1 Einleitung

Wir leben in einer Wissensgesellschaft und sind oft von vielen Informationen umgeben, die für private wie auch berufliche Angelegenheiten relevant sind.

In der öffentlichen Diskussion werden bspw. Inhalte aus den Bereichen Gesundheit, Umwelt oder Bildung kontrovers diskutiert. Dabei zeigt sich häufig, dass aufgrund verschiedener Geltungsbehauptungen nicht die eine Information – seien es Aussagen anderer Personen oder Beiträge in Medien – genügt, um eine hinreichende Informationsbasis aufzubauen und eine fundierte Entscheidung zu treffen (Bromme und Kienhues 2014; Sinatra 2016). Stattdessen ist eine sorgsame Betrachtung und Abwägung verschiedener Informationen unabdingbar (Fischer et al. 2014; Asterhan und Schwarz 2016).

Diese Herausforderung kann ebenso auf die pädagogische Praxis übertragen werden: Lehrkräfte müssen täglich mit komplexen, unsicheren Unterrichtssituationen umgehen und die vor dem Hintergrund des jeweiligen Lernziels beste, verantwortbare Entscheidung anhand bestehender Informationen treffen (Cochran-Smith und Lytle 1999; Berliner 2002; Tenorth 2006). Vor allem die Nutzung bildungswissenschaftlicher Informationen für Entscheidungen in pädagogischen Situationen wird in den letzten Jahren vermehrt im Zuge der Evidenzorientierung im Lehrerberuf diskutiert (Hartmann et al. 2016; Bauer et al. 2017).

Die evidenzorientierte bzw. informationsbasierte Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen erfordert auf Seiten der Lehrkräfte komplexe Fähigkeiten, die u. a. die Wahrnehmung und das Verstehen einer Situation, die Informationssuche und -bewertung, die argumentative und reflektierte Auseinandersetzung sowie das Ableiten alternativer Handlungen umfassen (Leinhardt und Greeno 1986; Trempler et al. 2015; Bauer et al. 2017). Das Ausführen dieser Fähigkeiten hat positive Wirkungen für Lehrkräfte zur Folge, wie bspw. erhöhtes Wohlbefinden (Wubbels und Korthagen 1990; Mattern und Bauer 2014) sowie eine bessere Unterrichtswahrnehmung (Mertens und Gräsel 2018). Zudem können Fähigkeiten der kritischen Auseinandersetzung von Lehrkräften direkt z. B. in Form eines Modelling an die Lernenden übertragen werden (Muis et al. 2006), was wiederum aus der Sicht nationaler wie internationaler Bildungsstandards als wünschenswert erachtet wird (Common Core State Standards 2010; KMK 2012). Lernende sollten demnach in der Lage sein, selbständig notwendige Informationen zu suchen und zu bewerten, eine Wissensbasis zu entwickeln, Perspektiven zu erweitern und überzeugend zu argumentieren, um im privaten und im öffentlichen Leben Verantwortung zu übernehmen. Darin ist der Auftrag an das Bildungssystem und die darin agierenden Lehrkräfte gut erkennbar: Sie sollten dazu befähigt sein, flexibel, reflektiert und kritisch mit herausfordernden pädagogischen Situationen umzugehen, deren Passung an die Bedürfnisse der Lernenden zu prüfen sowie Erkenntnisse über den Erwerb von Wissen und Fähigkeiten zur Gestaltung erfolgreicher Lernprozesse in den Unterricht zu integrieren (KMK 2014). Die Entwicklung dieser Fähigkeiten ist daher nicht nur als Ziel schulischer, sondern auch als Ziel universitärer Bildung zu begreifen (Fischer et al. 2014).

Aus diesem Grund beschäftigen wir uns im vorliegenden Beitrag mit der Fähigkeit angehender Lehrkräfte sich kritisch mit pädagogischen Situationen auseinanderzusetzen. Ausgehend vom Ansatz des kritischen Denkens und der Argumentationsfähigkeit gehen wir mit unserer qualitativen Studie zum einen der Fragestellung nach, ob angehende Lehrkräfte sich argumentativ mit pädagogischen Situationen auseinandersetzen. Zum anderen fragen wir, welche Informationen sie für diese Auseinandersetzung nutzen.

Die Besonderheit des vorliegenden Projekts liegt darin, dass die Studierenden sich mit realen Situationen beschäftigen, die sie während einer verlängerten Praxisphase selbst aussuchen. Durch die Situierung im naturalistischen Kontext können spontane Auseinandersetzungen mit Praxissituationen herausgearbeitet werden, die von angehenden Lehrkräften als relevant für ihre berufliche Tätigkeit eingeschätzt werden. Im Zuge der Debatte um evidenzorientiertes Handeln, das sowohl den Rückbezug auf eigene berufliche Erfahrungen als auch auf die beste verfügbare wissenschaftliche Evidenz erfordert, beschränken wir uns nicht auf die Nutzung wissenschaftlicher Informationen, sondern erweitern diesen Blick auf alle verfügbaren Informationen (theoretisches Wissen, empirisches Wissen, Erfahrungen, Beobachtungen) (Kuhn 1991; Chinn et al. 2011).

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Kognitive Komponenten bei der Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen

Bei der Auseinandersetzung mit komplexen pädagogischen Situationen sind spezifische Fähigkeiten von Bedeutung, die auf einer allgemeinen theoretischen Ebene als Reflexion bezeichnet werden können. In den Worten Alexanders (2017, S. 308) beschreibt Reflexion „(…) the deliberation, pondering, or rumination over ideas, circumstances, or experiences yet to be enacted, as well as those presently unfolding or already passed“. Sie kann demnach während einer Situation stattfinden (z. B. reflection-in-action, Schön 1983) als auch in Vor- und Nachbereitung einer Situation genutzt werden (Schön 1983; Korthagen und Wubbels 2008; Farrell 2012). Start und Endpunkt eines Reflexionsprozesses stellen professionelle Handlungen dar, die durch kritische informationsbasierte Reflexionsprozesse weiterentwickelt werden. So beschreiben Korthagen und Wubbels (2008; ALACT-Modell) diesen Prozess in fünf Schritten, bestehend aus einer Handlung, der Betrachtung der Handlung, der Bewusstmachung kritischer Aspekte, der Generierung alternativer Handlungsoptionen und der Anwendung letzterer.

Lunn Brownlee et al. (2017) zeigen in einem Prozessmodell, wie die genannten Fähigkeiten im pädagogischen Kontext gedacht werden können: Wenn Lehrkräfte ihren eigenen Unterricht entsprechend bestimmter epistemischer Ziele (z. B. Verstehen, Wissensaneignung usw.) planen und dieser in einer anderen Form als geplant verläuft, kann dies als Problem oder Diskrepanz wahrgenommen werden. Diese Diskrepanz kann anschließend durch einen internen Dialog (S. 248) oder die reflective conversation with a situation (Schön 1983, S. 163) und anhand verschiedener Informationen erklärt werden. Daraufhin werden Erklärungsmodelle identifiziert, die das gewünschte Ergebnis eventuell beeinflussen, alternative Handlungsoptionen entsprechend ihrer hypothetischen Wirkung eruiert und abschließend eine Schlussfolgerung für das künftige Handeln abgeleitet. Der „kritische“ Teil dieses Denkprozesses besteht dabei in der Prüfung des angewandten Wissens auf seine Gültigkeit für die jeweilige Situation (Hofer 2016). Reflexion kann dementsprechend als Instrument zur Verbindung von Theorie und Praxis verstanden werden (Korthagen 2010).

Bisherige Untersuchungen im Bereich der Theorie-Praxis-Verzahnung zeichnen jedoch ein eher pessimistisches Bild und weisen darauf hin, dass Lehrkräfte Schwierigkeiten haben ihr im universitären Kontext erworbenes Wissen sowie Fähigkeiten auf den schulischen Kontext zu übertragen und stattdessen Gefahr laufen, auf bereits bestehende Routinen zurückzugreifen (Korthagen 2010). Diese Befunde werden durch aktuelle Studien untermauert, die zum einen zeigen, dass vor allem Novizinnen und Novizen durch komplexe pädagogische Situationen stark beansprucht und überfordert (Kim und Klassen 2018) sowie deren Fähigkeiten zur Wahrnehmung, Erklärung und Interpretation problematischer pädagogischer Situationen stark eingeschränkt sind (Stürmer et al. 2013; Wolff et al. 2016). Diese Befunde könnten dadurch erklärt werden, dass Studierende bereits im Lehramtsstudium Schwierigkeiten bei der Reflexion pädagogischer Situationen aufweisen: Kiemer und Kollar (2018) beschäftigen sich in einer aktuellen Studie mit der evidenzbasierten Reflexion angehender Lehrkräfte aus der Perspektive der Script-Theorie (Fischer et al. 2013). Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass angehende Lehrkräfte in Bezug auf die kognitiven Prozesse während der Reflexion unvollständige Scripts in nicht ausreichender Qualität aufweisen. Geringe Fähigkeitswerte zeigen sich in Bereichen informationsbasierter Erklärungen von Problemsituationen und der Ableitung von Zielen und Handlungsoptionen. Ähnliche Ergebnisse berichten Nückles und Schuba (2019) in ihrer aktuellen Studie zur Reflexion und Planung von Unterricht auf der Basis wissenschaftlichen Wissens durch angehende Lehrkräfte anhand von Lerntagebüchern. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass angehende Lehrkräfte für die jeweilige Situation relevante wissenschaftliche Informationen identifizieren und auch allgemeine Handlungsoptionen aus diesen Texten filtern können, allerdings keine informationsbasierten Handlungsalternativen für die jeweilige Situation generieren können.

Es kann angenommen werden, dass die geschilderten Reflexionsfähigkeiten auch durch intensive Berufserfahrung von Lehrkräften nicht automatisch (re)aktiviert werden (Lachner et al. 2016). Aus diesem Grund scheint es plausibel, sich bereits in einer früheren Phase der Lehrkräfteausbildung mit Fähigkeiten der informationsbasierten Reflexion auseinanderzusetzen. Da Lehramtsstudierende in der Regel noch nicht über umfangreiche praktische Erfahrungen verfügen und somit noch keine hinreichende Basis professionellen Wissens (bestehend aus Erfahrungen und wissenschaftlichem Wissen) entwickeln konnten, gehen wir davon aus, dass eine unmittelbare Reflexion in der jeweiligen Situation, wie Schön (1983; reflection-in-action) sie vorstellt, für Studierende nicht realistisch ist. Vielmehr wird die Reflexion angehender Lehrkräfte im vorliegenden Beitrag als prä- oder postaktionale Phase begriffen (reflection-on-action, reflection-for-action), in der Studierende ihre praktischen Erfahrungen forschend nutzen, diese anhand verschiedener Informationsbestände interpretieren und Schussfolgerungen für künftige Handlungen ziehen (Cochran-Smith und Lytle 1999). Bisher sind diese Auseinandersetzungsprozesse jedoch noch wenig spezifiziert. Wir gehen davon aus, dass die systematische, informationsbasierte Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen als spezifische Fähigkeit des kritischen Denkens beschrieben werden kann. Kritisches Denken wird als höhere Form des Denkens verstanden (Zohar und Nemet 2002; Osborne und Patterson 2011; Lunn Brownlee et al. 2017), bei der Personen sich aktiv, selbstreguliert und gewissenhaft mit ihren Überzeugungen und vorliegenden Informationen auseinandersetzen, daraus neue Wissensstrukturen entwickeln und begründete Entscheidungen ableiten (Cochran-Smith und Lytle 1999; Fisher 2011). Entsprechend klassischer Zwei-Prozess-Modelle der Informationsverarbeitung kann kritisches Denken als systematische Verarbeitung bezeichnet werden, bei der neues Wissen aufgenommen und in bestehende Wissensstrukturen integriert wird (Chaiken 1980). Zu den Teilfähigkeiten kritischen Denkens zählen u. a. die Identifikation und Interpretation von Problemen in einer Situation, die Suche valider Informationen für die Erklärung der Situation, das Kontrollieren von Einflussfaktoren, die Analyse und Bildung von Argumenten und Gegenargumenten sowie die Ableitung von Schlussfolgerungen und Handlungsalternativen (Leitão 2000; Abrami et al. 2015).

Zusammenfassend umfassen kritische Auseinandersetzungsprozesse mit pädagogischen Situationen zum einen die Fähigkeit des Argumentierens und zum anderen die Nutzung von Informationen in Verbindung mit Argumentationen. Diese Teilfähigkeiten kritischen Denkens stehen im Fokus des vorliegenden Beitrages.

2.1.1 Argumentation

Die Analyse von Argumentationen kann ein Weg sein, Denkprozesse angehender Lehrkräfte bei der Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen zu visualisieren. Insbesondere die Konstruktion von Argumenten und Gegenargumenten und mit ihnen die Auswahl und Bewertung von Informationen, die die Argumente stützen, werden dabei als wesentliche Faktoren des kritischen Denkens betrachtet (Newell et al. 2011). Insbesondere die Forschung zur Entwicklung der Fähigkeit des Argumentierens beschäftigt sich mit der Analyse von Prozessen des kritischen Denkens anhand von Argumentationen (Clark und Linn 2013; Duncan und Chinn 2016; Kuhn 1991; Mercier und Sperber 2011; Sinatra 2016).

Argumentationen stellen eine Form der dialektischen Auseinandersetzung dar, die zwischen Individuen, aber auch allein in Form eines internen Dialogs stattfinden kann (Nussbaum 2008). Bei dieser Auseinandersetzung reagieren Personen auf Herausforderungen oder Fragen, die durch einen so genannten Interlocutor – also einen Gesprächspartner – gestellt werden (Kuhn 2015). Die Argumentation kann zudem schriftlich oder mündlich erfolgen, wobei gerade in individuellen, schriftlichen Auseinandersetzungen die Bildung von Gegenargumenten hervorzuheben ist, da aufgrund des fehlenden Gesprächspartners eine zweite Position selbst entwickelt werden muss (Iordanou 2010).

2.1.2 Struktur und Qualität von Argumentationen

Entsprechend klassischer Definitionen besteht eine vollständige Argumentation aus einer oder mehreren Behauptungen, die durch Argumente und Gegenargumente gerechtfertigt und aus denen Konklusionen abgeleitet werden (Zohar und Nemet 2002; Toulmin 2003; Duncan und Chinn 2016).

Eine Behauptung stellt eine einfache, ungerechtfertigte Aussage dar, die erst durch eine Rechtfertigung in Form einer Information zum Argument wird (Kuhn 1991). Behauptungen und Argumente unterscheiden sich demnach durch das Vorhandensein einer Information, die als Rechtfertigung dient (Toulmin 2003; Zohar und Nemet 2002). Konklusionen können entweder auf der Grundlage von informationsbasierten Argumenten entwickelt werden (reasoning, Moshman und Tarricone 2016) – wobei epistemische Ziele verfolgt werden, die den Aufbau und die Integration neuer Informationen, das Verstehen, die Bildung gerechtfertigter Überzeugungen und das Erlangen von Fähigkeiten umfassen (Chinn et al. 2011; Iordanou et al. 2016) – oder auf der Basis vorher bestehender Repräsentationen (inference; Mercier und Sperber 2011), bei denen kein Bezug zu Argumenten und neuen Informationen besteht.

Diese Definition stellt den Minimalkonsens der vielfältigen Definitionen zu Argumentationsstrukturen dar. Zudem werden zwei Formen der Argumentation unterschieden: Bei einer zweiseitigen Argumentation werden bewusst verschiedene Positionen (Argumente und Gegenargumente) aus bereits vorhandenen Informationen und neuen Informationen von außen gegenübergestellt (Mercier und Sperber 2011; Iordanou et al. 2016). Mit Bezug zum Lehrerberuf könnte das bedeuten, dass Erfahrungswissen (bspw. zum Verhalten von Lernenden) durch Informationen von außen (bspw. bildungswissenschaftliche Befunde) ergänzt wird und in Schlussfolgerungen mündet, die zu alternativen Handlungen führen. Zweiseitige Argumentation führt im besten Fall zur Bildung neuer Wissensbestände und wird daher als Grundlage für das Ändern von Denkweisen und Überzeugungen angesehen (Fisher 2011; Iordanou et al. 2016). Diese Form der Argumentation wird als Voraussetzung dafür angesehen, schnell und intelligent auf konstanten Wandel, Probleme und Herausforderungen zu reagieren sowie Innovationen voranzubringen (Nussbaum 2008; Crowell und Kuhn 2014). All dies sind Aspekte, die für das spätere Unterrichten essenziell erscheinen.

Als einseitige Argumentation werden dementgegen Argumentationsstrukturen bezeichnet, die keine widersprüchlichen Informationen (Gegenargumente) beinhalten und auf der Basis bereits bestehender Repräsentationen gebildet werden (Mercier und Sperber 2011). Sie zielen in der Regel nicht auf die Erlangung epistemischer Ziele ab, sondern auf die Ableitung von Schlussfolgerungen, die leicht zu rechtfertigen sind, und auf die Bekräftigung der eigenen Meinung (Hart et al. 2009; Walton und Macagno 2015). So konnten Hart et al. (2009) in einer Metanalyse zeigen, dass Personen dazu tendieren, externe Informationen zu wählen, die ihren eigenen Vorannahmen entsprechen, was zur Folge hat, dass sie kaum neue Informationen für Entscheidungen nutzen (Buehl et al. 2001; Maier et al. 2014).

Diverse Studien zeigen, dass die zweiseitige Argumentation und insbesondere die Ableitung und Rechtfertigung von Gegenargumenten eine besondere Herausforderung darstellen und Personen daher häufig dazu tendieren schon vorhandene Annahmen ohne Beachtung alternativer Positionen zu rechtfertigen (Hart et al. 2009; Asterhan und Schwarz 2016).

Für den Bildungsbereich liegen bereits verschiedene Befunde zur Argumentationsfähigkeit vor: Sie zeigen, dass nur wenige Kinder und Jugendliche als skilled arguers bezeichnet werden können, und dass die Fähigkeit zur Bildung zweiseitiger Argumentationen vor allem durch spezielle Argumentationstrainings gefördert werden kann (Iordanou 2010; Crowell und Kuhn 2014). Für die Seite der Lehrkräfte existieren bereits vereinzelte Studien, die auf eine verminderte Argumentations- und Reflexionsfähigkeit angehender Lehrkräfte hinweisen: So zeigen qualitative Studien, bei denen Lehrkräfte pädagogische Szenarien anhand von Laut-Denk-Protokollen bearbeiten, dass Novizinnen und Novizen zwar in der Lage sind, Probleme in Situationen wahrzunehmen (wenn auch auf einem oberflächlicheren Niveau im Vergleich zu Expertinnen und Experten), aber Schwierigkeiten haben, die Situationen zu analysieren, daraus Schlussfolgerungen abzuleiten und Vorhersagen zu treffen. Die Autoren fassen zusammen, dass Novizinnen und Novizen schlechtere Argumentations- und Reflexionsfähigkeiten aufweisen – eventuell erklärbar durch eine höhere kognitive Auslastung (Kim und Klassen 2018, S. 223). Alle Gruppen weisen zudem eine Tendenz zu einseitigen Argumentationen auf, da sie ausschließlich eigene Erfahrungen nutzen. Inwieweit diese Aussagen auch auf die Auseinandersetzung mit realen Situationen zutreffen, kann die Studie nicht beantworten. Die eingeschränkte Wahrnehmung von Novizinnen und Novizen wurde ebenfalls im Rahmen des professional Vision-Ansatzes (Berliner 1991) herausgearbeitet und von Stürmer et al. (2013) empirisch gestützt: Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, dass Novizinnen und Novizen im Vergleich zu erfahrenen Lehrkräften Schwierigkeiten haben, relevante bzw. problematische Situationen zu identifizieren, diese zu interpretieren und anhand theoretischer Informationen zu erklären sowie künftige Wirkungen vorherzusagen.

Die bisher dargestellten Annahmen und Befunde weisen zusammenfassend u. a. darauf hin, dass eine Analyse von Argumentationsstrukturen allein keine vollständigen Aussagen zur Qualität der Denkprozesse zulässt (Duncan und Chinn 2016; Kiemer und Kollar 2018), da Argumentationen auch zur Bestätigung bereits vorhandener Wissensbestände genutzt werden können (Walton und Macagno 2015; Shavelson 2018). Da diese Form der Argumentation grundsätzlich von den meisten Personen beherrscht wird (Mercier und Sperber 2011), ist eine Differenzierung der genutzten Informationen notwendig, die Aussagen darüber zulässt, womit Personen ihre Behauptungen rechtfertigen (Duncan und Chinn 2016). Die Nutzung von Informationen bei der Auseinandersetzung mit Situationen wird dementsprechend als weiterer Indikator kritischer Denkprozesse betrachtet.

2.1.3 Informationen und Informationsintegration

Lehrkräfte können verschiedene Informationen nutzen, um sich pädagogische Situationen zu erklären. Dazu zählen u. a. eigene Erfahrungen und auch wissenschaftliches Wissen (Shulman 1987; Bromme und Tillema 1995; Cochran-Smith und Lytle 1999). Seit einigen Jahren wird die Nutzung von Informationen durch Lehrkräfte erneut unter dem Stichwort Evidenzorientierung im Bildungsbereich aufgegriffen (Prenzel 2010; Hartmann et al. 2016). Im Mittelpunkt dieser Debatte steht die aus der evidenzbasierten Medizin abgeleitete Idee, professionelle Entscheidungen nicht nur auf der Basis eigener Erfahrungen und Überzeugungen zu treffen, sondern dabei ebenso wissenschaftliche Informationen zu berücksichtigen (Sackett et al. 1996; Trempler et al. 2015; Bauer et al. 2017). Daraus kann geschlussfolgert werden, dass nicht die eine Information für die kritische Auseinandersetzung mit einer Situation und letztlich der Ableitung einer Entscheidung wichtig ist, sondern die Wahrnehmung alternativer Informationen und alternativer Erklärungen (Moshman und Tarricone 2016). Es geht also weniger darum, eine Information zu priorisieren, sondern um das Suchen, Rechtfertigen, Kombinieren oder Verwerfen verschiedener Erklärungsmodelle. So kann eine wiederholte unsystematische Beobachtung einer pädagogischen Situation ebenso eine Grundlage für eine Auseinandersetzung und Schlussfolgerung darstellen wie ein empirischer Befund, der in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Die Vorstellung, wissenschaftliches Wissen allein könne bestehende, eventuell subjektive und fehlerhafte Konzepte ersetzen, muss als Fehlvorstellung einer Informationsintegration angesehen werden (Stark 2017).

Chinn et al. (2011) unterscheiden grundsätzlich zwischen internen und externen Informationen. Interne Informationen umfassen Beobachtungen, Erfahrungen und Meinungen. Beobachtungen stellen unsystematische Betrachtungen eines Phänomens dar, die sachlich beschrieben und nicht interpretiert werden. Erfahrung und Meinung sind Sammelbegriffe für verschiedene Mechanismen, wie Introspektion, Intuition und Inferenz, die idiosynkratisch, implizit und nicht validierbar sind (Muis et al. 2006; Chinn et al. 2011). Die Nutzung interner Informationen bei der Auseinandersetzung mit Situationen wird daher oft mit subjektiven Verzerrungen konnotiert. Das kann damit begründet werden, dass erfahrungsbasierte Informationen vorwiegend in der Vergangenheit angeeignet wurden und durch selektive Wahrnehmung beeinträchtigt sein können (Chinn et al. 2011). Zudem werden erfahrungsbasierte Informationen durch das Erleben von episodischen Ereignissen angereichert, jedoch nicht systematisch verarbeitet und evaluiert (Gruber 1999). Insbesondere bei angehenden Lehrkräften kann die schon erwähnte erhöhte kognitive Belastung die Wahrnehmung und Verarbeitung in Situationen stark einschränken und verzerren (Stürmer et al. 2013; Kim und Klassen 2018).

Externe Informationen werden nicht durch die jeweilige Person konstruiert, sondern von außen an die Person herangetragen oder von ihr beschafft. Sie umfassen Formate wie Lehrbücher, Ratgeber und Expertenaussagen (Chinn et al. 2011). Die Nutzung externer Informationen für die Auseinandersetzung mit bestimmten Problemstellungen kann die Gefahr der unkritischen Anwendung in sich bergen (Sinatra et al. 2014): Dies könnte dadurch erklärt werden, dass externe Informationen oft genutzt werden, wenn Personen eher wenig Wissen auf einem Gebiet haben und dementsprechend auch keine Möglichkeit besitzen, die Validität der Quelle zu beurteilen, auf die sie sich verlassen (Hendriks et al. 2015). Letzteres konnte auch bei Universitätsstudierenden empirisch bestätigt werden, die wissenschaftliche Berichte unabhängig von ihrer Validität unkritisch zur Kenntnis nahmen und die Wissensbehauptungen in den Texten als wahr akzeptierten (Bråten et al. 2014). Weiterhin erzeugen Expertinnen und Experten bei Laien in vielen Fällen natürliche Autorität, die nicht hinterfragt wird (Latifan und Bashash 2004; Sinatra et al. 2014).

Eine Verbindung von internen und externen Informationen wird als Voraussetzung kritischer Denkprozesse beschrieben, weil dadurch bereits vorliegende Konzepte und Überzeugungen validiert, korrigiert sowie durch externe Informationen ergänzt werden können (Bromme et al. 2010). Die Nutzung verschiedener Informationen und deren sorgfältige Analyse erhöhen zudem die Sicherheit und Akkuratheit des Wissens (Kuhn 1991) und fördern das Verstehen und Schlussfolgern in spezifischen Situationen (Moshman und Tarricone 2016).

Die Befundlage zur Fähigkeit (angehender) Lehrkräfte, verschiedene Informationen in kritischen Auseinandersetzungsprozessen zu pädagogischen Situationen zu nutzen, erscheint bislang relativ dürftig (Stürmer et al. 2013). Einzelstudien weisen darauf hin, dass angehende Lehrkräfte Wissen nicht auf Situationen übertragen bzw. anwenden können (Stark 2005; Wagner et al. 2014) oder nur ihre eigenen internen Informationsbestände als Erklärungsgrundlage nutzen (Bromme und Tillema 1995; Kim und Klassen 2018; Kiemer und Kollar 2018). Oftmals werden diese Befunde zudem anhand von Szenarien, artifiziellen Lernumgebungen und Vignetten erzeugt (Stark et al. 2010; Trempler et al. 2015; Wenglein et al. 2015), die kaum Aussagen über die Auseinandersetzungsprozesse im realen Feld zulassen. Gerade solche real situierten und selbst ausgewählten Situationen bilden allerdings die Voraussetzung für die Entstehung persönlicher Relevanz und damit der kritischen und systematischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Informationen.

2.2 Motivationale Komponenten und authentische Situationen

Die Auseinandersetzung mit komplexen Situationen und Informationsbeständen wird durch persönliche Einstellungen und motivationale Zustände beeinflusst (Bråten und Ferguson 2015; Hart et al. 2009; Sinatra et al. 2014). Zu diesen persönlichen Voraussetzungen gehört insbesondere die Relevanz, die eine Person einer Situation oder einem Inhalt zuschreibt (Gregoire 2003). Je stärker eine Person sich in eine Situation involviert und von ihr betroffen fühlt, desto eher wird sie sich mit dieser und mit allen damit zusammenhängenden Informationen auseinandersetzen: So beeinflusst die persönliche Relevanz die Tiefe und Form der Auseinandersetzung und führt zu tieferen Verstehens- und Elaborationsprozessen sowie tieferen Strategien der Auseinandersetzung wie dem kritischen Denken (Krapp 1999; List und Alexander 2017).

Damit Personen eine Situation als relevant erachten, sind insbesondere authentische Situationen, so genannte hot contexts von großer Bedeutung (Gregoire 2003, S. 150). Aus der Forschung zum situierten Lernen ist bekannt, dass Lernen sehr gut gefördert werden kann, wenn es in einer Situation stattfindet, die dem Anwendungskontext nahekommt (Renkl et al. 1996), da hierdurch Wissen, das bereits in Form von Repräsentationen vorliegt, auf reelle Situationen übertragen bzw. darin aktiviert wird. Die Art der Situationen bestimmt, wann welches Wissen und welche Kompetenzen angewandt werden und trägt zu deren Entwicklung/Erwerb bei (Gräsel 1997; Gräsel et al. 2006). In diversen Forschungsbereichen konnte bereits nachgewiesen werden, dass Situationen, mit denen Personen sich identifizieren können und die ihrer Lebenswelt entsprechen, die Tiefe der Auseinandersetzung beeinflussen. Dies gilt auch für Prozesse des wissenschaftlichen Argumentierens (Fischer et al. 2014), des Textverständnisses (List und Alexander 2017) und des kritischen Denkens (Abrami et al. 2015).

2.3 Kritisches Denken und Argumentation in der Lehrerbildung

Obwohl es möglich ist, dass verschiedene Informationen, wie Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit und Wissen, das im Studium erworben wird, stark miteinander agieren und eventuell verschmelzen (Cochran-Smith und Lytle 1999; Chinn et al. 2011), kann es zu einer separaten Speicherung von Informationen entsprechend der Kontexte kommen, in denen sie erworben werden (bspw. Schulkontext, Universität, Freizeit) (Clark und Linn 2013). Letzteres wird von Neuweg (2011, S. 595) als Differenzthese beschrieben. Eine systematische Verknüpfung von Informationen, die in verschiedenen Bereichen angeeignet werden (bspw. in universitären und schulischen Kontexten) sollte daher gefördert werden. Um eine Aussage darüber treffen zu können, wie angehende Lehrkräfte Informationen in ihrer Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen verknüpfen und ob sie dies in einer kritischen und abwägenden Weise tun, benötigen Studierende Möglichkeiten auf reale Situationen zurückzugreifen. Solche Möglichkeiten sind bspw. dann gegeben, wenn Lehramtsstudierende sich in einer Praxisphase befinden: Während der Praxisphasen werden die Studierenden in Handlungen involviert, müssen (teilweise unter Druck) Entscheidungen treffen und entwickeln Emotionen (Neuweg 2015). In diesen authentischen Kontexten kommt es nicht zu einer Vereinfachung komplexer Kontextfaktoren und Zusammenhänge, so dass Studierende selbst Problemfelder identifizieren, Fragestellungen generieren, Komplexitäten und Mechanismen verstehen und erklären und eventuell kontrastierende Erklärungsmodelle erkennen (Klopp und Stark 2016). Dabei werden im besten Fall bereits bestehende Wissensbestände aktiviert und/oder erweitert, was zu einem tieferen Verständnis der Situation führt (Hübner et al. 2007). Sie erhalten hier die Möglichkeit, sich unter universitärer Betreuung mit den Erfahrungen, die sie in authentischen Situationen machen, kritisch und anhand bereits bestehenden Wissens auseinanderzusetzen (Mertens und Gräsel 2018). Die Besonderheit der Lerngelegenheit Praxisphase liegt in einer doppelten Lernsituation, da die Studierenden sich gleichzeitig in einer universitären und einer realen schulischen Lernsituation befinden, in der unterschiedliche Handlungslogiken, Mindsets und epistemische Kriterien existieren (Kuhn 2009; Shavelson 2018). Die Fähigkeit sich kritisch mit Situationen auseinanderzusetzen kann dabei als Praktik der scientific community verstanden werden und sollte dementsprechend im universitären Bereich gelehrt werden (Klopp und Stark 2016), während praktische Erfahrungen im schulischen Umfeld erworben werden. Diese enge Verzahnung praktischer Erfahrungen und kritischer Auseinandersetzungen kann als großes Potential für die Verbindung von Theorie und Praxis angesehen werden.

Auf angehende Lehrkräfte bezogen kann das bedeuten, dass reale pädagogische Situationen, die potentiell im späteren beruflichen Kontext erneut vorkommen, eine hohe Relevanz hervorrufen und dazu beitragen, dass eventuell bereits angeeignetes theoretisches Wissen aktiviert wird. Dies ist die Voraussetzung für eine weiterführende systematische Verarbeitung.

3 Ziele und Fragestellungen

Kritisches Denken ist eine relevante Fähigkeit, die Lehrkräfte ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln und die sie selbst im Sinne einer evidenzorientierten Praxis nutzen sollten, um ihre eigenen Entscheidungen und ihr professionelles Handeln zu begründen. Kritisches Denken zeigt sich in Argumentationen – bspw. wenn gerechtfertigte Annahmen aufgestellt, gegeneinander abgewogen und zur Ableitung einer Schlussfolgerung genutzt werden. Die Wahrnehmung und Darstellung verschiedener Positionen weist auf eher kritische Denkprozesse hin, während einseitige Denkprozesse – also das Vertreten einer Position bei der Auseinandersetzung – mit geringerer Wahrscheinlichkeit zu einem Aufbau neuen Wissens und alternativer Schlussfolgerungen führen.

Vor dem Hintergrund, dass unterrichtliche Handlungen stark von Annahmen und vorherrschenden Einstellungen von Lehrkräften beeinflusst werden, dass Lehrkräfte oft ungünstige Einstellungen gegenüber wissenschaftlichen Theorien zeigen (Stark et al. 2010) und dass Lehrkräfte es bevorzugen aus der Praxis gewonnene Erkenntnisse als Basis für Entscheidungen zu pädagogischen Instruktionen und Lernen zu nutzen (Bråten und Ferguson 2015), scheint die zweiseitige Argumentation besonders relevant für die pädagogische Praxis. Unsere erste Fragestellung lautet daher:

  1. 1.

    Argumentieren Lehramtsstudierende bei der schriftlichen und individuellen Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen und wenn ja, welche Argumentationsstruktur weisen die schriftlichen Auseinandersetzungen angehender Lehrkräfte mit pädagogischen Situationen auf?

Neben der Argumentationsstruktur spielt auch die Art der genutzten Informationen eine entscheidende Rolle für die Analyse von Denkprozessen, denn die Nutzung einer Informationsbasis und/oder die ausschließliche Nutzung interner oder externer Informationen kann zu Verzerrungen oder Fehlkonzepten führen. Wenn allerdings bei der Auseinandersetzung mit einem Inhalt oder einer Situation verschiedene Informationen als Alternativen wahrgenommen und genutzt werden, können alternative und gerechtfertigte Schlussfolgerungen abgeleitet werden. Letzteres ist ebenfalls ein Indikator kritischen Denkens. Unsere zweite Fragestellung lautet daher:

  1. 2.

    Welche Informationen nutzen Lehramtsstudierende bei der Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen?

Entsprechend der theoretischen Annahmen stehen zweiseitige Argumentationsstrukturen und die Integration von internen und externen Informationen in einem Zusammenhang und können als Indikatoren kritischer Denkprozesse betrachtet werden. Wir fragen uns daher drittens:

  1. 3.

    Gibt es einen Zusammenhang zwischen der zweiseitigen Argumentationsstruktur und der Integration interner und externer Informationen?

4 Methodik

4.1 Stichprobe und Datenquellen

Für die Beantwortung unserer Fragestellungen analysierten wir 87 schriftliche Auseinandersetzungen mit pädagogischen Situationen von Masterstudierenden (63 % weiblich; MAlter = 26,41, SDAlter = 2,59, unterschiedliche Fächerkombinationen). Alle Studierenden absolvierten zum Zeitpunkt der Erstellung der Einträge eine verlängerten Praxisphase (sechs Monate) an unterschiedlichen Schulen, strebten das Lehramt an Gesamtschulen und Gymnasien an und befanden sich hauptsächlich im zweiten und dritten Mastersemester (M = 2,64; SD= 0,85). Wir können demnach davon ausgehen, dass einführende Vorlesungen zur pädagogischen Diagnostik sowie zum Lehren und Lernen bereits besucht wurden und somit Grundkenntnisse in diesen Bereichen bestanden. Die Studierenden wurden aus sechs Seminarkursen rekrutiert, denen sie zufällig zugewiesen wurden; ein Großteil (90 %) der Studierenden nahm an der Studie teil, so dass eine Positivselektion weitgehend ausgeschlossen werden kann.

Die Erstellung der schriftlichen Auseinandersetzungen stellt einen Teil der benoteten universitären Prüfungsleistung dar. Alle Studierenden stimmten einer Nutzung ihrer Einträge für Forschungszwecke zu.

4.2 Instruktionale Vorbereitung

Während der schulischen Praxisphase bearbeiteten die Studierenden folgende schriftliche Aufgabe:

Suchen Sie sich eine für Sie relevante pädagogische Situation (im Rahmen des Schulbetriebs oder des Unterrichts) aus. Beschreiben Sie Ihre Situation möglichst präzise und skizzieren Sie, warum diese Situation für Sie relevant ist. Erklären Sie die Situation vor dem Hintergrund von Theorien und Befunden, Erfahrungen und Beobachtungen. Ziehen Sie Schlussfolgerungen in Bezug auf Ihr professionelles Wissen (bspw. Was ist neu und wo benötigen Sie noch mehr Wissen?) und auf Ihr professionelles Handeln in (künftigen) Situationen, die der beschriebenen nahe kommen (bspw. Wie definieren Sie ihre Rolle und wie würden Sie sich verhalten wollen?). Nennen Sie die benutzten Informationen im Text und in Form einer Bibliografie.

Die schriftliche Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen wurde mit den Studierenden über zwei Tage (insg. 12 h) anhand eines von Schellenbach-Zell et al. (2018) entwickelten Reflexionsmodells eingeübt: Darin wurden die Wahrnehmung und Beschreibung einer Situation, die Erklärung der ausgewählten Situation anhand verschiedener Informationen sowie das Ableiten von Schlussfolgerungen in Bezug auf ihr professionelles Wissen und ihr Handeln in künftigen Situationen anhand eines Videobeispiels geübt. Dadurch konnte sichergestellt werden, dass alle Elemente in der schriftlichen Auseinandersetzung während der Praxisphase vorhanden waren. Die schriftlichen Auseinandersetzungen waren im Schnitt drei Seiten lang.

4.3 Auswertungsstrategie und Kodierschema

Allgemeines Vorgehen

Für die Kodierung der vorliegenden schriftlichen Auseinandersetzungen wählten wir das Verfahren zur Analyse verbaler Daten von Chi (1997; verbal analysis). Das Verfahren fokussiert darauf, die Repräsentation von Wissen zu verstehen und kognitive Prozesse sowie deren Änderungen über die Zeit abzubilden. Als Grundlage dafür dienen Lerntheorien, die die Lösung komplexer und schlecht strukturierter Probleme adressieren. Eine theoretische Nähe zu den in unserer Studie genutzten Konstrukten, wie dem kritischen Denken und der Argumentation, ist dementsprechend gegeben. Wie Chi (1997) ausführt, bestehen einige Gemeinsamkeiten zu anderen qualitativen Auswertungsverfahren, bspw. zur qualitativen Inhaltsanalyse: Beide Verfahren arbeiten mit komplexen Analyseeinheiten, das umfangreiche Material wird zergliedert und schrittweise bearbeitet, es wird theoriegeleitet am Material ein Kategoriensystem entwickelt sowie die Analyseaspekte vorher festlegt (Kuckartz 2010, S. 93). Auch sind Ähnlichkeiten der verbal analysis zur Diskursanalyse auffindbar (Allolio-Näcke 2010), deren Fokus jedoch auf Auseinandersetzungen mehrerer Personen und ganzen Textsequenzen liegt. Wir gehen davon aus, dass die von uns analysierten Texte das Produkt eines kognitiven Diskurses innerhalb einer Person darstellen. Die Analyse verbaler Daten nach Chi (1997) schien uns vor diesem Hintergrund am besten geeignet die vorliegenden schriftlichen Auseinandersetzungen zu analysieren.

Die Analyse verbaler Daten kann insgesamt acht Schritte umfassen, die bedingt durch den oftmals explorativen Charakter qualitativer Auswertungsverfahren nicht immer vollständig und nicht zwingenderweise in einer festgelegten Reihenfolge angewandt werden (Chi 1997). Hierzu gehören (1) die Reduktion und die (2) Segmentierung des Materials, (3) die Festlegung eines Kodiersystems, (4) die Operationalisierung der vorliegenden Daten entsprechend der festgelegten Kodiereinheiten, (5) die Kennzeichnung der Kodiereinheiten in den Daten, (6) die Darstellung von Strukturen zwischen den Kodiereinheiten, die (7) Interpretation der Strukturen sowie die (8) Wiederholung einzelner Schritte falls notwendig.

Reduktion und Segmentierung des Materials

Die schriftlichen Auseinandersetzungen waren entsprechend der Instruktion in drei Teile untergliedert (Beschreibung, Erklärung, Schlussfolgerung). Zunächst wurde das Material um alle Teile reduziert, die zur Beantwortung der Fragestellungen nicht benötigt wurden. Anschließend wurde das Material von zwei unabhängigen Personen segmentiert und in drei Paragraphen gegliedert: Erklärung, Schlussfolgerung, Bibliografie. In Anlehnung an Chi (1997, S. 284) wurde eine recht hohe Granularität für die Segmentierung gewählt, um die Komplexität der Forschungsfragen abzubilden und ganze Argumentationsketten beizubehalten. Streitfälle (etwa wenn die einzelnen Segmente nicht klar unterscheidbar waren) wurden konsensuell diskutiert.

Festlegung der Kodiereinheiten und Operationalisierung

Entsprechend der theoretischen Konstrukte wurden verschiedene Teile einer Argumentation sowie verschiedene Informationsarten als Kodiereinheiten gewählt. Dementsprechend wurden im Erklärungsteil Argumente und Gegenargumente kodiert. Anschließend wurde im Schlussfolgerungsteil kodiert, ob ein Reasoning (im Sinne einer argumentbasierten Schlussfolgerung) vorliegt. Hierfür war es notwendig, die zuvor kodierten Argumente und Gegenargumente mit den Äußerungen in der Schlussfolgerung abzugleichen. Alle Kodierschritte wurden durch zwei unabhängige Beurteilerinnen durchgeführt. Die Beurteilerübereinstimmung wurde an 50 % des Materials berechnet (Beispiele und Reliabilitäten siehe Tab. 1).

Tab. 1 Beispiel für eine vollständige Argumentationsstruktur

Argument

Ein Argument stellt eine Behauptung dar, die durch interne und/oder externe Informationen gerechtfertigt wird (Zohar und Nemet 2002). Die Kodierung eines Arguments erfolgte entsprechend einer idea bei Chi (1997). Diese umfasst eine ganze Sinneinheit, die auf dem semantischen Level erfasst wird, damit der gesamte Inhalt transportiert wird und Redundanzen vermieden werden. Semantische Sinneinheiten umfassen zumeist mehrere Sätze mit ganzen Argumentations‑/Erklärungsketten (Chi 1997; Kuhn et al. 2016).

Gegenargument

Ein Gegenargument widerspricht einer zuvor dargestellten Position und wird ebenfalls durch Informationen gerechtfertigt. Argumente und Gegenargumente werden implizit oder explizit mit einem „weil“ eingeleitet. Alle Argumente und Gegenargumente des Textes wurden einzeln identifiziert und ggf. unter den beiden Beurteilerinnen bei Nichtübereinstimmung bis zur Konsensfindung diskutiert. In einem zweiten Schritt wurde für den gesamten Text ein dichotomer Code (0 = nicht vorhanden, 1 = vorhanden) vergeben.

Reasoning

Ein Reasoning stellt eine Schlussfolgerung dar, in der ein Bezug zu mindestens einem (Gegen)Argument im Erklärungsteil besteht. Dies wird über Schlagworte, Synonyme und/oder semantische Übereinstimmung zwischen Argument(en) und Schlussfolgerung ermittelt. Die Art der Schlussfolgerung wurde dichotom kodiert (1 = reasoning; 0 = kein reasoning; Moshman und Tarricone 2016). Reasoning wurde ausschließlich im Schlussfolgerungsteil kodiert.

Informationen

Parallel wurden die Informationen in Anlehnung an vorgeschlagene Typologien (Chinn et al. 2011) kodiert und ausgezählt. In einem ersten Schritt wurde die Unterscheidung in interne und externe Informationen (Cohen’s κ = 0,95) vorgenommen und anschließend wurden diese Informationen noch einmal nach Art differenziert (Cohen’s κ = 0,77) (siehe Tab. 2). Die Kodierung erfolgte durch zwei unabhängige Beurteilerinnen und wurde an 47 % der vorliegenden Daten validiert.

Tab. 2 Kategorien interner und externer Informationen und Kodierregeln

Darstellung von Strukturen zwischen den Kodiereinheiten

Im Anschluss an die Kodierung wurden alle relevanten Teile einer vollständigen ArgumentationsstrukturFootnote 1 zu der Variable Argumentationsstruktur in drei Abstufungen aggregiert: (1) Texte, die kein Reasoning enthielten, wurden als non-argumentations eingeordnet; (2) Auseinandersetzungen, die ausschließlich Argumente und ein daraus abgeleitetes Reasoning enthielten, wurden als einseitige Argumentationen eingeordnet; und (3) Auseinandersetzungen, die Argumente, Gegenargumente sowie ein Reasoning enthielten, wurden als zweiseitige Argumentationen eingeordnet.

5 Ergebnisse

Die erste Fragestellung befasst sich damit, ob angehende Lehrkräfte in der schriftlichen Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen argumentieren und welche Struktur diese Argumentationen aufweisen. Es zeigt sich, dass insgesamt 89,9 % (n = 80) der schriftlichen Auseinandersetzungen eine vollständige Argumentationsstruktur aufweisen, während 10,1 % (n = 9) der Auseinandersetzungen keine Argumentation beinhalten. Insgesamt 56,2 % (n = 50) der Auseinandersetzungen weisen eine einseitige Argumentationsstruktur auf und 33,7 % (n = 30) aller kodierten Einträge weisen eine zweiseitige Argumentationsstruktur auf, in der Argumente und Gegenargumente sowie ein Reasoning vorhanden sind.

Mit der zweiten Fragestellung untersuchen wir, welche Informationen Lehramtsstudierende nutzen, wenn sie sich schriftlich mit einer schulischen Situation auseinandersetzen. Insgesamt werden vor allem externe Informationen von den Studierenden verwendet – im Mittel werden je Auseinandersetzung 1,8 interne und 7 externe Informationen verwendet. Insbesondere Hand‑, Lehrbüchern und Sammelbänden sowie sonstigen externen Quellen (bspw. Ratgeber, Gesetzestexte, praxisorientierte Publikationen) werden für die Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen herangezogen. Etwa ein Fünftel aller Informationen stellen interne Informationen dar (siehe Tab. 3).

Tab. 3 Übersicht der verwendeten Informationen (gesamt = 770)

Die differenzierte Betrachtung der verwendeten Informationen innerhalb der verschiedenen Argumentationsstrukturen (siehe Tab. 4) zeigt folgendes Bild: (1) In Auseinandersetzungen ohne vollständige Argumentationsstruktur wurden vor allem Erfahrungen und Meinungen sowie sonstige externe Informationen verwendet. (2) Bei einseitigen Argumentationen zeigt sich eine häufige Verwendung von Lehr‑/Handbüchern und Sammelbänden sowie sonst. externen Informationen. Wenn auch interne Informationen herangezogen wurden, dann vor allem Erfahrungen und Meinungen; Beobachtungen werden eher selten genutzt. (3) In zweiseitigen Argumentationen wurden deutlich mehr wissenschaftliche Zeitschriftenbeiträge verwendet als in einseitigen Argumentationen und non-argumentations. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn keine Integration interner und externer Informationen stattfindet (siehe Tab. 4).

Tab. 4 Übersicht verwendeter Informationen innerhalb der Argumentationsstrukturen

Zur Beantwortung der dritten Fragestellung wurden die Zusammenhänge zwischen Argumentationsstruktur (non-argumentation, einseitig, zweiseitig) und Art der Informationsintegration (intern, extern, extern und intern) anhand einer Kreuztabelle ermittelt. Es zeigt sich, dass zweiseitige Argumentationen im Vergleich zu einseitigen und non-argumentations stärker mit einer Verbindung von internen und externen Informationen einhergeht (76 %; χ2(4) = 16.145, p = 0,003; Cramers-V = 0,306, p = 0,003).

6 Diskussion

Die Ergebnisse zur ersten Fragestellung zeigen, dass ein Großteil der Studierenden in den schriftlichen Auseinandersetzungen vollständige Argumentationen verfasst, d. h. auf der Basis verschiedener Argumente zu mindestens einer Position zu einer eigenen Schlussfolgerung gelangt ist. Ein Viertel der untersuchten Studierenden verbindet Argumente und Gegenargumente zu einer zweiseitigen Argumentation. In Bezug auf die vorliegenden Ergebnisse lässt sich schlussfolgern, dass ein Viertel der angehenden Lehrkräfte in ihren schriftlichen Argumentationen Ansätze für kritisches Denken zeigt.

Die Befunde zur zweiten Fragestellung weisen darauf hin, dass angehende Lehrkräfte in ihre schriftlichen Auseinandersetzungen vorwiegend externe Informationen einfließen lassen. Diesen Effekt konnte Kuhn (2015) bereits an Lernenden nachweisen, die in argumentativen Essays primär externe Informationen nutzten, während sie in dialogischen Settings eher auf interne Informationsbestände zurückgriffen: Sie erklärt dieses Ergebnis damit, dass Personen interne Informationen zurückhalten, wenn sie keine Relevanz ihrer eigenen Meinung und Erfahrung bei der Verfassung von argumentativen Texten sehen – möglicherweise, weil dies in universitären Settings nicht üblich ist. Unklar bleibt allerdings, ob Studierende eher solche externen Informationen heranziehen, die ihren eigenen Meinungen/Erfahrungen entsprechen ohne diese internen Quellen explizit zu erwähnen.

Die differenzierte Betrachtung der Argumentationsstruktur zeigt:

  1. 1.

    Non-argumentations gehen mit der Verwendung nicht-wissenschaftlicher Literatur und eher subjektiven Informationen wie Erfahrung und Meinung einher. Dies kann auf eine verringerte Argumentationsfähigkeit und/oder Schwierigkeiten bei der Recherche und Bewertung von Informationen hinweisen.

  2. 2.

    Einseitige Argumentationen stehen häufig in Verbindung mit Lehrbüchern, Handbüchern, Sammelbänden sowie sonstigen externen Informationen (z. B. Ratgeberliteratur). Das bedeutet, dass Studierende prinzipiell argumentieren können, jedoch keine Gegenposition einfließen lassen und eher Literatur verwenden, in der theoretische Ansätze auf einem abstrakten Niveau beschrieben werden. Diese Art der Auseinandersetzung impliziert möglicherweise, dass bereits bestehende interne Informationen durch entsprechend deckungsgleiche externe Informationen bestätigt werden (Hart et al. 2009).

  3. 3.

    Ein bemerkenswertes Ergebnis betrifft die zweiseitigen Argumentationen, die wir in den schriftlichen Auseinandersetzungen finden konnten. Diese weisen auf eine kritische Form der Auseinandersetzung hin. Wird eine Position mit wissenschaftlichen Informationen gerechtfertigt, weist das auf die Fähigkeit hin, evidenzorientiert zu argumentieren (Iordanou et al. 2016). Diese Annahme kann tendenziell durch unsere Ergebnisse gestützt werden, wonach zweiseitige Argumentationen sich durch eine auffallend höhere Nutzung von wissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln auszeichnen. Überraschend erscheint in dem Zusammenhang, dass wissenschaftliche Zeitschriftenartikel vor allem dann genutzt werden, wenn keine internen Informationen in die Argumentation einfließen. Fließen Beobachtungen, Meinungen und Erfahrung in die Auseinandersetzungen ein, werden deutlich weniger Zeitschriftenartikel herangezogen. Hierfür bieten sich mindestens zwei Erklärungsansätze an: (1) dass interne Informationen eine ähnliche Funktion wie wissenschaftliche Zeitschriftenartikel erfüllen oder (2) dass empirische Befunde dann genutzt werden, wenn keine eigenen Erfahrungen vorliegen. Ungeklärt bleibt an dieser Stelle die Bedeutung einer zweiseitigen Argumentation, in der ausschließlich externe Informationen genutzt werden: Möglicherweise zeigen sich in dieser recht selten vertretenen Kombination Ansätze wissenschaftlicher Argumentation (Fischer et al. 2014) und das Abwägen konfligierender, wissenschaftlicher Positionen (Bauer et al. 2017). Aus universitärer Sicht sind solche Fähigkeiten erwünscht; inwieweit sie sich auch auf die Arbeit als angehende Lehrkraft im Praxisfeld auswirken, ist noch fraglich.

Entsprechend unserer Annahmen zur dritten Fragestellung korrespondieren Argumentationsstrukturen und die Informationsintegration dergestalt, dass eine zweiseitige Argumentationsstruktur mit einer häufigeren Informationsintegration einhergeht. Dieses Ergebnis kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass kritische (zweiseitige) Auseinandersetzungsprozesse und die Integration verschiedener Informationsbestände (intern und extern) zusammenhängen.

Die dargestellten Ergebnisse sind unter Berücksichtigung einiger Limitationen vorsichtig zu interpretieren: Es handelt sich um eine kleine Stichprobe, die nicht hinreichend entsprechend ihrer Eingangsvoraussetzungen beschrieben werden kann. Die Stärke der Studie, die wir in der freien Wahl pädagogischer Situationen verorten, ist zugleich als methodische Schwäche anzumerken: Es ist noch ungeklärt, ob jede schulische Situation sich gleichermaßen für eine kritische Auseinandersetzung eignet und genügend Informationen aus unterschiedlichen Quellenarten zur Erklärung prinzipiell jeder ausgewählten Situation bereitstehen. Mit einer Vorgabe von Situationen würde allerdings die wahrgenommene persönliche Relevanz eingeschränkt werden, die als Voraussetzung für eine kritische Auseinandersetzung gesehen wird. Eine grundsätzliche Auflösung dieses Dilemmas erscheint nicht möglich – seine Implikationen sollten daher im Fortgang weiterer Forschung intensiv untersucht werden. Diese Limitationen insbesondere in Bezug auf die Stichprobe sowie das qualitativ-explorative Untersuchungsdesign führen zwangsläufig zu einer eher geringen Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse.

Mit unseren Forschungsbemühungen werfen wir einen Blick auf spontane Auseinandersetzungsprozesse angehender Lehrkräfte mit realen und selbstgewählten pädagogischen Situationen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Studierende in der Lage sind, evidenzorientiert zu argumentieren – also verschiedene wissenschaftliche Informationen für die Auseinandersetzung mit pädagogischen Situationen zu nutzen. Das kritische Abwägen verschiedener Positionen gelingt jedoch nur knapp einem Viertel der Studierenden.

Daraus ergeben sich Fragen für weiterführende quantitativ angelegte Studien, die die bisherigen Ergebnisse validieren und Zufallsbefunde ausschließen. Hierzu gehören kleinere Interventionen zur Informationsintegration und zu Fähigkeiten des kritischen Denkens und der Argumentation. Bereits existierende Ansätze zur Förderung kritischen Denkens (Abrami et al. 2015) sowie zum Multiple Source Use (List und Alexander 2017) könnten dabei als Ausgangspunkte dienen.

Zudem sollte untersucht werden, ob die von Hart et al. (2009) bestätigte selektive Nutzung von Informationen in den schriftlichen Auseinandersetzungen zu Tage tritt: Möglicherweise nutzen die Studierenden leicht verständliche Literatur (bspw. Lehrbücher und Ratgeber), um ihre Meinungen und Erfahrungen darzustellen. Obwohl diese Form oberflächlich als Nutzung ausschließlich externer Informationen erkannt wird, stellt sie durchaus eine Form der Informationsintegration dar, die bspw. anhand von stimulated recalls (Calderhead 1981) näher untersucht werden könnte.

Letztlich betrachten wir bislang ausschließlich Fähigkeiten der kritischen und informationsbasierten Argumentation – weitere Faktoren, wie Überzeugungen in Bezug auf verschiedene Formen von Wissen, die durchaus Einfluss auf die Auseinandersetzung haben, werden bisher nicht beachtet. Bråten und Ferguson (2015) konnten bereits zeigen, dass die Überzeugung dazu, woher relevantes Wissen kommt, die Auseinandersetzung mit diesem Wissen beeinflusst. Wenn also Studierende davon überzeugt sind, dass nur die Praxis relevante Fragen zu Instruktion und Lernen beantworten kann, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass vor allem aus der Praxis stammende Informationen verwendet werden. Überzeugungen zur Erzeugung relevanten pädagogischen Wissens in der Forschung gehen demgegenüber mit einer stärkeren Nutzung dieser Informationsbestände einher.

Es bleibt offen, ob Ansätze der kritischen, informationsbasierten Reflexion tatsächlich förderlich für praktische Entscheidungen von Lehrkräften im schulischen Kontext sind. Bewährte Reflexionsmodelle nach Schön (1983), Schön und Argyris (1996) und Korthagen (2010) ebenso wie Ansätze evidenzorientierter schulischer Praxis (Bauer et al. 2017) gehen davon aus, dass die reflektierte Nutzung von Informationen pädagogische Entscheidungen und Handlungen verbessert. Die Forschung zur Evidenzorientierung im Lehrerberuf bleibt bislang Antworten schuldig, inwieweit dies tatsächlich der Fall ist (Stark 2017). Ebenso offen bleibt, wie die Fähigkeiten der kritischen Reflexion in die Ausbildung von Lehrkräften integriert werden kann. Diese sowohl wissenschaftlich als auch praktisch relevanten Fragen könnten in weiterer anwendungsorientierter pädagogisch-psychologischer Forschung im Kontext verlängerter Praxisphasen beantwortet werden.