‚Lokalisierung‘ ist eines der Schlagwörter der Stunde. Seit dem humanitären Weltgipfel und dem von der Vereinten Nationen ausgerufenen Grand Bargain zwischen Geldgebern und Hilfsorganisationen hat sich das Wort als neuer Grundsatz der humanitären Hilfe etabliert. Nichtregierungsorganisationen, Internationale Organisationen und Regierungen tragen diese Sorge gemeinsam. Auch das Auswärtige Amt Deutschlands will humanitäre Leistungen lokalisieren. ‚Lokalisierung‘ zielt auf die stärkere Einbeziehung der ‚Akteure vor Ort‘ in die Entscheidungsfindung sowie auf die Sensibilisierung für die örtlichen Gegebenheiten. Einer Studie von ReliefWeb zufolge zählt das Wort derzeit zu den am häufigsten verwendeten Begriffen im Bereich der internationalen Hilfe (Barnett 2020). Es entstanden parallel mehrere Expertennetzwerke zur Frage der Lokalisierung der Hilfe.Footnote 1 Nicht zuletzt der politische und intellektuelle Kontext im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung und der Aufruf zur „Dekolonisierung der humanitären Hilfe“ haben dazu beigetragen, die „Lokalisierung“ der Hilfe als möglichen Ausweg aus dem kolonialen und rassistischen Erbe zu stilisieren (Khan et al. 2021; Slim 2020; Barnett 2020).

Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass der Begriff der Lokalisierung auch seine Tücken hat. Es gibt keinerlei Einigung darüber, was lokal eigentlich bedeutet: Bezieht sich dieses Wort auf Nachbargemeinden, auf Graswurzelbewegungen oder auf staatliche Akteure? Geht es um lokale Geografie, um lokale Netzwerke oder um soziale Beziehungen? Nicht ohne Grund befürchten BeobachterInnen, dass die dominante Konzeption von Lokalisierung eine essentialistische Weltsicht vermittelt: Lokalisierungsinitiativen beziehen sich oft auf partikulare, traditionelle oder parochiale Gruppen im Global Süden. Im humanitären Diskurs wird vorschnell alles als ‚lokal‘ bezeichnet, was nicht als wirklich modern, international oder universal gilt (Roepstorff 2019).

Doch nicht nur das Lokale ist problematisch, sondern auch das Universale, das oft als Gegenpol der Dichotomie fungiert. Nicht wenige Äußerungen zur internationalen Politik beruhen auf einer Polarisierung zwischen dem Universalem und dem Lokalen. Seitdem sich der Begriff der „Globalisierung“ in den 1990er-Jahren etabliert hat, werden „global“ und „universal“ zunehmend als Synonyme verwendet (während „Lokal“ zunehmend mit „partikularistisch“ verwechselt wird). Beim Duktus der „Lokalisierung“ wird oft deutlich, dass das „Lokale“ rasch als „asymmetrischer Gegenbegriff“ des Universalen degradiert werden kann (Koselleck 1989): Wer in der humanitären Hilfe „lokal“ sagt, meint nicht selten „nicht wir“, und verweist damit meist auf eine Sicht, die situativ bedingt ist, im Unterschied zur eigenen Sicht, die sich gerne als die „Sicht aus dem Nirgendwo“ gibt.Footnote 2

Es wird jedoch selten hinterfragt, woher das „Universale“ eigentlich kommt. Universale Normen werden gerne als zeitlose und metaphysische Ideale behandelt. Doch auch universale Normen haben ein Geburtsdatum und ein Geburtsort. Die Geschichte internationaler Institutionen führt zu identifizierbaren Orten (nicht selten Büroräumen in New York oder Genf), in denen identifizierbare Individuen (nicht selten weiße Männer im Anzug) nicht zuletzt ihr partikulares Interesse im Blick haben. Die Entstehungsgeschichten universalistischer Normen und internationaler Organisationen sind von Konflikten und Machtkämpfen geprägt.

Diese Spannung zwischen universalistischen und partikularistischen Logiken spiegelt sich beispielsweise im 2011 veröffentlichten Afrika-Konzept der Bundesregierung. Dieses erzählt nicht nur von „deutsche Interessen“, sondern auch von „universalen Werten“.Footnote 3 Als Beispiele für universale Werte werden Menschenrechte, Demokratie und Flüchtlingsstandards aufgeführt. Die Afrikapolitik der Bundesregierung soll an diesen gemessen werden. So soll es gelingen, deutsche Interessen (vor allem: wirtschaftliche und sicherheitspolitische) und universale Werte (Menschenrechte, Demokratie, Flüchtlingsstandard) in Einklang zu bringen.

Doch wo kommen diese „universalen Werte“ eigentlich her? Die Frage wird selten gestellt. Dabei drängt sie sich gerade im heutigen Kontext auf. Denn das Afrika-Konzept der Bundesregierung formuliert das Ziel, „universale Werte“ nach Afrika zu exportieren – doch sollte man diese Werte, wenn sie tatsächlich „universal“ sind, nicht bereits vor Ort vorfinden? Hier scheint ein Paradox vorzuliegen, das zur genaueren Analyse aufruft.

Um einen Einwand gleich vorwegzunehmen: Es geht im Folgenden nicht bloß darum, universale Werte als Deckmantel westlicher Interessen zu entlarven. Es wird lediglich daran erinnert, dass selbst Menschenrechte oder Flüchtlingsstandards (die man übrigens nicht als ‚Werte‘ bezeichnen sollte, sondern als das, was sie sind, nämlich juristische Normen) in jeweils spezifischen Kontexten entstanden sind – und dass sie bis heute durch diese Kontexte der Entstehung geprägt sind. Die Erkenntnis, dass auch globale politische Institutionen ihren Urpsrung in lokalen Konflikten haben, führt nicht notwendiger Weise dazu, dass man auf diese Institutionen verzichten müsse. Im Gegenteil: Wer universelle Normen verteidigen will, ist gut daran beraten, sich über deren Geschichtlichkeit zu informieren. Es könnte das eine oder andere Missverständnis vermieden werden, würden die eigenen Werte weniger häufig mit denen des Universums verwechselt.

Die geisteswissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren einiges geleistet, um universale Normen zu „lokalisieren“ (diesmal im epistemologischen Sinn) oder auch zu „de-ontologisieren“. Die sogenannte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) hat das Problem umfassend behandelt. Nichts ist universal, was nicht zunächst universal gemacht wurde, erklärt Bruno Latour. Weder die Mathematik, noch die Biologie, noch das Universum selbst. Aufgabe der Soziologie sei es, das Globale zu verorten, also bei jedem vermeintlich globalen Ding zu fragen: Wo findet das statt? In welchem Raum? „Es gibt keinen globalen, alles umfassenden Ort“, schreibt Latour. Dinge können groß sein – doch Dinge groß zu machen, das hat immer einen Preis (Latour 2010).Footnote 4 Wer Orte verbinden und verknüpfen will, kann dies tun, aber es kostet Mühe und Zeit. Wir können uns nicht beamen wie Crew und Passagiere des Raumschiff Enterprise. Akteure können Dinge zusammenbinden und verflechten. Und das Verflochtene kann am Ende beeindruckende Dimensionen annehmen (das Internet, der Kapitalismus, die Wissenschaft). Doch jede Panne (Computerabsturz, Krise der Subprimes, Kategorienfehler) lässt einige und einiges durchs Netz rauschen. Akteure müssen erneut verflechten, verbinden, verknüpfen. Die Soziologie folgt Akteuren in ihren Versuchen, Netzwerke zu bauen.

Auch die postcolonial studies haben sich mit dem Problem des Universalen beschäftigt – wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Vor einem Vierteljahrhundert hat Dipesh Chakrabarty (2000)Footnote 5 seine Kritik der universalen Vernunft vorgelegt. Sein Aufruf zur Provinzialisierung von Universalkategorien wie „Staat“, „Demokratie“, „Rationalität“, „Zivilgesellschaft“, „Öffentlichkeit“, „Individuum“, deren Soziogenese tief in die europäische Geschichte führt, wurde breit rezipiert. Die Geschichtlichkeit des Eurozentrismus ist mittlerweile gut etabliert: Die postcolonial und decolonial studies haben die Frage der Herkunft des Wissens zu einem der Kernaspekte der epistemologischen Kritik gemacht, wie die Synthese von Sabelo Ndlovu-Gatsheni (2018) zeigt. Freilich mündet Chakrabartys Kritik nicht in einem allgemeinen Relativismus. Ihm geht es nicht darum, auf das Universale zu verzichten, sondern lediglich darum, dessen inneren Spannungen aufzuzeigen. Universale Konzepte, so Chakrabarty, sind „unabdingbar und unzureichend“ (indispensable and inadequate).

HistorikerInnen, auch jene, die weder der ANT noch den postcolonial studies zuzuordnen sind, haben sich in den letzten Jahren mit der Historizisierung des Universalen beschäftigt. Ihre Bemühungen wurden belohnt und befeuert durch die Eröffnung von Archivfonds von Internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. Das UNO-Flüchtlingswerk, die Weltgesundheitsorganisation (WHO), UNICEF, aber auch Ärzte ohne Grenzen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, Oxfam und viele mehr haben weitreichende Katalogisierungs‑, Digitalisierungs- und Forschungsprojekte ins Leben gerufen. Die Geschichte internationaler Normen boomt, nicht nur, weil HistorikerInnen inzwischen mit einem kritischen globalhistorischen Instrumentarium ausgestattet sind, sondern auch weil sie sich das Material anschauen können, aus dem einst die Normen gemacht wurden (Schröder 2011; Kott 2011).

Was können uns diese historischen Untersuchungen erzählen? Was haben sie über universalen Normen, von denen zu oft behauptet wird, sie seien immer und überall bereits da gewesen, zu sagen?

Besonders umfänglich wurde die Geschichte der Menschenrechte untersucht (Klose 2011; Hoffmann 2018; Eckel 2015). Der Historiker Samuel Moyn (2012) hat festgestellt, dass Menschenrechte erstaunlich spät eine zentrale Rolle in internationalen Diskursen eingenommen haben. Die in Paris 1948 unterschriebene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schlug Anfangs kaum Wellen. Es unterschrieben zunächst 58 Staaten das Dokument, im Laufe der 1960er-Jahre kamen immer mehr dazu, doch de facto wurde relativ selten auf diese Normen Bezug genommen. Erst in den 1980er- bis1990er-Jahren haben sich Menschenrechte als Goldstandard internationaler Beziehungen durchgesetzt. Davor – etwa in der unmittelbaren Nachkriegszeit und während der Dekolonisierung – wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte selten als politisches Argument benutzt. Moyns (2018) These: Die Menschenrechte wurden wenig verwendet, weil sie einen relativ niedrigen Standard setzten in einer Zeit, in der die Hoffnungen und Ambitionen sehr viel weiter reichten. Sozialisten, Kommunisten und Sozialkatholiken der 1950er-Jahren wollten nicht bloß ein Überlebensminimum in Aussicht stellen. Ihnen ging es eher um Wohlfahrtsstaatlichkeit als um Menschenrechte. Parteien und Gewerkschaften führten einen Kampf, der sehr viel weitreichender war als das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beschworene Existenzminimum: Es ging um soziale Gerechtigkeit. Ziel war es nicht einfach nur, Habenichtsen das Überleben zu garantieren. Die Selbstbereicherung der Wohlhabenden sollte begrenzt werden, um so die Schere der Ungleichheiten zu schließen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde in einer Periode unterschrieben, in der der politische Diskurs deutlich höhere Ansprüche ins Zentrum rückte (Moyn 2018, S. 46).

Moyn zeigt, warum Menschenrechte aus der Sicht politischer Eliten in der „Dritten Welt“ keine Priorität darstellten. Nach den Versprechungen der Unabhängigkeit konnten sie sich nicht mit minimalistischen Rechten begnügen. Ihnen schwebte eine neue Weltwirtschaftsordnung vor. Julius Nyerere versprach „freedom from hunger, sickness and poverty“, während Kwame N’krumah die Zielvorgabe formulierte: „abolish from Ghana poverty, ignorance and disease“ (zit. nach Moyn 2018, S. 101). Dieser Kampf gegen Armut hieß nicht nur, ein Existenzminimum zu sichern, sondern auch, eine Begrenzung des Reichtums. „We have to work towards a position where each person realizes that his rights in society (above the basic needs of every human being) must come second to the overriding need of human dignity for all“, erklärte Nyerere (zit. nach Moyn 2018, S. 103).

Nicht die Menschenrechte waren universal, sondern der Kampf gegen Ungleichheiten. Im Rahmen der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) und der Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung (1974) setzte sich die blockfreie Bewegung für globale Gerechtigkeit und Umverteilung ein (Gilman 2015). Erst als die Bemühungen um eine neue internationale Weltwirtschaftsordnung scheiterten, fing man an, sich für die Menschenrechte zu interessieren.

Die Geschichte der Menschenrechte knüpft unvermeidlich an die Geschichte der Vereinten Nationen an und das in der Charta verkündeten Ziel: Weltfrieden. Die VN werden oft als Zusammenschluss unabhängiger Nationalstaaten dargestellt, die die Schrecken des Krieges hinter sich lassen und den Weltfrieden sichern wollten. Laut ihrer eigenen Geschichtsdarstellung, liegen die Wurzeln der VN in der Erkenntnis der Grausamkeiten des Krieges und des Holocausts: Atlantik-Charta (1941), die Erklärung der Vereinten Nationen (1942), die Konferenz von Jalta (Februar 1945) und schließlich die Konferenz von San Francisco (1945) werden als die wichtigsten Etappen aufgelistet. Doch diese Erzählung verschweigt, dass zum Zeitpunkt der Konferenz von San Francisco noch ein Drittel der Weltbevölkerung in einem von einer europäischen Metropole kolonisierten Territorium lebte. Die Unterzeichner der VN-Charta waren keine Nationalstaaten. Es waren Imperien. Das politische Bekenntnis zu den Menschenrechten wurde also nicht von friedliebenden Ländern, die dem Krieg abgeschworen hätten, propagiert. Die Unterzeichnerstaaten führten Kriege – in Algerien, Ägypten, Kenia, Vietnam, Angola, Guinea, Mosambik und anderswo.

Vor diesem Hintergrund stellt der Historiker Mark Mazower heraus, dass die VN nicht als Bollwerk der Emanzipation konzipiert wurden, sondern als Dispositiv der Aufrechterhaltung kolonialer Imperien. Von der Atlantik-Charta (1941), der Aussicht auf „self-government“ und „respect the right of all peoples to choose the form of government under which they will live“ blieb 1945 nicht viel mehr übrig. Als Churchill und Roosevelt versprachen „denjenigen ihre souveränen Rechte wiederzugeben, denen sie mit Gewalt entzogen wurden“ hatten sie die von Deutschland, Italien und Japan eroberten Gebiete im Sinn – nicht die Kolonien Frankreichs oder Großbritanniens. Nach Beendigung des Krieges gegen Hitler wollten die USA die Macht Großbritanniens nicht gefährden, das im Kontext des Kalten Krieges ein wichtiger Verbündeter gegen die UdSSR war (Mazower 2009).

Auf der Konferenz von San Francisco erklärte der britische Delegierte, dass das Britische Imperium den europäischen Kontinent vor einer Niederlage bewahrt habe und daher „eine große Maschine zur Verteidigung der Freiheit“ sei. Und so war es nur konsequent, dass an der VN-Charta ein Politiker wie Jan Smuts mitschrieb, Feldmarschall des britischen Empire, Premierminister von Südafrika und Ideologe des Commonwealth, dessen Ziel es war, eine globale Allianz der Weißen aufrechtzuerhalten und rassistische Segregation und Trennung zu verstärken (Mazower 2009, S. 28–64). Die „Rassenpolitik“ sollte der Zement eines britischen Weltreichs sein, das aus kleinen abgegrenzten Einheiten bestand. Smuts war Internationalist – doch gleichzeitig auch Imperialist und Verfechter der rassistischen Segregation. Imperialer Internationalismus galt zum Zeitpunkt der Erstunterzeichnung der Charta also keineswegs als Widerspruch. Für Smuts waren internationale Organisationen ein Rahmen für den Erhalt des britischen Empires – eine Möglichkeit, das Bündnis zwischen dem Vereinigten Königreich und den USA zu besiegeln.

In der Vorstellung des südafrikanischen Premierministers sollten die VN ein neuer Staatenbund werden, der auf konzentrischen Kreisen basiert: Im Zentrum das Britische Empire und die Vereinigten Staaten, das Herzstück des Widerstands gegen Deutschland. Um sie herum ein erster Kreis von verbündeten Demokratien, eine „Weltgesellschaft“. Nach außen hin eine „Weltgemeinschaft“ unter Mitwirkung von Nichtmitgliedsstaaten. Smuts war der Meinung, dass die VN umfassender sein und der UdSSR einen Sitz im Sicherheitsrat einräumen sollten. Aber solange die Big Three – USA, UK, UdSSR – im Zentrum der VN stünden, sei der Weltfrieden gesichert. Auf der Konferenz von San Franciso erinnerte Smuts daran, dass das Vereinigte Königreich „die größte Kolonialmacht der Welt“ sei. „Männer und Frauen überall“, erklärte er, „einschließlich der abhängigen Völker, die noch nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen“, werden durch die VN in den großen Plan zur Kriegsverhinderung einbezogen. Die Menschenrechte sollten für Smuts den moralischen Fortschritt, die Verteidigung der menschlichen Persönlichkeit und die Wiederherstellung der geistigen Werte in der Welt gewährleisten. Aber Menschenrechte bedeuteten nicht Gleichheit – weder politisch, noch sozial, noch „rassisch“. Die „Rasse“ sollte die organische soziale Einheit sein, die den Einzelnen schützt. Smuts verstand sich selbst als Visionär und Idealist – und er war auch ein Imperialist (Mazower 2009, S. 61).

Selbstverständlich prägte nicht nur Smuts die Struktur der VN. Andere Diplomaten und Intellektuelle kamen zu Wort. Der designierte Nachfolger von Ghandi, Jawaharlal Nehru, kämpfte hart gegen Smuts. Die Dekolonisierungswelle veränderte die Struktur der Organisation. 1960 machten afrikanische und asiatische Länder bereits 46 der 99 Stimmen in der Generalversammlung aus. Nationalisten aus der sogenannten Dritten Welt nahmen den Universalismus der VN beim Wort und nutzten die Organisation als Gremium, um die internationale Öffentlichkeit für den Antikolonialismus zu gewinnen. Doch wäre es fatal, die imperiale origin story der VN-Prinzipien und Mechanismen zu vergessen. Als W.E.B. Du Bois die Allgemeine Menschenrechtserklärung las, schrieb er: „it apparently has no thought of the rights of Negroes, Indians and South Sea islanders. Why then call it a Declaration of Human Rights“? Du Bois erklärte: „We have conquered Germany but not their ideas. We still believe in white supremacy, keeping Negroes in their place and lying about democracy when we mean imperial control of 750 millions of human beings in colonies“ (Mazower 2009, S. 62–63).

Hinter universalen Werten verstecken sich Kämpfe über den Sinn der Universalität. Wer ist gemeint? Wer ist ausgeschlossen? Die Flüchtlingsstandards, die im Afrika-Konzept der Bundesregierung erwähnt werden, sind hier ein gutes Beispiel. Das Flüchtlingsregime ist eigentlich vor allem durch nationalstaatliche (z. B. Asylgesetzgebung) (Poutrus 2019) und regionale (Dubliner Abkommen, Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit, usw.) Normen geprägt. Die Norm, die den globalsten Anspruch hat, ist die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (das „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“). Doch die Flüchtlingskonvention war in ihrer Konzeption stark eurozentristisch – und zwar auf sehr explizite Art und Weise: Nur europäische Flüchtlinge waren von der Konvention geschützt, nämlich diejenigen, die „as a result of events occurring before 1 January 1951“, also in unmittelbarer Folge des Zweiten Weltkriegs, geflohen waren. Erst 1967 wurde der Halbsatz durch das Zusatzprotokoll aufgehoben. Dennoch blieb die Konvention eurozentristisch. (In ihrem Beitrag zu diesen ZefKo-Forum untersuchen Jaji und Krause die Flüchtlingskonvention von 1951).

Aus der Sicht afrikanischer Kommentare war die Flüchtlingskonvention ein Produkt der europäischen Tradition, die die politischen und bürgerlichen Rechte gegenüber den kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten hervorhob. In der Konvention von 1951 wurden Flüchtlinge als Personen definiert, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung fliehen, d. h. aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung. Die Liste schloss damit Krankheit, Armut, Naturkatastrophen, innere Unruhen, Krieg oder Staatszerfall als Gründe für den Flüchtlingsstatus aus. Politische und bürgerliche Unterdrückung wurden als legitimer Fluchtgrund angesehen, materielle Entbehrungen, Dürre und Hunger hingegen nicht. Auch überrascht es wenig, dass Kolonialismus als legitimer Fluchtgrund nicht aufgeführt wird (Glasman 2017; Nyanduga 2004; Krause 2021).

Angesichts dessen riefen afrikanische Regierungen 1969 ihre eigene internationale Flüchtlingskonvention ins Leben. Der erste Artikel der 1969 verabschiedeten Flüchtlingskonvention der Organisation der Afrikanischen Union übernahm die Flüchtlingsdefinition der Genfer Konvention von 1951: Zivil- und Bürgerrechte standen im Mittelpunkt. Doch Artikel 2 erweiterte maßgeblich die Definition der Menschenrechte auf „every person who, owing to external aggression, occupation, foreign domination or events seriously disturbing public order (…) is compelled to leave his place of habitual residence in order to seek refuge in another place outside his country of origin or nationality“ (Rutinwa 1999). Heute werden Flüchtlinge nach verschiedenen Regelwerken als solche anerkannt und geschützt – Genfer Konvention von 1951, OAU Konvention von 1969, nationale Rechtsprechung, Mandat des UNHCR, usw. Alle erheben Anspruch auf Universalität – dennoch sind sie in ihrer Auslegung unterschiedlich, was letztlich auf ihre Entstehungsgeschichte zurückzuführen ist.

Humanitäre Prinzipien sind, anders als juristische Konventionen, nicht zwingend rechtsbindend. Doch auch sie werden oft als universale Prinzipien gepriesen. Humanitäre Prinzipien sind Grundsätze, die durch die Resolutionen 46/182 und 58/114 der Vereinten Nationen (1991; 2003) und andere Konventionen als Grundlage für die humanitäre Hilfe etabliert worden sind. Humanitäre Organisationen verweisen gerne auf diese Prinzipien, schenken deren Geschichte aber wenig Aufmerksam. Sie werden als ort- und zeitlos angesehen. Doch ist diese idealisierte Vision humanitärer Grundsätze gefährlich: Sie macht sie zu ahistorischen und damit unhintergehbaren Realitäten.

Dabei haben sich auch humanitäre Prinzipien im Laufe der Geschichte stark gewandelt. Die VN-Resolutionen zählen vier Prinzipien (Menschlichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit), die Rotkreuzbewegung (1965) zählt sieben (Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität), der von hunderten von Nichtregierungsorganisationen unterschriebene ‚Code of Conduct‘ listet zehn Prinzipien (SCHR1994). Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich humanitäre Prinzipien stark verändert. Als das Rote Kreuz 1864 gegründet wurde, wurden Freiwilligkeit, Unentgeltlichkeit und Philanthropie als Grundsätze beschworen. Später kamen „Patriotismus“, „Barmherzigkeit“ und „Gehorsam“ hinzu, die jedoch nach einiger Zeit wieder verworfen wurden (Palmieri 2015).

Das Prinzip der „Unparteilichkeit“ ist sicherlich eines der am Wenigsten umstrittenen Prinzipien. Welches Prinzip könnte weniger parteilich sein als das Prinzip der Unparteilichkeit selbst?

Und dennoch: als Jean Pictet 1955 letzteres kodifizierte, hatte er auch partikulare Interesse im Blick. Das Prinzip der Unparteilichkeit besagt zwei Dinge: Erstens, dass Hilfe nicht zwischen Bevölkerungsgruppen oder aufgrund von Alter, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit diskriminieren darf. Zweitens, dass Hilfsprioritäten „allein nach dem Maß der Not“ berechnet werden.Footnote 6 Dieser zweite Satz wird auch Proportionalitätsklausel genannt. Hilfe sollte proportional zur Not geleistet werden. Pictet hat diesem Grundsatz in seiner im Auftrag des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes veröffentlichten Dissertation juristisch etabliert (Pictet 24,25,a, b). Neben dem universalen ethischen Interesse spielte nicht zuletzt das partikulare Interesse seines Arbeitsgebers eine Rolle.

Von seiner Gründung bis zum Zweiten Weltkrieg galt das IKRK als die humanitäre Organisation schlechthin, als Hüterin der humanitären Grundsätze. Doch nun wurde seine moralische Autorität von nationalen Regierungen und auch von den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften in Frage gestellt. 1945 war das IKRK stark angegriffen. Aus der UdSSR kam der Vorwurf, Nazi-Verbrechen verschwiegen zu haben. China warf dem IKRK vor, Taiwan zu bevorzugen. Die DDR warf ihm vor, koloniale Verbrechen klein zu reden. Bis dahin konnte die Neutralität der Schweiz die Position des IKRK als übergeordnetes Organ der humanitären Hilfe rechtfertigen. Dies war nun nicht mehr der Fall.

Das IKRK erfand sich durch die Theoriearbeit von Pictet neu. Pictet listete sieben Prinzipien auf, deren gemeinsam es Ziel war, die Sonderposition des IKRK in der humanitären Architektur zu rechtfertigen. Pictet argumentierte, dass das IKRK eindeutig unparteilicher war, als alle andere Hilfsorganisationen – vor allem unparteilicher, als die nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes, die einen Putsch gegen die übergeordnete Rolle des IKRK unternommen hatten. Nationale Gesellschaften, erklärte Pictet, bevorzugten zwangsläufig ihren Staatsgenossen, religiöse Organisationen ihren Glaubensgenossen, während politische Organisationen ihre Sympathisanten priorisierten. Jede Organisation stellte eine Gruppe von Menschen über die Anderen. Allein das IKRK sei in der Lage, „Hilfe zu leisten, die sich nur nach dem Ausmaß der Notlage richtet“ (Pictet 1955a, S. 571). Nur das IKRK konnte wirklich unparteiisch sein. Pictet erfand eine strukturelle Homologie zwischen der Position des IKRK und dem Grundsatz der Unparteilichkeit: Das IKRK konnte allen gegenüber gerecht sein, weil es keiner bestimmten Gruppe nahestand. Dies war ein Privileg, das weder die Rotkreuzliga noch die Staaten oder andere Wohlfahrtsverbände jemals für sich beanspruchen konnten.

Wer sich für universale Normen einsetzen will, ist gut beraten, sich über das historische Geworden-Sein dieser Normen bewußt zu werden. Unbehagen mit Menschenrechten, Konflikte über die Definition von Flüchtlingen oder Kritiken gegen die Arbeit von Organisationen, die auf Grund universaler Normen eine Sonderposition beanspruchen, sind nicht selten auf die Geschichte dieser Normen selbst zurückzuführen. Es geht hier nicht darum, universale Normen per se zu verwerfen, sondern sie als das zu betrachten, was sie sind: Konventionen, die das Ergebnis von Konflikten und Interessen sind. Wer von Pluralität von Rechtsnormen spricht, denkt meist an lokale Normen. Doch auch universale Normen sind plural, umstritten, widersprüchlich. Und das ist nicht unbedingt ein Nachteil.