In der universitären Lehrkräftebildung sollen nicht nur Wissen und Einstellungen, sondern auch die Fähigkeit zur Anwendung dieser kognitiven und affektiven Kompetenzfacetten auf konkrete berufliche Anforderungen vermittelt werden. Dabei kommt der selektiven Aufmerksamkeitslenkung auf relevante unterrichtliche Situationen und dem theoriegeleiteten Deuten dieser eine hohe Bedeutung zu, da diese Prozesse bereits einen zentralen Teil der Anforderungsbewältigung und damit letztlich eine Voraussetzung für professionelles Handeln darstellen (z. B. Blömeke, König, Suhl, Hoth, & Döhrmann, 2015b; Dreher & Kuntze, 2015; Gold, Förster, & Holodynski, 2013; Jahn, Stürmer, Seidel, & Prenzel, 2014; Kaiser et al., 2017; Reuker, 2017b; Seidel, Blomberg, & Stürmer, 2010; van Es & Sherin, 2002). Van Es und Sherin (2002) fassen die selektive Aufmerksamkeit und das theoriegeleitete Deuten im Konstrukt des Noticing zusammen. Sie betonen, dass das Noticing bereits im Studium angebahnt werden sollte, da auf diese Weise eine bedeutsame Verknüpfung zwischen universitären Ausbildungsinhalten und späterer Unterrichtspraxis hergestellt werden kann (van Es & Sherin, 2008). Besondere Relevanz erhält das Noticing in inklusiven Settings (Faix, Wild, Lütje-Klose, & Textor, 2020), da es als Voraussetzung für ein adaptives Lehrkräftehandeln sowie für einen bewusst flexiblen Umgang mit unvorhergesehenen Ereignissen gilt (Krammer et al., 2016).

Auch für den Sportunterricht und insbesondere für den inklusiven Sportunterricht besitzt das Noticing eine hohe Bedeutung (Reuker, 2018). Da es sich um ein Fach handelt, welches in spezifischen Fachräumen unterrichtet wird und in dem Körper und Bewegung von Schüler*innen im Zentrum stehen, ergeben sich fachspezifische Anforderungen an das Noticing von Sportlehrkräften. Im sportdidaktischen Diskurs ist die Bedeutung von Anerkennungsprozessen im Sportunterricht herausgestellt worden (Gieß-Stüber & Grimminger, 2008, Grimminger, 2012), wobei dies aktuell insbesondere im Kontext inklusiver Ansprüche an den Sportunterricht betont wird (Giese & Weigelt, 2015; Tiemann, 2015; Erhorn & Langer, 2022). Die Gestaltung von positiven Anerkennungsprozessen im Unterricht setzt eine differenzierte Wahrnehmung im komplexen Geschehen des Unterrichts voraus (Gieß-Stüber & Grimminger, 2008; Textor, Penkwitt, & Kolleck, 2020). Allerdings ist die Entwicklung und Förderung des Noticing für Prozesse der Anerkennung im (inklusiven) Sportunterricht bisher nicht systematisch untersucht worden. Dies kann auch darauf zurückgeführt werden, dass bisher keine validen Instrumente für die psychometrische Erfassung dieses Konstruktes vorliegen (Erhorn, Möller, & Langer, 2020b; Reuker et al., 2016). Um diesem Desiderat zu begegnen, wird im vorliegenden Beitrag die Entwicklung und Validierung des videovignettenbasierten Instruments ViProQiS_A vorgestellt.

Theoretischer Rahmen und Forschungsstand

Anerkennung im inklusiven Sportunterricht

Der Begriff der Anerkennung findet seit einigen Jahren zunehmend Eingang in die sportpädagogische Forschung und Theoriediskussion (vgl. Gebken & Neuber, 2009) und wird insbesondere auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Auseinandersetzung mit Herausforderungen eines inklusiven Sportunterrichts aufgegriffen (Tiemann, 2016, 2019). Die Besonderheit gegenüber anderen Fächern besteht darin, dass die Körperlichkeit in Prozessen der Anerkennung und Missachtung im (inklusiven) Sportunterricht stärker zum Tragen kommt (Giese & Ruin, 2019). Der Körper und seine Bewegungsfähigkeiten stehen im Mittelpunkt des unterrichtlichen Geschehens und somit im Zentrum der Betrachtung, die wiederum von Normvorstellungen bzw. Normalitätsanforderungen und damit auch von implizit exkludierenden Momenten geprägt ist (Ruin, 2017). So birgt die dem Sportunterricht immanente körperliche Exponiertheit einerseits eine Anfälligkeit für Abwertungs- und Missachtungsprozesse, die sich sowohl auf physischer als auch psychischer Ebene manifestieren können (Miethling & Krieger, 2004) und die sich mit Blick auf die Vielfalt individueller Voraussetzungen inklusiver Lerngruppen verstärken können. Andererseits wird der Körperlichkeit des Faches ein besonderes Erfahrungspotenzial von sozialer Zugehörigkeit, Akzeptanz und Wertschätzung zugeschrieben (Neuber & Gebken, 2009).

Grundsätzlich lassen sich zwei anerkennungstheoretische Argumentationslinien im Bereich der Sportpädagogik unterscheiden: Im Kontext des Inklusionsdiskurses wird Anerkennung bisher vor allem als ein ethisches Grundproblem pädagogischen Handelns im Hinblick auf die Thematisierung von Differenz betrachtet und im Sinne einer dekategorisierenden Sichtweise ausgelegt (Tiemann, 2016, 2018). Ausgehend von der Grundidee „einer gefestigten Haltung gegenseitiger Achtung, ein[es] eingeübte[n] Respekt[s] vor der Autonomie, dem Eigenwert und der anerkennungswürdigen Andersheit der Anderen und des Anderen“ (Hafeneger, 2002, S. 55) wird Anerkennung insbesondere auf der Ebene einer wertschätzenden Haltung gegenüber Vielfalt bzw. Anders-Sein konzipiert (Tiemann, 2016, 2019). Demgegenüber stehen sportpädagogische Beiträge, in denen Anerkennung umfassender als normative Anforderung an alle pädagogischen Beziehungen konzipiert und ausdifferenziert wird (vgl. u. a. Gieß-Stüber & Grimminger, 2008; Grimminger, 2012). Positive Anerkennungserfahrungen in Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehungen sind demnach Voraussetzung von Zugehörigkeit und Teilhabe und Ziel der Beziehungsgestaltung von Schüler*innen untereinander (Gieß-Stüber & Grimminger, 2008) und lässt sich folglich auch als einen zentralen Anspruch an einen inklusiven Sportunterricht formulieren (Erhorn, Langer, & Möller, 2020a). Einen grundlegenden theoretischen Bezugspunkt stellt dabei die Anerkennungstheorie Honneths dar (Honneth, 1994, 2003), nach der intersubjektive Anerkennungsprozesse als elementare Bedingung für die Entwicklung von Identität einschließlich stabiler und stimmiger Selbstbeziehungen gelten. Dabei erfasst Honneth (1994) nicht nur die positiven Beziehungen von Subjekten, sondern bezieht explizit auch die gegenteilige Dimension der Missachtung mit ein. Gleichzeitig differenziert er mit der Zuerkennung auf rechtlicher Ebene, der Zuwendung auf emotionaler Ebene und der Wertschätzung auf sozialer Ebene drei Dimensionen der Anerkennung aus, welche durch Grimminger und Gieß-Stüber (2009) für die Sportpädagogik adaptiert und für die Testentwicklung zugrunde gelegt worden sind:

  • Rechtliche Anerkennung im inklusiven Sportunterricht verwirklicht sich darin, dass allen Schüler*innen unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, sozialer Lage und sonstigen Personenmerkmalen die formale Teilnahme ermöglicht wird (Grimminger & Gieß-Stüber, 2009, S. 36). Diese Dimension der Anerkennung wird somit größtenteils auf gesetzlicher Ebene verhandelt und kann für das Noticing von Prozessen der Anerkennung sowie der Missachtung im Unterrichtsgeschehen außer Betracht gelassen werden.

  • Emotionale Anerkennung artikuliert sich in einer aufgeschlossenen, positiven und interessierten Haltung (Grimminger & Gieß-Stüber, 2009, S. 35) und lässt sich als Zuwendung der Lehrkraft sowie von Mitschüler*innen in Form von emotionaler Unterstützung (Achtung, Anteilnahme, Zuneigung), instrumenteller Unterstützung (Ratschläge, Auskünfte oder Hilfe bei Problemen) und auf der Ebene einer wertschätzenden, persönlichen Beziehung beschreiben (Grimminger, 2012, S. 106). Die passive Vorenthaltung emotional unterstützender Verhaltens- und Umgangsweisen oder das Vermeiden einer persönlichen Beziehung wird hingegen als emotionaler Missachtungsprozess bezeichnet. Die Verweigerung von Hilfe- und Lernunterstützungsleistungen sowie offensichtlich konträre Handlungen sozialer Distanz (wie z. B. Abwendungs- und Ausgrenzungshandlungen) werden als aktive Negation bezeichnet (Grimminger, 2012, S. 106).

  • Soziale Anerkennung im inklusiven Sportunterricht konkretisiert sich als Reaktion der Lehrkraft und Mitschüler*innen auf die individuellen Leistungen bzw. Fähig- und Fertigkeiten eines*einer Schüler*in im Hinblick auf explizierte und intersubjektiv gültige Normen und Werte. Sie kann z. B. als Resonanz darauf gedeutet werden, wie er*sie eine Bewegungsaufgabe entsprechend der gestellten bzw. geltenden sportlich-motorischen Ansprüchen bewältigt hat (Grimminger, 2012, S. 106). In diesem Sinne drückt sich positive soziale Anerkennung in einer aktiven und wertschätzenden Wahrnehmung der Leistungen jeder*jedes Einzelnen aus. Soziale Missachtungsprozesse sind hingegen durch das Ausbleiben dieser wertschätzenden Wahrnehmung oder gar in der Abqualifizierung im Sinne einer aktiven Negation charakterisiert. Beispielsweise kann ein sozialer Missachtungsprozess in Form von Verspottung oder von Akten der Verhöhnung aufgrund unterdurchschnittlicher bzw. nicht erwartungskonformer Leistungen in Situationen körperlicher Exponiertheit sichtbar werden.

Um die Qualität der Beziehungen und Interaktionen so zu gestalten, dass sie für die Schüler*innen entwicklungsförderlich sind und möglichst wenige Elemente von Missachtung enthalten, bedarf es nicht nur einer gefestigten wertschätzenden bzw. anerkennenden Haltung der beteiligten Akteure, insbesondere der (angehenden) Lehrkräfte, sondern ebenfalls der Fähigkeiten, entsprechend zu handeln (Textor et al., 2020). Eine solche professionelle Handlungsfähigkeit setzt voraus, Anerkennungsprozesse im Sportunterricht möglichst differenziert identifizieren und theoriegeleitet deuten zu können. Dem Noticing von Prozessen der Anerkennung im Unterrichtsgeschehen kommt somit eine zentrale Rolle im Kompetenzgefüge von Sportlehrkräften zu.

Noticing als situierte Facette professioneller Kompetenz

Im aktuellen Diskurs der Lehrkräfteprofessionalisierung wird betont, dass professionelle Kompetenz von Sportlehrkräften sich nicht nur durch spezifische Dispositionen, sondern auch durch situationsspezifische Fähigkeiten und die Fähigkeit auszeichnet, diese in praktisches unterrichtliches Handeln umzusetzen (Blömeke, Gustafsson, & Shavelson, 2015a). Dabei wird insbesondere die Bedeutung situierter Fähigkeiten herausgestellt, die es Lehrkräften ermöglichen, ihre Aufmerksamkeit selektiv auf relevante Aspekte einer Unterrichtssituation zu richten („selective attention“) und diese Aspekte unter Rückgriff auf theoretisches Wissen zu deuten („knowledge-based reasoning“; Kramer, König, Kaiser, Ligtvoet, & Blömeke, 2017; u. a. Krammer et al., 2016). Diese Wahrnehmungsprozesse werden theoretisch unterschiedlich konzeptualisiert und teilweise unter verschiedenen Bezeichnungen diskutiert (Bruns et al., 2020; Sherin, Russ, & Colestock, 2011): Als (Teachers) Noticing (z. B. Dreher & Kuntze, 2015; van Es & Sherin, 2002), professionelle (Unterrichts‑)Wahrnehmung (z. B. Gold et al., 2013; Seidel et al., 2010; Seidel & Stürmer, 2014) und als situationsspezifische Fähigkeiten im PID-Modell („perception-interpretation-decision-making; z. B. Blömeke et al., 2015a; Kaiser et al., 2017). Obwohl sich diese Konzepte in der Bezeichnung unterscheiden, greifen sie im Kern alle auf die grundlegenden Arbeiten von Goodwin (1994) und der Gruppe um van Es und Sherin (u. a. 2002, 2008) zurück. Van Es und Sherin übertragen die Grundidee des professional vision Goodwins (1994) auf den Lehrer*innenberuf und entwerfen den Begriff des Teacher Noticing als wissensbasiertes, dynamisches und wechselseitiges Zusammenspiel der Prozesse der selektiven Aufmerksamkeit („selective attention“) und des theoriegeleiteten Deutens („knowledge-based reasoning“) (u. a. van Es, & Sherin, 2002, 2008). Sie heben dabei hervor, dass neben dem Prozess der selektiven Aufmerksamkeitslenkung auf bedeutsame Unterrichtsereignisse auch das Deuten dieser Ereignisse auf Grundlage des professionellen Wissens integraler Bestandteil des Teacher Noticing ist und dass beide Facetten deshalb als interdependentes Gesamtkonstrukt angesehen werden können (Sherin et al., 2011). Im Folgenden wird der Begriff des Noticing im Sinne dieser ursprünglichen Definition von van Es und Sherin (2002) verwendet.

Noticing ist an die Situativität konkreter Unterrichtssituationen gebunden, sodass angenommen wird, dass neben theoretisch-formalem Wissen insbesondere praktisches, flexibel anwendbares Wissen erforderlich ist, welches eine Integration aus praktischer Erfahrung und theoretisch-formalem Wissen darstellt (Kersting, Givvin, Sotelo, & Stigler, 2010; Meschede, Steffensky, Wolters, & Möller, 2015; Seidel & Stürmer, 2014). Gestützt wird diese Annahme durch Ergebnisse aus der Expertiseforschung (Berliner, 2001; Bromme, 1992). Demnach zeigen sich in der Wahrnehmung von Unterricht durch Expert*innen sowie Noviz*innen qualitative Unterschiede in der selektiven Aufmerksamkeitslenkung, im differenzierten Beschreiben von situationsspezifisch relevanten Unterrichtssituationen sowie in deren Erklärung bzw. Deutung unter Einbezug theoretischen Wissens. Dabei verbleiben Noviz*innen vorwiegend auf der Stufe des undifferenzierten bzw. naiven Beschreibens von Unterrichtsereignissen mit einer Tendenz zu übergeneralisierenden Bewertungen. Expert*innen sind hingegen in der Lage, auf Basis ihrer spezifischen und erfahrungsbasierten Wissensstrukturen komplexere Unterrichtssituationen auf das Wesentliche zu reduzieren und in Sinneinheiten zu bündeln. Auf diese Weise nehmen sie Einordnungen in Strukturen vor, erkennen Zusammenhänge und gelangen so zu differenzierteren Erklärungen und letztlich auch Handlungsentscheidungen (Berliner, 2001; Bromme, 1992; Seidel & Prenzel, 2007; Seidel & Stürmer, 2014).

Zugänge zur Messung situierter Kompetenzen

Für die Messung situierter Konstrukte wie dem Noticing werden Verfahren diskutiert, die authentische und für unterrichtliche Anforderungen relevante situationsspezifische Kontextualisierungen ermöglichen (Knievel, Lindmeier, & Heinze, 2015; u. a. Lindmeier, 2013; Seidel & Thiel, 2017). Für die Abbildung konkreter Unterrichtssituationen hat sich der Einsatz von Vignetten in Form von Texten, Comics, Fotos oder (geskripteten) Videosequenzen bewährt (Bruns et al., 2020; Friesen, Kuntze, & Vogel, 2018; Jahn et al., 2014; z. B. Kersting, 2008; Kramer et al., 2017; Lindmeier, 2013). Solche Vignetten dienen als Stimuli, mithilfe derer im Rahmen von offenen Aufgabenformaten oder geschlossenen Rating-Items Prozesse der selektiven Aufmerksamkeit und des theoriebasierten Deutens von relevanten Unterrichtssituationen sowie der Entscheidungsfindung erfasst werden. Im Hinblick auf das Vignettenformat konnten Friesen et al. (2018) eine vergleichbare Eignung der eingesetzten Formate (Text, Comic, geskriptetes Video) in Bezug auf Motivation, das Hineinversetzen in die Unterrichtssituation (Immersion) und die Verbindung der vorgelegten Unterrichtssituationen mit eigenen Unterrichtserfahrungen (Resonanz) nachweisen. Für die Testung situierter Kompetenzfacetten bei angehenden Lehrkräften, insbesondere von Prozessen der selektiven Aufmerksamkeitslenkung und des theoriegeleiteten Deutens, wird der Einsatz von Sequenzen echter Unterrichtssituationen bevorzugt (Bruns et al., 2020; z. B. Kersting, 2008; Seidel et al., 2010; Steffensky, Gold, Holodynski, & Möller, 2015). Die Videosequenzen umfassen dabei reale Anforderungen an die unterrichtende Lehrkraft und ermöglichen eine holistische Abbildung komplexer Interaktionen zwischen Schüler*innen sowie Lehrkräften (z. B. König, 2015; Kramer et al., 2017; Seidel & Thiel, 2017). Neben der Darstellungsform der Stimuli werden offene und geschlossene Aufgabenformate und ihre Auswirkungen auf die Erfassung situierter Kompetenzfacetten diskutiert. Offene Aufgaben erfordern zwar einen aufwändigeren Auswertungsprozess, ihr Vorteil wird aber vor allem in Bezug auf selektive Prozesse des Identifizierens beschrieben. Im Vergleich zu standardisierten Rating-Items wird der Fokus weniger stark gelenkt bzw. vorweggenommen und damit einhergehend eine grundsätzliche Intuitivität der Wahrnehmung, der geäußerten Interpretationen und Handlungsoptionen ermöglicht (u. a. Lindmeier, 2013; Meschede et al., 2015).

Zwar liegen bereits erste Versuche vor, die sportunterrichtsspezifische Wahrnehmung (Reuker, 42,43,a, b, 2018) auch im inklusiven Fachkontext (Reuker & Rischke, 2017) zu erfassen, jedoch existiert noch kein Instrument, dass die valide situierte Messung des Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse im (inklusiven) Sportunterricht ermöglicht, was aber u. a. für die Untersuchung bzw. Wirksamkeitsüberprüfung von Interventionen notwendig ist.

Testkonstruktion

Die Vorgehensweise der Testkonstruktion des Instruments ViProQiS_A orientiert sich an der rationalen Methode (Eid & Schmidt, 2014, S. 57) und folgt dem messtheoretisch fundierten Ansatz des Construct Modelling (Wilson, 2005) mit den vier Bausteinen (1) Theoretisches Konstrukt, (2) Aufgabenentwicklung, (3) Ergebnisraum und (4) Messmodell.

Definition des theoretischen Kompetenzkonstrukts: Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse im inklusiven Sportunterricht

Eine kohärente theoretische Definition des Zielkonstrukts sowie die plausible Annahme, dass sich die zu messende Fähigkeit auf einem zugrundeliegenden Kontinuum von hoher bis geringer Ausprägung abbilden lässt, stellen nach Wilson (2005) die Grundvoraussetzungen des Construct Modeling dar. Mit der Entwicklung einer Construct Map werden die Grenzen bzw. Extremausprägungen des Konstrukts festgelegt und die Transformation des theoretischen Konstrukts in eine eindimensionale latente Variable vorbereitet (Wilson, 2005, S. 25–28).

Zur Modellierung des Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse im (inklusiven) Sportunterricht als eindimensionales Konstrukt werden, basierend auf der theoretischen Konzeptualisierung (s. auch Abschnitt „Anerkennung im inklusiven Sportunterricht“), die zwei Anerkennungsdimensionen Zuwendung auf emotionaler Ebene und Wertschätzung auf sozialer Ebene einbezogen. Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Dimensionen in der Performanz von Anerkennungsprozessen empirisch auch gleichzeitig eng miteinander verknüpft auftreten können. Des Weiteren wird berücksichtigt, dass die selektive Aufmerksamkeit als kognitiver Prozess nicht direkt gemessen werden kann, sondern durch einen beobachtbaren Prozess, in diesem Fall des Identifizierens, abgebildet werden muss. Die Anlage unterschiedlicher Niveaustufen in der zugehörigen Construct Map (Abb. 1) folgt der Annahme, dass Personen mit niedriger Ausprägung der Kompetenzfacette bei einer unfokussierten Betrachtung auf der Ebene des Nicht-Identifizierens verbleiben, wohingegen Personen mit hoher Ausprägung der Kompetenzfacette Unterrichtsverläufe in übergeordnete Sinneinheiten strukturieren, komplexere Zusammenhänge identifizieren und infolgedessen adäquate wissensbasierte Einordnungen vornehmen (Berliner, 2001; Seidel & Prenzel, 2007). Zwischen diesen beiden Polen des Kontinuums werden mit dem unspezifischen (im Sinne von teils zutreffendem) und spezifischen (im Sinne von zutreffendem) Identifizieren von Anerkennungsprozessen noch zwei qualitative Abstufungen der Personeneigenschaften angenommen. Unter Noticing mit dem Fokus auf Anerkennungsprozesse wird demzufolge die Fähigkeit von (angehenden) Sportlehrkräften verstanden, in sportunterrichtlichen Prozessen und Interaktionen Anerkennungsprozesse kontextspezifisch zu identifizieren und diese Prozesse theoriegeleitet zu deuten.

Abb. 1
figure 1

Construct Map für das Konstrukt Noticing mit dem Fokus auf Anerkennungsprozesse. (In Anlehnung an Wilson 2005)

Darstellung des Testinstruments

Die Entwicklung von Testitems nach Wilson (2005) zielt darauf ab, das unter „Definition des theoretischen Kompetenzkonstrukts“ dargestellte theoretische Konstrukt angemessen zu operationalisieren. Zur situierten Erfassung des Noticing werden vermehrt videovignettenbasierte, standardisierte Testinstrumente eingesetzt (z. B. Kramer et al., 2017; Seidel & Thiel, 2017). Gegenüber Verfahren mit Textvignetten bieten sie den Vorteil der notwendigen situations- und anforderungsspezifischen Kontextualisierung (u. a. Blömeke et al., 2015b) (s. auch Abschnitt „Noticing als situierte Facette professioneller Kompetenz“).

Basierend auf diesen Überlegungen wurden Videovignetten als Teststimuli verwendet, anhand derer das Noticing im Hinblick auf Anerkennungsprozesse aktiviert werden soll. Als Ausschnitte authentischer Unterrichtsverläufe wurden die Stimuli so gewählt, dass sie konkrete Prozesse der Anerkennung auf sozialer und emotionaler Ebene zeigen.

Bei den Videovignetten handelt es sich um je ein- bis zweiminütige Videosequenzen aus einem Videodatenkorpus von 104 h videografierten Sportunterrichts in inklusiven SettingsFootnote 1 (Erhorn et al., 2020a), die Anerkennungsprozesse auf emotionaler und/oder sozialer Ebene in abgeschlossenen Anforderungssituationen abbilden (s. auch Abschnitt „Anerkennung im inklusiven Sportunterricht“). Hierzu wurde in 14 Klassen an sechs Schulen (drei Grundschulen, drei Stadtteilschulen) jeweils eine komplette Unterrichtseinheit mit zwei Kameras gefilmt. Die nicht geskripteten Videosequenzen ermöglichen eine authentische Abbildung des Alltags. Die Auswahl von Fallbeispielen basiert auf einem Expert*innenurteil von 20 vorausgewählten Videovignetten (s. auch Abschnitt „Nachweise hinsichtlich der Testinhalte“). Um das Konstrukt des Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse differenziert und standardisiert und zugleich zeitökonomisch, d. h. im Rahmen einer vertretbaren Testzeit zu erfassen, wurden davon ausgehend acht Items entwickelt (vgl. Bruns et al., 2020). Um eine inhaltliche Breite der Intuitivität des Noticing in der gezeigten Anforderungssituation zuzulassen, wurde für die Erhebung ein maximal offenes Antwortformat ohne Zeitdruck gewählt (Eid & Schmidt, 2014, S. 98–99). Der Itemprompt nimmt eine kurze Situationseinordnung vor und fordert zur Analyse der Situation im Hinblick auf Anerkennungsprozessen auf. In Tab. 1 sind exemplarisch zwei Videovignetten dargestellt sowie die Anerkennungsprozesse auf emotionaler und sozialer Ebene, die basierend auf dem Expert*innenrating der Videosituationen in der jeweiligen Sequenz offensichtlich identifiziert und gedeutet werden können.Footnote 2

Tab. 1 Darstellung zweier exemplarischer Videovignetten

Um aus den Antworten der Probanden Schlussfolgerungen zur Ausprägung des Konstrukts ziehen zu können, werden auf Basis eines Codier-Manuals die Antworten in Scores auf dem Kontinuum des latenten Konstrukts übertragen (Wilson, 2005, S. 69). Die Codierung der acht offenen Items erfolgt nach einem im iterativen Prozess entwickelten Codier-Manual (Eid & Schmidt, 2014, S. 224). Um die verschiedenen Niveaustufen im Scoring der Antwortkategorien angemessen abbilden zu können, wird ein Partial-credit-Modell verwendet, welches neben vollständig unzutreffend und vollständig zutreffend die zusätzliche Möglichkeit berücksichtigt, die Items teilweise zutreffend beantworten zu können und somit polytomes Codieren ermöglicht. Das Scoring der Antwortkategorien erfolgt demzufolge durch die Differenzierung der Antwortqualitäten in drei Level: keine Anerkennungsprozesse identifiziert (Score 0), Anerkennungsprozesse unspezifisch bis spezifisch identifiziert (Score 1), Anerkennungsprozesse spezifisch in ihren komplexeren Zusammenhängen identifiziert und wissensbasiert eingeordnet (Score 2). Auf dieser Basis wurde für jedes Item eine Codier-Anleitung bestehend aus Codier-Regel und Ankerbeispiel entwickelt. Zur Überprüfung der Codier-Anleitung wurden 10 % der Testdaten von zwei geschulten Ratern doppelt codiert. Die Interrater-Reliabilität, erfasst mittels Cohens Kappa, zeigt im Mittel eine sehr gute Übereinstimmung: κ = 0,87 (Range 0,80–0,97; Wirtz & Caspar, 2002, S. 59).

Überprüfung der Validität der Testwertinterpretation

Um zu untersuchen, inwiefern das entwickelte Instrument ViProQiS_A einen Testwert liefert, der im Hinblick auf das Konstrukt Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse im (inklusiven) Sportunterricht eine valide Interpretation erlaubt, werden verschiedene Validitätsnachweise betrachtet. Ziel des entwickelten Instruments ist die Messung des Noticing angehender Sportlehrkräfte mit Blick auf Prozesse der Anerkennung in wissenschaftlichen Studien. Entsprechend sollten die Testergebnisse als Indikator für diese spezifische Kompetenzfacette im Rahmen Sportlehrkräftebildung interpretiert werden können (American Educational Research Association [AERA] et al., 2014). Um diese Interpretation zu validieren, eignen sich Nachweise in Bezug auf den Testinhalt, die interne Struktur des Tests sowie konvergente Nachweise hinsichtlich der Zusammenhänge mit konzeptuell verwandten Konstrukten (ebd.).

Vorgehen zur Erbringung der Validitätsnachweise

Um die Validität der Testinhalte zu untersuchen, wurde ein Expertenpanel mit N=8 Wissenschaftler*innen mit einem ausgewiesenen Forschungsschwerpunkt im Bereich des inklusiven Sportunterrichts unternommen (s. auch Abschnitt „Nachweise hinsichtlich der Testinhalte“). Zusätzlich wurde ein Cognitive Lab (Collins, 2003) mit Lehramtsstudierenden des Faches Sport (N = 8) durchgeführt, in dem anhand der Methode des Lauten Denkens (Ericsson & Simon, 1993) qualitativ untersucht wurde, inwiefern die entwickelten Items tatsächlich kognitive Prozesse bei den Antwortenden in Bezug auf das relevante Kompetenzkonstrukt auslösen und diese zur Beantwortung der Items beitragen (Schnell, 2016).

Zur Prüfung der internen Struktur des Tests werden konfirmatorische Faktorenanalysen mit dem Paket lavaan (Roseel & Jorgensen, 2019) der R Software (R Core Team, Wien, Österreich) durchgeführt. Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei dem Konstrukt um ein eindimensionales Modell handelt (s. Abschnitt „Definition des theoretischen Kompetenzkonstrukts“). Als alternatives Modell wird ein zweidimensionales Modell geprüft, das die zwei Anerkennungsdimensionen nach Honneth (1994) (emotionale Dimension, soziale Dimension) berücksichtigt. Im zweiten Schritt wird die Güte der Skala bzw. Skalen auf Basis der Item-Response-Theorie anhand des Partial-Credit-Modells (PCM) (Masters, 1982) mit dem Paket tam (Robitzsch, Kiefer, & Wu, 2019) der R Software geprüft. Als Grenzwerte für den Infit werden Werte zwischen 0,75 und 1,33 (Wilson, 2005) festgelegt.

Zur Untersuchung der Zusammenhänge des Testwerts mit konzeptuell verwandten Konstrukten wurden zusätzlich zu dem Testwert des Instruments ViProQiS_A Angaben zu Lerngelegenheiten im Bereich Inklusion im Allgemeinen und zum Bereich inklusiver Sportdidaktik erhoben. Es wird erwartet, dass die Testwerte des Instruments positiv mit den Lerngelegenheiten in beiden Bereichen korrelieren. Dabei sollten sich aufgrund der angenommenen Fachspezifität des Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse (s. Abschnitt „Noticing als situierte Facette professioneller Kompetenz“) stärkere Korrelationen zwischen dem Testwert und den fachspezifischen Lerngelegenheiten zeigen als zwischen dem Testwert und den allgemeinen inklusiven Lerngelegenheiten.

Stichprobe und Datenerhebung

Zur Erbringung dieser Validitätsnachweise wurde das Testinstrument ViProQiS_A mit N = 234 Sportlehramtsstudierenden der Universität Osnabrück pilotiert. Im Mittel waren die Teilnehmenden 23,43 Jahre alt; n= 91 der Befragten identifizieren sich als männlich, n = 140 als weiblich, n = 3 Befragte gaben hierzu keine Angabe. Zusätzlich wurde erhoben, in welchem Stundenumfang (h) das Thema Inklusion im Allgemeinen (M = 18,50, SD = 35,10, Min. = 0, Max. = 200) sowie das gegenstandsspezifische Themenfeld inklusiver Sportunterricht bereits im Studium behandelt wurde (M = 7,88, SD = 18,70, Min. = 0, Max. = 170).

Die Datenerhebung erfolgte innerhalb von zwei Monaten in verschiedenen Seminargruppen und in einer Einführungsvorlesung des ersten Studiensemesters. Zur Durchführung der Erhebung wurde der Fragebogen zu den videobasierten Fallanalysen in ein onlinebasiertes Anwendertool (limesurvey) integriert, das die individuelle Bearbeitung der Items unterstützt. Die Videovignetten zum entsprechenden Item wurden einmalig vor der jeweiligen Aufgabenbearbeitung von geschulten Testhelfer*innen im Plenum gezeigt.

Nachweise zur Validität der Testwertinterpretation

Nachweise hinsichtlich der Testinhalte

Evidenzquellen bezüglich der Inhalte des Tests ergeben sich aus der theoriegeleiteten Entwicklung der videobasierten Testitems. Dazu wurde die situierte Kompetenzfacette des Noticing nach van Es und Sherin (2002) spezifiziert und auf Anerkennungsprozesse im inklusiven Sportunterricht fokussiert.

Für die Itementwicklung wurde zunächst der gesamte Videodatenkorpus von 104 Unterrichtsstunden durch fünf Projektmitarbeitende offen codiert (Strauss & Corbin, 1999), wobei Unterrichtssituationen ausgemacht wurden, in denen die Anspruchsdimension Anerkennung thematisch wurde. Diese Situationen wurden in einem nächsten Schritt von zwei Projektmitarbeitenden in Anlehnung an das von Seidel und Stürmer (2014) vorgeschlagene Verfahren mit dem Ziel ausgewertet, Videosequenzen auszumachen, in denen a) emotionale und/oder soziale Anerkennungsprozesse im Unterrichtsgeschehen thematisch werden und die b) sowohl inhaltlichen (in sich geschlossene Anforderungssituationen mit Niveaudifferenz auf Ebene der Komplexität, Abbildung verschiedener Anforderungssituationstypen in unterschiedlichen Unterrichtseinheiten und Schulstufen; Erhorn & Langer, 2022) als auch c) technischen und testökonomischen Auswahlkriterien (Bild- und Tonqualität; Zeitumfang) genügen. Auf diese Weise wurden 20 geeignete Videosequenzen von Anforderungssituationen als potenzielle Items ausgewählt.

Diese potenziellen Items wurden in der Folge von acht sportpädagogischen Expert*innen mit einem ausgewiesenen Forschungsschwerpunkt und umfassender Publikationstätigkeit im Bereich inklusiven Sportunterrichts, von denen drei Expert*innen zusätzlich über Forschungserfahrung in der videobasierten Unterrichtsanalyse besitzen, hinsichtlich ihrer Eignung als Stimuli beurteilt. Die Beurteilung wurde anhand der Kriterien Repräsentativität für Anerkennungsprozesse inklusiven Sportunterrichts, Sachangemessenheit, Passung zum theoretischen Konstrukt und Schwierigkeitsgrad vorgenommen. Die potenziellen Items wurden von den Expert*innen zunächst unabhängig voneinander kommentiert und dann alternierend in Kleingruppen unter folgenden Leitfragen offen diskutiert und kommentiert:

  • Ist dem Laien offensichtlich, welches Konstrukt gemessen werden soll?

  • Ist das Video zur Abbildung des Dimensionskonstrukts nachvollziehbar und adäquat (sachangemessen) ausgewählt?

  • Ist das Video hinsichtlich des theoretischen Konstruktrahmens nachvollziehbar und adäquat (sachangemessen) ausgewählt?

  • Was sind zu erwartende Antworten?

Zudem konnten weitere diskussionswürdige Aspekte angeführt werden. Anschließend wurden die Beurteilungen im Rahmen eines moderierten Expert*innengesprächs in einen Konsens überführt (Wilson, 2005, S. 59–60). Hierfür wurden die Anmerkungen der Expert*innen während der Konsensfindung digital aufgezeichnet, qualitativ ausgewertet und zur Itemüberarbeitung herangezogen. In diesem Prozess wurden zwölf potenzielle Videosequenzen als Items ausgeschlossen, die im Hinblick auf den intendierten Analysefokus oder aufgrund testökonomischer Kriterien kontrovers diskutiert wurden. Insgesamt wurden somit acht Items ausgewählt, von denen jeweils vier Anerkennungsprozesse der emotionalen und sozialen Dimension abbilden und deren Passung zum zu erfassenden Konstrukt auf den verschiedenen Niveaustufen der Construct Map von den Expert*innen bestätigt wurden. Diese Videovignetten wurden dann mit den entsprechenden Prompts versehen und den Expert*innen erneut für eine abschließende Einschätzung vorgelegt. Die Überarbeitungsvorschläge bezogen sich primär auf die Formulierungen der Prompts und ihrer Eignung in Bezug auf die Videosequenzen. Insgesamt konnte über diesen Prozess abgesichert werden, dass das theoretische Konstrukt in seiner kontinuierlichen Ausprägung angemessen operationalisiert wurde und die ausgewählten videovignettenbasierten Items repräsentative und authentische Situationen für Anerkennungsprozesse im inklusiven Sportunterricht darstellen.

Zusätzlich konnten im Rahmen der qualitativen Cognitive-Lab-Studie Evidenzen bezüglich der Testinhalte auf Basis der Antwortprozesse der teilnehmenden Sportlehramtsstudierenden erbracht werden. Mit den Items konnten Vorgänge des Noticing von Anerkennungsprozessen in den Interaktionen und im weiteren sportunterrichtlichen Geschehen situationsspezifisch provoziert werden. Insgesamt gelingt es mit den Items, dass das Noticing im Hinblick auf Anerkennungsprozesse auf unterschiedlichen Niveaus aktiviert wird bzw. in der Lösung der Aufgabenstellungen auf Basis der Stimuli zur Anwendung kommt. Dabei zeigen die Ergebnisse, dass zutreffende Antworten auf den beabsichtigten kognitiven und situationsspezifischen Prozessen des Noticing basieren, während sich unzutreffende Antworten auf unangemessene kognitive sowie situationsspezifische Prozesse des Noticing zurückführen lassen. Die Antworten der Lehramtsstudierenden weisen weniger Unterschiede hinsichtlich der Fokussierung auf den jeweils intendierten Stimulus als im Hinblick auf die Tiefe der Wahrnehmung und infolge auch der wissensbasierten Schlussfolgerung auf. Beispielsweise identifizieren fast alle Teilnehmenden in Item 1 „Affenkrankenhaus“ die Missachtung einer Schülerin durch ihre Mitschüler*innen. Lediglich ein Teilnehmer fokussiert in dieser Videosequenz die Lehrkraft, obwohl sie in dieser Situation eher aus einer passiven Rolle das Spielgeschehen verfolgt, und kann somit keinen Anerkennungsprozess erkennen. Über das spezifische Identifizieren des offensichtlichen Missachtungsprozesses können zwei Studierende die richtigen Beschreibungsmerkmale der emotionalen Anerkennungsebene sowie implizite Aspekte des Missachtungsprozesses in seinem komplexeren Zusammenhang deuten, wie folgendes Beispiel zeigt:

Insbesondere die Schülerin mit rosa Hose liegt sehr lange auf den Boden. Es werden immer andere Kinder bevorzugt abtransportiert. Daher, also ähh, es hat den Anschein, dass die Mitschüler sie teilweise bewusst ignorieren und damit ausgrenzen. Vielleicht ist dieses Mädchen nicht sehr beliebt in dieser Klasse. Die Lehrkraft sollte sich über das diskriminierende Potenzial dieser Spielform bewusst sein oder wenigstens in den Spielverlauf eingreifen. (Interview Lehramtsstudierende 5)

Verständnisprobleme in den Prompts traten nicht auf. Lediglich bei Item 3 konnte der situationsspezifische Kernprozess im sportunterrichtlichen Gesamtgeschehen aufgrund der Einstellung der Kameraperspektive nicht identifiziert werden. Item 3 umfasst einen Ausschnitt aus dem Sportunterricht einer 1. Klasse im Spielverlauf des „Brückentickens“. Hier war allen teilnehmenden Sportstudierenden keine adäquate Aufgabenbeantwortung möglich, da der intendierte Stimulus, ein Junge, der sich dem Spielgeschehen entzieht, aus der totalen Kameraperspektive auf diese Unterrichtssituation kaum erkennbar war und folglich Interpretationen im Hinblick auf Anerkennungsprozesse auf Grundlage generalisierter Vermutungen angestellt oder gar nicht formuliert wurden, wie folgender exemplarischer Interviewausschnitt zeigt:

Die gezeigte Situation erscheint mir im Hinblick auf Anerkennungsprozesse nicht sehr relevant. Die Schüler sind zu einem Großteil aktiv dabei und mit eingebunden. Ich kann nicht erkennen, dass besondere Gruppen oder Personen öfter getickt oder gerettet werden. (Lehramtsstudierender 8)

Das Item 3 musste im Folgenden ausgeschlossen werden, da dieser Stimulus in der zweiten Kameraperspektive, der Halbtotalen, gar nicht erfasst wurde und somit keine passendere Videosequenz vorlag.

Nachweise hinsichtlich der internen Struktur

Um die Qualität der verbliebenen sieben Testitems sowie der gesamten Skala zu untersuchen, wurden im Rahmen der Pilotierung mit der beschriebenen Stichprobe (s. Abschnitt „Stichprobe und Datenerhebung“) zunächst die Varianz in den Antworten zu den einzelnen Items und anschließend die Zusammenhänge zwischen den Items geprüft. Alle Items weisen mindestens eine zutreffende, teilweise zutreffende und unzutreffende Antwort auf. Dabei zeigen Item 4 und 6 die geringsten Lösungsquoten (Tab. 2). Keines der Items zeigt besonders hohe Lösungsquoten, tendenziell erweisen sich die Testitems als schwierig.

Tab. 2 Deskriptive Item-Statistiken

Hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen den Items ergaben sich zwischen allen Items signifikante Korrelationen. Alle verbliebenen sieben Items wurden daher in die Prüfung der internen Struktur des Tests mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse eingeschlossen. In den konfirmatorischen Faktorenanalysen wurde die angenommene eindimensionale Struktur mit einer zweidimensionalen Struktur verglichen, welche die beiden Dimensionen der Anerkennung berücksichtigt (emotionale Dimension: Item 1, 4 und 7, soziale Dimension: Item 2, 5, 6 und 8).

Die Fit-Werte der beiden Modelle sind in Tab. 3 gegenübergestellt. Keines der beiden Modelle zeigt signifikante Abweichungen zu den Daten. Die Indizes RMSEA, CFI und SRMR weisen ebenfalls auf eine gute Passung beider Modelle zu den Daten hin. Auch die komparativen Fit-Indices AIC, BIC und adjBIC zeigen nur geringe Unterschiede zwischen den Modellen. Für beide Modelle gilt, dass alle Items zufriedenstellend auf den jeweiligen Faktor laden (standardisiertes λ zwischen 0,40 und 0,63) und sich als signifikant erweisen (p < 0,001). Der χ2-Test weist ebenfalls nicht auf einen Unterschied zwischen den beiden Modellen hin (χ2(1) = 4,468, p = 0,226). Folglich wird das sparsamere, eindimensionale Modell bevorzugt. Die sieben Items zeigen eine für ein videobasiertes Instrument akzeptable Reliabilität mit Cronbachs α = 0,679.

Tab. 3 Model-Fit-Indizes der verglichenen Modelle

In einem zweiten Schritt wird geprüft, inwiefern die sieben Items zu dem Rasch-Modell passen. Aufgrund der dreistufigen Codierung der Items (0-1-2) wurde ein Partial-Credit-Modell (Masters, 1982) gewählt. Alle Items zeigen eine gute Passung zum Rasch-Modell mit Infit-Werten zwischen 0.75 und 1,33. Die Skala weist insgesamt auch hier eine für ein neu entwickeltes videovignettenbasiertes Instrument zufriedenstellende Reliabilität (ReliabilitätWLE = 0,642; ReliabilitätEAP = 0,676) auf.

Nachweise hinsichtlich der Zusammenhänge mit konzeptuell verwandten Konstrukten

In Bezug auf die Lerngelegenheiten wurde erhoben, in welchem Stundenumfang (h) das Thema Inklusion im Allgemeinen und in welchem Stundenumfang (h) das fachspezifische Themenfeld inklusiver Sportunterricht bereits Studieninhalt war. Es zeigen sich signifikante Korrelationen zwischen dem Testwert des Instruments ViProQiS_A und den Lerngelegenheiten mit Inklusion im Allgemeinen (n = 232, r = 0,202, p = 0,002) sowie mit inklusivem Sportunterricht (n = 232, r = 0,297, p < 0,001).

Diskussion der Validitätsnachweise

Der situierten Kompetenzfacette des Noticing wird für das professionelle Handeln (angehender) (Sport‑)Lehrkräfte in inklusiven Settings eine hohe Relevanz beigemessen. Zudem konnte das Noticing von Prozessen der Anerkennung in Interaktionen und im weiteren sportunterrichtlichen Geschehen als besonders bedeutsam für die professionelle Bewältigung von spezifischen Anforderungssituationen inklusiven Sportunterrichts herausgestellt werden. Vor diesem Hintergrund bestand das Ziel dieses Beitrags in der theoriegeleiteten Entwicklung und Validierung eines Testinstruments, welches Noticing mit einem Fokus auf Anerkennungsprozesse im (inklusiven) Sportunterricht erfasst. Das finale Instrument ViProQis_A besteht aus sieben videobasierten Items, die verschiedene Anforderungssituationen inklusiven Sportunterrichts abbilden, in denen die Prozesse der Anerkennung auf emotionaler und sozialer Ebene bedeutsam werden.

Im Rahmen der Validierung der Testwertinterpretation wurden verschiedene Evidenzquellen in Bezug auf den Testinhalt, die interne Struktur des Tests sowie hinsichtlich der Zusammenhänge mit konzeptuell verwandten Konstrukten herangezogen. Zur Evidenz auf Basis der Testinhalte trägt bei, dass die Itementwicklung in systematischer Ableitung aus dem a priori formulierten Kompetenzkonstrukt erfolgte und dass die Testinhalte hinsichtlich ihrer Passung zum spezifizierten Konstrukt sowie ihrer Repräsentativität gegenüber dem theoretischen Konstrukt von Expert*innen beurteilt wurden. Zusätzlich weisen die Ergebnisse in Bezug auf die Antwortprozesse aus der Cognitive-Lab-Studie darauf hin, dass die ausgewählten Videovignetten repräsentative und authentische Situationen für Anerkennungsprozesse im (inklusiven) Sportunterricht darstellen und von Sportlehramtsstudierenden als solche wahrgenommen werden. Hierbei ist anzumerken, dass die Einschätzung des Testinhaltes zwar auf einem Expert*innenurteil basiert, jedoch kein quantitativ ausgewertetes Expert*innenrating mit einem standardisierten Auswertungsschema durchgeführt wurde, wie beispielsweise von Jenßen et al. (2015) empfohlen. Um diese Evidenzen belastbarer zu machen, sollten zukünftig entsprechende weitere Validierungsschritte durchgeführt werden.

In der Überprüfung der Validität der Antwortprozesse zeigt sich, dass Item 3 nicht die intendierten kognitiven Prozesse anstößt. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass der intendierte Stimulus oftmals nicht bemerkt wurde. Für die übrigen sieben Items zeigt sich im Rahmen der Cognitive-Lab-Studie, dass es gelingt, zwischen einzelnen Fähigkeitsausprägungen des Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse zu differenzieren. Insgesamt konnten mit den Items Vorgänge des Noticing von Anerkennungsprozessen in den Interaktionen und im weiteren sportunterrichtlichen Geschehen situationsspezifisch provoziert werden. Korrespondierend zu Befunden der Expert*innen-Noviz*innen-Studien (u. a. Berliner, 2001; fachbezogen: Reuker, 42,43,a, b) dokumentieren sich hier Unterschiede in der Qualität des Noticing.

Auf Grundlage der konfirmatorischen Faktorenanalyse mit den verbleibenden sieben Items lässt sich die Annahme der Eindimensionalität des Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse stützen. Die Skala weist insgesamt eine zufriedenstellende psychometrische Qualität und Passung zum PC-Rasch-Modell auf. Da auch das zweidimensionale Modell, das die beiden Dimensionen der Anerkennung (emotionale und soziale Dimension) berücksichtigt, eine gute Passung zu den Daten zeigt, könnten die Items auch für spezifische Untersuchungen einer der beiden Anerkennungsdimensionen eingesetzt werden. Dazu wären jedoch weitere Validierungsschritte notwendig.

Deskriptiv zeigt sich, dass keines der Items eine hohe Lösungsquote aufweist und die Lösung der Items somit tendenziell schwierig für die Stichprobe waren. In Studien, die Zusammenhänge von Voraussetzungen und der Ausprägung situierter Kompetenzfacetten untersuchen, zeigen sich relativ übereinstimmend verschiedene Facetten professionellen Wissens als Prädiktoren für das Identifizieren und theoriegeleitete Deuten von relevanten Unterrichtssituationen (u. a. Kersting, 2008; Kersting et al., 2010; König et al., 2014; Stürmer, Könings, & Seidel, 2013, 2015). Dabei werden theoretisch-formale, d. h. deklarative Wissensbestände von fall- bzw. situationsbezogenem, d. h. prozeduralem Wissen, differenziert. Letzteres kann als das praktisch nutzbare Handlungswissen in einer konkreten unterrichtlichen Anforderungssituation verstanden werden, das zwar auf deklarativen Wissensbeständen basiert, jedoch um eigene Erfahrungen ergänzt wird (Kersting et al., 2010; Seidel & Stürmer, 2014). Eine Ursache für die niedrigen Lösungsquoten könnte sein, dass umfassende Einordnungen und Erklärungen prozedurales Wissen erfordern (Meschede et al., 2015; u. a. Seidel & Stürmer, 2014). In der vorgelegten Validierungsstudie wurden angehende Sportlehrkräfte einbezogen. Dabei kann angenommen werden, dass diese Stichprobe aufgrund des Ausbildungsstands über wenig prozedurales Wissen verfügt, da passende Lerngelegenheiten in der bisherigen Ausbildung fehlen. Vor diesem Hintergrund sind die niedrigen Lösungsquoten der Items im Rahmen der Erwartungen. Weitere Erhebungen mittels Known-Groups-Vergleichen und größerer Stichproben erweisen sich mit Blick auf diese Annahmen als zusätzlicher Validierungsschritt sinnvoll. Allerdings sind die niedrigen Lösungsquoten im Hinblick auf den Einsatz des Instruments u. a. für die Evaluation von Interventionen zur Förderung des Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse auch als positiv anzusehen. Da grundsätzlich von einer Erlernbarkeit des definierten Kompetenzkonstrukts ausgegangen wird (s. auch Abschnitt „Noticing als situierte Facette professioneller Kompetenz“), ist es aufgrund der niedrigen Ausgangswerte möglich, dass das Instrument Lernfortschritte erfassen kann. Ob das Instrument entsprechend sensitiv ist, wurde bislang allerdings noch nicht geprüft.

Die geringen Lösungsquoten der Items könnten zudem die schwache Korrelation des Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse mit den Lerngelegenheiten im Bereich Inklusion und im Bereich inklusiver Sportunterricht erklären: Keine dieser Lerngelegenheiten baut das für die Facette des Noticing zentrale prozedurale Wissen auf. Vielmehr beschränken sich diese Lerngelegenheiten zumeist auf die Vermittlung von deklarativem Wissen und Einstellungen (vgl. Erhorn et al., 2020b). Trotz der schwachen Korrelation zeigt sich jedoch ein stärkerer Zusammenhang mit den fachspezifischen Lerngelegenheiten, d. h. zum Themenfeld inklusiver Sportunterricht als zu den Lerngelegenheiten im Bereich Inklusion im Allgemeinen. Diese Ergebnisse korrespondieren mit empirischen Befunden, nach denen für das Noticing von fachspezifischen Unterrichtsmerkmalen primär Fachwissen und fachdidaktisches Wissen bedeutsam sind (u. a. Meschede et al., 2015; Reuker, 2017a). Auch im Zusammenhang mit den geringeren Korrelationen muss die Stichprobe im Hinblick auf Umfang und Zusammensetzung kritisch betrachtet und in Folgestudien erweitert werden.

Zusammenfassend weisen die bisherigen Erkenntnisse darauf hin, dass mit dem hier entwickelten Testinstrument eine standardisierte Messung des Noticing mit Fokus auf Anerkennungsprozesse im inklusiven Sportunterricht realisiert werden konnte. Weitere Validierungsschritte, wie bereits an verschiedenen Stellen angedeutet, bleiben für den Einsatz in unterschiedlichen Kontexten jedoch notwendig.