Bereits seit geraumer Zeit wird kritisiert, dass bestehende Wissensproduktionen in- und außerhalb der Sozialwissenschaften zu „westlich“, zu rassistisch oder zu wenig global seien. Ebenso lange gibt es Bemühungen, „nicht-westliche“ Theorieerzählungen und lokale Perspektiven produktiv einzubringen. In unserem Beitrag fügen wir diesen vor allem an Fragen der Theorie orientierten Debatten eine methodische Dimension hinzu: das vergleichende Lesen. Wir betrachten die drei Theoriegeflechte Nahda, Négritude und Nihonjinron vergleichend, um Dichotomien zwischen Nord/Süd und „westlich“/„nicht-westlich“ für eine kritische Lesart bestehender Literatur nutzbar zu machen, ohne deren Hierarchien zu reproduzieren. Wir fragen dabei nicht primär, wer gelesen wird, sondern richten unsere Aufmerksamkeit darauf, wie „nicht-westliche“ Theorien gelesen werden können.

1 Einleitung

Bereits seit geraumer Zeit wird kritisiert, dass die bestehenden Wissensproduktionen in- und außerhalb der Sozialwissenschaften zu „westlich“, zu rassistisch oder zu wenig global seien. Ebenso lange gibt es Bemühungen, „nicht-westliche“ Theorieerzählungen und lokale Paradigmen produktiv einzubringen. In der Friedens- und Konfliktforschung richtet sich diese Kritik beispielsweise an Kernaspekte von Peacebuilding (Fernández und Guerra 2020) oder an das dualistische Verständnis von friedlichen/gewaltvollen Räumen (Namberger et al. 2021). Diese Interventionen, die konkrete Ergebnisse eurozentrischer Wissensproduktionen in den Blick nehmen, sind eingebettet in eine allgemeinere Kritik an Prozessen der Wissensproduktionen jenseits der Friedens- und Konfliktforschung. Das lässt sich exemplarisch am Feld der African Studies zeigen, worin Debatten über ‚Forschende‘ und ‚Beforschte‘ auch für die Friedens- und Konfliktforschung höchst relevant sind. So wird seit geraumer Zeit argumentiert, dass die wissenschaftliche Landschaft zu sehr von nicht-afrikanischen, meist „westlichen“ Perspektiven geprägt ist. Lynda Iroulo und Juliana Tappe Ortiz (2022) beispielsweise problematisieren anhand ihrer eigenen biographischen Erfahrungen ungleiche Zugänge zum Wissenschaftssystem, um zu verdeutlichen, wer überhaupt an der Wissensproduktion über den afrikanischen Kontinent beteiligt ist. Sie sprechen von einer coloniality of knowledge, die sich durch alle Bereiche, wie (Feld‑)Forschung, Veröffentlichungspraktiken, Lehre und akademische Einstellungspolitiken zieht. Wie der Beitrag von Claudia Brunner (2022) in diesem Forum zeigt, ist das auch für die Friedens- und Konfliktforschung relevant.

Diese Problemlage hat stets auch methodische Herangehensweisen hervorgebracht, die sich an einem gleichberechtigteren Zugang versuchen. Zu nennen ist hier zunächst Matthias Basedaus (2020) Comparative Area Studies Ansatz, der Ansätze aus Regionen des Globalen Südens miteinander zu vergleichen möchte, um zu vermeiden, im sogenannten globalen Norden produzierte Thesen im sogenannten globalen Süden zu „testen“. Mit spezifischem Fokus auf Forschung zu Afrika möchte Basedau vermeiden, Nord-Süd Achsen entlang insider-outsider Dichotomien zu reproduzieren, um Trends und Phänomene sowohl innerhalb Afrikas als auch im Verhältnis mit anderen Regionen besser verstehen zu können. Kritisch merken jedoch Sabelo Ndlovu-Gatsheni, Rüdiger Seesemann und Christine Vogt-William (2022) an, dass Basedaus Ansatz vergeschlechtlichte und rassifizierte Positionalitäten und deren Einfluss auf die Wissensproduktion in und über Afrika vernachlässigt. Des Weiteren monieren sie, dass die höchst politische Frage der Dekolonisierung auf eine rein methodische reduziert wird, wodurch wichtige hybride und intermediäre Positionen zwangsläufig übersehen werden.

Auch in der Friedens- und Konfliktforschung stellen sie methodologische Fragen der Wissensproduktion und verknüpfen sie mit Forderungen, Wissensproduktionen außerhalb Europas verstärkt zur Kenntnis zu nehmen (Acharya und Buzan 2009; Berger 2012). Vor dem Hintergrund der Diskussion um die Lokalisierung von Friedenskonsolidierung und alternativen Erzählungen von Frieden, Sicherheit und Gewalt sollen so existierende Theorien kritisch bewertet und weiterentwickelt werden. Solche Interventionen im Sinne einer „Global IR“ (Acharya 2014), eines „Local Turn“ (Mac Ginty und Richmond 2013), einer „postkolonialen Friedens- und Konfliktforschung“ (Dittmer 2018) oder einer Dekolonisierung von Interventionen (Sabaratnam 2017; Exo 2017) fordern, „nicht-westliche“ Theoriearbeit aufzunehmen, was jedoch mit der Auseinandersetzung einhergeht, was genau „nicht-westliche“ Theoriearbeit umfasst und wie diese umgesetzt werden kann. Doch obwohl diese Versuche der Dekolonisierung von Wissen theoretische und empirische Grundlagen der Friedens- und Konfliktforschung hinterfragen, bedienen sie sich häufig des etablierten methodologischen Repertoires.Footnote 1 Eine dekoloniale Agenda, so das zentrale Argument dieses Beitrags, die alternativen Erzählungen für Wissensproduktionen fruchtbar machen möchte, muss jedoch mit einer methodischen Umorientierung einhergehen.

1.1 „Nicht-westliches“ Denken und Theoriegeflechte

Hier setzt dieser Beitrag an. In der Friedens- und Konfliktforschung, sowie in anderen Forschungsfelder, hat die Wahl der Methode Auswirkung auf die verwendete Theorie (Rutazibwa 2019), und umgekehrt. Methode umfasst jedoch nicht nur Datenerhebungsmethoden, sondern auch Methoden der Rezeption von Literatur und der Produktion von Wissen. Vor diesem Hintergrund fragen wir in diesem Beitrag nicht primär, welches Wissen zu Frieden und Konflikt gelesen wird, sondern wie gelesen wird. Konkret richten wir unsere Aufmerksamkeit darauf, wie „nicht-westliche“ Theorien zu lesen sind, um Kritik bezüglich einer coloniality of knowledge (Iroulo und Tappe Ortiz 2022), Re-Westernisierung und hybride Positionalitäten (Ndlovu-Gatsheni et al. 2022) zu entgegnen.

Das wirft zunächst die Frage auf, was wir unter „nicht-westlich“ verstehen. Oft ist die Binarität „westlich“/„nicht-westlich“ nur schwer aufrechtzuerhalten, da es sowohl Autor:innen als auch Textproduktionen gibt, deren Positionalitäten nicht klar zuordenbar sind. Bei der Suche nach „Theorien des Südens“ (Tickner und Smith 2020; Acharya und Buzan 2009; Hwang 2021), wie sie in den letzten Jahren an verschiedenen Stellen vorangetrieben wurden, gehen diese multiplen Positionalitäten jedoch verloren.

Zudem geraten bei der Gleichsetzung von „nicht-westlichen“ mit dekolonialen Perspektiven häufig Machthierarchien aus dem Blick. Um diese Machthierarchien aufzubrechen, möchten wir zunächst eine methodische Annäherung an „nicht-westliches“ Denken vorschlagen, welches diese unterschiedlichen Hierarchien für unterschiedliche „nicht-westlichen“ Literaturen aufnimmt. Diese Annäherung ist selbst keine genuin dekoloniale, sondern dieser vielmehr vorgelagert, denn es soll zunächst bestimmt werden, was „nicht-westliches“ Denken bedeutet. Um dies zu gewährleisten, müssen Methoden entwickelt werden, die generell Wissensproduktion ohne die Reproduktion binärer Hierarchien ermöglichen und für einen dekolonialen Ansatz fruchtbar gemacht werden können. Die Bestimmung von „nicht-westlichem“ Denken ist nicht gleichzusetzen mit der Bestimmung von dekolonialem Denken; er geht ihm voraus und ist eine Voraussetzung für die Weiterentwicklung dekolonialer Theoriebildung.

Sowohl Nord/Süd als auch „westlich“/„nicht-westlich“ sind in der Literatur gebräuchliche, wenn auch umstrittene, Begriffe für globale Machtasymmetrien zwischen dem Globalen Norden und Globalen Süden (Berger 2020). Während Nord/Süd vor allem auf die Machtebene abzielt, bezieht sich „westlich“/„nicht-westlich“ auf einen vermeintlich kohärenten, „westlichen“ Bezugsraum, womit hauptsächlich Staaten in Europa und Nordamerika gemeint sind, die im akademischen Kanon der Wissensproduktion dominieren. Diese sind unter Ausschluss weiter Teile der globalen Wissensproduktionen selbstreferentiell, d. h. aus sich selbst heraus argumentierend. Wie wir in diesem Beitrag zeigen, trifft dies auch auf Wissen aus anderen Weltregionen sowie Aspekten der Positionalität zu.

Unsere Argumentation erfolgt in zwei Schritten: In einem ersten Schritt argumentieren wir, dass Positionalitäten und globale Machtstrukturen innerhalb essentialisierender Kategorien generell nur unzureichend reflektiert werden können. So fügt sich außereuropäischer Kolonialismus, in dem Akteure außerhalb des Westens oft global verwobene Machtstrukturen reproduzieren, in diese binäre Betrachtung von Nord/Süd oder „westlich“/„nicht-westlich“ unzureichend ein und finden nur wenig Beachtung. Wir schlagen daher vor, Positionalitäten zunächst minimalistisch zu verstehen. Für die betreffenden Autor:innen bedeutet dies, sie als „nicht-westlich“ zu bezeichnen, da sie sich selbst so verstehen und dort ontologisch über ihre Rezeptionsgeschichte verankert sind.

In einem zweiten Schritt argumentieren wir, dass aus der vergleichenden Lesart dieser Theoriegeflechte systematische inhaltliche Gemeinsamkeiten und Differenzen herausgearbeitet werden können, welche weitgehend unabhängig vom Einfluss „westlicher“ Theorien sind und damit konzeptionelle Defizite überwinden können. Unter Theoriegeflechten verstehen wir ein eng verwobenes Netz aufeinander bezogener Theorieproduktionen innerhalb der verflochtenen Moderne (Conrad and Randeria 2002). Ähnlich einem Zopf verschlingen sich mehrere Stränge, in unserem Kontext „nicht-westlichen“ Theorien, ineinander. Eine solche Lesart überwindet postkoloniale Hierarchien, indem sie eben nicht „südliche Theorie“ für „westlichen Kanon“ nutzbar macht, sondern jenseits „westlicher“ Ansätze existierende Ideen und Konzepte sichtbar macht.

Diese beiden Argumentationsschritte illustrieren wir empirisch anhand des vergleichenden Lesens von Autor:innen, die sich der Nahda (spätes 19. und frühes 20. Jahrhundert in der mehrheitlich arabisch-sprachigen Welt), der Négritude-Bewegung (im Zuge der Dekolonisierungsbewegungen im 20. Jahrhundert) und Nihonjinron (in den japanischen Nachkriegsjahren) einordnen lassen. Die Auswahl der Ansätze orientiert sich daran, dass diese explizit nicht Orte des „Anderen“ oder Schauplätze von post-kolonialen Interventionen sind, sondern außerhalb „westlicher“ Wissensproduktion stehen. Die drei Theoriegeflechte an sich sind dabei vielfältig, ambivalent und insofern nicht unproblematisch, als dass sie Fragen von Essentialität, Abgrenzung und überregionalen Gemeinsamkeiten berühren. Sie eint jedoch, dass sie als „nicht-westlich“ eingeordnet und daher trotz ihrer Ambivalenzen betrachtet werden können.

Wir schließen mit einem Appell für mehr vergleichendes Lesen und eine größere Offenheit für unterschiedlichen Textsorten in der Friedens- und Konfliktforschung, um Positionierungsdilemmata und Dichotomien aufzulösen. Davon erhoffen wir uns Debatten, in denen vermehrt hybride und intermediäre Positionalitäten ebenso wie „nicht-westliche“ Text berücksichtigt werden.

2 Ein epistemologischer Konflikt? Vom „westlichen“ Kanon zu dekolonisierter Wissensproduktion

Seit den anti-kolonialen Befreiungskämpfen (Fanon 1981) und dem nachfolgenden Aufkommen postkolonialer Theorie gibt es Bestrebungen Disziplinen, Forschungsfoci und Wissen zu dekolonisieren (Bhabha 2012; Said 1979; Spivak 1988, für die Friedens- und Konfliktforschung: (Barkawi und Laffey 2006; Bilgin 2018; Franzki und Aikins 2010; Namberger et al. 2021)). Anliegen ist, „westliche“ Wissenschaft(en) und deren Analysekategorien zu dezentralisieren (Ndlovu-Gatsheni 2020; Boatcă 2016; dos Santos Soares 2019) und damit zu einer tatsächlich globalen Wissenschaft beizutragen (Jabri 2016; Te Maihāroa et al. 2022; Barkawi 2016; Bhambra 2013). Dazu gehört auch ein gestiegenes akademisches Interesse an „nicht-westlichen“ Ideen, die eine alternative Erzählung des Internationalen, der Interaktion zwischen Nord und Süd und damit von Konflikt, Frieden und Sicherheit ermöglichen. Damit ist die Dekolonisierung von Wissen auch für die Friedens- und Konfliktforschung überaus relevant.

Obgleich sich eine Vielzahl von Publikationen mit Theorien des Globalen Südens (Mansour 2017; Spies 2019; Tickner und Smith, 2020), postkolonialer Politik (Rutazibwa und Shilliam 2018) und dekolonisierenden Strategien (Bendix et al. 2020; Adamson 2020) beschäftigt, bedienen sie sich meist dichotomer Kategorien von Nord/Süd, West/Rest usw. und normativer Theoriebegriffe, um diese Debatten voranzutreiben. Als Teil der verlagerten Interaktion nach Ende der Kolonialzeit beschäftigt sich das Feld u. a. mit den Auswirkungen des Development-Security-Nexus (Duffield 2007), innerhalb der kritischen Migrationsforschung mit den Nachwirkungen von postkolonialen Hierarchien im internationalen Staatensystem (Bojadzijev 2007; Krause 2021) sowie innerhalb der kritischen Sicherheitsforschung mit postkolonialen Positionalitäten und Kontexten (Abboud et al. 2018; Adamson 2020; Barkawi und Laffey 2006; Ketzmerick 2018). Ein anderer Forschungsstrang innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung folgt dem sogenannten „Local Turn“ (Mac Ginty und Richmond 2013), also der Umsetzung von „westlichen“ Konzepten der Friedensförderung innerhalb von oft „nicht-westlichen“ Gesellschaften. Hierbei wird das Lokale meist als das „Andere“ gerahmt, das es zu verstehen gilt (Kappler 2018), um die Welt zu einem gewaltfreieren Ort zu machen (Brigg 2020). Diese Rahmung bzw. diese Othering wird dadurch im Kern von „westlicher“ Wissensproduktion betrieben.

Des Weiteren fragen viele Forscher:innen, wie postkoloniale Subjekten verstanden werden müssen (Jabri 2012), wie friedenspolitische Interventionen dekolonisiert werden können (Sabaratnam 2017; Rutazibwa 2019) und ob Peacebuilding überhaupt zu retten sei (Randazzo 2021). Dabei geht es meist um alternative Erklärungen, lokalisierte Theoriegerüste und empirische Beobachtungen des Lokalen, ohne dass Fragen nach den zugrundeliegenden theoretischen Annahmen und Paradigmen gestellt werden. So wohnt beispielsweise dem „Local Turn“ die Idee von Authentizität inne, die gleichzeitig emanzipatorisch, aber ebenso unterdrückend wirken kann und die entsprechende lokale Agency wiederum aus europäischer Perspektive reflektiert (Táíwò 2022). Denn eben diese Authentizität droht essentialistisch zu werden, wenn ihr eine binär kodierte Sprecher:innenposition – lokal/nicht-lokal bzw. global – zugeordnet wird.

Eine weitere Kritik befasst sich mit dem Globalen als Ausgangspunkt für Konzepte der Friedens- und Konfliktforschung (Mac Ginty 2008) und argumentiert, dass „westliche“ Konzepte oft unvermeidbar, jedoch nicht adäquat für lokale Gegebenheiten sind (Berger 2012, S. 35). Des Weiteren wird das Internationale häufig zur nivellierenden Kategorie, welche Differenzen überblendet und damit etwaige Partikularitäten als nur lokal überschattet (Acharya 2014; Anderl und Witt 2020; Çapan 2018).

Unser Beitrag knüpft an diese Debatten an, indem er dazu anregt, Konzepte aus diesen lokalen Debatten heraus zu entwickeln, ohne die internationale und „westliche“ analytische Ebene als Richtschnur zu nehmen. Die vorgeschlagene Strategie des aus der Literaturwissenschaft stammenden vergleichenden Lesens, also des Lesens einzelner Texte zu ähnlichen Problematiken, mit dem Ziel des Filterns von gemeinsamen Sujets, ermöglicht, Theorien und Erkenntnisse aus intellektuellen Begegnungen (Cesarino 2017) verschiedener „Southern Theories“ (Connell 2007) zu entwickeln. Vergleichendes Lesen kann somit etablierte interpretative, regionalwissenschaftliche (Daifallah 2019) oder von dekolonialer Kritik geprägten Methoden (Weiner 2018) in sinnvoller Weise ergänzen. Mit dem vergleichbaren Lesen unterschiedlicher „nicht-westlicher“ Theoriegeflechte stellen wir die Bedeutung der Eigenständigkeit „nicht-westlicher“ Erfahrungen heraus.

3 Zwischen Authentizität und Hierarchisierung: Das Dilemma von Dichotomien

Die Beschäftigung mit „nicht-westlichen“ Theoriegeflechten wirft eine wichtige Frage auf: Wer kann überhaupt für „nicht-westliche“ Theorien herangezogen werden? Eine solche Dichotomie droht zunächst, „nicht-westlich“ mit dem Globalen Süden und dekolonialen Positionen gleichzusetzen. Nicht jedes außerhalb des Westens produzierte Wissen ist aber dekolonial, wie sowohl die Nahda als auch die Nihonjinron aufzeigen; beide entstehen vielmehr im Kontext kolonialer und imperialer Erfahrungen außerhalb des Westens. Eine Pluralisierung zugunsten „nicht-westlicher“ Positionen muss aber auch komplexe Machtverhältnisse mitberücksichtigen, will sie eine Essentialisierung ebendieser vermeiden. Dies gilt umso mehr, als beispielsweise die Nahda von der doppelten Erfahrung als Kolonisatoren und Kolonisierte beeinflusst wird und daher hybrid ist.

Solche hybriden Identitäten sind ebenso bei individuellen Autor:innen anzutreffen, die das Etikett „nicht-westlich“ aufgrund familien-biographischen Bezüge zum Globalen Süden tragen, aber gleichzeitig Teil der „westlichen“ akademischen Welt sind, mit „westlichen“ Theoretiker:innen arbeiten und in „westlichen“ Sprachen für ein „westliches“ Publikum publizieren.Footnote 2 Ist ein:e Wissenschaftler:in, die/der außerhalb Europas oder Nordamerikas geboren wurde, aber in Institutionen des Globalen Nordens studiert und arbeitet, selbst als „westlich“ oder „nicht-westlich“ zu verstehen, und produziert sie/er „westliche“ oder „nicht-westliche“ Arbeiten (siehe zu dieser Fragestellung auch Sydiq und Ketzmerick 2022)? Während die Positionalität von Wissenschaftler:innen in einem potenziell globalen Wissenschaftssystem hybrid und veränderlich ist, zielen binäre Kategorisierungen auf Eindeutigkeit und müssen diese Komplexität notwendig reduzieren.

Um diese analytische Unschärfe zu vermeiden und hybride und fluide Positionalitäten zu berücksichtigen, schlagen wir einen Zugang vor, der über die Idee des Theoriegeflechts statt der Identität der Autor:innen die Rezeptionsgeschichte der Texte in den Vordergrund rückt. Denn aus dekolonialer Perspektive ist es zwar offensichtlich, dass eine bestimmte Positionalität eine spezifische Sicht auf die Welt ermöglicht (DuBois 2007; Fanon 1981) und zudem hegemoniale Narrative Spiegel einer spezifisch mehrheitlich gedachten Positionalität sind, weshalb es wichtig ist pluralistische und vielfältige Erfahrungen und Sichtweisen einzubeziehen (Go 2016). Mit einer Fokussierung auf Positionalität als einzige Determinante kann jedoch wichtiges, kritisches Potenzial leicht verdeckt werden. Denn die Einbeziehung von Autor:innen, die im Globalen Süden verortet sind, führt nicht zwangsläufig zu einem Zuwachs an kritischen Perspektiven (Tickner und Wæver 2009). Letztlich müssen sich auch Marginalisierte kritische Perspektiven über gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse erst erarbeiten, während sie gleichzeitig mit Diskriminierungen zu kämpfen haben, wie Speck und Villa (2020, S. 18) mit Verweis auf die Standpunkttheorien von DuBois (2007), Harding (1987) und Collins (1991) argumentiert.

Ein weiteres Hindernis in der wissenschaftlichen Herrschaftskritik ergibt sich zudem daraus, dass das Verständnis dessen, was einen Text zur Theorie macht, gemeinhin eng gefasst wird. Dies schließt potenzielle Theorieentwicklungen aus, die nicht der üblichen Form entsprechen. Es gibt jedoch durchaus Texte, die sich mit narrativen, biografischen Formen des Theorieschreibens, wenn auch theoretisch informiert, auseinandersetzen oder als solche rezipiert werden (DuBois 2007; Ernaux 2017; Jesus et al. 1999) und Theoriebildung über gesellschaftliche Realitäten in den Sozialwissenschaften vorantreiben. Mit Verweis auf diese Beispiele wollen wir das Spektrum dessen, was als Theorie gilt, erweitern, und darauf aufmerksam machen, dass sich theoretisches Denken nur im Zusammenspiel von Ontologie, Epistemologie und Methodologie bewegen kann. Indem wir die Rezeption als Theorie in den Vordergrund stellen, machen wir auch Textformen wie Gedichte, Romane oder autobiographische Texte nutzbar, welche als Teil unseres Theoriegeflechte rezipiert werden, selbst wenn sie Theoriedebatten in der Regel herausfallen.

4 Vergleichendes Lesen als Strategie

Auch wenn sie Teil von Machtkonfigurationen sein können, ermöglichen „nicht-westliche“ Theoriegeflechte einen machtkritischen und intersektionalen Blick auf „nicht-westliche“ Literatur. Vergleichendes Lesen dieser Theoriegeflechte erlaubt es, inhaltliche Süd-Süd Verbindungen und Kritik unabhängig und jenseits eines antizipierten Literaturkanons herauszuarbeiten. In Reaktion auf die Unzulänglichkeit von deskriptiven Positionalitäten, inhaltliche Differenzen abzubilden, nutzen wir das vergleichende Lesen als methodischen Ansatz, um strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervorzuheben. Wir versprechen uns davon Erkenntnis darüber, inwiefern ein „nicht-westlich“ lokalisierter epistemologischer Hintergrund, der in „nicht-westlichen“ Machtstrukturen verwurzelt ist, ein anderes Denken hervorbringt. Die Theoriegeflechte werden dabei zwar als „nicht-westlich“ rezipiert, umfassen in ihren Autor:innen auch solche mit hybriden Identitäten und Biographien sowohl im „westlichen“ als auch in „nicht-westlichen“ Kontexten. Wir lösen mit dem Umgang über die Rezeption das oben geschilderte Dilemma von Authentizität, Binarität und Hybridität auf.

Ein solches „Comparative Reading“ (Sydiq und Ketzmerick 2022, S. 27) stellt einige Anforderungen an die einzubeziehenden Textgrundlagen. Ursprünglich entwickelt für die Literaturwissenschaft, konzentriert sich kritisches komparatives Lesen auf die Literatur verschiedener Kulturen, Nationen und Gattungen und untersucht die Beziehungen zwischen Literatur und anderen kulturellen Ausdrucksformen (Krishnaswamy 2010), eine Methode, die wir für die Friedens- und Konfliktforschung nutzbar machen möchten. Die Literaturen innerhalb eines Theoriegeflechts sollten sich aufeinander beziehen und sich selbst als eigenständigen Referenzrahmen definieren. Auch sollte sichtbar sein, dass die jeweiligen Autor:innen bewusst und absichtlich miteinander interagieren. Diese Eigenständigkeit nach innen wird ergänzt durch einer Eigenständigkeit nach außen, beispielsweise durch eine explizite Abgrenzung von „westlichen“ Bezugsräumen. Dies verstehen wir als ein Bestreben, Autonomie zu wahren, sowohl durch autonome Rezeptionsgeschichten der Autor:innen durch ihre jeweiligen Referenzräume als auch durch eine Rezeption als autarkes Theoriegeflechte von Leser:innen außerhalb der Referenzräume. Um diese Erfahrungen nun auf den „nicht-westlichen“ gemeinsamen Nenner zurückzuführen und nicht auf andere Faktoren, sollten regional, historisch und politisch diverse Corpora verglichen werden (ebenda, S 28). Durch die Kontrastierung heterogener Kontexte lassen sich dennoch entstandene Überschneidungen im Denken als bedeutsame Muster interpretieren. Das gewählte „dissimilar case design“ (Mill 2011[1843]; Bennett 2004, S. 31) impliziert, dass durch vergleichendes Lesen herausgearbeitete Gemeinsamkeiten nicht durch andere Faktoren, wie regionale und politische Überschneidungen, bedingt werden, sondern über den geteilten Erfahrungshorizont außerhalb des Westens (Sydiq und Ketzmerick 2022, S. 27ff). Dieser Ansatz, maximal unterschiedliche Literaturen zusammenzubringen, eignet sich zur Illustration des Comparative Readings, da er ermöglicht ohne Rückgriff auf „westliche“ Literaturgeschichte Gemeinsamkeiten selbst zwischen kolonial geprägten Literaturen wie der Nahda und Nihonjinron mit dezidiert antikolonialen Literaturen wie der Négritude herauszuarbeiten.

Essentiell für das von uns vorgeschlagene vergleichende Lesen ist dabei die Fallauswahl: In einem ersten Schritt werden Autor:innen und literarische Bewegungen außerhalb der „westlichen“ Literatur identifiziert, um sie in einem zweiten Schritt zunächst miteinander und dann mit dem Feld der Friedens- und Konfliktforschung in Beziehung zusetzen. Diese vergleichende Herangehensweise arbeitet dabei nicht nur historisch-soziologisch positioniertes Denken, sondern auch jenseits dieser spezifischen Kontexte für aktuelle Debatten relevante Ideen „nicht-westlicher“ Theoriegeflechte heraus. Da es sich um eine autarke, aus den Literaturen selbst hervorgehende Rezeption handelt, kommen hierfür Theoriegeflechte in Frage, deren lokale Verankerung eine Relevanz unabhängig „westlicher“ Rezeption nahelegt. Für das vergleichende Lesen untereinander sind dagegen auch voneinander unabhängige Literaturen relevant, die sich möglichst nicht überschneiden. So eignen sich etwa Literaturen aus türkischen und arabischen Geflechten nur eingeschränkt für diesen Vergleich, da sie häufig in ähnlichen Wissenschaftssystemen entstanden sind und bereits eine hohe Referenzialität untereinander aufweisen. Stattdessen sollten für das vergleichende Lesen maximal unterschiedliche Theoriegeflechte ausgewählt werden, welche sich geographisch (durch räumliche Distanz), sozio-politisch (durch divergierende Kontexte) und temporal (durch unterschiedliche historische Zeiträume) unterscheiden. Ähnlichkeiten, die trotz dieser Unterschiede bestehen und nicht durch geteilte soziale und historische Kontexte erzeugt wurden, sehen wir als bedeutsam im Sinne eines „nicht-westlichen“ Denkens an.

Eine solche Auswahl von Theoriegeflechten stellen für uns in diesem Text beispielhaft etwa Nahda, Négritude und Nihonjinron dar (Ketzmerick und Sydiq 2022). Grob umrissen steht Nahda für eine mehrheitlich arabische Bewegung, die sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit islamisch-kulturellen Fragen einschließlich Fragen der Modernisierung befasst (Kassab 2009, S. 17; Kurzman 2002), Négritude bezeichnet eine literarische Bewegung aus dem Paris der 1940er, die sich für eine kulturelle Selbstbehauptung aller Menschen Afrikas und ihrer afrikanischen Herkunft stark macht (Simo 2017; Wilder 2015), und Nihonjinron eine vor allem an Fragen japanischer Identität nach dem zweiten Weltkrieg sowie dem Japanisch-Sein ausgerichtete Literatur (Aoki 1996). Charakteristisch für die bereits in der Einleitung problematisierte Dichotomie aus „westlich“/„nicht-westlich“ ist, dass die Einordnung dieser Literaturen selbst durchaus kritisch begleitet wird: So sind sowohl die Nahda als auch die Négritude durch ihre Entstehungsgeschichte mit europäischen Denktraditionen verbunden. Ebenso wird die Frage, wie Japan sich hier verorten lässt, auch im Land selbst durchaus kontrovers diskutiert. Diese Kontroverse lässt sich in keinem der Fälle fruchtbar auflösen; alle diese genannten Theoriegeflechte erheben allerdings den Anspruch eines „nicht-westlichen“ Denkens und entwickeln hierzu Begrifflichkeiten, Methodiken und Bezugsräume. Wir lesen diese sehr unterschiedlichen Theoriegeflechte als sich selbstständig von „westlichen“ Theorien konstituierende Literaturen mit Einfluss auf lokale akademische Debatten und politische Akteure gleichermaßen, welche durch ihre Positionierung als „nicht-westliche“ Literaturen strukturelle Ähnlichkeiten in ihrer Argumentation aufweisen. Dies ist dennoch nicht gleichzusetzen mit einem essentialisierenden „nicht-westlichen“ Charakter: Erst der politische Anspruch und die ihn begleitenden theoretisch-methodischen Schritte produzieren diese Selbstständigkeit, sie ist nicht durch die Verortung in konkreten nationalstaatlichen Behälter gegeben. Ebenso liegt diesem politischen Anspruch an sich keine inhaltliche Überschneidung zugrunde, sondern lediglich ein Minimalkonsens bezüglich der Abgrenzung vom „Westen“.

Die hier aufgegriffenen Theoriegeflechte Nahda, Négritude und Nihonjinron weisen einige Überschneidungen aber auch Differenzen auf, die in relevanten Meta-Narrativen der jeweiligen Zeit verortet sind und die sich in unserem Vergleichsebenen niederschlagen (siehe Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Kontextuelle Erfahrungen und Meta-Narrative. (Quelle: eigene Darstellung)

So teilt Literatur aus der Négritude und Nihonjinron eine post-/dekoloniale Erfahrung, da die Autor:innen Zeitzeug:innen der Dekolonialisierung sowie der Weltordnung nach dem zweiten Weltkrieg waren. Nahda formierte sich demgegenüber als Gegenbewegung auf dem Höhepunkt des Kolonialismus. Literatur aus der Nahda und Nihonjinron wiederum teilen Niedergangserfahrungen der eigenen imperialen Herrschaft, während Négritude imperiale politische Strukturen als eine fremde, andauernde Macht kritisiert. Schließlich erlebten sowohl Autor:innen der Nahda und der Négritude den Kolonialismus in den eigenen Lebenswelten und sammelten Erfahrungen im Widerstand gegen und in der Kritik am Kolonialismus, während Japan selbst eine Kolonialmacht war. Während Autor:innen der Négritude innerhalb von Kolonialreichen rassistische Marginalisierungen aus erster Hand erlebten, profitierten Autor:innen der Nihonjinron von kolonialer Ausbeutung, sowie von kolonial-rassistischen Diskursen. Trotz dieser kontextuellen Unterschiede und den darauf basierenden Erfahrungen der Autor:innen weisen die Literaturen dennoch grundlegende Gemeinsamkeiten, vor allem bezüglich ihrer Positionierung zu „westlichen“ Bezugsräumen.

5 „Nicht-westliche“ Theoriegeflechte: Nahda, Négritude und Nihonjinron

Wie bereits erwähnt sind in den gewählten Theoriegeflechten trotz der unterschiedlichen Kontexten ihres Entstehens, ihrer inhaltlichen Ausrichtung sowie ihren inneren Ambivalenzen relevante inhaltliche Überschneidungen erkennbar. In unserer Lesart sind dies Fragen zur Selbstpositionierung, die angewandten Vergleichsebenen, (strategische) Essentialisierungen sowie Modernisierungsdebatten.

Bezüglich der Selbstpositionierung zeigt das vergleichende Lesen, dass diese in allen drei Literaturen durch den Bezug auf und die Abgrenzung von einer „westlich“ dominierten Welt erkennbar ist. Die Autor:innen sind bemüht, ihre arabische, afrikanische oder japanische Identitäten durch aktive Selbstpositionierungen zu behaupten. Nahda, die sowohl als Modernisierungsprojekt als auch als kulturelle Bewegung beschrieben wurde (Kassab 2009; Kurzman 2002), verbindet mit Négritude und Nihonjinron, dass die Wahrnehmung der wachsenden Dominanz Europas mit der Wahrnehmung des stetigen Niedergangs der eigenen, regionalen Macht einhergeht. Innerhalb der Nahda-Literatur manifestiert sich dies in Zugehörigkeitskonflikten, da die eigene Identität durch diese wahrgenommene Hierarchieverschiebung in Frage gestellt wird. Das Festhalten an einer eigenen Identität manifestiert sich beispielsweise im erstarkten „arabischen“ Charakters der Nahda, etwa durch ihre Entstehung im Kontext arabischer Nationalismen innerhalb eines zerfallenden Osmanischen Reiches (Kassab 2009) und ihren „islamischen“ Motiven (Kurzman 2002, S. 14–16).

Ähnliche Ambitionen auf eine Umkehrung der Machtverhältnisse über Selbstpositionierung hatte die Négritude, die dem Umfeld einer in Paris lebenden Schwarzen Diaspora entstammte. So steht für den Poeten und Politiker Léopold Sédar Senghor das französische Imperium im Mittelpunkt der Kritik, wenn er betont, dass Frankreich dekolonisiert werden müsse, da sowohl die Dekolonisierung als auch die Befreiung Afrikas ohne einen solchen Prozess zum Scheitern verurteilt sei. Senghor (1967) verstand die Négritude-Bewegung zuvor als einen „antirassistischen Rassismus“, dem es hauptsächlich um das eigene Bewusstsein geht. Nihonjinron-Autor:innen hingegen nehmen Fremdbeschreibungen, wie die der Amerikanerin Ruth Benedict (1946), zum Anlass, eigenständige Selbstbeschreibungen zu entwickeln. Japanisch-Sein solle so unabhängig eines „westlichen“ Blicks entwickelt werden, was stets mit der wirtschaftlichen und politischen Macht Japans verwoben war. So beschreibt Aoki (1996), wie die wirtschaftliche und politische Schwäche des Landes in den 40er- und 50er-Jahren mit einem Diskurs um die notwendigen Modernisierungen scheinbar minderwertiger Aspekte des Japanisch-Seins verwoben war. Während des wirtschaftlichen Aufschwungs in den 60er- und 70er-Jahren verkehrte sich dies dagegen in das Gegenteil, da Autor:innen nun für Verständnis und sogar die Bewahrung vermeintlich traditioneller Elemente des Japanisch-Seins warben (Aoki 1996, siehe auch: Dale 1986).Footnote 3

Trotz eines relativen Fixpunktes in Form des „westlichen Anderen“ bleiben solche Aspekte der lokalen Identität jedoch fluide. Für unser vergleichendes Lesen führt dies zur Frage nach den Bezugsräumen, also der konkreten Ebenen anhand derer diese Vergleiche durchgeführt werden. Welche Dimensionen werden innerhalb der Theoriegeflechte für diese herangezogen und von Autor:innen dabei als relevant erachtet?

Bezüglich der Vergleichsebenen zeigt sich, dass die Reflexion über Geschlechterbeziehungen und -dynamiken in der Familien- und Wohlfahrtspolitik dabei als Ausgangspunkt aller h dient, um über die Zusammensetzung der Gesellschaft nachzudenken. Geschlecht und Frauenrechte sind beispielsweise zentrale Fragen für Nahda-Autor:innen, anhand derer sie Vergleiche zwischen verschiedenen Gesellschaften vollziehen (vgl Al-Shidyāq 2015; El-Ariss 2015; Zachs 2014). Négritude und Nahda wiederum ähneln sich in ihrem Verständnis von Kunst und Kultur. Beide Literaturgeflechte stellen sich der Herausforderung, Dichter:innen und Romanciers in theoretische Debatten einzubinden und stärker akademisch und gesellschaftspolitisch orientierte Texte zusammenzubringen. Dies ist auch strategisch zu verstehen: Geschlechterdynamiken und Kulturproduktionen betrafen nicht den Kern politischer Macht. Statt wirtschaftliche und politische Hierarchien zu kritisieren, artikulierten Autor:innen ihre politische und theoretische Kritik durch vergleichsweise flexiblere und auf den ersten Blick randständige Themen und eröffneten hierzu neue Vergleichsebenen. Anstatt also beispielsweise innerhalb eines ökonomischen Vergleichs „westlich“ dominierter Interpretationen ökonomischer Verhältnisse zu reproduzieren, konnten sie innerhalb sozialer und kultureller Debatten Hierarchien kritisch umdeuten und einen vermeintlichen Konsens sowohl innerhalb der heimischen als auch der „westlichen“ Gesellschaften kritisieren.

Schließlich zeigt sich auch an Modernisierungsdebatten, inwiefern die Theoriegeflechte gemeinsame Denkpositionen eröffnen: Obwohl Debatten um die Bedrohung traditioneller Identitäten oder der Transformation partikularer Identitäten durch eine „westliche“ Dominanz durch das vergleichende Lesen nicht gelöst werden können, ist die Übersetzungsleistung von Theoriedebatten in lokale Diskurse auffällig. Für die Négritude nutzte der in Paris lebende Senghor (1967) seine hybride Positionalität im Sinne einer spezifischen, häufig alternativen Lokalisierung von Modernisierungsdebatten. Nakane (1985) versuchte die japanische Identität unabhängig von „westlicher“ Wissenschaft zu beschreiben und setzte ihr einen lokalen Blick auf soziale Strukturen entgegen. Letztlich forderten auch die Nahda-Autor:innen eine Anwendung von Reformen auf die Bedürfnisse der jeweiligen Gesellschaften (Kassab 2009; Kurzman 2002), wiesen auf Probleme der Anwendbarkeit „westlicher“ Modernisierungstheorien hin und stellen ihnen Lokalisierungsprozesse entgegen. Letztere hinterfragen damit auch die methodische Vorgehensweise und Wirkmächtigkeit dieser „westlichen“ Theorien, die nicht adäquat schienen, lokale Wirklichkeiten angemessen wiederzugeben. Diese Kritik wurde in der späteren Négritude Literatur aufgegriffen, doch wurde dieser neue Humanismus als Folie zum Neudenken von Nord-Süd-Beziehungen von Autoren wie Frantz Fanon (1981) als essentialistisch kritisiert. Fanon zufolge wird hier Differenz als essentialisierend und ahistorisch zementiert, anstatt diese im Sinne einer Neuentwicklung zu dekonstruieren.

Letztlich befassen sich alle drei Theoriegeflechte mit der eigenen Positionalität in einer „westlich“ dominierten Welt und erlauben Einblicke in Strategien der Essentialisierung und Dekolonisierung. Auf diese Weise spiegeln sie Auseinandersetzungen wider, die nicht fern von heutigen Debatten innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung sind. Die Literaturen dienen als Foren für politische Debatten, etwa wenn aus Kulturproduktionen und sozialen Konfigurationen Schlussfolgerungen für die Politik herangezogen werden. Gleichzeitig lokalisieren und übersetzen sie Theoriedebatten für die jeweiligen Referenzräume, in denen sie sich bewegen, und versuchen dabei, universalistische Defizite von Theorieproduktionen durch eigene Weiterentwicklungen zu beheben – ohne dabei Essentialisierungen vollständig zu überwinden.

6 Fazit: Vergleichendes Lesen als Strategie

In diesem Beitrag entwickeln wir eine pragmatische Lesestrategie, um heterogene „nicht-westliche“ Literatur verstärkt für die Friedens- und Konfliktforschung zu lesen und dabei grundlegende Prämissen von Theorie, Ontologie und Epistemologie zu hinterfragen. Erst eine solche aufeinander bezogene Rückkopplung erlaubt es, partikularem Wissen (Burawoy 2008) auch jenseits regionalwissenschaftlicher Disziplinen Anerkennung und Sichtbarkeit zu verschaffen.

Ausgangspunkt unserer Argumentation war die Kritik an dem von „westlich“-geprägten Autor:innen produzierten Wissen in der Friedens- und Konfliktforschung, aber auch im allgemeinen, sowie an methodischen Bemühungen, die hybride Positionalitäten nicht ausreichend berücksichtigen. Eine methodische Dekolonisierung, die hybride und intermediäre Positionalitäten ausklammert und somit eine coloniality of knowledge (Iroulo und Tappe Ortiz 2022) verstetigt, läuft Gefahr, diese lediglich in andere Felder zu verlegen (Ndlovu-Gatsheni et al. 2022). Darauf aufbauend entwickeln wir in diesem Beitrag eine methodologische Herangehensweise – das vergleichende Lesen –, die hybride und intermediäre Positionalitäten greifbar machen soll.

Um dies umzusetzen haben wir die methodische Problematik binärer Dichotomien herausgearbeitet. Angesichts komplexer Realitäten sind diese Dichotomien nicht aufrecht zu halten und verstellen durch ihren Fokus auf individuelle Positionalitäten zudem den Blick auf systemische Hürden in der Wissensproduktion. Um dies methodisch zu überwinden, schlagen wir die Analyse von selbst-referentielle, „nicht-westlichen“ Theoriegeflechten vor, d. h. von Literaturen unterschiedlicher Herkunft, die sich um sich selbst drehen und sich teils gegenseitig beeinflussen. So argumentieren wir, dass der Vergleich der drei Theoriegeflechte Nahda, Négritude und Nihonjinron aus geographisch diversen Bezugsräumen – alle jenseits „westlicher“ Theorieproduktion – relevante Erkenntnisse bezüglich Selbstpositionierung und Essentialisierung, Vergleichbarkeitsebenen sowie Modernisierungsdenken ermöglicht. Diese Gemeinsamkeiten sind durch die Unabhängigkeit vom Westen sowie durch ihre Kritik an Defiziten „westlicher“ Theorieproduktion mit vermeintlichem Universalitätsanspruch erklärbar. Im Vergleich zeigt sich, dass in den Literaturen aufgeworfene Fragestellungen aktuelle Debatten in der Friedens- und Konfliktforschung ähneln. Die Autor:innen der Literaturen versuchen, eine stärkere Lokalisierung ihrer eigenen Kultur bzw. ihres eigenen Zugangs zu bewirken, in dem sie sich explizit von „westlichen“ Positionen abgrenzen, was teilweise zu essentialisierende Positionen von selbst und anderen führt. Diese Vorgehensweise birgt auch für die Friedens- und Konfliktforschung die Möglichkeit heterogene Wissensproduktionen einzubinden und zu nutzen, sofern sie das Essentialisierungspotenzial kritisch berücksichtigt.

Abschließen möchten wir dafür plädieren, in der Friedens- und Konfliktforschung dichotome Kategorien und Positionalitäten verstärkt zu reflektieren und alternative methodische und analytische Zugänge zu entwickeln. So lässt sich das Dilemma von Authentizität, Exotisierung oder Hierarchisierung auf der Suche nach alternativen Wissenssystemen produktiv umgehen. Diese Hinweise würden wir auch der sich weitere entwickelnden Debatte in der Friedens- und Konfliktforschung geben: Dafür muss jeweils machtkritisch und intersektional gefragt werden, inwiefern Positionalität emanzipatorisch oder beschränkend wirkt und inwiefern diese die Grundlage bietet, kritisches Denken und die Analyse von globalisierten sozialen Dynamiken zu verbinden.