1 Einleitung

Die Frage, ob und wie Theorien und Befunde der unterrichtsbezogenen Bildungsforschung dazu beitragen können, Lehren und Lernen im Unterricht zu verbessern, ist vermutlich so alt wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bildungsfragen selbst (Benner 1980; Dewey 1904; Heid 2015; Neuweg 2021). Insofern verwundert es nicht, dass sie auch ein starkes empirisches Forschungsinteresse hervorgerufen hat. Beispielsweise beschäftigt sich die Implementations- bzw. Transferforschung mit Prozessen der Umsetzung und Evaluation wissenschaftsbasierter Interventionen und Modellversuche im Feld (Gräsel 2010, 2019; Prenzel 2010; Schrader et al. 2020). Eine etwas andere Perspektive verfolgt die Debatte um evidenzbasierte Praxis im Bildungswesen, die seit gut 20 Jahren international (Biesta 2007; Davies 1999; Hargreaves 2007; Kvernbekk 2016; van Schaik et al. 2018) und auch im deutschsprachigen Raum intensiv geführt wird (Bauer et al. 2015, 2017; Bromme und Prenzel 2014; Hartmann et al. 2016; Leuders et al. im Druck; Stark 2017; Wilkes und Stark 2022). Das Prinzip evidenzbasierter Praxis hat sich in vielen professionellen Feldern etabliert (Rousseau und Gunia 2016), am prominentesten sicherlich in der Medizin (Sackett et al. 1996). Im Hintergrund steht die Prämisse, dass der Einbezug wissenschaftlichen Wissens dazu beiträgt, professionelles Handeln und Entscheiden rational zu begründen und seine Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Zwar existieren unterschiedliche Ausrichtungen und Interpretationen von Evidenzbasierung. Im Kern geht es jedoch um die Forderung, Entscheidungen und Handlungen auf unterschiedlichen Systemebenen (z. B. bildungspolitische Steuerung, Lehrerbildung, Schulpraxis) auf Basis einer situationsangemessenen und wohlbedachten Integration (Mindful Integration; Rousseau und Gunia 2016) der individuellen Expertise der handelnden Person, des Wissens über lokale Kontextbedingungen und des verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu begründen (Bauer et al. 2015; Stark 2017; vgl. Sackett et al. 1996). Für dieses moderate Verständnis von Evidenzbasierung hat sich mittlerweile der Begriff des evidenzorientierten (bzw. -informierten) Denkens und Handelns etabliert (Biesta 2007; Ferguson 2021; Kiemer und Kollar 2021; Stark 2017).

Bezüglich des professionellen Handelns von Lehrkräften geht es dabei nicht um die Forderung, wirklich jedes einzelne unterrichtsbezogene Problem ausschließlich oder primär auf Basis bildungswissenschaftlicher Evidenz zu lösen. Für manche Probleme mag bildungswissenschaftliche Evidenz vielleicht unnötig oder nicht aussagekräftig sein, für andere nicht verfügbar (Bromme et al. 2014). Andererseits existieren zahlreiche unterrichtliche Fragen und Problemlagen, für deren Beantwortung die bildungswissenschaftliche Forschung belastbare Evidenz bereitstellt, die für eine kompetente Lösung herangezogen werden können. Im Hintergrund dieser Debatten steht somit auch die substanziell angewachsene Erkenntnisbasis durch den Ausbau der Empirischen Bildungsforschung – und insbesondere der Empirischen Unterrichtsforschung – in den letzten Jahrzehnten (Gräsel 2015; Knogler et al. 2022). Auch wenn sicherlich noch etliche weiße Flecken zu erschließen sind, existiert mittlerweile zu zahlreichen schul- und unterrichtsbezogenen Themen eine sehr gut konsolidierte und theoretisch wie empirisch fundierte Evidenzbasis, etwa zu Dimensionen von Unterrichtsqualität, zu effektiven Lehrstrategien und spezifischen instruktionalen Modellen, zur Motivierung von Schüler*innen oder zum lernförderlichen Einsatz digitaler Medien (Knogler et al. 2022; Kollar und Fischer 2019; Seidel et al. 2017). Zu dieser Basis hat nicht zuletzt die Zeitschrift Unterrichtswissenschaft in den 50 Jahren ihres Bestehens ganz erheblich beigetragen.

Damit verbunden sind auch Entwicklungen zu einer stärkeren Forschungsorientierung in der Lehrer*innenbildung (z. B. Bauer und Prenzel 2012; OECD 2005). Deren Hintergrund bilden einerseits professionstheoretische Erwägungen, die den Lehrer*innenberuf als eine forschungsbasierte Profession begreifen und die sich u. a. in den KMK-Standards der Lehrer*innenbildung konkretisieren (KMK 2004/2019). Andererseits zeigen empirische Befunde, dass ein tieferes pädagogisch-psychologisches Professionswissen von Lehrkräften tatsächlich mit höherer Unterrichtsqualität und Lerngewinnen von Schüler*innen assoziiert ist (z. B. Kunter et al. 2013).

Vor diesem Hintergrund hat sich zuletzt ein sehr lebhafter Forschungsbereich um evidenzorientiertes Denken und Handeln von Lehrkräften (EDHL) entwickelt, der im Fokus dieses Beitrags steht (z. B. die Special Issues von Bauer et al. 2015; Kollar et al. 2022; Thomm et al. 2021c). Auf einen Nenner gebracht befasst sich diese Forschung mit Voraussetzungen, Prozessen und Ergebnissen der Rezeption und Nutzung bildungswissenschaftlichen Wissens, insbesondere aus der Empirischen Unterrichtsforschung, durch Lehramtsstudierende bzw. aktive Lehrkräfte sowie mit Interventionen zur Förderung hierfür relevanter Kompetenzen und motivational-affektiver Dispositionen. Zu diesem sich entwickelnden Forschungsfeld gehören aktuell insbesondere Arbeiten zu folgenden individuellen Merkmalen und Verhaltensweisen (angehender) Lehrkräfte:

  • Fähigkeitsvoraussetzungen, u. a. in den Bereichen wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens (z. B. Fischer et al. 2014; Nückles und Schuba 2019; Wagner et al. 2018; Wenglein et al. 2015; Zeuch und Souvignier 2015), forschungsmethodischer Kompetenzen (z. B. Groß Ophoff et al. 2017) und der Bewertung von Evidenz (Engelmann et al. 2022; Heininger 2019; Trempler et al. 2015) sowie Fähigkeiten und Präferenzen in der Wahl, Bewertung und Nutzung unterschiedlicher Quellen und multipler Dokumente (z. B. Ferguson et al. 2022; Kiemer und Kollar 2021; Thomm et al. 2021c; Zimmermann et al. 2022);

  • motivationale Orientierungen, Einstellungen und Überzeugungen hinsichtlich bildungswissenschaftlicher Forschung und Wissensbeständen sowie ihrer Nützlichkeit (z. B. Bråten und Ferguson 2015; Diery et al. 2020; Greisel et al. 2022a; Rochnia und Gräsel 2022; Schmidt et al. 2022; Thomm et al. 2021b; Voss 2022);

  • Mechanismen der Abwertung und Ablehnung bildungswissenschaftlichen Wissens (Futterleib et al. 2022; Thomm et al. 2021a);

  • Ausmaß und Qualität der Nutzung wissenschaftlichen Wissens zur Analyse pädagogischer Situation und als Handlungsgrundlage (Hetmanek et al. 2015; Klein et al. 2015; Rochnia und Trempler 2019; Trempler und Hartmann 2020; Wagner et al. 2018);

  • Fehlkonzepte und Mythen zu Bildungsthemen, die sozusagen ein Gegenstück zu wissenschaftlich fundiertem Wissen darstellen (Asberger et al. 2021, 2022; Menz et al. 2021).

Neben solchen individuellen Faktoren wurden auch kontextuelle Rahmenbedingungen und Barrieren thematisiert, u. a. Probleme der Verfügbarkeit von Forschung für Lehrkräfte und ihre mangelnden zeitlichen Ressourcen (Thomm et al. 2021b; van Schaik et al. 2018). Zudem sind wissenschaftskommunikationsorientierte Arbeiten zur Aufbereitung und Dissemination forschungsbasierten Wissens relevant, etwa durch Information Broker wie das Clearing House Unterricht (Seidel et al. 2017).

Diese Auflistung zeigt erstens, dass sich das Feld aus heterogenen empirischen Forschungssträngen speist, die jeweils differenzielle Aspekte von EDHL aufgreifen. Es hat sich bislang nur teilweise vernetzt und konsolidiert. Zweitens steht die Forschung zum EDHL zwar klar in der Tradition der Theorie-Praxis-Debatte, geht aber über sie hinaus, indem sie eigenständige und nuancierte Perspektiven auf die Analyse von Voraussetzungen aufwirft, unter denen Lehrkräfte wissenschaftliches Wissen (nicht) nutzen können. Gleichzeitig werden die Probleme und Grenzen von EDHL (selbst-)kritisch diskutiert (z. B. Renkl 2022; Stark 2017; Wilkes und Stark 2022).

Da die Debatte und Forschung zum EDHL auch in der Unterrichtswissenschaft eine wichtige Plattform gefunden hat (z. B. Bauer et al. 2015; Hetmanek et al. 2015; Klein et al. 2015; Wenglein et al. 2015; Wilkes und Stark 2022; Zeuch und Souvignier 2015), greifen wir das Thema im Kontext dieses Heftes zu ihrem 50-järigen Jubiläum auf. Der vorliegende Diskussionsbeitrag verfolgt dabei drei Ziele: Erstens möchten wir in den o. g. Forschungssträngen Punkte im Verständnis von EDHL herausarbeiten, die aus unserer Sicht konvergieren. Da es sich, wie angedeutet, um ein relativ junges und heterogenes Feld handelt, erhebt der Beitrag nicht den Anspruch eines systematischen Reviews, sondern soll zu einer Explizierung und Konsolidierung von Grundannahmen beitragen, die wir für zentral halten. Zweitens werfen wir Thesen und Fragen auf, die zur Weiterentwicklung der Debatte um EDHL und der einschlägigen empirischen Arbeiten beitragen sollen. Schließlich thematisieren wir zentrale Barrieren auf Ebene der Bildungspraxis, der Bildungsforschung und der Bildungspolitik und -administration, die mit Blick auf eine graduelle Veränderung der Bildungspraxis in Richtung einer stärkeren Evidenzorientierung überwunden werden müssen.

2 Was wird unter evidenzorientiertem Denken und Handeln von Lehrkräften verstanden?

Wie angedeutet hat sich in den oben genannten Forschungssträngen zum EDHL ein „moderates“ (Stark 2017) Grundverständnis von Evidenzorientierung durchgesetzt. Dies betrifft verschiedene Aspekte des Konzepts, insbesondere jedoch die Fragen, (i) was unter „Evidenz“ verstanden wird, (ii) was als aussagekräftige Evidenz gilt und (iii) welche Rolle sie im Denken und Handeln von (angehenden) Lehrkräften spielen kann. In diesen Punkten ist zudem bereits (iv) ein spezifisches Verständnis von Praxissituationen impliziert, für die Evidenz bedeutsam sein kann.

Hinsichtlich der Positionierungen zu diesen Fragen (s. unten) unterscheidet sich die Forschung zum EDHL von strengeren Auslegungen evidenzbasierter Praxis, die im Sinne eines What Works-Ansatzes primär die Verwendung von Maßnahmen und Methoden fordern, deren Wirksamkeit auf Basis randomisierter Kontrollgruppenstudien (idealerweise metaanalytisch aggregiert; Hattie 2009) nachweisbar ist (z. B. Slavin 2002). An dieser Auslegung haben sich heftige Debatten und – teils berechtigte, teils polemischeFootnote 1 – Kritik entzündet (z. B. Bellmann und Müller 2011; Biesta 2007; Dekker und Meeter 2022; Hammersley 2007; Wecker et al. 2017). Allerdings spielen diese Diskussionen in der Forschung zum EDHL nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger sind u. a. argumentationstheoretische Modelle (Kuhn 1991; Toulmin 2003) sowie Ansätze zu epistemischen Kognitionen (Chinn et al. 2011) und zum kompetenten Umgang mit (multiplen) Quellen (Bråten et al. 2014; Wineburg 1991), vor deren Hintergrund sich EDHL wissenschaftstheoretisch und psychologisch fundiert konzeptualisieren lässt.

2.1 Was ist „Evidenz“ im Kontext von EDHL?

Die meisten Arbeiten zum EDHL vertreten – explizit oder implizit – eine epistemisch-argumentationstheoretische Perspektive auf den Evidenzbegriff (Ferguson 2021; Kiemer und Kollar 2021; Nückles und Schuba 2019; Trempler und Hartmann 2020; Wenglein et al. 2015). Evidenz ist darin die Grundlage, auf Basis derer eine Person die Gültigkeit einer Behauptung (Claim) epistemisch rechtfertigt oder widerlegt (Achinstein 2008; Chisholm 1980; Curd und Cover 2012; Kelly 2016). Evidenz ist also in einem Argumentationszusammenhang zu sehen und kann die Gültigkeit eines Claims direkt als faktische Grundlage (Grounding) oder indirekt als Stützung (Backing) der verwendeten Schlussregel (Warrant) begründenFootnote 2 (Toulmin 2003; vgl. Kvernbekk 2016; Wenglein et al. 2015). Der Claim kann dann wiederum die Basis bilden, auf deren Grundlage die Person eine begründete Entscheidung trifft oder eine Handlung ausführt. Handlungs- bzw. entscheidungsrelevant ist damit nicht die Evidenz selbst, sondern die Aussage, für die Evidenz vorliegt (Kvernbekk 2016). Evidenz dient also zunächst rein der erkenntnismäßigen Legitimierung einer Aussage: sie liefert einer Person eine gerechtfertigte Grundlage, eine Behauptung zu glauben und in der Folge vernünftigerweise Entscheidungen auf sie zu stützen (Chisholm 1980).

Als Evidenz kann zunächst prinzipiell jede für eine Person schlüssige Grundlage herangezogen werden, etwa auch Alltagserfahrung oder Berichte anderer Personen (anekdotische Evidenz). In der Forschung zum EDHL steht der allgemeine Begriff Evidenz jedoch für (bildungs-)wissenschaftliche Evidenz, also für die Verbindung theoretischer Annahmen und empirischer Belege, um eine bestimmte These zu untermauern bzw. zu widerlegen. Evidenzbasierte Argumente verbinden somit in der Regel (ggf. implizite) theoretische Annahmen mit faktischen Grundlagen (z. B. empirische Befunde), wobei für bestimmte Situationen jeweils Theorien oder Befunde im Vordergrund stehen können. Theorien können z. B. besser geeignet sein, um pädagogische Situationen prinzipiengeleitet zu analysieren und zu erklären, um auf dieser Basis Handlungen einzuleiten (Renkl 2022; Stark 2017). Befunde können wichtiger sein, wenn es etwa um die Frage geht, welche mehrerer konkurrierender Behauptungen am ehesten zutrifft. Stark (2017) schlägt dabei vor, von „wissenschaftlichem Wissen“ anstatt von Evidenz zu sprechen, um die zentrale Bedeutung von (empirisch fundierten) Theorien im Kontext von EDHL zu betonen (vgl. Renkl 2022).

2.2 Welche Evidenz ist für EDHL relevant?

Da Evidenz die Vertrauensgrundlage für einen Claim bildet, stellen sich automatisch Fragen nach ihrer Qualität und Aussagekraft. Wie Rousseau und Gunia (2016) anmerken, ist es ein wesentliches Element von Evidenzorientierung, die Aufmerksamkeit auf die Qualität und Aussagekraft unterschiedlicher verfügbarer Informationen und Wissensbestände zu richten, die für eine Handlungs- bzw. Entscheidungssituation relevant sind. Dabei ist die Beurteilung der Qualität (bildungs-)wissenschaftlicher Evidenz für Nicht-Wissenschaftler*innen sicherlich extrem schwierig (Bauer et al. eingereicht; Heininger 2019; Trempler et al. 2015). Insbesondere aus der Medizin sind Evidenzhierarchien als Beurteilungshilfen bekannt, an deren Spitze meist Metaanalysen und randomisierte Kontrollgruppenstudien stehen, am Ende Experteneinschätzungen und Praxiserfahrungen. Die Anwendung solcher Hierarchien auf den Bildungsbereich ist nicht trivial und wurde teils scharf kritisiert (Biesta 2007; Bromme et al. 2014; Pawson 2012). In der Forschung zum EDHL spielen sie allerdings kaum eine Rolle. Vielmehr herrscht dort ein pluralistisches Evidenzverständnis vor, das neben unterschiedlichen Forschungszugängen und empirischen Designs auch empirisch bewährte Theorien als legitime Evidenzquellen anerkennt (Bauer et al. 2015; Leuders et al. im Druck; Renkl 2022; Wilkes und Stark 2022). Hierfür gibt es gute Gründe. Aus der o. g. argumentationstheoretischen Perspektive folgt, dass Evidenz nicht unabhängig von der jeweiligen Ausgangsfragestellung bzw. dem fraglichen Claim betrachtet werden kann. Deshalb ergibt es keinen Sinn, bestimmte Studientypen hiervon unabhängig und grundsätzlich zu bevorzugen. Um die Gültigkeit der Aussage zu beurteilen, dass in Deutschland Mädchen im Vergleich zu Jungen häufiger eine Gymnasialempfehlung erhalten, ist andere Evidenz erforderlich als für die Klärung der Frage, welche Mechanismen solche Disparitäten verursachen oder mit welchen Interventionen man ihnen wirksam begegnen könnte.Footnote 3 Zudem kann es sogar innerhalb akademischer Disziplinen erhebliche Unterschiede geben, welche und wie viel Evidenz als nötig erachtet wird, um einen Claim zu rechtfertigen (Engelen et al. 2010).

Allerdings darf dieses pluralistische Evidenzverständnis nicht als Relativismus missverstanden werden (Stark 2017). Evidenz kann nur dann einen Claim hinreichend stützen, wenn sie qualitativ hochwertig und vertrauenswürdig, also „belastbar“ ist. Insofern sind methodische Aspekte durchaus relevant, da die Anwendung reliabler Methoden konstitutiv für die Vertrauenswürdigkeit von Forschung ist.Footnote 4 Nur wenn sie gegeben ist, kann Forschung zum besseren Verständnis des Gegenstandsbereichs beitragen und auf dieser Basis praktisches Handeln orientieren, also nützlich sein (Bauer et al. eingereicht). Dies schließt explizit mit ein, dass auch wissenschaftliches Wissen prinzipiell vorläufig, fragil und konflikthaft ist (Bromme et al. 2014). Die Beurteilung von Evidenz erfordert demnach von Anwender*innen, eine evaluativistische epistemische Perspektive einzunehmen (Barzilai und Weinstock 2015; Kuhn 1991). Lehrkräfte müssten also in die Lage versetzt werden, sich zumindest grundlegend Gedanken über die differenzielle Belastbarkeit unterschiedlicher Evidenzquellen und anderer verfügbarer Informationen zu machen (Heininger 2019; Trempler et al. 2015; vgl. Rousseau und Gunia 2016). Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie Forschungsinhalte für Praktiker*innen zielgruppenorientierter aufbereitet und besser zugänglich gemacht werden können (Seidel et al. 2017; Thomm et al. 2021b).

2.3 Welche Rolle kann Evidenz für das Denken und Handeln von Lehrkräften haben?

Bereits klassische Konzeptionen evidenzbasierter Praxis verstehen diese als Integration von wissenschaftlichem Wissen mit der individuellen professionellen Expertise der handelnden Person (Sackett et al. 1996). Es handelt sich also keineswegs um einen szientistischen Ansatz, der wissenschaftliches Wissen prinzipiell über Praxiswissen stellen oder letzteres ausklammern würde. Rousseau und Gunia (2016) sprechen diesbezüglich von einer Mindful Integration (i) des besten verfügbaren wissenschaftlichen Wissens mit (ii) dem Wissen über lokale Rahmenbedingungen (Kontextwissen) und (iii) professionellem Erfahrungswissen. Auch aus der oben skizzierten argumentationstheoretischen Perspektive wird klar, dass Evidenz individuelle Erfahrung und Urteilskraft nicht ersetzen kann, sondern zwingend auf sie angewiesen ist. (Bildungs-)wissenschaftliches Wissen enthält selten konkrete Handlungsanweisungen und ist meist nicht systematisch an Praxisinteressen orientiert (Bromme et al. 2014; Wilkes und Stark 2022). Zudem ist es meist nomologisch und generalisiert über Situationen hinweg, berücksichtigt also kaum die lokalen Handlungsanforderungen und -einschränkungen der Praxis. Beispiele, in denen bildungswissenschaftliches Wissen Handlungen (relativ) direkt informieren kann, dürften die Ausnahme sein (z. B. Techniken des Klassenmanagements; Prinzipien wirksamen Feedbacks). Und selbst diese sind in der Regel nur unter Verwendung weiterer Überlegungen und (Hilfs‑)Annahmen praktisch nutzbar (Gräsel 2019; Renkl 2022).

Bildungswissenschaftliches Wissen muss von Lehrkräften also situativ und auf ein konkretes Problem bezogen interpretiert werden, um handlungswirksam werden zu können (Wilkes und Stark 2022). Dies kommt im Begriff des EDHL zum Ausdruck. In entsprechenden Arbeiten wurden dabei verschiedene Funktionen diskutiert, die Evidenz für Handlungen und Entscheidungen haben kann (Bauer et al. 2015; Kiemer und Kollar 2021; Stark 2017). Der Fokus liegt dabei auf Aspekten der Rationalisierung: bildungswissenschaftliches Wissen kann z. B. dazu genutzt werden, Handlungen und Entscheidungen rational zu begründen, sie zu analysieren, zu reflektieren und zu problematisieren. Es kann aber auch dazu beitragen, Fehlannahmen zu korrigieren (z. B. Bildungsmythen; Asberger et al. 2022; Menz et al. 2021) oder Praxis zu innovieren (z. B. neue Lehr- und Interaktionsformen im Kontext der Digitalisierung; Fischer et al. 2020).Footnote 5 Damit ist auch klar, dass EDHL weniger das spontane Handeln unter Druck im Klassenzimmer (Wahl 1991) betrifft als Situationen, in denen Entscheidungen und Handlungen explizit rationalisiert werden müssen (Leuders et al. im Druck; Stark 2017).

Insgesamt betrachtet erlaubt die beschriebene Perspektive auf EDHL differenzierte Analysen, unter welchen Bedingungen (angehende) Lehrkräfte verschiedene Wissensquellen nutzen und mit welchen Qualitäten und Ergebnissen sie in spezifischen Situationen auf wissenschaftliches Wissen zurückgreifen. Bezüglich der Ausgangsfrage dieses Beitrags wird damit auch deutlich, wie Prozesse der Nutzung wissenschaftlichen Wissens durch Lehrkräfte von statten gehen und wie dies die Wahrscheinlichkeit effektiven Handelns potenziell erhöhen kann. Nichtsdestotrotz bildet diese Konzeption von Evidenzorientierung eher einen kleinsten gemeinsamen Nenner als einen ausgearbeiteten theoretischen Rahmen. Auch wenn er für die Forschung zum EDHL konstitutiv sein mag, sind damit längst nicht alle konzeptuellen oder gar praktischen Probleme aus dem Feld geräumt (Wilkes und Stark 2022). All diese Probleme in ihrer Gesamtheit zu identifizieren, ist nicht Anspruch dieses Artikels. Im Folgenden werfen wir deshalb lediglich einige ausgewählte Problembereiche auf, die wir aber nichtsdestotrotz für die weitere Forschung zum EDHL als zentral erachten.

3 Thesen und Fragen zur Weiterentwicklung der Debatte und der weiteren Forschung

3.1 Wir müssen besser verstehen, was eine Mindful Integration von wissenschaftlichem Wissen, Kontextwissen und Erfahrungswissen bedeutet, wie sie im optimalen Fall von statten geht und wie man sie unterstützen kann!

Zur Idee der Mindful Integration sind – trotz ihres hohen Stellenwerts in der Forschung zum EDHL – zentrale Fragen ungeklärt. Betrachten wir dazu ein beispielhaftes Szenario: Eine Lehrkraft interessiert sich dafür, wie sie kooperatives Lernen in ihrem Unterricht besser einsetzen kann. Auf Seiten des wissenschaftlichen Wissens könnte sie hierfür, etwa aus einem Lehrbuch, theoretische Prinzipien kooperativen Lernens und spezifische instruktionale Methoden heranziehen (z. B. Wecker und Fischer 2014). Zudem könnte sie Befunde konsultieren, unter welchen Bedingungen sich kooperatives Lernen als wahrscheinlich motivations- und lernförderlich erweist (z. B. die Kurzreviews des Clearing House Unterricht zum Lernen in Gruppen). Diese Erkenntnisse müsste sie nun mit ihrem Wissen über den lokalen Anwendungskontext in Verbindung bringen (z. B. konkrete Fachinhalte und Lernziele des Unterrichts, Einbettung der kooperativen Lerneinheit in die Unterrichtsstunde sowie den breiteren Unterrichtszyklus, bisherige Lerngeschichte mit der Klasse, Lernendenmerkmale auf der Individual- und Klassenebene). Zudem könnte die Lehrkraft vor diesem Hintergrund ihre Erfahrung reflektieren, wie und mit welchen Ergebnissen und Problemen sie kooperatives Lernen bislang in ähnlichen Kontexten eingesetzt hat. In der Realität dürfte dieses Vorgehen aber komplizierter sein als das Beispiel suggeriert. Möglicherweise würde unsere Lehrkraft eine geringe Passung der Evidenz (und ihrer Aufbereitung) zu ihren konkreten Fragen und dem vorliegenden Kontext feststellen. Sie könnte auch auf Widersprüche innerhalb des Stands der Forschung oder zwischen diesem und ihrer Erfahrung stoßen. Solche Brüche können die Nutzung wissenschaftlichen Wissens inhaltlich und motivational erheblich behindern (Neuweg 2021; Wilkes und Stark 2022). Selbst aus diesem verkürzten Beispiel wird somit deutlich, dass Integrationsprozesse äußerst anspruchsvoll sind und auf Seiten der Praktiker*innen vielfältige Kompetenzen voraussetzen (Stark 2017). (Zu Voraussetzungen auf Ebenen des Kontexts, der Forschung und der Aufbereitung von Evidenz, s. Abschn. 4).

Eine zentrale Herausforderung für die Forschung zum EDHL ist es deshalb, ein tieferes Verständnis davon zu generieren, (a) wie solche Integrationsprozesse bezogen auf spezifische Situationen ablaufen können (sowohl auf individueller als auch auf kollaborativer Ebene), (b) unter welchen Bedingungen sie gelingen und (c) wie man sie unterstützen kann. Zwar liegen durchaus Studien vor, ob und wie (angehende) Lehrkräfte wissenschaftliche Evidenz zur Analyse pädagogischer Problemsituationen nutzen und in entsprechenden Argumentationen einbeziehen (Nückles und Schuba 2019; Wagner et al. 2018; Wenglein et al. 2015). Spezifische Abwägungen zwischen unterschiedlichen Wissensbeständen im Sinne einer Mindful Integration standen darin aber bislang kaum im Fokus (z. B. Hartmann et al. 2021). Auch die Sourcing-Forschung stellte bislang eher die Wahl und Bewertung von wissenschaftlichen und anderen Quellen kontrastiv gegenüber als sich mit integrativen Aspekten zu befassen (Kiemer und Kollar 2021; Thomm et al. 2021c).

Zur Beschreibung und Erklärung des Integrationsprozesses müssten also geeignete kognitive Modelle adaptiert oder entwickelt werden. Dabei sind mindestens zweierlei Fragen relevant: Erstens, auf Ebene des Professionswissens, wie das im Rahmen der Lehrerbildung erworbene wissenschaftliche Wissen im professionellen Entwicklungsprozess erfolgreich mit individueller Erfahrung angereichert und verwoben werden kann. Hierzu könnte es lohnend sein, Ansätzen aus der allgemeinen (Ericsson et al. 2018; Gruber 1999) und lehrer*innenspezifischen Expertiseforschung (Berliner 2001; Bromme 1992; Stigler und Miller 2018) wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Beispielsweise beschreibt die Theorie der Wissensenkapsulierung (Boshuizen und Schmidt 1992) für die Domäne der Medizin, wie bei Expert*innen deklaratives medizinisches Fachwissen mit fallbasiertem klinischem Erfahrungswissen integriert wird (s. auch These 2). Auch wenn die Übertragung solcher Ansätze auf den Lehrer*innenberuf nicht trivial ist, können sie dennoch einen hilfreichen Ausgangspunkt bilden (Gruber 2009).

Zweitens – und möglicherweise zentraler – bräuchte es de- und präskriptive Modelle der Abwägung unterschiedlicher (konfligierender) Wissensressourcen im Handlungs- und Entscheidungsprozess. Solche „feinmolekularen“ Abwägungen sind in molaren Modellen des evidenzbasierten Handlungsprozesses (etwa mit den Schritten Ask, Acquire, Appraise, Apply, Assess; Rousseau und Gunia 2016) unzureichend abgebildet. Hilfreich könnten hierfür beispielsweise Weiterentwicklungen von Ansätzen zum Umgang mit multiplen Dokumenten (Bråten et al. 2014; Butterfuss und Kendeou 2021) oder aus der Entscheidungsforschung (Aßmann et al. 2021; Betsch et al. 2010) sein. Gleichzeitig sind situationale Merkmale zu berücksichtigen. Die Forderung von Stark (2017) nach einer Taxonomie, in welchen Situationstypen Evidenz für Lehrkräfte welche Funktion haben kann, ist bisher weitgehend uneingelöst.

3.2 Zur Bewertung wissenschaftlichen Wissens gibt es relativ klare Gütekriterien. Wir brauchen ebenso Gütekriterien zur Bewertung von Erfahrungswissen!

Teil des in diesem Artikel vertretenen, liberalen Verständnisses von Evidenzorientierung ist, wie beschrieben, dass (bildungs-)wissenschaftliche Evidenz beileibe nicht die einzige Art von Evidenz ist, die Lehrpersonen zur Bewältigung pädagogischer Problemsituationen inner- und außerhalb des Unterrichts heranziehen können. Hinzu kommt neben dem Kontextwissen, d. h. dem Wissen über die Klasse oder über einzelne Schüler*innen, gerade auch das Erfahrungswissen, das Lehrkräfte während ihres Berufslebens gesammelt haben. Wie die Forschung zeigt, scheinen Lehrpersonen ihrem eigenen Erfahrungswissen – oder auch dem erfahrener Kolleg*innen – häufig mehr zu vertrauen als Erkenntnissen aus den Bildungswissenschaften (Ferguson et al. 2022) und sie nutzen dieses in stärkerem Maße als Begründung für eigene pädagogisch-didaktische Entscheidungen.

Aus einer wissenschaftszentrierten Sicht mag dieser Befund zunächst besorgniserregend wirken. Wir sind jedoch der Auffassung, dass eine Orientierung am eigenen Erfahrungswissen oder am Erfahrungswissen kompetenter Kolleg*innen nicht per se als gut oder schlecht zu etikettieren ist: Auch Erfahrungs- oder Praxiswissen kann von sehr unterschiedlicher Qualität sein (Gruber 1999). Qualitativ hochwertiges Erfahrungswissen ist eine zentrale Grundlage kompetenten professionellen Handelns (Gruber 1999, 2009); ggf. kann es aber auch bildungswissenschaftlicher Evidenz diametral entgegenstehen (wie etwa der „Lernstile“-Mythos [s. These 3]; Bauer und Asberger 2022). Insbesondere ist z. B. langjährige Berufserfahrung keine hinreichende Voraussetzung für qualitativ hochwertiges Erfahrungswissen (Stigler und Miller 2018).

Zur Beurteilung der Qualität wissenschaftlicher Evidenz existieren relativ klare Kriterien (wie z. B. die Validität von empirischen Studien oder die Widerspruchsfreiheit und Falsifizierbarkeit von empirisch begründeten Theorien), auch wenn sie im Einzelfall manchmal keine klare Bewertung liefern. Dagegen fehlt es in der Forschung zum EDHL bislang weitgehend an Ansätzen, mit denen die Qualität von Erfahrungswissen beurteilt werden kann (Franke 2022). So kann Erfahrungswissen, das die Lehrperson tief elaboriert und ggf. sogar kontinuierlich mit dem Erfahrungswissen anderer Lehrpersonen oder gar auch mit bildungswissenschaftlichem Wissen abgeglichen hat, durchaus dazu geeignet sein, günstige pädagogisch-didaktische Entscheidungen zu treffen (Bromme 1992; Stigler und Miller 2018).

Die Entwicklung von Qualitätskriterien zur Beurteilung von Erfahrungswissen im Sinne eines Top-Down-Ansatzes ist allerdings alles andere als trivial. Dies gilt gerade, wenn Annahmen der Expertiseforschung über die Enkapsulierung von Wissen, also die Verschmelzung wissenschaftlichen Wissen mit Erfahrungs- und Kontextwissen im Prozess der Expertiseentwicklung, auch auf Lehrkräfte zutreffen (Gruber 2009). Sollte also die Herkunft von Inhalten des Erfahrungswissens als eine Dimension verstanden werden, auf der seine Qualität beurteilt werden kann, stellt sich das Problem, dass im Einzelfall selbst die betreffende Lehrperson nicht mehr nachvollziehen kann, woher bestimmte Wissensinhalte stammen bzw. inwiefern sie z. B. gerade auch (bildungs-)wissenschaftliche Elemente beinhalten. Auch andere potenzielle Qualitätsdimensionen wie der Elaborationsgrad, die Veridikalität oder auch die Passung des Erfahrungswissens auf das vorliegende Problem (s. Rousseau und Gunia 2016) bedürfen einer klaren, theoriebasierten Definition und müssen in der Folge empirisch (d. h. gerade auch objektiv, reliabel und valide) messbar gemacht werden.

Eine Alternative zu dem angesprochenen Top-Down-Ansatz könnte möglicherweise sein, die Qualität des Erfahrungswissens empirisch über eine Bewertung seiner Nützlichkeit für die Bewältigung eines aktuellen pädagogisch-didaktischen Problems zu erfassen. Auch dieser Ansatz wäre aber nicht unproblematisch, da sich die pragmatische Beurteilung einer Handlung als „nützlich“ je nach Problem auf andere Außenkriterien wird stützen müssen, deren Auswahl wieder durchaus kontrovers diskutiert werden kann. Gerade in Fällen, in denen die Erfassung derartiger Außenkriterien auf Einschätzungen oder Ratings beruht (wie etwa bei der Frage, inwiefern es einer Lehrperson gelingt, ihren Unterricht kognitiv aktivierend zu gestalten; Baumert und Kunter 2006), stellt sich zudem die Frage, von wem die betreffenden Lehrer*innenhandlungen eingeschätzt werden sollen – von Bildungswissenschaftler*innen oder vielleicht gerade (auch) von erfahrenen Lehrpersonen? Bei aller Schwierigkeit, erfahrene Lehrkräfte zur Qualitätsbeurteilung des Erfahrungswissens von anderen Lehrpersonen zu rekrutieren, wäre es aus unserer Sicht extrem lohnend, Schritte in dieser Richtung zu unternehmen. Auf diese Weise könnte auch dem häufigen Vorwurf, pädagogisch-psychologische Forschung sei praxisfern und wissenschaftszentristisch, wirksam begegnet werden.

3.3 Empirische Bildungsforschung zeigt häufig, „What Doesn’t Work“ und dass bestimmte Annahmen (so) nicht zutreffen. Auswirkungen von Konflikten zwischen Evidenz und den Annahmen und Praktiken von Lehrkräften sowie Möglichkeiten des produktiven Umgangs damit müssen besser untersucht werden!

Sowohl in der Diskussion um die What Works-Perspektive als auch in der Forschung zum EDHL müsste stärker berücksichtigt werden, dass widerlegende Evidenz – also, dass sich bestimmte Annahmen und Maßnahmen nicht bewähren – neben ihrer zentralen wissenschaftlichen Funktion auch praktisch hoch relevant sein kann. In der bisherigen Forschung stand vor allem die Support-Funktion von Evidenz für entscheidungs- und handlungsrelevante Annahmen im Vordergrund (vgl. Kvernbekk 2016). Sicherlich kann Evidenz diese Funktion haben. Allerdings könnte man auch als Mindestanspruch an Evidenzorientierung formulieren, dass professionelle Handlungen und Entscheidungen nicht im Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen sollten. Insofern kann Evidenz hoch praxisrelevant sein, wenn sie darauf hinweist, dass häufig vertretene Annahmen unzutreffend oder bestimmte Maßnahmen (zumindest im Durchschnitt) unwirksam oder gar kontraproduktiv sind. Solches Wissen kann helfen, Fehlannahmen zu korrigieren und Energie und Lernzeit in Aktivitäten umzuleiten, die Lernen tatsächlich fördern (Asberger et al. 2021; Menz et al. 2021).

Tatsächlich sind diesbezüglich durchaus Probleme feststellbar. So sind bei (angehenden) Lehrkräften vielfältige Fehlkonzepte und Mythen zu Fragen des Lehrens und Lernens verbreitet (De Bruyckere et al. 2015). Laut internationaler Studien sind beispielsweise mehr als 90 % der untersuchten Lehrkräfte davon überzeugt, Unterricht sei effektiver, wenn er an die vermeintlichen individuellen Lernstile (visuell, auditiv etc.) der Lernenden angepasst sei (Dekker et al. 2012). Wissenschaftlich ist diese These klar widerlegt (Bauer und Asberger 2022). Gleichzeitig sind auf der Handlungsebene Praktiken verbreitet, die im Licht wissenschaftlichen Wissens zu problematisieren wären (z. B. Klassenwiederholung, wenig angeleitete Formen problembasierten Lernens, wenig effektives Feedback; Hattie und Anderman 2013). Solche Konflikte zwischen bildungswissenschaftlichem Wissen und in der Praxis verbreiteten Überzeugungen und Praktiken können negative Effekte auf verschiedenen Ebenen haben. Sie können den Erwerb wissenschaftlich fundierten Wissens in den verschiedenen Phasen der Lehrer*innenbildung behindern und wissenschaftsorientierte Einstellungen beschädigen (Thomm et al. 2021a); sie können aber durchaus auch handfeste negative Konsequenzen für das Verhalten von Lehrkräften und die Qualität von Unterricht haben (z. B. König et al. 2012).

Vor diesem Hintergrund sollte die weitere Forschung zum EDHL Prozesse der Auseinandersetzung mit Konflikten zwischen wissenschaftlichem Wissen und den (individuellen und kollektiven) Annahmen und Praktiken von Lehrkräften sowie daraus resultierende kognitive und motivational-affektive Effekte intensiver untersuchen. Hierfür können theoretische Modelle zum Conceptual Change bzw. zur Wissensrevision (Chi 2008; Butterfuss und Kendeou 2021), aber auch zu Abwehrstrategien und motivierter Informationsverarbeitung (Chinn und Brewer 1993; Rothmund et al. 2017) nützlich sein. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass solche Konflikte nicht nur inhaltlicher Natur sind, sondern auch moralische Wertvorstellungen und soziale Identitäten von Lehrkräften bedrohen können (Rothmund et al. 2017).

3.4 Welche Basiskompetenzen in Forschungsmethoden und Statistik sind für EDHL erforderlich? Was sind hierfür Mindeststandards und was ist realistisch erreichbar?

Aus den bisherigen Ausführungen ist ersichtlich, dass EDHL zumindest basale Kompetenzen in den Bereichen Forschungsmethoden und Statistik voraussetzt (im Folgenden für beides: „Forschungsmethoden“). Selbst wenn Lehrkräfte Texte mit kompiliertem und spezifisch aufbereitetem bildungswissenschaftlichen Wissen rezipieren, sind darin regelmäßig nicht-triviale forschungsmethodische Konzepte enthalten. Für die Rezeption erforderliche forschungsmethodische Kompetenzen zu erwerben, setzt systematische Lerngelegenheiten in der Lehrer*innenbildung voraus. Allerdings beinhaltet laut Stelter und Miethe (2019) nur etwa die Hälfte aller Lehramtsstudiengänge forschungsmethodische Veranstaltungen und Module, die zudem in ihrer Breite und Tiefe stark variieren (vgl. Heininger 2019). Entsprechend wurden Rufe laut, forschungsmethodische Kompetenzen systematischer in das Lehramtsstudium zu integrieren, teils durch dezidiert methodische Angebote, teils durch forschendes Lernen (z. B. Cammann et al. 2018).

Nicht abschließend geklärt sind dabei erstens die curricularen Fragen, welche forschungsmethodischen Kompetenzen (angehende) Lehrkräfte konkret erwerben sollen und welche Kompetenzniveaus als Mindest- bzw. fortgeschrittene Standards gelten könnten. Zweitens wäre hierfür auch empirisch zu klären, welche forschungsmethodischen Kompetenzen EDHL tatsächlich unterstützen. Dabei ist aus unserer Sicht zu betonen, dass eine umfassende Ausbildung in Forschungsmethoden und Statistik, wie sie z. B. in der Psychologie oder der Erziehungswissenschaft üblich ist und auch für das Lehramtsstudium teilweise gefordert wird, weder realisierbar noch zweckmäßig ist. Angesichts der ohnehin großen Konkurrenz wichtiger Inhalte um die geringen bildungswissenschaftlichen Studienanteile im Lehramtsstudium müsste man sonst ernsthaft die Frage diskutieren, welche davon der Forschungsmethodenausbildung weichen sollten. Insofern wäre es dysfunktional, unrealistische Anforderungen bezüglich der erwarteten Kompetenzentwicklung zu formulieren (Stark 2017).

Nichtsdestotrotz kann EDHL nur gelingen, wenn Lehrkräfte ein hinreichendes Verständnis fundamentaler forschungsmethodischer Grundkonzepte aufbauen, das es ihnen ermöglicht, bildungswissenschaftliches Wissen basal verstehen und einordnen zu können; außerdem sind funktionale wissenschaftsbezogene Orientierungen zentral (Bauer et al. 2017, eingereicht; Heininger 2019; Wilkes und Stark 2022). Zur Frage, welche konkreten forschungsmethodischen Kompetenzen tatsächlich relevant sind, gibt es bisher jedoch nur teilweise konvergierende Vorschläge. Arbeiten zur Messung bildungswissenschaftlicher Forschungskompetenz gehen eher von einem fachsystematischen Ansatz an Forschungsmethodik aus (Gess et al. 2017), beziehen teilweise aber auch Aspekte von Information Literacy und evidenzorientiertem Denken ein (Groß Ophoff et al. 2017). Sie sind allerdings nicht dezidiert lehramtsspezifisch ausgerichtet. Dagegen schlugen andere Arbeiten vor, Lehrkräfte könnten sich durch die Anwendung einfacher Heuristiken (z. B. Fragen entlang gängiger Reviewkriterien) auch mit nur oberflächlichem forschungsmethodischem Wissen zumindest einen groben Eindruck von der Belastbarkeit bildungsbezogener Behauptungen oder wissenschaftlicher Befunde verschaffen (Asberger et al. 2022; Bauer et al. 2017, eingereicht; Heininger 2019).

Daran schließen Vorschläge an, die methodische Kompetenzentwicklung exemplarisch an zentralen forschungsmethodisch-statistischen Prinzipien zu orientieren (Bauer et al. eingereicht; Wilkes und Stark 2022). Solche Prinzipien können an inhaltlichen Fragen orientiert und teilweise sogar ohne mathematisch-statistisches Hintergrundwissen eingeführt werden (Wilkes und Stark 2022). Beispiele solcher Prinzipien sind u. a. die Unterscheidung zwischen korrelativer und experimenteller Forschung und die Passung zwischen inhaltlicher Fragestellung und empirischem Untersuchungsdesign (Bauer et al. eingereicht), das Konzept probabilistischer (vs. deterministischer) Kausalität und das Denken in Verteilungen (Asberger et al. 2022) oder die Idee von Kausalketten und Mediation (Wilkes und Stark 2022). Gleichzeitig ist zu betonen, dass Lehrkräfte vor dem Hintergrund ihrer Ausbildung immer nur begrenzt in der Lage sein können, die Aussagekraft wissenschaftlichen Wissens selbst direkt zu beurteilen. Deshalb ist auch der Erwerb von Strategien zur sog. Bewertung zweiter Hand (Bromme 2020) nützlich, die auf eine Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit von Quellen wissenschaftlichen Wissens abzielen. Sie ermöglichen es, begründete Vertrauensurteile zu treffen, indem deren Expertise, wissenschaftliche Integrität und Wohlwollen (i. S. einer Orientierung am Gemeinwohl) beurteilt wird. Hierfür sind auch Kenntnisse typischer wissenschaftlicher Publikationsformen und ihrer Merkmale hilfreich.

Eine Herausforderung für die weitere Diskussion und Forschung zum EDHL ist es somit, relevante forschungsmethodische Kompetenzanforderungen an (angehende) Lehrkräfte theoretisch weiter zu systematisieren und empirische Zusammenhänge mit Prozessen und Ergebnissen evidenzorientierten Denkens und Handelns zu untersuchen. Erst auf dieser Basis sind fundierte Interventionsstudien zu ihrer effektiven Förderung in der Lehrer*innenbildung möglich.

3.5 Wir brauchen mehr Interventionsstudien, die prüfen, unter welchen Bedingungen Lehramtsstudierende und Lehrkräfte wissenschaftliches Wissen tatsächlich rezipieren und nutzen können!

Ein Großteil der Literatur zu EDHL liefert theoretische und normative Argumente sowie vor allem auch empirische Belege dafür, dass Lehramtsstudierende und Lehrpersonen mehr oder minder große Schwierigkeiten beim evidenzorientierten Denken und Handeln haben (z. B. Hetmanek et al. 2015; Thomm et al. 2021a). Ein relativ umfassendes Verständnis existiert auch bereits zu der Frage nach den Ursachen dieses Befunds. Diese reichen von ungünstigen individuellen Voraussetzungen auf Seiten der Lehrpersonen, wie etwa mangelndem pädagogisch-psychologischem Wissen (Star und Strickland 2008) oder ungünstigen Überzeugungen zur Nützlichkeit bildungswissenschaftlichen Wissens (Kiemer und Kollar 2021; Voss 2022), bis hin zu kontextuellen Barrieren wie etwa dem mangelnden Zugang zu bildungswissenschaftlicher Literatur und einem zu geringen Zeitbudget zur Auseinandersetzung mit bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen (Hetmanek et al. 2015; van Schaik et al. 2018).

Die vor diesem Hintergrund aus unserer Sicht drängende Anschlussfrage ist, wie angehende und bereits im Beruf stehende Lehrpersonen hinsichtlich eines evidenzorientierten Umgangs mit pädagogisch-didaktischen Problemen und darauf bezogenen Kompetenzen unterstützt werden können. Diese Frage hat sowohl motivationale als auch kognitive Dimensionen. So kann etwa danach gefragt werden, wie motivational ungünstige Voraussetzungen zum EDHL (wie etwa das Vorhandensein negativer Einschätzungen zur Nützlichkeit bildungswissenschaftlichen Wissens) überwunden werden können. Erste Studien zeigen, dass hierbei etwa Interventionen effektiv sein können, die Lehramtsstudierende und Lehrpersonen zu einer Reflexion über den Wert pädagogischen Wissens anregen (Rochnia und Gräsel 2022). Auch können Texte, die weit verbreiteten pädagogisch-psychologischen Fehlkonzepten entgegenstehende empirische Evidenz gegenüberstellen, in diesem Sinne effektiv sein (Dersch et al. 2022; Menz et al. 2021). Stärker kognitiv orientierte Interventionen richten sich dagegen darauf, angehende und bereits im Berufsleben stehende Lehrpersonen im Erwerb von diversen Fertigkeiten zu unterstützen, die für kompetentes EDHL vonnöten sind. Hierzu gehören etwa Fertigkeiten zum argumentativen Umgang mit empirischer Evidenz (z. B. Wenglein et al. 2015) oder zum Aufbau von Schemata und Skripts für eine strukturierte Analyse von problematischen Unterrichtssituationen (z. B. Krause-Wichmann et al. in Revision). Noch vergleichsweise wenig betrachtet wurde dagegen in der betreffenden Forschung, wie Lehrpersonen und Lehramtsstudierende im Erwerb von Fertigkeiten zur kompetenten Verknüpfung (bildungs-)wissenschaftlichen Wissens mit lokalen und sozialen Rahmenbedingungen unterstützt werden können.

Bei der Entwicklung entsprechender Interventionen kann auf den großen Fundus an theoretischen Modellen und empirischen Befunden der Instruktionspsychologie zurückgegriffen werden. Die verfügbaren empirischen Studien in diesem Bereich verdeutlichen einerseits positive Effekte direkter Fördermaßnahmen, wie die Vorgabe von ausgearbeiteten Lösungsbeispielen sowie spezifischen kognitiven und metakognitiven Prompts bei der Auseinandersetzung mit pädagogisch-psychologisch relevanten Praxisproblemen (s. Wilkes et al. 2022). Andererseits existieren Studien, die zeigen, dass auch eher indirekte Fördermaßnahmen wie etwa die Anreicherung von bildungswissenschaftlichen Informationsquellen mit Anwendungsbezügen (s. Greisel et al. 2022b) oder auch die Vorgabe, authentische Fallvignetten nicht alleine, sondern in Kleingruppen zu analysieren (Csanadi et al. 2021), effektiv sein können. Zudem wurden bereits modular aufgebaute Trainings zur Förderung von Aspekten des EDHL entwickelt und erfolgreich evaluiert (Engelmann et al. 2022; Wenglein et al. 2015).

Auch wenn diese Befunde ermutigend sind, so steht die Interventionsforschung zur Förderung von EDHL erst noch am Anfang. Besonders vielversprechend erscheint es uns, solche Instruktionsmodelle auf die Förderung von EDHL zu übertragen, die sich in anderen Domänen als wirksam mit Blick auf eine Förderung von komplexen Fertigkeiten erwiesen haben. Exemplarisch zu nennen wären hier Cognitive Apprenticeship (Collins et al. 1989) oder der Four-Components/Instructional Design-Ansatz (Van Merrienboer 2020). Die Übertragung derartiger Modelle auf die Förderung von EDHL steht unseres Erachtens aber noch weitgehend aus.

4 Wie überwinden wir bildungspraktische, -wissenschaftliche und -politische Barrieren auf dem Weg zu einer stärkeren Evidenzorientierung?

Dass die Entwicklung der Bildungspraxis in Richtung einer stärkeren Evidenzorientierung aus zahlreichen Gründen wünschenswert ist, haben wir oben gezeigt. Dass sich die Dinge hierbei schnell verändern werden, erscheint allerdings nicht sehr realistisch, da sowohl die Bildungspraxis als auch die Bildungsforschung und zudem auch die Bildungspolitik (s. Kollar 2010) systemimmanente Eigenheiten aufweisen, die Barrieren für eine schnelle Umsetzung weitreichender Veränderungen in Richtung einer stärkeren Evidenzorientierung in der Bildungspraxis darstellen und erst einmal überwunden werden müssen:

Mit Blick auf die Bildungspraxis stellt sich vor allem die Frage, wie die oben beschriebenen Probleme von Lehramtsstudierenden und Lehrkräften hinsichtlich des evidenzorientierten Denkens und Handelns angegangen werden können. Hierbei sind zum einen Probleme hinsichtlich der Fähigkeit, bildungswissenschaftliches Wissen auf konkrete Praxisprobleme zu übertragen (z. B. Ferguson und Bråten 2022; Trempler und Hartmann 2020), sowie das häufig mangelnde Wissen zu relevanten bildungswissenschaftlichen Evidenzen (z. B. Star und Strickland 2008; Surma et al. 2022) zu nennen. Diese Probleme wären durch eine inhaltliche Anpassung und Intensivierung entsprechender Lernangebote in den unterschiedlichen Phasen der Lehrer*innenbildung zwar nicht von heute auf morgen, aber zumindest mittelfristig relativ gut adressierbar. Schwieriger wird es jedoch sein, die in der Literatur gut dokumentierten, häufig ungünstigen Überzeugungen von Lehramtsstudierenden und Lehrkräften zur Nützlichkeit bildungswissenschaftlichen Wissens (z. B. Kiemer und Kollar 2021; Rochnia und Gräsel 2022; Voss 2022) zu revidieren. So scheint es im Bildungsbereich generell und bei Lehrkräften im Speziellen sehr starke subjektive Überzeugungen dazu geben, was „guten Unterricht“ oder „eine gute Lehrkraft“ ausmacht (Franke 2022). Schließlich haben mehr oder weniger alle Mitglieder der Gesellschaft – und eben auch die zukünftigen und aktuellen Lehrpersonen selbst – tausende Stunden an entsprechenden Erfahrungen gesammelt, auf die sie derartige Einschätzungen gründen können. In anderen Bereichen ist dies deutlich weniger der Fall, wie etwa in der Medizin: In der Regel weisen Patient*innen eher geringe Vorerfahrungen mit den Symptomen akuter Erkrankungen und darauf bezogenes Vorwissen auf. Dies lässt es deutlich leichter erscheinen, sich auf die Expertise erfahrener Ärzt*innen einzulassen und die vorgeschlagenen Behandlungsformen zu befolgen und insofern evidenzbasiert zu handeln. Hinzu kommen empirische Befunde, die zeigen, dass Lehrpersonen die Relevanz bildungswissenschaftlicher Befunde umso stärker in Frage stellen, als je begrenzter sie ihre eigenen Zeitressourcen hinsichtlich der Vor- und Nachbereitung von Unterricht wahrnehmen (Thomm et al. 2021b). Hier schwingt mit, dass eine evidenzorientierte Planung, Umsetzung und Reflexion von Unterricht in der Praxis oftmals als Luxusproblem angesehen wird, dessen Lösung hinter akuteren Problemlagen zurückstehen muss. Vor diesem Hintergrund scheint uns mit Blick auf die Bildungspraxis ein Kulturwechsel nötig, der bei Lehrpersonen mehr als bisher die Überzeugung schafft, dass es auch zu pädagogischen Problemlagen Bezugswissenschaften gibt (neben den klassischen Bildungswissenschaften selbstverständlich auch die Fachdidaktiken), die wissenschaftlich abgesicherte Hinweise darauf geben können, wie solche Probleme gelöst werden können. Immer noch viel zu häufig ist von Seminarleiter*innen etwa zu hören, dass nun nach dem Studium „das wahre Leben“ beginne, für dessen Bewältigung man alles, was man an der Universität gelernt habe, am besten sofort wieder vergessen solle. Je mehr es gelänge, in der Bildungspraxis einen Ethos zu etablieren, der Erkenntnisse der Bildungsforschung wertschätzt, desto eher wird es möglich sein, entsprechende Barrieren abzubauen.

Auf Seiten der Bildungswissenschaft existieren ebenfalls zahlreiche Barrieren für die Stärkung evidenzorientierter Bildungspraxis. Die oft suboptimale und häufig zu wenig an bildungswissenschaftlicher Evidenz orientierte Gestaltung von universitären Lehrveranstaltungen (siehe z. B. Wekerle et al. 2022; Zaragoza et al. 2021) ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Hinzu kommt, dass unter (insb. psychologisch ausgerichteten) Bildungswissenschaftler*innen nicht selten die Haltung vorherrscht, bildungsrelevante Forschungsfragen am besten unter möglichst kontrollierten Bedingungen (d. h. im Labor) zu untersuchen und eben nicht in authentischen Kontexten wie dem Biologieunterricht in der siebten Klasse Gymnasium. Einerseits gibt es hierfür selbstverständlich gute Gründe: Aus wissenschaftlicher Sicht ist es völlig legitim, interessierende Lehr-Lernmechanismen zunächst einmal identifizierbar zu machen – und dies funktioniert natürlich am besten unter möglichst kontrollierten Bedingungen. Zum anderen erscheint es häufig als sehr mühsam und zeitintensiv, bildungswissenschaftliche Studien in authentischen Kontexten durchzuführen, etwa weil Genehmigungsverfahren zur Durchführung empirischer Studien lange dauern oder weil Lehrkräfte – z. B. für die Umsetzung einer bestimmten Unterrichtsmethode – zunächst aufwändig rekrutiert und unterwiesen werden müssen. Diese Probleme fallen umso mehr ins Gewicht, wenn derartige Studien von Promovierenden oder Habilitierenden im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten durchgeführt werden sollen. Hierbei können entsprechende Verzögerungen im schlimmsten Fall wissenschaftliche Karrieren nachhaltig beschädigen, ohne dass dies von den Kandidat*innen selbst zu verantworten wäre. Aus unserer Sicht sind hier insbesondere die Professor*innen gefordert, an ihren Lehrstühlen bzw. Arbeitseinheiten Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen bildungsbezogene Labor- und Feldforschung in Einklang gebracht werden kann, um einerseits einen möglichst hohen wissenschaftlichen Ertrag (i. S. v. Publikationen in Fachzeitschriften), andererseits aber auch einen möglichst starken Impact für die Bildungspraxis zu erreichen. Auf forschungsmethodischer Ebene liegen inzwischen glücklicherweise Ansätze vor, die hierfür nützlich sein können. Zu nennen wären etwa der Design-Based Research-Ansatz (Cobb et al. 2003), Research Practice Partnerships (Farrell et al. 2022) oder das Paradigma der nutzeninspirierten Grundlagenforschung (Renkl 2013; Stokes 1997). Hinzu kommt, dass inzwischen einige hochrangige wissenschaftliche Zeitschriften existieren, die von potenziellen Autor*innen mehr oder weniger explizit einfordern, ihre Studien in echten Bildungskontexten durchzuführen (wie etwas das Journal of the Learning Sciences).

Eine Schlüsselrolle für das Ziel, die Bildungspraxis auf der einen und die Bildungsforschung auf der anderen Seite näher zusammenzubringen, kommt unserer Ansicht nach einem dritten System zu, nämlich der Bildungspolitik und -administration. So sind einige politisch-administrative Maßnahmen denkbar, die Anreize für eine Stärkung evidenzorientierten Denkens und Handelns setzen und insofern als Hebel genutzt werden könnten. Hierzu zählt etwa der systematische Aufbau von Gesprächsforen, in denen Vertreter*innen der Bildungspraxis und der Bildungsforschung gleichberechtigt und auf Augenhöhe diskutieren können, welche Hemmnisse für eine Stärkung evidenzorientierter Praxis im Bildungsbereich existieren und wie diese überwunden werden können (siehe Hartmann et al. 2016). Auch die Umsetzung von Co-Design-Ansätzen, in deren Kontext Lehrpersonen und Bildungsforscher*innen bei der Planung von Unterricht intensiv zusammenarbeiten, sind hier als sehr vielversprechend einzuschätzen (siehe z. B. Gomoll et al. 2022). Es sind aber auch noch weitreichendere Maßnahmen denkbar: Mit Blick auf die Bildungspraxis könnten etwa Beförderungen von Lehrpersonen umso früher vorgenommen werden, je stärker es ihnen gelingt, ihren Unterricht auf Basis bildungswissenschaftlicher Evidenz zu planen, durchzuführen und zu reflektieren. Mit Blick auf die Forschungsförderung könnte parallel versucht werden, Förderformate zu entwickeln und zu installieren, die es für Bildungswissenschaftler*innen attraktiv erscheinen lassen, ihre Forschung in realen Bildungskontexten durchzuführen. Denkbar wären hier etwa Förderprogramme, in deren Kontext erweiterte Personalressourcen beantragt werden können, insofern das beantragte Projekt Forschung im Feld zu betreiben beabsichtigt.

Wie bereits erwähnt halten wir die genannten Barrieren für nur schwer und nur mittel- bis langfristig überwindbar. Nichtsdestotrotz hoffen wir, einige Anregungen dafür gegeben zu haben, wie die Vision einer evidenzorientierten Praxis im Bildungsbereich mehr und mehr Wirklichkeit werden kann.