteilung entspricht weitestgehend der österreichischen Wohnbevölkerung (siehe Kap. 12, von Dimitri Prandner (2022)).

Auf einer Skala von 1 (keine Gefahr) bis 5 (große Gefahr) schätzen die Befragten die gesundheitliche Gefahr, welche von dem Coronavirus ausgeht für sich persönlich (individuelle gesundheitliche Gefahr) im Mittel bei 2,4 und die gesundheitliche Gefahr für die österreichische Bevölkerung (gesundheitliche Gefahr Österreich) bei 3,1 ein (vgl. Tab. 11.2).

Auf derselben Skala schätzen die Befragten die wirtschaftliche Gefahr, welche von dem Coronavirus ausgeht, für sich persönlich (individuelle wirtschaftliche Gefahr) bei 2,8 und die wirtschaftliche Gefahr für die österreichische Bevölkerung (wirtschaftliche Gefahr für Österreich) bei 3,9 ein (vgl. Tab. 11.2). Es zeigt sich einerseits, dass die wirtschaftliche Gefahr höher eingeschätzt wird als die gesundheitliche. Zudem lässt sich aber auch hier erkennen, dass für Österreich mehr Gefahr durch Corona gesehen wird, als für das Individuum (vgl. auch Abschn. 4.3). Das trifft sowohl auf die gesundheitliche als auch die wirtschaftliche Gefahr zu.Footnote 2

Die Dimension der Strukturkrise nimmt Bezug auf wahrgenommene materielle Ungleichheit. Tendenziell sind die Befragten der Ansicht, dass die Einkommensunterschiede in Österreich zu groß sind (ca. zwei Drittel stimmen eher/sehr zu) und der Staat Maßnahmen ergreifen sollte, um diese zu reduzieren (ca. 60 % sind eher/sehr dieser Ansicht). Beinahe die Hälfte der Befragten ist der Ansicht, weniger als den gerechten Anteil zu erhalten (vgl. Tab. 11.2). Eine als gerecht wahrgenommene Teilhabe an materiellen Gütern wird als eher nicht gegeben gesehen. Eder et al. (2020) berichten auf Basis der Daten des SSÖ 2018 über einen Anteil von ca. 37 %, welcher der Ansicht ist, nicht den gerechten Anteil zu erhalten. Im Anstieg dieses Anteils zwischen den beiden Erhebungszeitpunkten – vor und während der Corona-Krise – kann ein Indiz dafür gesehen werden, dass Ungleichheiten im Zuge der Krise vermehrt ins Bewusstsein der Österreicher*innen geraten sind.Footnote 3

Die Indikatoren zur Regulationskrise umfassen die politische Involviertheit und das Institutionsvertrauen. Konkret, ob die Befragten während der Corona-Krise Vertrauen in das Parlament, das Gesundheitswesen und die Bundesregierung haben. Tendenziell ist Vertrauen in diese zentralen gesellschaftlichen Institutionen vorhanden. Am höchsten ist dabei das Vertrauen in das Gesundheitswesen (Median von 7 auf einer elfstufigen Skala). Vertrauen haben die Befragten auch in die Bundesregierung (Median von 6), im Vergleich zum Gesundheitswesen allerdings etwas weniger (vgl. Tab. 11.2). Der Anteil jener, die Vertrauen in das Parlament haben bzw. nicht haben, hält sich in etwa die Waage. Zu Beginn der Corona-Krise zeigte sich ein Anstieg des Vertrauens in die Bundesregierung im Vergleich zum Zeitpunkt des Amtsantritts, welches sich aber seit Ende März wieder auf das vorherige Niveau eingependelt hat (Partheymüller et al. 2020). Während politische Institutionen den Vertrauenszuwachs zu Beginn der Krise wieder eingebüßt haben, blieb das Vertrauen in andere gesellschaftliche Institutionen hoch (Kowarz und Pollak 2020). Der zweite Indikator zur politischen Involviertheit bezieht sich auf die beiden Fragen „Sind Sie an Politik interessiert?“ und „Wie wichtig ist für Sie der Lebensbereich Politik und öffentliches Leben?“. In Anlehnung an Martin und van Deth (2007) werden vier Typen gebildet. Distanziert (34 %) ist, wer Politik weder als relevant erachtet, noch sich dafür interessiert; Zuschauend (28 %), wer sich zwar dafür interessiert, den Lebensbereich aber nicht für wichtig hält. Als Betroffene (9 %) werden jene bezeichnet, die Politik zwar für wichtig halten, aber kein Interesse daran haben. Involvierte (29 %) interessieren sich für Politik und halten diesen Lebensbereich auch für wichtig. Prandner und Grausgruber (2019) berichteten auf Basis von Daten des SSÖ 2016 von Anteilswerten von 58 % bei den Distanzierten, 16 % bei den Zuschauenden, 9 % bei den Betroffenen und 17 % bei den Involvierten. Auf den ersten Blick lässt sich eine Zunahme politischer Involviertheit während der Corona-Krise attestieren: Der Anteil der Distanzierten ging zurück, jener der Zuschauenden und Involvierten stieg an.Footnote 4

Eine potenzielle Kohäsionskrise wird über soziales Vertrauen und wahrgenommene soziale Akzeptanz definiert. Bei ca. zwei Drittel ist soziales Vertrauen – dass sich andere für gewöhnlich fair verhalten – gegeben. Soziale Akzeptanz ergibt sich aus der Einschätzung, einen Platz in der Gesellschaft gefunden zu haben und von anderen akzeptiert zu werden. Jeweils ca. 13 % geben bei beiden Einschätzungen an, dass das eher oder gar nicht auf sie zutrifft. Im Vergleich: Eder et al. (2020) berichten für 2018 einen Anteil von 6 %, die den Eindruck hatten nicht von anderen akzeptiert zu werden, und 10 %, die der Ansicht sind, keinen Platz in der Gesellschaft gefunden zu haben.

4 Ergebnisse

4.1 Ausmaß des Zukunftspessimismus

Die Antwort auf die erste der Forschungsfragen erscheint ernüchternd. Fast 72 % der Befragten glauben, dass sich die Lebensumstände in der EU negativ entwickeln werden; mit ca. 63 % glauben das auch beinahe zwei Drittel für Österreich. Die Zukunftsaussichten für die EU und für Österreich sind von Pessimismus geprägt. Das Gros der Befragten geht von einer Verschlechterung aus, während für die EU nur ca. ein Fünftel und für Österreich ein Viertel der Befragten davon ausgeht, dass die Lebensumstände gleichbleiben werden. Von einer Verbesserung der Lebensumstände in der EU gehen nur knapp 8 %, von einer Verbesserung in Österreich ca. 11 % aus. Etwas anders stellt sich die Situation hinsichtlich der antizipierten Entwicklung der persönlichen Lebensumstände dar. Im Vergleich zu den Optimist*innen (ca. 18 %) überwiegen auch hier mit ca. 26 % die Pessimist*innen. Der Großteil der Befragten geht jedoch davon aus, dass die persönlichen Lebensumstände in den nächsten Jahren gleichbleiben werden (vgl. Abb. 11.1).

Abb. 11.1
figure 1

Glauben Sie, werden sich in den nächsten Jahren die …? Austrian Corona Panel Project: eigene Berechnungen, Welle 5, Feldzeit 24. April–2. Mai 2020, n = 1515 befragte Personen (ab 14 Jahre), Daten repräsentativ gewichtet für die österreichische Wohnbevölkerung; SSÖ 2018: Zahlen übernommen aus Prandner et al. 2020a); eigene Darstellung

Oben angeführte Ergebnisse stehen in einem deutlichen Kontrast zu vorherigen Umfragedaten: Auf Basis von Daten des SSÖ aus dem Jahr 2018 – also vor der Corona-Krise – berichten Prandner et al. (2020a), dass ca. 40 % der Befragten von einer Verschlechterung der Lebensumstände in Österreich in den nächsten Jahren ausgehen, während 18 % mit einer Verbesserung rechnen. Die persönlichen Lebensumstände betreffend waren es damals knapp 17 %, die eine Verschlechterung befürchteten, während 26 % davon ausgingen, dass sich ihre persönlichen Lebensumstände in den nächsten Jahren verbessern werden (vgl. Abb. 11.1).

Allgemein lässt sich festhalten, dass es im Zuge der Corona-Krise zu einer Zunahme von Zukunftspessimismus gekommen ist, sowohl was die eigene, vor allem aber, was die gesamtgesellschaftliche Zukunft betrifft. Unabhängig vom Erhebungszeitpunkt zeigt sich dennoch ein klares Bild: Sowohl aus den Analysen von Prandner et al. (2020b), als auch aus den Daten des Austrian Corona Panel Projects geht hervor, dass Pessimismus verbreiteter ist, wenn es um gesamtgesellschaftliche Entwicklungen geht.

Zur Überprüfung dieser Annahme (Hypothese 1) wird in einem nächsten Schritt auf Unterschiede in den Mittelwerten bei den Zukunftserwartungen hinsichtlich EU, Österreich und persönliche Lebensumstände getestet (T-Test bei verbundenen Stichproben). Zusätzlich wird geprüft, ob eine Guttmann-Rangskalierung vorliegt. Bei der Guttmann-Rangskallierung handelt es sich um ein Verfahren, mit dem die Einstellung zu einer Sache erfasst werden soll (hier: Ausmaß an Zukunftspessimismus). Die Befragten werden dabei mit mehreren, abgestuften Aussagen konfrontiert. Im Sinne der Annahme, dass Zukunftspessimismus weniger ausgeprägt ist, je näher der Bezugspunkt am persönlichen Lebensbereich ist, sollten jene, die von Verschlechterungen in den persönlichen Lebenssituation ausgehen, auch von Verschlechterungen für Österreich berichten und jene, die von Verschlechterungen für Österreich ausgehen, auch von Verschlechterungen in Bezug auf die EU. Ob eine solche Beziehung vorliegt wird mittels Reproduktionskoeffizient überprüft. Dieser gibt Auskunft über das Verhältnis von Antworten im Sinne der Annahme und der Gesamtzahl der Antworten (Bacher 1990). Das Phänomen des unrealistischen Optimismus hinsichtlich der Entwicklung von Lebensbedingungen ist gegeben, wenn sich a) signifikante Mittelwertunterschiede finden lassen und b) der Reproduktionskoeffizient für eine Guttman-Skalierung den kritischen Wert von 0,9 (Bacher 1990) überschreitet.

Die Berechnungen zeigen, dass die Erwartungen hinsichtlich der Entwicklungen in den verschiedenen Bereichen signifikant miteinander zusammenhängen (wer pessimistisch für die EU ist, ist das auch eher für Österreich usw.), diese sich aber nichtsdestotrotz voneinander unterscheiden (d. h. die Befragten zeigen ein unterschiedliches Ausmaß an Pessimismus die drei Bereiche betreffend).Footnote 5 Auch lassen sie sich im Sinne einer Guttman-Skalierung in eine Reihenfolge bringen.Footnote 6

Damit lassen sich auch in der Corona-Krise Hinweise auf einen unrealistischen Optimismus finden: Je weiter entfernt die Entwicklungen von den persönlichen Lebensumständen sind, desto pessimistischer sind die Befragten. Dabei handelt es sich um ein durchgehendes Muster. Wer pessimistisch hinsichtlich der persönlichen Lebensumstände ist, ist dies auch für Österreich und die EU. Kaum jemand ist pessimistisch hinsichtlich der Entwicklung der persönlichen Lebensumstände und optimistisch was die Entwicklung der Lebensumstände in Österreich und der EU betrifft. Durch die Abstufung lassen sich vier Typen identifizieren (vgl. Abb. 11.2):

Abb. 11.2
figure 2

Stufenleiter des Pessimismus (n = 1341). Austrian Corona Panel Project Welle 5, Feldzeit 24. April–2. Mai 2020, n = 1515 befragte Personen (ab 14 Jahre), Daten repräsentativ gewichtet für die österreichische Wohnbevölkerung. Als Pessimist*innen gelten jene, die von einer Verschlechterung der Lebensumstände ausgehen, als Optimist*innen jene, die davon ausgehen, dass Lebensumstände gleichbleiben bzw. sich verbessern werden

  1. 1.

    Kein Zukunftspessimismus beschreibt jene, die weder hinsichtlich der Entwicklung der Lebensumstände in der EU, Österreich noch der persönlichen Lebensumstände pessimistisch sind (26,5 %);

  2. 2.

    Europapessimistisch sind jene, die lediglich hinsichtlich der Lebensumstände in der EU pessimistisch sind (ca. 11 %). Diese Personen sind der Ansicht, dass die Lebensumstände in Österreich sowie ihre persönlichen Lebensumstände gleich bleiben bzw. sich verbessern werden.

  3. 3.

    Die größte Gruppe ist jene der Gesellschaftspessimist*innen (ca. 38 %). Sie erwarten negative Entwicklungen in der EU und in Österreich, nicht aber für die persönlichen Lebensumstände.

  4. 4.

    Ein Viertel ist pessimistisch, was die Entwicklung der Lebensumstände in allen drei Bereichen anbelangt (vollständiger Zukunftspessimismus).

4.2 Ausmaß an Zukunftspessimismus nach soziodemografischen Merkmalen

Da Lebenschancen ungleich verteilt sind, wird im folgenden Abschnitt geprüft, ob sich Unterschiede im Ausmaß von Pessimismus (vgl. Typologie Abb. 11.2) hinsichtlich soziodemografischer Merkmale feststellen lassen.

Frauen sind im Vergleich zu Männern eher pessimistisch, was die Entwicklung der Lebensumstände betrifft. Unterschiede zeigen sich vor allem beim Gesellschaftspessimismus. Auch finden sich Frauen vergleichsweise seltener unter jenen, die keinen Zukunftspessimismus berichten. Der Anteil unter den beiden Geschlechtern, der auch von einer Verschlechterung in den eigenen Lebensumständen ausgeht, ist in etwa gleich hoch (vgl. Abb. 11.3).

Abb. 11.3
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Zukunftspessimismus nach soziodemografischen Merkmalen. Austrian Corona Panel Project Welle 5, Feldzeit 24. April–2. Mai 2020, n = 1515 befragte Personen (ab 14 Jahre), Daten repräsentativ gewichtet für die österreichische Wohnbevölkerung

Unterschiede zeigen sich auch hinsichtlich des Alters. Während unter den Jüngeren (bis 30 Jahre) fast die Hälfte keinen Zukunftspessimismus an den Tag legt, ist dies bei den 31 bis 60-Jährigen ca. ein Viertel. Nur ein Achtel der über 60-Jährigen ist diesem Typus zuzuordnen. Mit etwas über 47 % ist unter den Älteren Gesellschaftspessimismus der vorherrschende Typus. Jeweils ca. 28 % der Älteren und der Befragten zwischen 31 und 60 Jahren zeigen vollständigen Zukunftspessimismus. Damit gehen sie davon aus, dass sich auch ihre persönlichen Lebensumstände negativ entwickeln werden.

Beim höchsten Bildungsabschluss ist es die Gruppe jener mit Berufsausbildung, die hervorsticht. Im Vergleich zu den anderen Bildungskategorien – hier liegt der Anteil bei jeweils ca. 30 % – gehören nur 21 % zur Gruppe jener, die keinen Zukunftspessimismus zeigen. Auch rechnet diese Gruppe überdurchschnittlich oft damit, dass sich auch die persönlichen Lebensumstände in den nächsten Jahren negativ entwickeln werden. Am zuversichtlichsten sind diesbezüglich jene mit Pflichtschulabschluss.Footnote 7 Mit dieser Ausnahme kann festgehalten werden, dass höhere schulische Bildung mit weniger Zukunftspessimismus einhergeht (vgl. Abb. 11.3).

Unter den Erwerbstätigen und Pensionierten ist jeweils ca. ein Viertel der Ansicht, dass sich auch die persönlichen Lebensumstände verschlechtern werden. Unter den Pensionierten geht beinahe die Hälfte von Verschlechterungen in Österreich aus. Bei den Erwerbstätigen ist das ca. ein Drittel. Am optimistischsten in die Zukunft blicken vergleichsweise jene, mit einem sonstigen Erwerbsstatus (z. B. in Karenz oder Ausbildung).Footnote 8 Keine Unterschiede zeigen sich hinsichtlich des Migrationshintergrunds.

4.3 Einschätzung der Gefahren durch Corona

In weiterer Folge wird überprüft, inwieweit die Einschätzung der Gefährlichkeit von Corona in Zusammenhang mit soziodemografischen Merkmalen und den oben spezifizierten Pessimismus-Typen steht. Analytisch wird dabei zwischen der persönlichen und gesellschaftlichen Gefahr unterschieden sowie zwischen wirtschaftlicher und gesundheitlicher. Unterschiede können mittels ANOVA bzw. t-test nachgewiesen werden (vgl. Abb. 11.4).

Abb. 11.4
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Zukunftspessimismus und Gefahr durch Corona. Austrian Corona Panel Project Welle 5, Feldzeit 24. April–2. Mai 2020, n= 1515 befragte Personen (ab 14 Jahre), Daten repräsentativ gewichtet für die österreichische Wohnbevölkerung; Mittelwerte auf einer Skala von 1–5. 1 steht für keine Gefahr plus 95 % Konfidenzintervalle; 5 für große Gefahr. ***Unterschiede zwischen den Gruppen sig. bei p < 0,001

Heraus sticht die Gruppe jener mit vollständigem Zukunftspessimismus. Diese Gruppe sieht eine höhere gesundheitliche Gefahr für sich persönlich. Aber auch die wirtschaftliche Gefahr für sich selbst und für Österreich wird als größer wahrgenommen. Allgemein lässt sich festhalten, dass es vor allem die Einschätzungen zur wirtschaftlichen Gefahr sind, welche mit dem Blick in die Zukunft zusammenhängen. Keine signifikanten Unterschiede zeigen sich die gesundheitliche Gefahr für Österreich betreffend.Footnote 9

Auch zeigen sich Unterschiede hinsichtlich der Einschätzung der Gefahr durch Corona nach soziodemografischen Merkmalen. Im Vergleich zu den Männern sind Frauen besorgter in Bezug auf gesundheitliche (individuelle als auch gesellschaftliche) sowie wirtschaftliche Gefahren für die Gesellschaft. Keine Unterschiede gibt es bei den wahrgenommenen individuellen wirtschaftlichen Gefahren. Vergleichsweise hoch sind die wahrgenommenen gesundheitlichen Gefahren – sowohl persönlich als auch gesellschaftlich – unter jenen, die bereits pensioniert sind. Auch sieht diese Gruppe eher wirtschaftliche Gefahren für Österreich. Individuelle wirtschaftliche Gefahr ist dahingegen unter jenen die erwerbstätig sind oder einen sonstigen Erwerbsstatus haben, höher. Etwas geringer werden gesundheitliche Gefahren durch Corona – sowohl individuell als auch für Österreich – von jenen eingeschätzt, die über höhere Bildungsabschlüsse verfügen. Bei den Einschätzungen der wirtschaftlichen Gefahren durch Corona zeigen sich keine Unterschiede bei der Gefahrenwahrnehmung nach Bildungsstatus. Die Wahrnehmung der individuellen gesundheitlichen Gefahr ist bei älteren Personen höher, nicht aber die Wahrnehmung der gesellschaftlichen gesundheitlichen Gefahr. Individuelle wirtschaftliche Gefahren sieht vor allem die Altersgruppe zwischen 31 und 60 Jahren. Wirtschaftliche gesellschaftliche Gefahren werden weniger von der Altersgruppe der bis 30-jährigen gesehen. Keine Unterschiede zeigen sich nach Migrationshintergrund.Footnote 10

4.4 Krisenwahrnehmung und Zukunftspessimismus

Es ist anzunehmen, dass die Konsequenzen der Corona-Krise auf die Zukunftswahrnehmung über direkte Ängste und Bedenken hinausgehen. Dementsprechend wird – basierend auf den eingangs dargelegten Dimensionen der Sozialintegration von Heitmeyer (1994) – abschließend analysiert, inwieweit neben der wahrgenommenen Gefahr durch Corona Desintegrationswahrnehmungen in der Krise auf das Ausmaß an Zukunftspessimismus wirken.

Zur Überprüfung der Hypothesen kommt ein ordinales Regressionsverfahren zur Anwendung. Untersucht wird, inwieweit sich ein höheres Ausmaß an Zukunftspessimismus (von Europapessimismus bis hin zum vollständigen Zukunftspessimismus) erklären lässt (vgl. Typologie Abb. 11.2). Damit kann überprüft werden, ob die einbezogenen Indikatoren unabhängig voneinander dazu beitragen, dass sich Zukunftspessimismus auf mehrere Sphären erstreckt. Es wird vermutet, dass sich unabhängig von der Gefahrenwahrnehmung und Desintegrationsindikatoren Unterschiede nach Erwerbsposition, höchstem Bildungsabschluss sowie nach Alter und Geschlecht bestehen. Entsprechend wird in der Analyse auf den Einfluss dieser Variablen kontrolliert (vgl. Tab. 11.3). Es zeigt sich, dass sich das Ausmaß an Zukunftspessimismus durch die aufgenommenen Variablen zum Teil erklären (R2 von 0,26) lässt.

Tab. 11.3 Einflussfaktoren auf zunehmenden Pessimismus

Hinsichtlich der Ängste vor den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gefahren durch Corona lässt sich festhalten, dass wahrgenommene Gefahren durch das Coronavirus und damit die aktuelle Brisanz der Corona-Krise sich auch in den Zukunftserwartungen der Österreicher*innen niederschlägt. Ausnahme bildet die Einschätzung der gesundheitlichen Gefahr für Österreich. Hier zeigt sich kein signifikanter Effekt.

Unabhängig davon sind es individuelle Deprivationserfahrungen, die eine Ausweitung von Zukunftspessimismus über mehrere Bereiche begünstigen. Wer der Ansicht ist, nicht das zu bekommen, was ihr oder ihm zusteht, blickt in erhöhtem Ausmaß pessimistisch in die Zukunft.

Neben diesen Aspekten kann das Institutionsvertrauen als relevanter Einfluss identifiziert werden. Wer zentralen gesellschaftlichen Institutionen vertraut, geht weniger davon aus, dass es zu negativen Entwicklungen näher bei den persönlichen Lebensumständen kommt. Mit dem Vertrauen in Institutionen dürfte die Überzeugung verbunden sein, dass es diesen gelingt, die Krise zu bewältigen und so in weiterer Folge Einschnitte in näheren Lebensbereichen abzuwenden. Betrachtet man die zentrale Rolle, welche die verschiedensten Institutionen (Regierung, Gesundheitssystem etc.) im Zuge der Corona-Krise einnehmen, verwundert dieses Ergebnis nur wenig.

Zudem sind es das Alter und das Geschlecht, die einen signifikanten Effekt zeigen. Ältere und Frauen gehen unabhängig von wahrgenommenen Gefahren und Desintegration vermehrt von negativen Entwicklungen aus. Tendenziell trifft dies auch auf Personen mit Matura als höchstem Bildungsabschluss zu.

5 Fazit

In den letzten 20 Jahren waren die europäischen Gesellschaften mit verschiedensten Krisen konfrontiert. Parallel lässt sich eine Zunahme sozialer Ungleichheit beobachten (Lengfeld und Ordemann 2017; Nikunen 2016) und subjektiv empfundene Abstiegsängste sind im Steigen begriffen (Kraemer 2010). Gesellschaftlicher Pessimismus, der aus fehlender Anerkennung resultiert, hat im Gleichschritt zugenommen (Aschauer 2017; Heitmeyer 2018). Der Pessimismus hinsichtlich der eigenen Zukunft jedoch nicht notwendigerweise bzw. in geringerem Ausmaß (Fritsche et al. 2017; Prandner et al. 2020b).

Trotz dieser allgemeinen Trends muss die Corona-Krise 2020 als eigenständiges Phänomen diskutiert und analysiert werden. Sie wirkte sich im Gegensatz zu vergangenen Krisenerscheinungen direkt auf alltägliche Lebensbereiche aus. Anpassungshandlungen waren unausweichlich. Auch traf sie Bevölkerungsgruppen unabhängig von ihrem Status in zahlreichen Wirtschaftsbereichen unerwartet.

Disruptive Ereignisse wirken sich auf die – methodisch auch meist als volatil eingeschätzten (Bryman 2016, S. 626) – Einstellungen von Menschen aus. Aktuelle Entwicklungen und damit verbundene Ängste schreiben sich in Zukunftserwartungen fort. Dies geht konform mit den Ergebnissen von Kaniel et al. (2010) vor dem Hintergrund der Finanzkrise und jenen von Hansen (2018) mit Bezug zur Flüchtlingskrise.

Die Auseinandersetzung mit den Erwartungen an die Entwicklung der Lebensbedingungen in verschiedenen Bereichen zeigt deutlich, welch profunden Einfluss die Corona-Krise auf die Zukunftswahrnehmung der österreichischen Bevölkerung hat. Im Vergleich zu den Analysen von Prandner et al. (2020b) aus dem Jahr 2018 kann eine Zunahme an Zukunftspessimismus berichtet werden.

Nichtsdestotrotz lassen sich Hinweise darauf finden, dass das Phänomen des unrealistischen Optimismus (Weinstein 1980) weiterhin vorhanden ist. Je näher die Urteile an den persönlichen Lebensumständen sind, desto seltener wird von negativen Entwicklungen der Lebensumstände in den nächsten Jahren ausgegangen. So antizipiert ein größerer Anteil der Befragten eine Verschlechterung der Lebensumstände in der EU als für Österreich. Des Weiteren ist der Anteil jener, die von einer Verschlechterung in Österreich ausgehen größer als jener, die eine Verschlechterung für die persönlichen Lebensumstände befürchten.

Nichtsdestotrotz hängt die wahrgenommene Gefahr durch das Corona-Virus mit dem Ausmaß an Zukunftspessimismus zusammen. Diese Erkenntnis geht konform mit der Annahme, dass Zukunftserwartungen situativ sind (Kaniel et al. 2010). Unmittelbare Erfahrungen und Veränderungen in der gegenwärtigen Lebensführung fließen zeitnah in Aussichten für die Zukunft ein.

Oft resultieren Krisen auch in der Verschärfung sozialer Ungleichheiten und bergen neue wirtschaftliche sowie politische Risiken. Damit sind sie auch eine ernste Herausforderung für soziale Integration (Heitmeyer 2007). Zukunftserwartungen geben nicht nur Auskunft über die aktuellen Ängste der Österreicher*innen und die eigene und gesamtgesellschaftliche Situation. Ihnen inhärent ist auch das wahrgenommene Potenzial einer Gesellschaft, Krisenphänomene bewältigen und Integration unter den gegebenen Rahmenbedingungen (wieder-)herzustellen zu können.

Die Wahrnehmung individueller Deprivation führt zu vermehrtem Zukunftspessimismus. Fast die Hälfte der Befragten ist der Ansicht, nicht das zu bekommen, was ihnen zusteht, was als Indiz für eine wahrgenommene Strukturkrise gedeutet werden kann. Vor dem Hintergrund der Corona-Krise werden Verteilungsfragen vermehrt in den Vordergrund gerückt bzw. werden offensichtlich. Sofern eine als gerecht wahrgenommene Verteilung von gesellschaftlichen Gütern gewährleistet bleibt und nicht der Eindruck entsteht, dass Teile der Bevölkerung zurückgelassen werden, gelingt es auch, das Ausmaß an Zukunftspessimismus in Grenzen zu halten.

Die Bundesregierung und gesellschaftliche Institutionen wie das Gesundheitssystem sind bei der Bewältigung der Krise von zentraler Bedeutung. Von einer Regulationskrise kann in Österreich – zumindest in der Phase des ersten Lockdowns – nur bedingt gesprochen werden. Das generell heterogene Ausmaß an politischer Involviertheit – weite Teile der Bevölkerung sprechen der Politik nur geringe Relevanz zu und haben ein begrenztes Interesse daran – dürfte einen längerfristigen Trend darstellen. Vertrauen in zentrale gesellschaftliche Institutionen ist grundsätzlich gegeben. Vertrauen in diese Institutionen geht mit einem geringeren Ausmaß an Zukunftspessimismus einher.

Eine Krise des gesellschaftlichen Zusammenhalts lässt sich nicht konstatieren. Grundsätzlich fühlen sich die Österreicher*innen im eigenen Umfeld respektiert und haben Vertrauen in die Mitmenschen. Auch im europaweiten Zusammenhang stellte Aschauer (2017) fest, dass es zwar Hinweise für eine Struktur- und Regulationskrise gibt, aber nicht auf eine Kohäsionskrise. Keiner der beiden aufgenommenen Indikatoren zeigt Einflüsse auf das Ausmaß des Zukunftspessimismus.

Neben den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gefahren durch die Corona-Pandemie sind es damit Fragen der wahrgenommenen Verteilung und Regulation, die in den Vordergrund rücken. Die hier präsentierten Ergebnisse zeigen aber genauso, dass die Einschätzung der persönlichen Zukunft bei einem geringeren Teil der Bevölkerung pessimistisch ausfällt. In Bezug auf Österreich und Europa wird der weiteren Entwicklung mit Pessimismus entgegengeblickt. Anders formuliert: Im persönlichen Bereich, der kontrollierbarer erscheint, sehen die Befragten Potenzial, die Situation zu bewältigen. Auf gesellschaftlicher Ebene – und in erhöhtem Ausmaß was die EU betrifft – sehen sie dieses Potenzial weniger. Ob das, im Sinne der Terminologie, als unrealistisch zu beurteilen ist, kann erst im Zeitvergleich beurteilt werden.