1 Einleitung

Zahlreiche Studienergebnisse weisen auf eine hohe Bedeutung mathematischer Basiskompetenzen vor Schuleintritt für spätere mathematische Leistungen der Kinder hin (bspw. Krajewski und Schneider 2009; Nguyen et al. 2016). Um allen Kindern Lerngelegenheiten hinsichtlich mathematischer Basiskompetenzen zu bieten, eignet sich eine altersangemessene Förderung dieser Kompetenzen in der Kindertagesstätte (bspw. Bakken et al. 2017; Lehrl et al. 2016). Frühe mathematische Bildungsprozesse in der Kindertagesstätte nehmen ihren Ausgangspunkt in (Spiel‑)Situationen des Alltags und kennzeichnen sich oftmals, insbesondere in Deutschland, durch ihren informellen Charakter (bspw. Hirsh-Pasek et al. 2009; van Oers 2010). Der Ansatz, diese informellen Lerngelegenheiten zur Förderung mathematischer Basiskompetenzen zu nutzen, wird als Lernen in natürlichen Lernsituationen beschrieben (bspw. Gasteiger 2010). Ein bedeutsamer Faktor für die Entwicklung der Kinder in diesen natürlichen Lernsituationen sind die professionellen Kompetenzen (angehender) frühpädagogischer Fachpersonen (Gasteiger 2010; Pianta et al. 2005; Torquati et al. 2007). Aus den besonderen Charakteristika früher mathematischer Bildung ergibt sich die zentrale Anforderung an frühpädagogische Fachpersonen, das mathematische Potenzial in alltäglichen Situationen der Kindertagesstätte zu erkennen und daraus mathematische Lerngelegenheiten für die Kinder zu schaffen (Gasteiger und Benz 2018; McCray und Chen 2012; van Oers 2010). Diese Fähigkeit wird in Modellen zur Beschreibung der professionellen Kompetenz frühpädagogischer Fachpersonen als Situationswahrnehmung (bspw. Dunekacke 2016) oder situative Beobachtung und Wahrnehmung bezeichnet (bspw. Gasteiger und Benz 2016).

Die Integration der Kompetenzfacette Situationswahrnehmung bzw. situative Beobachtung und Wahrnehmung in Modelle zur professionellen Kompetenz frühpädagogischer Fachpersonen lässt sich auf zwei zentrale Forschungsthemen zurückführen: das der professionellen Unterrichtswahrnehmung aus dem Forschungsfeld der Lehrer*innenprofessionsforschung sowie das der Beobachtung und Dokumentation aus dem Forschungsfeld der Frühpädagogik. Während der Diskurs in der Frühpädagogik die Beobachtung der (mathematischen) Entwicklung von Kindern fokussiert, ist das Konstrukt Situationswahrnehmung bzw. situative Beobachtung und Wahrnehmung breiter: Gasteiger und Benz (2018) definieren situative Beobachtung und Wahrnehmung als Erkennen der mathematischen Relevanz alltäglicher Situationen, Dunekacke (2016) als Identifizierung von Oberflächenmerkmalen (bspw. mathematische Themen) und differenzierteren Merkmalen (bspw. mathematische Entwicklung).

Bislang existieren wenige empirische Studien, die die situative Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit (angehender) frühpädagogischer Fachpersonen im Bereich Mathematik als eigenständige Kompetenzfacette untersuchen. Dies ist auch auf wenige verfügbare Messmethoden zurückzuführen. Zur Untersuchung von Fragestellungen bezüglich der Rolle der situativen Beobachtung und Wahrnehmung im Kompetenzgefüge (angehender) frühpädagogischer Fachkräfte besteht ein Bedarf an validen, standardisierten Testinstrumenten (Stahnke et al. 2016), dem mit der Entwicklung des videobasierten Testinstruments Vimas_num zur Erfassung der Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung im Bereich Mathematik begegnet werden soll.

2 Situative Beobachtung und Wahrnehmung als Teilfacette professioneller Kompetenz

Die spezifischen Anforderungen an die Kompetenzen (angehender) frühpädagogischer Fachpersonen werden in Modellen zur professionellen Kompetenz beschrieben (allgemein: Fröhlich-Gildhoff et al. 2014; mathematikspezifisch: Gasteiger und Benz 2016; Hepberger et al. 2019; Jenßen et al. 2016). Um die Besonderheiten informeller Bildungsprozesse im Alltag der Kindertagesstätte zu berücksichtigen, nehmen diese Modelle – mit unterschiedlichen Bezeichnungen und Schwerpunkten – situative Kompetenzfacetten auf.

Hinsichtlich der Konzeptualisierung dieser situativen Kompetenzfacetten kann auf Forschungsarbeiten der Lehrer*innenprofessionsforschung zurückgegriffen werden, in der ebenfalls zunehmend situative Kompetenzfacetten, wie bspw. die professionelle Wahrnehmung von Unterrichtsprozessen, Berücksichtigung finden. Basierend auf den Arbeiten von Goodwin (1994) wird professionelle Unterrichtswahrnehmung von Lehrkräften verstanden als wissensbasierte Fähigkeit, lernrelevante Unterrichtssituationen zu erkennen und zu nutzen (Meschede et al. 2015; Seidel und Stürmer 2014; van Es und Sherin 2002). Dabei wird verstärkt die Perspektive vertreten, dass professionelle Unterrichtswahrnehmung als wissensbasierter Prozess fachspezifisch geprägt sein könnte (Kersting et al. 2010; Meschede et al. 2015, 2017; Steffensky et al. 2015). Ausgehend von dieser Annahme wird professionelle Unterrichtswahrnehmung unterschiedlich konzeptualisiert:

  • als professionelle Unterrichtswahrnehmung (professional vision) oder noticing (bspw. Meschede et al. 2015; Seidel und Stürmer 2014; van Es und Sherin 2002),

  • als reflexive und aktionsbezogene Kompetenz (bspw. Lindmeier 2011)

  • als Wahrnehmung (perception), Interpretation (interpretation) und Handlungsentscheidung (decision-making) (zusammen PID) (bspw. Blömeke et al. 2014) oder

  • als fachdidaktische Analysekompetenz (theme-specific noticing) (bspw. Dreher und Kuntze 2015).

Gemeinsam haben diese Konzeptualisierungen, dass sie von zwei grundlegenden Prozessen ausgehen, die als perception bzw. selective attention und als knowledge-based reasoning bzw. interpretation bezeichnet werden. Perception beschreibt die fokussierte Aufmerksamkeit auf Situationen im (Mathematik‑)Unterricht, die relevant für die Lernprozesse der Schüler*innen sind (Blömeke et al. 2015; Seidel und Stürmer 2014; Sherin 2007). Knowlegde-based reasoning umfasst den wissensbasierten Prozess der Verarbeitung und Interpretation dieser Unterrichtsprozesse (ebd.). Knowlegde-based reasoning setzt demnach eine gelungene perception voraus (Meschede et al. 2015; Sherin 2007). Dabei werden für das knowlegde-based reasoning drei Teilprozesse mit qualitativ unterschiedlichen Niveaus angenommen (Seidel und Stürmer 2014; Sherin 2007):

  1. 1.

    klare Abgrenzung eines wahrgenommen, relevanten Aspekts (Beschreiben),

  2. 2.

    wissensbasierte Begründung und Einordnung einer Situation (Erklären) und

  3. 3.

    Abschätzungen der Wirkung der wahrgenommen Aspekte für das Lernen der Schüler*innen (Vorhersagen).

Die drei Teilprozesse gelten als eng miteinander verknüpft (Sherin 2007). Während sie in Studien im pädagogisch-psychologischen Bereich empirisch gentrennt werden können (Seidel und Stürmer 2014), gelingt dies für die Teilprozesse Beschreiben und Erklären in fachspezifischen Studien zur professionellen Wahrnehmung nicht (Meschede et al. 2015).

Aufbauend auf die Konzeptualisierung professioneller Unterrichtswahrnehmung wird im Kontext früher mathematischer Bildung die Fähigkeit, lernrelevante Momente in alltäglichen Situationen der Kindertagesstätte zu erkennen, als Situationswahrnehmung bzw. situative Beobachtung und Wahrnehmung beschrieben (bspw. Dunekacke 2016; Gasteiger und Benz 2016). Dieses Konstrukt beschreibt die Fähigkeit, alltägliche Situationen mit mathematischem Potenzial – im Sinne des Teilprozesses perception – wissensbasiert wahrzunehmen und das konkrete mathematische Potenzial dieser Situation – im Sinne der Teilprozesse des knowlegde-based reasoning – zu identifizieren (Dunekacke 2016; Gasteiger und Benz 2016, 2018; van Oers 2010). Die Bezeichnung situative Beobachtung und Wahrnehmung (Gasteiger und Benz 2016) geht auch auf den frühpädagogischen Diskurs zur Beobachtung und Dokumentation frühkindlicher Bildungsprozesse (bspw. Heiskanen et al. 2018; Schulz 2015) zurück und greift neben der wissensbasierten Wahrnehmung von Situationen auch die im frühpädagogischen Kontext zentrale gezielte Beobachtung von Handlungen und Äußerungen von Kindern auf, durch die wiederum mathematisches Potenzial identifiziert werden kann.

3 Potenzielle Einflussfaktoren auf situative Beobachtung und Wahrnehmung

Modelle zur professionellen Kompetenz frühpädagogischer Fachpersonen im Bereich Mathematik nehmen an, dass die situative Beobachtung und Wahrnehmung durch professionelles Wissen beeinflusst wird (bspw. Gasteiger und Benz 2016). Gleiche Annahmen bestehen zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von Lehrkräften (bspw. Blömeke et al. 2014; Dreher und Kuntze 2015; König et al. 2014; Meschede et al. 2017). Dabei wird davon ausgegangen, dass bei professioneller Unterrichtswahrnehmung Wissen aktiviert und mit Anforderungen der Praxis verknüpft wird – und diese somit über professionelles Wissen hinaus geht (bspw. Kersting et al. 2010; Seidel und Stürmer 2014). Verschiedene Autor*innen sprechen daher im Kontext der professionellen Unterrichtswahrnehmung auch von integrated knowledge (Seidel und Stürmer 2014) bzw. usable knowledge (Kersting et al. 2010).

Empirische Ergebnisse aus dem Kontext der Lehrer*innenprofessionsforschung stützen diese Annahmen grundsätzlich, da sich mehrheitlich Zusammenhänge zwischen dem Wissen und der Fähigkeit zur professionellen Wahrnehmung zeigen – sowohl für angehende Lehrkräfte (Meschede et al. 2017) als auch für Lehrkräfte in der Praxis (Blömeke et al. 2014; König et al. 2014; Meschede et al. 2017; Yang et al. 2020). Dabei werden allerdings teilweise nur einzelne Wissensfacetten einbezogen (nur GPK: König et al. 2014; nur PCK: Meschede et al. 2017; CK und PCK: Blömeke et al. 2014; GPK und PCK: Dreher und Kuntze 2015; GPK, PCK und CK: Yang et al. 2020) und wenn mehrere Wissensfacetten einbezogen werden, teilweise nur für einzelne Wissensfacetten Zusammenhänge nachgewiesen (Dreher und Kuntze 2015: nur GPK; Yang et al. 2020: nur GPK, PCK). Dreher und Kuntze (2015) finden zudem nur Zusammenhänge für Lehrkräfte in der Praxis, nicht jedoch für angehende Lehrkräfte. König et al. (2014) trennen die Prozesse der professionellen Unterrichtswahrnehmung in Wahrnehmen und Interpretieren und finden nur Zusammenhänge zwischen dem pädagogischen Wissen und der Fähigkeit, Situationen zu interpretieren, nicht jedoch zu der Fähigkeit, Situationen wahrzunehmen. Empirische Ergebnisse aus dem Kontext der Frühpädagogik zeigen Zusammenhänge zwischen dem didaktischen Wissen und der situativen Beobachtung und Wahrnehmung (nicht jedoch dem fachlichen Wissen) (Dunekacke et al. 2016). Hepberger et al. (2019) und Wittmann et al. (2016) zeigen Zusammenhänge zwischen dem professionellen Wissen (Kombination aus fachlichem und fachdidaktischem Wissen) und den jeweils unterschiedlich operationalisierten Prozessen der situativen Beobachtung und Wahrnehmung.

Ergebnisse zu Unterschieden in der professionellen Unterrichtswahrnehmung zwischen Noviz*innen und Expert*innen betrachten den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und professionellem Wissen genauer (Berliner 2001). Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Unterschiede in der Unterrichtswahrnehmung auf Unterschiede in der angenommenen Struktur des professionellen Wissens zurückgeführt werden können. Expert*innenwissen ist demnach – im Gegensatz zum Wissen von Noviz*innen – in kognitiven Schemata mit fallbasierten scripts strukturiert, die einzelne Informationen, praktische Erfahrungen und deren Verknüpfungen beinhalten (De Jong und Ferguson-Hessler 1996) und durch bewusste Auseinandersetzung mit praktischer Erfahrung (deliberate pratice) entwickelt werden (Gruber et al. 2006). Die Aktivierung dieser Schemata erlaubt Expert*innen eine holistische Wahrnehmung der Situation sowie eine schnelle Differenzierung zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen. Für frühpädagogische Fachpersonen geben erste qualitative Studien Hinweise, dass Fachpersonen in der Praxis ebenfalls eng mit Situationen verknüpftes professionelles Wissen für die situative Beobachtung und Wahrnehmung nutzen (Gasteiger und Benz 2018).

Zusammenfassend kann angenommen werden, dass die situative Beobachtung und Wahrnehmung sowohl durch professionelles Wissen als auch durch die Verknüpfung von professionellem Wissen mit praktischer Erfahrung beeinflusst wird. Zu beachten ist, dass angehende frühpädagogische Fachpersonen wenig fachspezifische Lerngelegenheiten erhalten (Blömeke et al. 2017; Mischo 2016; Whyte et al. 2018), welche sich jedoch als wesentlich für den Aufbau professionellen Wissens (Barenthien et al. 2020; Blömeke et al. 2017) und die Tiefe der situativen Beobachtung und Wahrnehmung (Bruns et al. 2020) erweisen. Ergebnisse aus Studien, die angehende und erfahrene Lehrkräfte einbeziehen (bspw. Meschede et al. 2017; Dreher und Kuntze 2015), lassen vermuten, dass praxiserfahrene frühpädagogische Fachpersonen höhere Fähigkeiten in der situativen Beobachtung und Wahrnehmung zeigen als angehende frühpädagogische Fachpersonen. Dazu liegen jedoch keine empirischen Studien vor, was auch auf wenige verfügbare Methoden zur Erfassung der situativen Beobachtung und Wahrnehmung zurückgeführt werden kann.

4 Erfassung der situativen Beobachtung und Wahrnehmung

Zur Erfassung situativer Kompetenzfacetten wird die Verwendung von Vignetten als Stimuli vorgeschlagen (Dunekacke 2016; Friesen et al. 2018; Kersting 2008; Lindmeier 2013), auf deren Basis mittels offener Antworten oder geschlossener Ratingitems selektive Aufmerksamkeitsprozesse und Prozesse des Beschreibens, Erklärens und Vorhersagens erfasst werden. Vignetten können als Text, Comic oder (geskriptetes) Video präsentiert werden. Dabei zeigt sich für angehende Lehrkräfte, dass die Darstellungsform (Text, Comic oder geskriptetes Video) weder einen Einfluss auf die Itemschwierigkeit noch auf die wahrgenommene Motivation, Immersion und Resonanz hat – geskriptete Videos jedoch als weniger authentisch wahrgenommen werden als Comics oder Texte (Friesen et al. 2018). In Studien mit frühpädagogischen Fachpersonen erweisen sich geskriptete Videovignetten jedoch als authentisch (Hepberger et al. 2019). Zusammenfassend lassen sich demnach keine klaren Empfehlungen für ein bestimmtes Vignettenformat aussprechen. Verschiedene Autor*innen argumentieren jedoch, dass die Komplexität unterrichtlicher Situationen insbesondere durch Videovignetten transportiert werden kann und sich diese daher besonders eignen, um insbesondere selektive Aufmerksamkeitsprozesse und (spontane) Prozesse des Beschreibens, Erklärens und Vorhersagens zu erfassen (Kersting 2008; Lindmeier 2013; Meschede et al. 2015). In Bezug auf die Form dieser Erfassung (offene vs. geschlossene Antworten) liegen ebenfalls unterschiedliche Vorschläge vor (s. a. Stahnke et al. 2016). Zwar erlauben geschlossene Antwortformate hoch-standardisierte Erfassungen, während offene Antworten aufwändige Codierungsprozesse erfordern. Es ist jedoch noch nicht umfassend geklärt, inwieweit mit geschlossenen Antwortformaten auch die konkreten Anforderungssituationen, insbesondere der Aspekt der selektiven Aufmerksamkeit, operationalisiert werden können (Bruns und Gasteiger 2019; Lindmeier 2013).

Zur Untersuchung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von (angehenden) Lehrkräften liegen bereits validierte fachunabhängige (Jahn et al. 2014; Seidel und Stürmer 2014) und fachspezifische (Naturwissenschaften: Meschede et al. 2015; Mathematik: Blömeke et al. 2014; Dreher und Kuntze 2015; Kersting 2008; Lindmeier 2011) Instrumente vor, die zeigen, dass Prozesse der professionelle Unterrichtswahrnehmung standardisiert erfassbar sind. Für (angehende) frühpädagogische Fachpersonen wurden ebenfalls erste, mathematikspezifische Instrumente entwickelt und erprobt (Dunekacke et al. 2016; Hepberger et al. 2019; McCray und Chen 2012; Wittmann et al. 2016). Ein Teil der Instrumente erfasst situationsspezifische Fähigkeiten – mehrheitlich als ein Aspekt des mathematikdidaktischen Wissens – mittels ein bis zwei Textvignetten (Lee 2017; McCray und Chen 2012; Oppermann et al. 2016). Hepberger et al. (2019) kombinieren Text‑, Bild- und Videovignetten zur Erfassung reflexiver (10 Items) und aktionsbezogener Kompetenz (7 Items), die jeweils Prozesse der situativen Beobachtung und Wahrnehmung einschließen. Das Instrument von Wittmann et al. (2016) nutzt ein videobasiertes Item und sechs bildbasierte Items zur Erfassung des Erkennens des mathematischen Potenzials und Dunekacke et al. (2016) erfassen das Konstrukt der Situationswahrnehmung auf der Grundlage von drei Videovignetten.

Da alle vorliegenden Instrumente für die Zielgruppe (angehender) frühpädagogischer Fachpersonen sich auf unterschiedliche theoretische Modelle beziehen, fokussieren diese Instrumente unterschiedliche Teilprozesse der situativen Beobachtung und Wahrnehmung. Darüber hinaus werden in allen vorliegenden Instrumenten verschiedene Inhaltsbereiche, die in der frühen mathematischen Bildung relevant sind, einbezogen. Alle Instrumente operationalisieren das Konstrukt somit aus allgemeiner Perspektive. Dabei basieren diese Instrumente – im Vergleich zu Instrumenten zur Erfassung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von (angehenden) Lehrkräften – auf vergleichsweise wenig Items. Da situative Beobachtung und Wahrnehmung als wissensbasierter Prozess verstanden wird (siehe Abschn. 3), muss allerdings davon ausgegangen werden, dass Fachkräfte für eine situative Beobachtung und Wahrnehmung in unterschiedlichen Inhaltsbereichen auf unterschiedliche Wissensfacetten zurückgreifen. Für Studien mit einem Fokus auf einen Inhaltsbereich, in denen Interventionseffekte auf unterschiedliche Facetten professioneller Kompetenz gemessen werden sollen, eignen sich diese Instrumente daher nur bedingt. Für Studien dieser Art besteht ein Bedarf an einem Instrument, das das Konstrukt der situativen Beobachtung und Wahrnehmung fokussiert auf einen Inhaltsbereich erfasst, da ein solches Instrument Entwicklungen der Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung sensitiver messen kann. Die Entwicklung standardisierter Instrumente dieser Art kann entsprechend als Forschungsdesiderat bezeichnet werden (s. a. Wittmann 2017; Lindmeier 2013).

5 Ziel und Fragestellung

Situative Beobachtung und Wahrnehmung (angehender) frühpädagogischer Fachpersonen im Bereich Mathematik beschreibt die Fähigkeit, mathematische Aspekte in alltäglichen (Spiel‑)Situationen zu erkennen (Dunekacke 2016; Gasteiger und Benz 2018). Bislang fehlt ein differenziertes, standardisiertes Instrument, das das Konstrukt der situativen Beobachtung und Wahrnehmung erfasst, und sich für den Einsatz in Interventionsstudien eignet. Um diesem Bedarf zu begegnen, soll in diesem Beitrag das videobasierte Instrument Vimas_num zur Erfassung der situativen Beobachtung und Wahrnehmung im Bereich Mathematik vorgestellt sowie die Validität verschiedener Aspekte der Testwertinterpretation des Instruments zunächst für die Zielgruppe angehender frühpädagogischer FachpersonenFootnote 1 untersucht werden. Die zentrale Fragestellung lautet:

Inwiefern eignet sich das Instrument Vimas_num zur validen Erfassung der situativen Beobachtung und Wahrnehmung angehender frühpädagogischer Fachpersonen?

6 Entwicklung des Testinstruments Vimas_num

Um das Konstrukt situative Beobachtung und Wahrnehmung änderungssensitiv und zeitökonomisch zu messen, bietet es sich an, das Instrument auf einen mathematischen Inhaltsbereich zu fokussieren – auch wenn frühe mathematische Bildung verschiedene mathematische Inhaltsbereiche adressieren sollte (Benz et al. 2015). Da die zentrale Rolle arithmetischer Basisfertigkeiten für die mathematische Entwicklung empirisch gut belegt ist (bspw. Krajewski und Schneider 2009; Lehrl et al. 2016; Nguyen et al. 2016), wurde der Fokus des Instruments auf den Bereich Mengen und Zahlen gelegt. Entsprechend sollten die Testergebnisse als Indikator der Fähigkeit der situativen Beobachtung und Wahrnehmung im Bereich Mengen und Zahlen interpretiert werden können.

Ausgehend von der konzeptuellen Definition des Konstrukts situative Beobachtung und Wahrnehmung (vgl. Abschn. 2) sollten Items, die dieses Konstrukt messen, auf konkreten Situationen in der Kindertagesstätte basieren. Da verschiedene Autor*innen Videovignetten als geeigneten Impuls für die Messung der Prozesse professioneller Wahrnehmung beschreiben (siehe Abschn. 4), wurden als Grundlage für das Instrument Videovignetten erstellt, die unterschiedliche Spiel- und Alltagssituationen der Kindertagesstätte im Bereich Mengen und Zahlen berücksichtigen (bspw. Tischdecken). Um unterschiedliche Ergebnisse mit Blick auf die Art der Videovignetten (geskriptet vs. nicht geskriptet) zu berücksichtigen (siehe Abschn. 4), wurden die Videosituationen nicht geskriptet. Auf diese Weise wird die Komplexität des Alltags festgehalten und keine Fokussierung der Situationen vorgenommen. Anschließend wurden aufgrund von inhaltlichen (Abgeschlossenheit der Situation, verschiedene Themen etc.) und technischen (Lautstärke, Bildqualität etc.) Kriterien 12 potenzielle Videovignetten ausgewählt. Zu diesen 12 Vignetten wurde folgender vorläufiger Itemprompt formuliert: Analysieren Sie die folgende Situation mit Blick auf frühe mathematische Bildung im Bereich MENGEN und ZAHLEN. Welche mathematischen Aspekte im Bereich MENGEN und ZAHLEN erkennen Sie in der Situation?

In Tab. 1 sind exemplarisch zwei Vignetten dargestellt sowie die mathematischen Aspekte, die – basierend auf einer theoretischen Analyse der Videosituationen – in den jeweiligen Vignetten wahrgenommen werden können.

Tab. 1 Darstellung zweier exemplarischer Videovignetten

7 Überprüfung der Validität der Testwertinterpretation

Bei der Entwicklung eines neuen Instruments sollte die Validität der für dieses Instrument vorgeschlagenen Interpretation der Testergebnisse geprüft werden: „Validity refers to the degree to which evidence and theory support the interpretations of test scores for proposed uses of the test“ (American Educational Research Association et al. 2014, S. 11). Das videobasierte Instrument Vimas_num wurde für den Einsatz in wissenschaftlichen Untersuchungen in Gruppensettings entwickelt, nicht als Instrument zur Individualdiagnostik. Entsprechend sollten Validierungsbemühungen sich darauf stützen, inwieweit der mit dem Instrument ermittelte Testwert als Indikator der Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung im Bereich Mengen und Zahlen in Forschungskontexten interpretiert werden kann, nicht jedoch inwieweit diagnostische Urteile auf der Grundlage des Instruments legitimiert werden können. Entsprechende Validierungsprüfungen können anhand des Testinhalts, der einerseits durch die Videovignetten und anderseits durch die Codierung der Antworten bestimmt wird, sowie der internen Struktur des Testinstruments und den Zusammenhängen des Testwerts mit theoretisch verbundenen Konstrukten erfolgen (AERA et al. 2014). Entsprechend lässt sich die zentrale Fragestellung für den Entwicklungsprozess des Instruments in folgende Unterfragen untergliedern:

1

Inwiefern ergeben sich Hinweise auf die Validität des Instruments Vimas_num zur Erfassung der situativen Beobachtung und Wahrnehmung angehender frühpädagogischer Fachpersonen auf Grundlage des Testinhalts bestehend aus Videovignetten, Itemprompt und Codiermanual?

2

Inwiefern ergeben sich Hinweise auf die Validität des Instruments Vimas_num zur Erfassung der situativen Beobachtung und Wahrnehmung angehender frühpädagogischer Fachpersonen auf Grundlage der internen Struktur?

3

Inwiefern ergeben sich Hinweise auf die Validität des Instruments Vimas_num zur Erfassung der situativen Beobachtung und Wahrnehmung angehender frühpädagogischer Fachpersonen auf Grundlage der Zusammenhänge des Testwerts mit theoretisch verbundenen Konstrukten?

Im Rahmen der Entwicklung des videobasierten Instruments Vimas_num wurden zur Absicherung der Validität drei aufeinander aufbauende Studien durchgeführt: Zwei Studien zur Untersuchung des Testinhalts (Studie 1 mit dem Fokus auf die Videovignetten und den Itemprompt, Studie 2 mit dem Fokus auf das Codiermanual) und eine Studie zur Untersuchung der internen Struktur des Tests und der Zusammenhänge des Testwerts mit theoretisch verbundenen Konstrukten.

7.1 Studie 1: Überprüfung des Testinhalts und der Antwortprozesse initiiert durch die Videovignetten

Um zu prüfen, inwieweit die Videovignetten zentrale Inhalte des Konstrukts der situativen Beobachtung und Wahrnehmung abbilden und ob die durch die Videovignetten initiierten Antworten die intendierten kognitiven Prozesse wiederspiegeln, wurde eine qualitative Interviewstudie im Sinne eines Cognitive Labs (Willis 2005) zu den 12 Videovignetten durchgeführt. Zusätzlich sollen auf Grundlage der Erkenntnisse dieser Studie ein finaler Prompt sowie eine erste Version eines Codiermanuals für das standardisierte Testinstrument entwickelt werden.

7.1.1 Stichprobe

Da davon ausgegangen werden kann, dass der Prozess der situativen Beobachtung und Wahrnehmung durch die Expertise der Teilnehmenden beeinflusst wird, sollte diese in der Cognitive Lab Studie kontrolliert werden, indem die Stichprobe maximal heterogen hinsichtlich der Einflussfaktoren situativer Beobachtung und Wahrnehmung zusammengesetzt wird. Basierend auf theoretischen Modellen (bspw. Gasteiger und Benz 2016) und ersten empirischen Ergebnissen (Dunekacke et al. 2016; Hepberger et al. 2019; Wittmann et al. 2016) kann angenommen werden, dass die Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung durch das professionelle Wissen sowie reflektierte, praktische Erfahrung beeinflusst wird. Für die Stichprobe wurden demnach Personen gesucht, die hohes mathematikdidaktisches Wissen im Bereich Mengen und Zahlen und/oder umfassende praktische Erfahrungen in der Kindertagesstätte vorweisen. Dabei ergibt sich die bereits angesprochene Problematik, dass (angehende) frühpädagogische Fachpersonen nur bedingt formale Lerngelegenheiten im Bereich Mathematikdidaktik in Aus- und Fortbildung erhalten (Blömeke et al. 2017; Whyte et al. 2018). Studierende des Grundschullehramts für das Fach Mathematik haben dagegen einen hohen Anteil an formalen Lerngelegenheiten in diesem Bereich, der Überschneidungen zu mathematikdidaktischen Inhalten der frühen mathematischen Bildung aufweist. Dies gilt insbesondere für den Bereich Mengen und Zahlen, da in diesem Kontext im Rahmen der Lehramtsausbildung für die Grundschule auch die Entwicklung des Zahlbegriffs, des Zählens o. ä. im Kindergartenalter thematisiert werden. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass diese Gruppe vertieftes mathematikdidaktisches Wissen zum Bereich Mengen und Zahlen mitbringt, das auch für die frühe mathematische Bildung relevant, jedoch noch nicht umfassend mit praktischer Erfahrung in der Kindertagesstätte verknüpft ist. Demnach wurden n = 6 Grundschulehramtsstudierende zur Befragung ausgewählt. Sie befanden sich am Ende ihres Masterstudiums mit Schwerpunktfach Mathematik. Die Inhalte des Studiums wurden u. a. durch die Drittautorin des Beitrags gestaltet; es kann daher sichergestellt werden, dass die Studierenden passende Lerngelegenheiten erhielten, vertieftes, mathematikdidaktisches Wissen zum Bereich Mengen und Zahlen zu erwerben.

Zusätzlich wurden n = 5 frühpädagogische Fachkräfte befragt. Sie stammten aus zwei verschiedenen Kindertagesstätten in Niedersachsen und besuchten sechs Monate vor der Studie eine umfassende Fortbildung zu früher mathematischer Bildung, gestaltet durch die Erstautorin. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass diese Teilstichprobe Basiskenntnisse im Bereich des fachlichen und fachdidaktischen Wissens sowie umfassende praktische Erfahrungen im Bereich der frühen (mathematischen) Bildung mitbringt.

7.1.2 Methoden

Die Daten zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung wurden im Sinne eines retrospektiven Interviews leitfadengestützten (Helfferich 2014) erhoben. Die Teilnehmenden sahen die Videovignette und wurden anschließend zum mathematischen Gehalt sowie zu anderen bemerkenswerten Details der Situationen befragt. Die Interviewfragen entsprechen dabei nicht dem Bearbeitungsprompt des Videoinstruments, sondern dienen dazu, möglichst detaillierte Informationen über die kognitiven Prozesse der situativen Beobachtung und Wahrnehmung der Teilnehmenden zu erhalten und zu prüfen, inwiefern mit den Videovignetten zentrale Inhalte des Konstrukts abgebildet werden. Entsprechend wurden die Teilnehmenden vor der Betrachtung der Videovignetten instruiert, im Folgenden – im Sinne der Konstruktdefinition – gezielt mathematische Aspekte aus dem Bereich Mengen und Zahlen zu beobachten.

Die Antworten der Teilnehmenden wurden vollständig transkribiert und die pro Video jeweils angegebenen mathematischen Aspekte verglichen. Zudem erfolgte eine Gegenüberstellung der Antworten der Teilnehmenden mit den durch eine theoriebasierte Analyse der 12 Videosituationen ermittelten Inhalten der Situationen. Beide Gegenüberstellungen erfolgten mit dem Ziel, zu ermitteln, welche Videosituationen sich eignen, um Unterschiede zwischen den Teilnehmenden sichtbar zu machen. Schreiben allen Teilnehmenden einer Videosituationen die gleichen, mit der theoretischen Analyse übereinstimmenden, mathematischen Aspekte zu, so wären diese Videosituation zu wenig reichhaltig für die Entwicklung eines standardisierten Instruments.

7.1.3 Ergebnisse

In der qualitativen Studie erweisen sich zwei Videosituationen als nicht reichhaltig genug zur differenzierten Erfassung der Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung. Die verbleibenden zehn Videovignetten ermöglichen den Proband*innen verschiedene mathematische Inhalte im Bereich Mengen und Zahlen zu entdecken (Tab. 2).

Tab. 2 Übersicht zu den entwickelten Items

Die Antworten der Teilnehmenden zeigen deutliche Unterschiede hinsichtlich der Tiefe der situativen Beobachtung und Wahrnehmung. Beispielsweise erkennen alle Teilnehmenden, dass Kinder in Item 10 ‚Bowling‘ (vgl. Transkript im Anhang) zählen, jedoch nur wenige die ‚Regeln‘ (Zählprinzipien, Gelman und Gallistel 1978), die dem Zählprozess zugrunde liegen, und inwiefern diese von den Kindern eingehalten werden. Sofern tiefergehende fachbezogene Aspekte dieser Art beschrieben werden, gebrauchen die frühpädagogischen Fachpersonen selten Fachsprache, wie folgendes Beispiel zeigt:

[Die Mädchen] sollten die Kegel dann zählen und sind sich aber nicht einig geworden, wer wo anfängt. Also sie haben parallel zueinander gezählt. Und sind äh zu verschiedenen Ergebnissen gekommen, bis Julia [die Pädagogin, Anm. der Verfasserinnen] dazu gekommen ist und gesagt hat, komm wir zählen es zusammen. Und ähm dann haben sie tatsächlich der Reihe nach gezählt. (Interview Fachkraft 1)

Es ist auffällig, dass die frühpädagogische Fachperson die Situation zwar beschreibt und dabei mit Blick auf den mathematischen Gehalt richtig einordnet, indem sie Bezug zum (Zähl‑)Prinzip der Eins-zu-Eins-ZuordnungFootnote 2 nimmt, dieses Prinzip aber – im Gegensatz zu den Grundschullehramtsstudierenden – nicht explizit benennt. Hier zeigt sich, dass der Prozess der situativen Beobachtung und Wahrnehmung zwar wissensbasiert abläuft, aber dieses Wissen in der Anwendung zumindest von praxiserfahrenen Fachkräften nur bedingt artikuliert wird. Dies passt zur im Kontext der professionellen Unterrichtswahrnehmung diskutierten Idee des integrierten Wissens (integrated knowledge) (Seidel und Stürmer 2014), das in situativen Fähigkeiten sichtbar wird.

Um die Tiefe der Wahrnehmung losgelöst von der Fachsprache einzuschätzen, erweist sich die Anzahl der wahrgenommenen mathematischen Aspekte einer Situation als geeignetes Maß. Während einige Teilnehmende wenige mathematische Aspekte der Situation wahrnehmen, die stark im Vordergrund stehen (explizite mathematische Aspekte), formulieren andere Teilnehmende auch implizite Aspekte der Situation. Beispielsweise beschreibt Fachperson 1 in dem dargestellten Interviewausschnitt den expliziten Aspekt des Zählens und den impliziten Aspekt des Zählprinzips der Eins-zu-Eins-Zuordnung. Alle Teilnehmenden konnten mindestens einen expliziten mathematischen Aspekt in jeder Situation identifizieren. Eine Differenzierung zeigt sich in den darüberhinausgehenden Antworten, in denen auch implizite mathematische Aspekte der Situation aufgegriffen werden. Eine detaillierte Gegenüberstellung der Antworten ergibt, dass die Wahrnehmung von zwei bzw. drei mathematischen Aspekten (je nach Gehalt der Situationen) eine entsprechende Tiefe der situativen Beobachtung und Wahrnehmung abbildet. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wurde der Itemprompt ergänzt um den Zusatz Beschreiben Sie bis zu DREI Aspekte der Situation.

Um die Antworten im Sinne des Konstrukts situative Beobachtung und Wahrnehmung zu codieren, wurde deduktiv ein dreistufiges Codierschema (0-1-2 Punkte) entwickelt. Dazu wurden auf Basis der theoretischen Analyse der Videovignetten die mathematischen Aspekte der Situation festgelegt. Da die Videosituationen unterschiedlich reichhaltig sind (Tab. 2), musste dies im Coding berücksichtigt werden: Für die Items 2, 3, 6, 7, 10 werden somit zwei korrekt beschriebene mathematische Aspekte der Situation für zwei Punkte erwartet, für die übrigen Items drei. Darüber hinaus wurde einbezogen, dass angehende frühpädagogische Fachpersonen gegebenenfalls keine Fachsprache nutzen, die Antworten aber dennoch unterschiedlich präzise ausfallen. Daher wird im Coding zwischen detailliert und oberflächlich beschriebenen mathematischen Aspekten unterschieden. Die Antworten zu den Items auf Basis der Vignetten 2, 3, 6, 7, 10 werden mit einem Punkt bewertet, wenn in den Antworten ein detailliert beschriebener mathematischer Aspekt der Situation enthalten ist. Die Antworten zu den übrigen Items erhalten einen Punkt, sofern ein mathematischer Aspekt detailliert (bspw. „Die Kinder sortieren, welche Kegel umgefallen sind und welche nicht“) und ein mathematischer Aspekt oberflächlich beschrieben ist (bspw. „Die Kinder sortieren die Kegel“).

7.2 Studie 2: Überprüfung der Validität des Testinhalts

Aufbauend auf die erste Studie erfolgt in der zweiten Studie eine Pilotierung des vorläufigen Testinstruments Vimas_num. Ziel der Pilotierung des vorläufigen Testinstruments mit zehn videobasierten Items ist es, das Instrument als Ganzes sowie das Codierschema mit Blick auf die Validität des Testinhalts umfassend zu prüfen.

7.2.1 Stichprobe

Die Stichprobe der Pilotierung umfasst N = 83 (76 weiblich, 7 männlich) angehende frühpädagogische Fachpersonen aus vier Klassen in zwei Fachschulen in Nordrhein-Westfalen. 70 % der Teilnehmenden gaben an, dass Frühe mathematische Bildung im Rahmen der Ausbildung thematisiert wurde. Die Angaben variierten zwischen 0 und 80 h (M = 26,22; SD = 18,32).

7.2.2 Methoden

Die Testung erfolgte in einem Gruppensetting innerhalb der Klassenverbände. Dazu wurden die Videovignetten frontal für alle Teilnehmenden präsentiert. Anschließend notierten die Teilnehmenden ihre schriftlichen Antworten individuell in einem Testheft (Itemprompt: Analysieren Sie die folgende Situation mit Blick auf frühe mathematische Bildung im Bereich MENGEN und ZAHLEN. Welche mathematischen Aspekte im Bereich MENGEN und ZAHLEN erkennen Sie in der Situation? Beschreiben Sie bis zu DREI Aspekte der Situation.).

Um zu überprüfen, inwieweit die videobasierten Items den Testinhalt adäquat abbilden, wurden die Antworten der Teilnehmenden betrachtet. Der Fokus lag darauf, inwieweit die Antworten der Teilnehmenden Rückschlüsse auf ihre Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung erlauben und diese mit Hilfe des entwickelten Codiermanuals festgehalten werden können. Dazu wurden die Antworten zunächst mittels des Codiermanuals von zwei Codierer*innen unabhängig codiert. Anschließend wurden offene Fälle sowie nicht übereinstimmende Codierungen im Projektteam diskutiert. Zusätzlich wurde mittels deskriptiver Statistik überprüft, inwieweit die 10 videobasierten Items zwischen verschiedenen Fähigkeitsausprägungen differenzieren. Besonders hohe bzw. niedrige Lösungsraten geben Hinweise auf wenig trennscharfe Items, diese Items sollten ausgeschlossen werden. Zusätzlich sollten Items mit geringer Varianz in den Lösungsraten (hier: Standardabweichung kleiner als 0,4) genauer betrachtet werden.

7.2.3 Ergebnisse

Die Ergebnisse der Pilotierungsstudie zeigen, dass die Teilnehmenden zu den videobasierten Items mehrheitlich Antworten notieren, die Rückschlüsse auf ihre Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung zulassen. Insbesondere wird deutlich, dass sich einfache Beschreibungen der Situation, die keinen Fokus auf zentrale mathematische Aspekte der Situation lenken, von Prozessen der situativen Beobachtung und Wahrnehmung unterscheiden lassen. Folgende Antwort zum Item 10 ‚Bowling‘ zeigt eine ausschließliche Beschreibung der Situation:

  • „Es wird ein Kegelspiel angeboten verschiedene Farben, Kegel fallen um nachdem die Kugel geworfen wird“ (TN HXB1)

Antworten, die dagegen Rückschlüsse auf die Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung zulassen, lauten beispielsweise:

  • „Die beiden Kinder zählen die Kegel, welche nach dem Wurf noch stehen.“ (TN HXB3, Aspekt: Abzählen)

  • „Sie sortieren die Kegel nach Farben und stellen sie so jeweils nebeneinander.“ (TN HXB7, Aspekt: Relationen)

Diese beiden Antworten haben ebenfalls deskriptiven Charakter, fokussieren aber auf zentrale mathematische Aspekte der Situation. Dies entspricht dem Konstrukt der situativen Beobachtung und Wahrnehmung, das – in Anlehnung an das Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung – sowohl das Erkennen und Beschreiben der zentralen Aspekte der Situation sowie deren inhaltliche Einordnung umfasst (vgl. Abschn. 2). Zusätzlich wird von HXB3 ein mathematischer Aspekt, der explizit im Fokus der dargestellten Situation steht, genannt. Das Sortieren der Kegel auf der Grundlage einer Äquivalenzrelation (HXB7) ist dagegen implizit in der Situation enthalten. Diesen Aspekt als (weiteres) mathematisches Potenzial der Situation zu erkennen, deutet auf höhere Fähigkeiten der situativen Beobachtung und Wahrnehmung hin als die Erfassung des Abzählens.

Auf Basis dieser Ergebnisse wurde das Codiermanual induktiv weiterentwickelt sowie Ankerbeispiele zu jedem Code festgelegt. Zur Überprüfung der Reliabilität des Codierleitfadens erfolgte eine erneute Codierung der Antworten von zwei unabhängigen Personen. Die Inter-Rater-Reliabilität lag im Mittel bei Cohens κ = 0,70 (Range 0,50–0,75) und kann als gut eingestuft werden (Landis und Koch 1977).

Um zudem einen Eindruck zu erhalten, inwiefern die Items Unterschiede zwischen den Teilnehmenden abbilden, wurden alle 10 Items mittels deskriptiver Analysen untersucht. Dabei zeigt sich, dass 71 Antworten zu Item 10 ‚Bowling‘ als teilweise richtig und eine Antwort als falsch sowie 11 Antworten als richtig codiert wurden. Eine tiefergehende Analyse der Antworten ergibt, dass nahezu alle Teilnehmenden den Aspekt ‚Abzählen‘ als einzigen mathematischen Aspekt der Situation identifizieren. Da auf dieser Grundlage von einer beschränkten Aussagekraft des Items ausgegangen werden kann, wurde das Item zur Reduktion der Testzeit ausgeschlossen.

7.3 Studie 3: Überprüfung der internen Struktur des Testinstruments und Zusammenhänge mit theoretisch verbundenen Konstrukten

In einer dritten Studie wurde das Testinstrument bestehend aus neun videobasierten Items auf seine interne Struktur und den Zusammenhang des Testwerts mit theoretisch verbundenen Konstrukten geprüft.

7.3.1 Stichprobe

An der Studie nahmen N = 452 angehende frühpädagogische Fachpersonen (358 weiblich, 67 männlich, 2 divers, 25 fehlend) aus 22 Klassen in 14 Berufsfachschulen Nordrhein-Westfalens teil. In sechs Klassen erfolgte die Ausbildung praxisintegriert. Aufgrund von technischen Problemen konnten einige angehende Fachkräfte den Test Vimas_num nur teilweise oder gar nicht bearbeiten. Alle Fälle, die fehlende Werte enthielten, wurden ausgeschlossen. Die Stichprobe reduziert sich dadurch auf n = 363 Teilnehmende (290 weiblich, 52 männlich, 2 divers, 19 fehlend). Die Teilnehmenden waren im Schnitt 22,3 Jahre alt (SD = 5,59). 47,4 % der angehenden Fachkräfte gaben an, dass Frühe mathematische Bildung im Rahmen der Ausbildung thematisiert wurde. Die Angaben variierten zwischen 0 und 52 h (M = 8,43; SD = 13,56).

7.3.2 Methoden

Die Datenerhebung erfolgte im Gruppensetting im Klassenverband. Die angehenden Fachpersonen betrachteten die Videovignetten auf ihrem Gerät (Laptop o. ä.) mittels Kopfhörer und notierten die offenen Antworten in einem Testheft (Itemprompt: Analysieren Sie die folgende Situation mit Blick auf frühe mathematische Bildung im Bereich MENGEN und ZAHLEN. Welche mathematischen Aspekte im Bereich MENGEN und ZAHLEN erkennen Sie in der Situation? Beschreiben Sie bis zu DREI Aspekte der Situation.). Zwischen den videobasierten Items konnten die Teilnehmenden eigenständig wechseln. Dabei wurde sichergestellt, dass jedes Video nur einmal abgespielt und die Videos immer in der gleichen Reihenfolge präsentiert wurden. Aufgrund technischer Probleme schauten zwei Klassen die Videos im Plenum und notierten ihre Antworten anschließend in ihre Testhefte.

Zur Vorbereitung der Prüfung der internen Struktur mittels konfirmatorischer Faktorenanalysen wurden die Items mit Hilfe deskriptiver Statistik inspiziert. Items mit besonders hohen bzw. niedrigen Lösungsquoten sowie Items mit geringer Varianz (hier: Standardabweichung kleiner als 0,4) weisen auf niedrige Trennschärfen hin und sollten daher ausgeschlossen werden.

Zur Prüfung der internen Struktur des Tests wurden konfirmatorische Faktorenanalysen mit dem Paket lavaan (Rosseel und Jorgensen 2019) der Software R durchgeführt. Es wurde davon ausgegangen, dass es sich bei der Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung um ein eindimensionales Konstrukt handelt, das durch einen Faktor modelliert werden kann. Als alternatives Modell wurde ein zweidimensionales Modell geprüft, das die Komplexität und Reichhaltigkeit der Videovignetten einbezieht. Da es sich bei der situativen Beobachtung und Wahrnehmung um einen gezielten Wahrnehmungsprozess handelt, kann angenommen werden, dass dieser in komplexeren Situationen nicht nur schwieriger ist, sondern durch andere Fähigkeiten, wie bspw. die Aufmerksamkeitsfokussierung mitbestimmt wird. Um zu überprüfen, ob in den Items auf Basis der komplexen Videosituationen dennoch die Fähigkeit der situativen Beobachtung und Wahrnehmung im Bereich Mathematik gemessen wird und nicht nur allgemeinere Wahrnehmungsfähigkeiten, wie bspw. Aufmerksamkeit in komplexen Situationen zu fokussieren, werden diese beiden Modelle gegenübergestellt. Anschließend wurde die Güte der Skala bzw. Skalen auf Basis der Klassischen Testtheorie beurteilt.

Zur Überprüfung der Zusammenhänge des Testwerts mit theoretisch verbundenen Konstrukten wurden zusätzlich Daten zum mathematikdidaktischen Wissen der Fachpersonen erfasst, da angenommen werden kann, dass das mathematikdidaktische Wissen mit der Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung zusammenhängt (vgl. Abschn. 3). Zur Erfassung des mathematikdidaktischen Wissens wurde der Test MPCKsit (Gasteiger et al. 2020) adaptiert. Der Test basiert auf vier Textvignetten, die typische Situationen im Kindergarten zum Zählen, geometrischen Mustern, Messen von Flüssigkeiten und der Mengenerfassung abbilden. Zu jeder Situation wird das Wissen frühpädagogischer Fachpersonen über die Entwicklung mathematischer Fähigkeiten mittels sechs bzw. sieben geschlossener Items erfasst. Die Hälfte der genutzten 22 Items erfasst Wissen im Inhaltsbereich Mengen und Zahlen. Die Items zeigen eine akzeptable Reliabilität von Cronbachs α = 0,655. Die Daten zum mathematikdidaktischen Wissen wurden mittels eines Online-Surveys im Klassenverband am selben Tag und vor den Daten zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung erhoben. Zwischen beiden Testteilen wurden andere Fragebögen (bspw. zum mathematischen Fachwissen) bearbeitet und eine Pause gemacht, um mögliche Effekte der Testreihenfolge zu vermeiden.

7.3.3 Ergebnisse

Zunächst wurden die neun Items mittels deskriptiver Analysen untersucht (Tab. 3). Da alle Items mindestens eine richtige, teilweise richtige und falsche Antwort enthielten, wurden alle Items in die Prüfung der internen Struktur des Tests mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse aufgenommen. Die Fit-Werte der beiden CFA Modelle sind in Tab. 4 gegenübergestellt.

Tab. 3 Deskriptive Item-Statistiken
Tab. 4 Model-Fit-Indizes der verglichenen Modelle

Die Indizes RMSEA, CFI und SRMR zeigen eine gute Passung beider Modelle zu den Daten. Dabei zeigt sich für beide Modelle, dass Item 8 jeweils nicht zufriedenstellend auf den Faktor lädt (standardisiertes λ = 0,125 bzw. λ = 0,127). Dieses Item wird daher ausgeschlossen, wodurch sich die Fit-Werte beider Modelle verbessern (Tab. 5). Mit Blick auf die deskriptiven Statistiken (Tab. 3) zeigt sich, dass der gemeinsame Faktor aus den Items zu den komplexeren Videovignetten (Faktor 2) im Vergleich zum Faktor 1 überwiegend Items mit niedrigen Lösungsquoten enthält. Dies weist darauf hin, dass komplexere Situationen höhere Ansprüche an die Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung stellen. Gleichzeitig unterscheidet sich die Passung der beiden Modelle nicht voneinander, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass in komplexeren Situationen andere Wahrnehmungsfähigkeiten gemessen werden. Da aus theoretischer Sicht ein Faktor, der die Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung in verschieden komplexen Situationen beschreibt, angemessen erscheint, wird dieses Modell bevorzugt. Die acht Items zeigen eine für ein videobasiertes Instrument akzeptable Reliabilität mit Cronbachs α = 0,685.

Tab. 5 Model-Fit-Indizes der verglichenen Modelle nach Item-Ausschluss

Zwischen dem Vimas_num Testwert zur Erfassung der situativen Beobachtung und Wahrnehmung und dem mathematikdidaktischen Wissen wurde ein signifikanter Zusammenhang mit kleinem Effekt ausgemacht (n = 342; r = 0,12; p = 0,034).

8 Diskussion

Frühe mathematische Bildung in natürlichen Lernsituationen erfordert von (angehenden) frühpädagogischen Fachpersonen die Fähigkeit, das mathematische Potenzial von Spiel- und Alltagssituationen zu erkennen (Gasteiger 2010; van Oers 2010). Dieser Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung wird eine Schlüsselrolle zur Gestaltung mathematischer Bildungsprozesse in der Kindertagesstätte zugeschrieben. In diesem Beitrag wurden das Testinstrument Vimas_num zur Erfassung der Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung bei angehenden frühpädagogischen Fachpersonen sowie zugehörige Validierungsbemühungen vorgestellt. Das finale Instrument Vimas_num besteht aus acht videobasierten Items, die verschiedene Alltagssituationen abbilden und unterschiedliche mathematische Aspekte aus dem Bereich Mengen und Zahlen enthalten.

Evidenzen für die Validität der Testwertinterpretation mit Bezug auf den Testinhalt wurden in zwei Studien gesammelt. Die erste Studie weist darauf hin, dass die Videovignetten zentrale mathematische Aspekte abbilden, die sowohl von praxiserfahrenen Fachkräften als auch von Studierenden ohne Praxiserfahrung aber mit vertieftem mathematikdidaktischem Wissen wahrgenommen werden. Kritisch muss angemerkt werden, dass diese Evidenzen bislang ohne Einbezug von Expert*innen erbracht wurden. Hier sollten weitere Validierungsstudien unternommen werden.

Ergänzend zeigen beide Studien zum Testinhalt, dass sowohl praxiserfahrene als auch angehende frühpädagogische Fachpersonen zwar verschiedene zentrale mathematische Aspekte der Videosituationen beschreiben und fachlich einordnen, dabei jedoch selten Fachsprache nutzen. Für das Testinstrument Vimas_num – aber auch zur Entwicklung anderer Instrumente für diese Zielgruppe – ergibt sich die Anforderung, auch diese nicht fachsprachlich gefassten Beschreibungen hinsichtlich der Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung zu bewerten. Diese Erkenntnis passt zu den theoretischen Überlegungen aus der Lehrer*innenprofessionsforschung, dass für professionelle Unterrichtswahrnehmung integrated knowledge (Seidel und Stürmer 2014) bzw. usable knowledge (Kersting et al. 2010) genutzt wird. Dabei kann deliberate pratice, also die reflektierte praktische Erfahrung, die professionelle Wahrnehmung unterstützen (bspw. Berliner 2001; Meschede et al. 2017), welche nicht zwangsläufig mit Fachsprache beschrieben werden muss.

Die Ergebnisse zeigen weiter, dass sich Unterschiede in der Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung zwischen angehenden frühpädagogischen Fachpersonen abbilden lassen. Da die angehenden frühpädagogischen Fachkräfte wenige formale Lerngelegenheiten zur frühen mathematischen Bildung aufweisen, aber bereits in der Ausbildung die Möglichkeit erhalten, praktische Erfahrungen zu sammeln und zu reflektieren (König et al. 2018), könnte dieses Ergebnis darauf hindeuten, dass es den Teilnehmenden unterschiedlich gelingt, durch praktische Erfahrung integrated knowledge (Seidel und Stürmer 2014) bzw. usable knowledge (Kersting et al. 2010) aufzubauen, um mathematische Aspekte in Alltagssituationen wahrzunehmen.

Die dritte Studie fokussierte Validitätsevidenzen bezüglich der internen Struktur des Testinstruments und den Zusammenhängen zu anderen, theoretisch verbundenen Konstrukten. Hinsichtlich der internen Struktur ließ sich die Annahme eines eindimensionalen Konstrukts stützen, wenngleich auch die zweidimensionale Struktur, die die Komplexität der Vignetten berücksichtigt, zu den Daten passt. Die gute Passung beider Modelle könnte darauf hinweisen, dass auch die Items auf Basis komplexerer Videosituationen die Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung im Bereich Mathematik und keine allgemeinere Wahrnehmungsfähigkeiten messen, die situative Beobachtung und Wahrnehmung in komplexeren Situationen jedoch anspruchsvoller ist – wie es sich auch in den Lösungshäufigkeiten der entsprechenden Items zeigt. Vergleiche zwischen Expert*innen und Noviz*innen in der Lehrer*innenprofessionsforschung stützen diese Annahme: Es wird davon ausgegangen, dass komplexe Situationen von Expert*innen gezielter wahrgenommen werden können, da ihr Wissen in kognitiven Schemata strukturiert ist (de Jong und Ferguson-Hessler 1996).

Die in unserer Studie untersuchten angehenden frühpädagogischen Fachpersonen haben zwar erste praktische Erfahrungen, inwieweit diese mit deklarativem Wissen zu kognitiven Schemata verbunden wurden, ist jedoch ungewiss. Die wenigen formalen Lerngelegenheiten insbesondere zum mathematikdidaktischen Wissen (Blömeke et al. 2017; Whyte et al. 2018) lassen vermuten, dass eine Form von Expert*innenwissen in dieser Stichprobe noch nicht verfügbar ist. Gestützt wird diese Vermutung durch die Betrachtung des ausgeschlossenen Items 8 ‚Perlen legen‘ (Studie 3, Abschn. 7.3). Verglichen mit den übrigen Items erfordert dieses Item fundiertes Wissen über Mengenerfassung (Tab. 2), um das mathematische Potenzial der Videosituation zu erfassen. Da angenommen werden kann, dass dieses Wissen nicht allen Teilnehmenden zur Verfügung steht, weist die niedrige Faktorladung dieses Items eventuell daraufhin, dass das Item eher zugrundeliegendes Wissen misst. Alternativ könnte die niedrige Faktorladung auch durch die Situation erklärt werden: Verglichen mit den übrigen Videosituationen sind in dieser Situation vermehrt irrelevante Hintergrundgeräusche zu hören.

Der signifikante Zusammenhang zwischen dem mathematikdidaktischen Wissen angehender frühpädagogischer Fachpersonen und ihrer Fähigkeit zur situativen Beobachtung und Wahrnehmung mit geringem Effekt deutet darauf hin, dass Vimas_num kein mathematikdidaktisches Wissen misst, sondern dass – passend zu den theoretischen Überlegungen – das Konstrukt über Wissen hinaus geht (s. a. Kersting et al. 2010; Seidel und Stürmer 2014). Dennoch überrascht der schwache Zusammenhang, da Dunekacke et al. (2016) mit einer vergleichbaren Stichprobe einen deutlich höheren Zusammenhang zwischen mathematikdidaktischem Wissen und Situationswahrnehmung finden (β = 0,60). Auch fachspezifische Studien zur Lehrer*innenprofessionsforschung finden teilweise stärkere Zusammenhänge zwischen Wissen und professioneller Unterrichtswahrnehmung (bspw. Kersting et al. 2010; Meschede et al. 2017). Passend zum Konstrukt der situativen Beobachtung und Wahrnehmung könnte der schwache Zusammenhang darauf hinweisen, dass stärker Aspekte der Wahrnehmung als der Beschreibung und Erklärung, die vermutlich eher Wissen voraussetzen, erfasst werden. Weitere mögliche Ursachen lägen nach Cronbach und Meehl (1955) in den theoretischen Annahmen zum Zusammenhang der Konstrukte und dem Studiendesign zur Untersuchung des Zusammenhangs. Da das Instrument MPCKsit ursprünglich für praxiserfahrene und nicht für angehende frühpädagogische Fachpersonen entwickelt wurde (Gasteiger et al. 2020), ist ein erster Erklärungsansatz für den schwachen Zusammenhang auch im Forschungsdesign zu finden. Zwar zeigen die Items in dieser Stichprobe eine vergleichbare Reliabilität zu der Originalstudie (Cronbachs α = 0,66; bei Gasteiger et al. 2020: Cronbachs α = 0,65), dennoch liegt kein Nachweis dafür vor, dass das Instrument das mathematikdidaktische Wissen angehender frühpädagogischer Fachpersonen valide erfasst. Ein alternativer Erklärungsansatz im Sinne der Annahmen zu theoretischen Zusammenhängen der Konstrukte wäre, dass die praktische Erfahrung der Teilnehmenden – im Sinne des integrated knowledge (Seidel und Stürmer 2014) bzw. usable knowledge (Kersting et al. 2010) – bedeutsam für den Zusammenhang zwischen Wissen und situativer Beobachtung und Wahrnehmung ist. Die Teilnehmenden dieser Studie haben zum einen nur wenige formale Lerngelegenheiten zur frühen mathematischen Bildung und zum anderen aufgrund verschiedener Ausbildungsformen unterschiedliche Lerngelegenheiten zur Reflexion praktischer Erfahrung. Es kann daher angenommen werden, dass einige Teilnehmende in der Bearbeitung von Vimas_num auf ihr in der Reflektion der Praxiserfahrung gewonnenes integriertes Wissen (Seidel und Stürmer 2014) zurückgreifen – dieses Wissen sich jedoch von deklarativem Wissen, das in Testinstrumenten erfasst wird, unterscheidet. Ähnliches wird auch im Bereich der professionellen Unterrichtswahrnehmung teilweise angenommen (König et al. 2014). Umgekehrt kann es Teilnehmende geben, die aufgrund bisheriger Lerngelegenheiten mathematikdidaktisches Wissen aufgebaut haben, dieses aber noch nicht genügend mit praktischer Erfahrung verknüpfen konnten, um das mathematische Potenzial der Videosituationen wahrzunehmen. Da die Praxiserfahrung jedoch nicht erhoben wurde, können diese Vermutungen in dieser Studie nicht überprüft werden. Gegen die fehlende Passung des Tests zur Messung des Konstrukts (Cronbach und Meehl 1955) sprechen Evidenzen in Bezug auf den Testinhalt und die interne Struktur. Dennoch bedarf das Instrument weiterer Prüfung, beispielsweise in Längsschnittstudien oder mit verschiedenen Stichproben, um diese Ursache ausschließen zu können.

Zusammenfassend zeigt sich, dass das vorgestellte Instrument Vimas_num – auch wenn weiterer Validierungsbedarf besteht – einen Beitrag zur empirischen Fundierung der Diskussion der Rolle der situativen Beobachtung und Wahrnehmung im Kompetenzgefüge angehender frühpädagogischer Fachpersonen leisten kann, da es den Einsatz in Studien zu Fragen nach notwendigen Kompetenzen (angehender) frühpädagogischer Fachpersonen zur Gestaltung früher mathematischer Bildungsprozesse ermöglicht.