Die Gegenwart der kolonialen und imperialen Vergangenheit ist in den letzten Jahren auch in Deutschland zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Diskurse geworden. Konflikte um Deutungshoheiten, Herrschaftsstrukturen und Partizipationsmöglichkeiten sind ebenso virulent wie Kontroversen über neokoloniale Strukturen in der Zusammenarbeit zwischen vormaligen Metropolen und Kolonien. So überrascht es nicht, dass sich auch die Friedens- und Konfliktforschung vermehrt mit diesem Thema befasst, richtet sich ihr Fokus doch häufig auf Konflikte, die sich außerhalb Europas oder an den Peripherien des Kontinents ereignen, diesen aber oft direkt betreffen und mit der europäischen Geschichte aufs Engste verflochten sind. Die Geschichte imperialer Expansion und kolonialer Herrschaft prägt das Konfliktgeschehen der Gegenwart – und zwar nicht nur in Staaten, die einst kolonisierte Territorien waren, sondern auch in den vormaligen Metropolen kolonialer Reiche. Bewegungen, die sich wie Black Lives Matter mit dem rassistischen Erbe von Kolonialismus und imperialer Expansion auseinandersetzen, sind dafür nur das offensichtlichste Beispiel. Auch Konflikte um Migration oder den Klimaschutz sind mit dieser Geschichte verwoben, denn sie gründen in Strukturen globaler Ungleichheit, die im Zuge imperialer und kolonialer Herrschaft entstanden sind.

Doch prägt die Geschichte des Kolonialismus nicht nur die empirischen Gegenstände der Friedens- und Konfliktforschung. Auch ihrem begrifflichen und theoretischen Instrumentarium ist sie eingeschrieben. Ein Großteil der Forschung in diesem Feld beruht auf Vorstellungen von Gewalt, Konflikt und Krieg, die keineswegs universell, sondern durch die historische Erfahrung Westeuropas und Nordamerikas geprägt sind. Dennoch bilden sie die Grundlage für Ansätze der Förderung von Frieden und Gerechtigkeit, die beispielsweise im Zuge von Friedensmissionen und -projekten in die ganze Welt exportiert werden. In der kritischen Friedens- und Konfliktforschung wird diese Schieflage bereits seit längerem intensiv diskutiert. Doch ist diese kritische Reflexion der Übertragbarkeit und Anwendbarkeit dieser Wissensbestände keineswegs abgeschlossen, nicht zuletzt, weil die Ausdifferenzierung des empirischen Wissens über die Präsenz kolonialer Geschichte in der Gegenwart die Theorieproduktion immer wieder neu herausfordert.

Vor diesem Hintergrund wirft dieses Forum Schlaglichter auf einige aktuelle Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung, die sich der postkolonialen Gegenwart stellen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Entwicklungen in Deutschland. Die Zusammenstellung der Beiträge ist einem interdisziplinären Verständnis des Forschungsfelds verpflichtet, neben den Sozialwissenschaften kommen auch die Geschichts- und die Rechtswissenschaften zu Wort. Der Titel des Forums – Dekolonisiert Euch! – ist bewusst herausfordernd gewählt. Er will das bereits Erreichte nicht leugnen, sondern daran erinnern, dass Entwicklungen in der Gegenwart immer wieder neu zur Reflexion der kolonialen Vergangenheit auffordern.

Mit Stuart Hall (1996) verstehen wir den Begriff „postkolonial“ nicht chronologisch als Zeit nach oder Bruch mit dem Kolonialismus, sondern als Verweis auf eine Gegenwart, der die koloniale Vergangenheit eingeschrieben bleibt und in der diese weiterhin wirkmächtig die Dynamiken von Frieden, Konflikt und Krieg (mit)bestimmt. Postkoloniale Ansätze in der Friedens- und Konfliktforschung erfordern die Analyse und Offenlegung dieses Vermächtnisses. Sie eröffnen kritische, emanzipatorische Perspektiven, die Herrschaftsstrukturen offenlegen, herausfordern und verändern möchten. Oft wird in diesem Zusammenhang auf die Machtasymmetrie zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden verwiesen – Begriffe, die weniger als räumliche Verweise denn als Metaphern für Macht und Ohnmacht zu verstehen sind (Bilgin 2018). Wie dieses Verhältnis kolonial geprägt ist und welche Formen es annimmt, ist Gegenstand dieses Forums.

1 Besonderheiten des deutschen Kontexts

Die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit und die Entwicklung postkolonialer Forschungsperspektiven ist ein globales intellektuelles Projekt. Doch Debatten darüber finden stets an konkreten Orten statt. Sie sind also nicht nur in einen globalen Diskurszusammenhang eingebettet, sondern auch in lokale Kontexte, die durch eine je spezifische nationale und/oder imperiale Geschichte sowie durch bestimmte aktuelle Problemlagen geprägt sind. Auch wenn ähnliche Fragen gestellt, vergleichbare Probleme verhandelt und die gleichen Texte gelesen werden, ist die Debattenlandschaft in Deutschland nicht dieselbe wie in Frankreich oder den Vereinigten Staaten. Deshalb ist es sinnvoll, diesen Kontext genauer in den Blick zu nehmen.

In Deutschland erreichte die Diskussion über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit zum ersten Mal anlässlich der Eröffnung des Humboldt Forums im Berliner Stadtschloss Ende 2020 eine breitere bundesweite Öffentlichkeit. Im wieder errichteten früheren Hauptsitz der Hohenzollern-Monarchie sollten die großen ethnologischen Sammlungen BerlinsFootnote 1 ein neues Zuhause finden. Mit dem Transfer dieser größtenteils im Zuge kolonialer Wirtschafts- und Herrschaftsprojekte zusammengetragenen Objekte in den ehemaligen Prachtbau preußischer Monarchen verschränkten sich unterschiedliche Stränge deutscher Geschichte an einem Ort. Im Herzen der Hauptstadt der Bundesrepublik führt das Humboldt Forum so vor Augen, wie eng auch in Deutschland nationale historische Erzählungen mit imperialer und kolonialer Geschichte verflochten sind.

Die Kontroversen um das Humboldt Forum stellten den ersten Höhepunkt einer Entwicklung dar, die lange zuvor begonnen hatte. Bereits im Jahr 2001 hatte eine namibische Stiftung vor einem US-amerikanischen Gericht Klagen gegen drei deutsche Großunternehmen sowie die Regierung der Bundesrepublik Deutschland eingereicht und Reparationen für den Genozid an den Herero zwischen 1904 und 1907 durch die deutsche Kolonialarmee gefordert. Auch wenn diese Klage keinen Erfolg hatte, halten die Bemühungen der Nachfahren der Opfer an.Footnote 2 Dabei gelten ihnen die Entschädigungszahlungen der Bundesrepublik an Überlebende des Holocaust als entscheidender Präzedenzfall (z. B. Rausch 2022).

Forderungen nach der Restitution von Kulturgütern und Kunstgegenständen stellten einen weiteren Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit dar. Der Streit um die Rückgabe führte die praktische Komplexität der Herstellung postkolonialer Gerechtigkeit vor Augen, denn wer in der gegebenen Situation Verantwortung und Verfügungsgewalt für diese Objekte beanspruchen kann – und mit welcher Rechtfertigung –, ist alles andere als trivial.Footnote 3

Eine letzte wichtige Arena waren schließlich Debatten um die Umbenennung von Straßen und Institutionen, die nach Protagonisten kolonialer Expansionspolitik oder deren Eroberungen benannt waren. Sie sorgten dafür, dass die Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit nicht nur in der Hauptstadt- und der Bundespolitik an Bedeutung gewann, sondern auch auf lokaler Ebene.

Zusammengenommen sorgten diese Entwicklungen dafür, dass die imperiale und koloniale Geschichte Deutschlands, die bis dahin nur in spezialisierten Kontexten diskutiert worden war, ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit geriet. Und sie lösten Debatten darüber aus, welche Stellung diesem Teil deutscher Geschichte innerhalb der nationalen Erinnerungskultur zukommen sollte. Konflikte um die postkoloniale Verfasstheit der Gegenwart entstanden also nicht nur in der Auseinandersetzung mit empirischen Gegenständen wie Gebäuden, Straßenschildern oder musealisierten Objekten, sondern auch in der Auseinandersetzung mit Vorstellungen und Ideen. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie die Gewaltgeschichte des (deutschen) Kolonialismus zur Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus ins Verhältnis gesetzt werden konnte. Im Zentrum der in der Bundesrepublik dominanten Erinnerungskultur hatte stets die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gestanden. Letzterer stellte den maßgeblichen historischen Referenzpunkt für das Verständnis der Vergangenheit wie auch für die Deutung der Gegenwart dar. Mit den oben beschriebenen Debatten gewinnen nun Perspektiven an Gewicht, in deren Zentrum die historische Erfahrung der Dekolonisierung steht. Diese diskursive Erweiterung spiegelt nicht nur Entwicklungen akademischer Diskurse, sondern vor allem auch demographische Veränderungen wider. In einem Land, in dem bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren zwei von fünf einen sogenannten Migrationshintergrund haben, kann nicht mehr selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass die öffentliche Erinnerungskultur mit (familien-)biographischen Erfahrungen zusammenfällt.

Auf die Praxis öffentlichen Erinnerns in Deutschland wirken postkoloniale Stimmen in doppelter Weise destabilisierend. Erstens fordern sie dazu auf, darüber nachzudenken, wie zwei unterschiedliche Momente deutscher Gewaltgeschichte in der Erinnerungskultur einer zunehmend heterogenen Gesellschaft aufgehoben sein können. Zweitens problematisieren sie eine Diskursfigur, die gerade in deutschen Debatten um die jüngere Vergangenheit einen wichtigen Stabilitätsanker darstellte: Europa. In der Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus hatte das Bekenntnis zu Europa eine zentrale Rolle gespielt. Es markierte die Abkehr von kruden Formen des politischen Nationalismus’ und stellte eine wichtige Voraussetzung für den Wiedereintritt Deutschlands in den Kreis jener Staaten, die sich selbst als „zivilisiert“ beschrieben, dar. In diesem Kontext stand Europa für die Geschichte der Aufklärung, des Fortschritts und nach dem Ende des Kalten Krieges zunehmend auch für eine Geschichte des Friedens. Nicht selten trat unter den Nachgeborenen die Identifikation mit Europa an die Stelle der Identifikation mit der Nation. Postkoloniale Forschungen, die sich nicht zuletzt an imperialer Gewalt und kolonialer Unterdrückung abarbeiten, stellen dieses Bild in Frage. Sie fordern also nicht nur zur Konfrontation mit der imperialen und kolonialen Geschichte Deutschlands auf, sondern auch zur kritischen Auseinandersetzung mit Europa.

Diese Debatten um empirische Gegenstände und Ideen machen deutlich, dass die koloniale Geschichte nicht vergangen, sondern eine Gegenwart ist, die politische und gesellschaftliche Strukturen wie auch soziale Beziehungen auf vielfältige Weise beeinflusst.

2 Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung

Seit Bettina Engels’ (2014) ersten Überlegungen zur Relevanz postkolonialer Studien für die Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland haben sich um diese Frage auch im deutschsprachigen Raum rege Diskussionen entwickelt. Das von Cordula Dittmer (2018) herausgegebene Sonderheft der Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung mit dem Titel Dekoloniale und Postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung bildete einen ersten Zwischenstand dieser Debatten ab. Doch verfolgen postkoloniale Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung unterschiedliche Anliegen, selbst wenn Wissenschafts- und Herrschaftskritik in der Regel im Zentrum stehen. Dem Stand der Forschung grobe Konturen zu geben fällt nicht leicht, geht es doch um eine Vielzahl verschiedener Fragestellungen. Dennoch haben sich in den deutschen und auch in internationalen Debatten einige Schwerpunkte herauskristallisiert, die im Folgenden umrissen werden sollen.

Eine Vielzahl aktueller Publikationen befasst sich mit der Produktion von Wissen im Allgemeinen (Ndlovu-Gatsheni 2018; Capan 2017), oder konkret in der Friedens- und Konfliktforschung (Randazzo 2021; Hudson 2016), und verweist auf die Macht von WissenschaftlerInnen und ExpertInnen aus dem globalen Norden bei der Bestimmung von Agenden, Ansätzen und Abläufen. Diese Forschungsliteratur kritisiert beispielsweise die Logik liberaler Friedenskonzepte (Nadarajah und Rampton 2015; Sabaratnam 2013) oder von Theorien der Sicherheit und des Staatsaufbaus (Lottholz 2019). Darüber hinaus problematisiert sie die Persistenz imperial und kolonial geprägter Vorstellungen und Vorurteile im Wissen über Krieg und Frieden und analysiert die Mechanismen der Verbreitung dieser Ideen (Jabri 2013; Rodriguez Iglesias 2020). Claudia Brunner beschreibt diese neo-kolonialen Wissensbestände des Forschungsfelds als eine Form der epistemischen Gewalt (2018).

Ansätze aus dem globalen Norden können also nicht selbstverständlich als universal gelten, sie müssen historisch verortet werden. So diskutiert Joël Glasman (2022) in diesem Forum die Genese von Normen, die wie etwa die Menschenrechte als universal gelten, und er arbeitet dabei deren lokale Verankerung heraus. Ähnlich fordert beispielsweise auch Nikita Dhawan (2012), dass das Konzept von Gerechtigkeit, das Transitional Justice zugrunde liegt, historisiert und dekolonisiert werden muss. Das Verlernen (unlearning) von Konzepten, die mit der imperialen Expansion Europas globale Verbreitung gefunden haben, soll zu einem Neulernen (relearning) im Horizont alternativer Verständnisse führen (Boatcă 2021; siehe auch den Beitrag von Basil 2022 in diesem Forum). Dazu bedarf es einer Dezentralisierung der Wissenslandschaft (Tripathi und Roepstorff 2020), der Berücksichtigung alternativer Wissensbestände (siehe Ketzmerick und Sydiq 2022 sowie Brunner 2022 in diesem Heft) sowie der Schaffung von Räumen, in denen „indigene Ansätze“ entwickelt und reflektiert werden können (Brigg et al. 2022). In der Friedens- und Konfliktforschung sind solche alternativen Wissensbestände bislang weitgehend abwesend. Doch soll diese Diagnose nicht dazu einladen, nun nach „exotischen Ansätzen“ zu suchen oder indigenes Wissen zu romantisieren. Vielmehr geht es um die Öffnung, Pluralisierung und Diversifizierung der Räume, in denen Wissen produziert und reflektiert wird.

Ein weiterer Topos ist der Umgang mit der Gewalt des Kolonialismus an sich, sowohl in Form von struktureller als auch direkter Gewalt. Dabei geht es in Deutschland nach langem Schweigen vor allem um den Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia (Häussler 2018), wobei auch Fragen der (juristischen) Aufarbeitung eine wichtige Rolle spielen, wie der Beitrag von Sarah Imani und Karina Theurer (2022) zu diesem Forum zeigt. Schon länger gibt es in der Friedens- und Konfliktforschung Arbeiten, die fordern, postkoloniale Gerechtigkeit dadurch voranzutreiben, dass die Verbrechen der ehemaligen Kolonialmächte im Sinne von Transitional Justice aufgearbeitet werden (Park 2020; Durdiyeva 2022; Maddison und Shepherd 2014; Yusuf 2018). Solche Prozesse könnten auch dazu beitragen, die Darstellung und Erinnerung kolonialer Beziehungen nachhaltig zu verändern. Bis heute werden koloniale Subjekte und deren Nachfahren nicht selten bedenkenlos objektifiziert und exponiert. Dies zeigt sich beispielsweise in Museen oder Ausstellungen, in denen sie an der (Re‑)Präsentation und Interpretation ihrer Erfahrungen und Objekte oft noch immer unzureichend beteiligt werden, wie die Schriftstellerin und Aktivistin Priya Basil (2022) in einem Interview in diesem Forum argumentiert. Wie sich ein verändertes Erinnern an Verbrechen des Kolonialismus zum Erinnern an die Shoah verhält, wird aktuell besonders kontrovers diskutiert (Assmann 2021; Rothberg 2009; Sznaider 2022; Neiman und Wildt 2022).

Dass eine strikte Trennung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt – the West and the rest (Hall 1992) – nicht aufrechtzuerhalten ist, sondern globale Beziehungen historisch gewachsen und daher verflochten sind (Conrad und Randeria 2002), wird auch in der Friedens- und Konfliktforschung reflektiert und führt zu Forderungen, über die Zeit gewachsene Machtbeziehungen und Verflechtungen offenzulegen. So befassen sich einige Studien mit extern initiierten Friedensbemühungen, mit dem liberalen Frieden und mit dessen Umsetzung in Nachkriegsgesellschaften. Sie argumentieren, dass Friedensförderung nur erfolgversprechend ist, wenn grundlegende koloniale Strukturen Beachtung finden (Cárdenas 2022). Andere zeigen auf, wie sich koloniale Logiken in Institutionen wie den Vereinten Nationen fortsetzen (Bonacker 2022; Ketzmerick 2019; Lüdert et al. 2022), wie souveräne Nationalstaaten in Afrika als Erbe des Kolonialismus die Zwangsrückführung von Geflüchteten betreiben (Zanker und Altrogge 2022), wie Bürgerkriegsgewalt in kolonialen Strukturen verhaftet ist (Jenss 2018) oder wie transnationale Konzepte der Sicherheitsgovernance wirken (Hönke und Müller 2012).

Schon klassisch zu nennen sind die Debatten der Friedens- und Konfliktforschung über diskursive Repräsentationen von Menschen in Konfliktgebieten und deren Othering, vor allem bei Konflikten im sogenannten globalen Süden (Jabri 2013; Lorenz 2018; Jaji und Krause 2022 in diesem Heft). Wie Fernández und Guerra (2020, S. 1047–8) hervorheben, werden Friedensschaffende oft als handlungsmächtige AkteurInnen dargestellt, während diejenigen, die in den Konfliktregionen zu Hause sind, als passive und für den Friedensprozess nur am Rande relevante Personen gerahmt werden. So schreiben sich Machtverhältnisse fort, die ihnen Vernunft, Handlungsmacht, intellektuelle Kompetenz und Menschlichkeit absprechen. Solche Darstellungen von Menschen und Regionen als rückständig und unterlegen tragen auch dazu bei, Interventionen von außen zu rechtfertigen (Jabri 2013). Doch das Othering ist nicht nur in den Kriegs- und Krisengebieten des globalen Südens folgenreich. Wie Rose Jaji und Ulrike Krause (2022) in diesem Forum zeigen, wirkt es sich auch auf die Wahrnehmung von Geflüchteten in den reichen Ländern der Welt aus.

3 Beiträge zu diesem Forum

Die Forumsbeiträge stehen im Kontext internationaler post- und dekolonialer Debatten in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Besonderes Interesse gilt deren Relevanz in der deutschen Geschichte und Gegenwart. Methodologisch leitend ist dabei die Idee, dass die Rekonstruktion und Analyse der Gegenwart kolonialer und imperialer Geschichte nur im Gespräch verschiedener Disziplinen möglich ist. Deshalb bringt das Heft Beiträge aus den Geistes‑, Sozial‑, Kultur- und Rechtswissenschaften sowie der Kunst zusammen.

Das Forum beginnt mit einer epistemologischen Diskussion. In ihrem Beitrag Still Loving the F‑Word. Ein feministisches Plädoyer zur Stärkung post- und dekolonialer Friedens- und Konfliktforschung plädiert die Politikwissenschaftlerin Claudia Brunner dafür, feministische und intersektionale Perspektiven für post- und dekoloniale Ansätze aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Gewalt, Krieg und Konfliktregelung – sowie die Friedens- und Konfliktforschung an sich – sind in Herrschaftsverhältnisse eingebettet, die weit in die Geschichte zurückreichen und die es zu analysieren gilt. Brunner stellt dar, wie die koloniale Moderne Praxen des Fragmentierens, Klassifizierens und Hierarchisierens hervorgebracht hat, die die Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen, aber auch von Menschen in (post-)kolonialen Verhältnissen, ermöglichen. Es sei eine der zentralen Aufgaben des Felds, so ihr Argument, „Hegemonie(selbst)kritik“ zu üben und sich analytisch und theoretisch mit vermachteten Gewaltstrukturen im globalen Kontext zu befassen. Um dies zu erreichen, verweist sie auf interdisziplinäre intersektional-feministische Ansätze, die in Verbindung mit antikolonialer Theorie und aktuellen post- und dekolonialen Debatten als Inspiration für eine Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung dienen können.

Aufgegriffen wird Brunners Plädoyer von Maria Ketzmerick und Tareq Sydiq in ihrem Artikel Europa dezentralisieren als Strategie – Was bedeutet „nicht-westlich“ in der und für die Friedens- und Konfliktforschung?, in dem sie sich mit „nicht-westlichen“ Wissensproduktionen befassen. Gegenstand der Überlegung der beiden PolitikwissenschaftlerInnen sind dabei weniger inhaltliche als vielmehr methodologische Fragen. Sie schlagen die vergleichende Lektüre von Literaturen vor, die abseits des sogenannten Westens und oft in Abgrenzung zu diesem entstanden sind. So vergleichen sie die drei Theoriegeflechte Nahda, Négritude und Nihonjinron, um Hierarchien zwischen „dem Westen und dem Rest“ hervorzuheben, ohne diese zu reproduzieren. Auf diese Weise machen sie Wissen und Wissensproduktion auch jenseits des westlichen Kanons sichtbar und tragen zu dessen Anerkennung bei.

Wissen und Normen aus ihrem Kontext heraus zu verstehen, ist ein weiteres Anliegen postkolonial sensibilisierter Forschung. So plädiert der Geschichtswissenschaftler Joël Glasman in seinem Artikel Universale Normen fallen nicht vom Himmel. Wie aus lokalen Interessen globale Konventionen gemacht werden für eine Historisierung globaler Normen. Am Beispiel der Menschenrechte, dem Grundsatz der Unparteilichkeit sowie der Flüchtlingskonvention illustriert er, wie diese Normen durch lokale Machtkämpfe entstanden sind und daher partikulare räumlich und zeitlich bedingte Interessen reflektieren. Über die Zeit erlangten diese Normen eine globale Ausbreitung und Legitimität, so dass sie heute als universal betrachtet werden. Glasman zeigt, dass Begriffe wie lokal und global/universal wenig Erklärungskraft besitzen, da das Lokale zum Globalen avancieren kann. So lässt sich sein Text als weiterer Beitrag zu einer Historisierung des Eurozentrismus und einer „Provinzialisierung Europas“ (Chakrabarty 2000) lesen.

Daran anknüpfend analysiert der Beitrag Exklusives Flüchtlingsschutzregime, koloniale „Andere“ und Geschlechterdichotomien der Politikwissenschaftlerinnen Rose Jaji und Ulrike Krause globale Flüchtlingsregime. Er legt deren rassifizierte und binärgeschlechtliche Strukturen offen, die sich an einer West/Rest-Logik orientieren. Die Autorinnen rekonstruieren die Entstehung des Regimes und zeichnen nach, wie es abhängig von der Herkunft der Geflüchteten unterschiedliche Formen annahm. Für den postkolonialen afrikanischen Kontinent bedeutet dies aktuell, dass Flüchtlingsschutz als humanitäre Hilfe verstanden wird, nicht als Rechtsanspruch. Zugleich hat sich ein Bild von Geflüchteten aus dem globalen Süden entwickelt, in dem Männer als Gefahren und Frauen als Geschädigte und Hilfsbedürftige betrachtet werden. Dies, so die Autorinnen, steht im Kontrast zu Geflüchteten beispielsweise aus Osteuropa, die in sehr viel stärkerem Maße als souveräne und eigenständige AkteurInnen wahrgenommen werden.

Fragen nach Rechtsansprüchen und Akteursstatus stehen auch im Zentrum des Beitrags der Rechtwissenschaftlerinnen Sarah Imani und Karina Theurer, der sich mit dem Kampf um Reparationen befasst. In ihrem Artikel Reparationen für Kolonialverbrechen – die ambivalente Rolle des Rechts am Beispiel der Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia untersuchen sie die Bedeutung des Völkerrechts bei der Aufarbeitung von Kolonialverbrechen. Am Beispiel der Debatte um monetäre Entschädigungen der Bundesregierung für den Genozid an Ovaherero und Nama in der ehemaligen deutschen Kolonie Namibia illustrieren sie die ambivalente Anwendung von Recht und plädieren dafür, es zu dekolonisieren. Das Völkerrecht, so ein zentrales Argument, transportiert systemische und epistemische Gewalt, indem es koloniale Wissensbestände und Machtverhältnisse verstetigt. Dies zeigt sich in Fragen der Verantwortung, in rassistischen Grundzuschreibungen und in der (post‑)kolonialen Grundannahme der Überlegenheit westlicher Norm- und Wertesysteme.

Das Forum schließt mit einem Interview mit der Schriftstellerin und Aktivistin Priya Basil. Im Zentrum ihrer Überlegungen On Remembering, Unlearning, and Creating New Stories steht die Frage, wie koloniale Verbrechen erinnert werden können und welche Widerstände dabei überwunden werden müssen. Ausgehend vom Humboldt Forum im neu errichteten Berliner Stadtschloss, in dem seit Ende 2020 die ethnographischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ausgestellt werden, denkt sie über Machtasymmetrien zwischen Förderern und Ausgestellten, zwischen kolonialen Herrschern und kolonial Beherrschten, sowie über unterschiedliche Erinnerungsdiskurse in Deutschland und anderswo nach. Sie diskutiert auch, welche Rolle die Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Forschung in ihrer Arbeit spielt und wie sie die literarische Herangehensweise nutzt, um Erzählungen neu zu schreiben und verstummte, zum Schweigen gebrachte Stimmen aufleben zu lassen.