1 Transformation in der Automobilindustrie: Die Ausgangslage bei der IAV

Die Transformation der Automobilindustrie ist bereits voll im Gange und wird vor allem durch vier große Herausforderungen in der Wirtschaft geprägt: die Digitalisierung, die Dekarbonisierung, die Deglobalisierung und die Demografie (Demary et al. 2021). Die derzeitige Situation in der Automobilindustrie ist seit geraumer Zeit durch Beidhändigkeit geprägt (Proff 2012). Das Alltagsgeschäft wird bei IAV als Entwicklungsdienstleister in der Automobilindustrie noch vom Verbrennungsmotor dominiert und ist außerordentlich profitabel. Gleichzeitig ist absehbar, dass dies nicht so bleiben wird und man sich auf die Zukunft der Elektromobilität vorbereiten muss, da hier aufgrund der geringeren Fertigungstiefe weniger Entwicklungen nötig sind. Aufgrund der Verschärfung der Klimaziele durch den Green Deal der EU-Kommission mit dem Ziel der Reduktion der Treibhausgasemissionen ist abzusehen, dass der Verbrennungsmotor nicht mehr zukunftsfähig ist und die Elektromobilität eine geeignete Alternative darstellt (Demary et al. 2021). Neue Geschäftsfelder müssen erschlossen werden, um die Anzahl der Mitarbeitenden in Deutschland halten zu können. Privatwirtschaftlich als Unternehmen heißt das, in neue Technologien und Geschäftsmodelle sowie in Qualifizierung und Ausbildung zu investieren. Trotz der demografischer Schrumpfung wettbewerbsfähig zu bleiben, erfordert den Aufbau von Kompetenzen bei Mitarbeitenden (Weber und Kauffeld 2022).

Durch den technologischen Wandel in der Automobilindustrie, sprich die Digitalisierung in der Produktion und bei dem Produkt Fahrzeug selbst, sind unter anderem im Antriebsbereich von IAV unmittelbar 1500 Mitarbeitende von Veränderungen im Rahmen der Transformation betroffen und müssen aus ihren jeweiligen vom Abbau gefährdeten Rollen (fortfolgend Rollen, die perspektivisch reduziert werden/zu qualifizierende Rollen) in zukünftig zunehmend relevante Rollen (fortfolgend zukunftsfähige Funktionsrollen) umqualifiziert werden. Die Transformation der Mitarbeitenden bildet bei IAV eine Säule der unternehmerischen Neuausrichtung vom Premium Entwicklungsdienstleister zum Tech Solution Provider (neue Technologien weiterentwickeln). Bereits 2018 wurden erste Transformationsmaßnahmen (Transformation 1.0) bei der IAV eingeführt und Mitarbeitende aus Rollen, die reduziert werden sollten, wurden ohne strategisch entwickelte Qualifizierungsprogramme in andere Bereiche und in andere Rollen versetzt. Die ersten Transformationsversuche bei IAV im Jahr 2018 haben in Umfragen und Stimmungsabfragen wenig Anerkennung bei den Mitarbeitenden gefunden und waren eher negativ behaftet. Die Erkenntnis war und ist, dass eine angeordnete Transformation, in der Mitarbeitende in einem top-down Prozess in andere Bereiche versetzt wurden, nicht funktioniert. Damals hatte IAV sich noch nicht mit den zukunftsfähigen Funktionsrollen auseinandergesetzt, keine strategischen Bedarfsanalysen durchgeführt und mögliche Qualifizierungspfade identifiziert.

Durch die Brisanz des Wandels und dem Wunsch der Mitarbeitenden nach mehr Transparenz und Mitbestimmung wurde 2022 ein neues Transformationskonzept entwickelt (fortfolgend Transformation 2.0 bei IAV). Bislang werden 60 Mitarbeitende im Rahmen des neuen Programms qualifiziert. Neben Kommunikation und Transparenz sowie Freiwilligkeit und Passung der Mitarbeitenden wird die Sicherung der Arbeitsplätze in den Fokus gestellt.

1.1 Transformation 2.0 bei der IAV

Was genau zeichnet die Transformation 2.0 bei IAV aus? IAV muss in den nächsten 5 Jahren zahlreiche Mitarbeitende von zu qualifizierenden Funktionsrollen (z. B. KFZ-Mechatroniker/in) in zukunftsfähige Funktionsrollen (z. B. Systems Engineer) umqualifizieren, um diese wertschöpfend einsetzen zu können. Um alle Veränderungs-Initiativen des Unternehmens zielführend miteinander zu synchronisieren und die Mitarbeitenden auf dem Weg zum Tech Solution Provider bestmöglich zu begleiten, wurde bei IAV das Projekt Change@IAV ins Leben gerufen. Das Change-Team gibt wertvolle Impulse, befähigt die Mitarbeitenden für Veränderung und ist dabei in einem intensiven Dialog mit allen Stakeholdern des Unternehmens. Ein Kernteam, bestehend aus sechs festen Mitarbeitenden der Bereiche HR-Talent, Recruiting, Betreuung – Betriebsrat, Controlling, Technik und Strategie und Kommunikation, wurde zusammengestellt, um sich federführend mit der Transformation und den damit verbundenen Qualifizierungsmaßnahmen, die ursprünglich von der Personalabteilung aufgesetzt wurden, zu beschäftigen. Dadurch haben Mitarbeitende, Führungskräfte und das Management immer eine zentrale Anlaufstelle für alle Fragen, Anregungen und Befürchtungen im Rahmen der Transformation. Dazu kommt die Dringlichkeit der Situation und somit die Anforderung, dass das Qualifizierungsprogramm schnell entwickelt und etabliert werden muss. Das Kernteam wird 1–2 Mal wöchentlich in gemeinsamen Treffen durch Experten aus Bereichen wie z. B. Marketing oder Technik ergänzt und unterstützt. Um den fachlichen Anforderungen in den einzelnen Bausteinen der Qualifizierungsmaßnahmen gerecht zu werden, ist die HR-Abteilung auf die Erfahrungswerte aus der Technik angewiesen.

Eine Führungskoalition im Transformationsprozess, sprich ein Team von Mitgliedern aus verschiedenen Bereichen und hierarchischen Ebenen eines Unternehmens, ermöglicht es, die verschiedenen Blickwinkel zu synchronisieren und neue Ideen umzusetzen (Kotter 2018). Unterschiedliche fachliche Hintergründe in einem Team führen zu verschiedenen Perspektiven und dadurch zu mehr Kreativität (engl. Information and Cognitive Resource – Variety; Harrison und Klein 2007). Metaanalytisch konnte bestätigt werden, dass unterschiedliche fachliche Expertisen sich positiv auf die Leistungen von Teams auswirken (Bell et al. 2011). Das Kernteam bei IAV kommt den gestellten Anforderungen nach und ist ein fachlich und hierarchisch unterschiedlich besetztes Team, das von den unterschiedlichen Blickwinkeln profitiert.

Entwicklungen im Konzern, die in personellen Veränderungen resultieren könnten, werden transparent dargelegt. Es wird kommuniziert, dass es einige Stellen in der Form und Anzahl wie es sie heute gibt, nicht mehr geben wird und eine Weiter- oder Umqualifizierung zwingend nötig ist. Lebensbegleitendes Lernen steht im Fokus der Weiterbildungsstrategie. Studien belegen, dass Kommunikation und Transparenz, also die Offenheit des Unternehmens, Informationen mit Stakeholdern zu teilen, zu Vertrauen führen (Parris et al. 2016). Auch die Freiwilligkeit, also die wahrgenommene Autonomie von Mitarbeitenden in der Transformation, ist essentiell, um Wachstum zu fördern (Kauffeld et al. 2019). Autonomie hat außerdem einen positiven Zusammenhang mit der Person-Organisations-Passung der Mitarbeitenden, die besonders wichtig ist bei organisationalen Veränderungen (Molter et al. 2008). Durch vorrausschauende Planung und interne Bewerbungsverfahren wird versucht, mit dem Mitarbeitenden gemeinsam einen idealen Person-Qualifizierungs-Fit zu finden und dadurch perspektivisch einen guten Person-Job-Fit. Eine optimale Paarung zwischen Qualifizierung und Funktion im Unternehmen führt zu höherer Gewissenhaftigkeit und mehr praktischen Kenntnissen, die wiederum mit höherer Leistung im Job korrelieren (Boselie 2014). Auch die allgemeine geistige Leistungsfähigkeit (eng. General Mental Ability, GMA) ist höher, wenn die Anforderungen im Beruf und die Eigenschaften einer Person einen hohen Passungsgrad haben (Schmidt und Hunter 1998). Die genannten Faktoren finden sich alle im Rahmenmodell der individuellen Veränderungsbereitschaft von Mitarbeitenden wieder, also die Aufgeschlossenheit für Neues und sich aktiv am Wandel zu beteiligen (Köhler und Kauffeld, in Vorbereitung).

Darüber hinaus wurde im Tarifabschluss eine Beschäftigungssicherung für alle Mitarbeitenden bis 2024 vereinbart. Der Lenkungsausschuss wird von den Tarifparteien paritätisch besetzt und tagt zweimal jährlich mit dem Ziel, Beschäftigte gezielt auf Zukunftsthemen zu qualifizieren. Der Steuerkreis, von den Betriebsparteien paritätisch von Vertretern der Arbeitnehmer und des Arbeitgebers besetzt, steuert die operative Umsetzung der Qualifizierungsmaßnahme und informiert den Lenkungsausschuss zweimal jährlich über den Stand der operativen Umsetzung. Die Rolle von distributiver, prozeduraler und interaktionaler Gerechtigkeit ist ein häufig untersuchtes Phänomen und beeinflusst die Akzeptanz von Veränderungsprozessen und Loyalität (Kauffeld et al. 2019; Bernerth et al. 2007). Eine Meta-Analyse zeigt, dass die Unsicherheit des Arbeitsplatzes mit weniger Leistung, Zufriedenheit, Engagement und Hingabe im Job korreliert (Jiang und Lavaysse 2018).

2 Qualifizierung am Arbeitsplatz

2.1 Portfolio Management und Funktionsrollen

Die Ambidextrie in der Automobilindustrie, sprich die Profitabilität des Geschäfts mit Verbrennungsmotoren und gleichzeitig die erforderliche Ausrichtung auf die Zukunft der Elektromobilität, wird auch im Portfolio Management der IAV deutlich, die in Abb. 1 veranschaulicht ist. Das Portfolio (vgl. auch Henderson, 1970) wird als Basis für die Strategieentwicklung im Transformationsprozess genutzt. Einerseits wird die Frage beantwortet, welches Potenzial die IAV für Verschiedene ihrer Produkte am Markt sieht (vgl. Abb. 1, y‑Achse) – dies kann entweder als schrumpfend oder als wachsend ausgewiesen werden. Andererseits wird der Frage nachgegangen, wie IAV strategisch auf Potenziale reagieren will und dabei wird zwischen hoher und niedriger Priorität unterschieden (vgl. Abb. 1, x‑Achse). Zwei verschiedene Szenarien werden in Bezug auf die Zukunft betrachtet. Im „Sunrise“-Szenario kommen Marktwachstum und hohes strategisches Potenzial zusammen. „Original Equipment Manufacturers“ (OEMs), also Fahrzeughersteller, sind in diesem Szenario „software-driven companies“ und Software- und Datenexperten werden immer gefragter (Abb. 1), das heißt, hier werden zukunftsfähige Funktionsrollen entstehen. Im „Sunset“-Szenario schrumpft der Markt und bietet Raum für strategisches Potenzial. Der Rückgang des Verbrennungsmotors führt zum Rückgang von der Hardwareentwicklung beim Verbrenner und Softwareentwicklung bei der Motorsteuerung (Abb. 1). Damit muss zum einen Software- und Datenexpertise aufgebaut werden, was sich in Rollen wie Systems Engineers, Softwareentwicklern (Fronted, App, Embedded) oder Data Scientists, Data Analysts, Toolentwicklern und Funktionsentwicklern manifestiert, zum anderen werden hingegen Konstrukteure und Simulationsingenieure sowie Versuchsingenieure und Prüfstandfahrer in Zukunft weniger gefragt sein (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Portfolio Management bei IAV, angelehnt an die BCG-Matrix (vgl. Henderson 1970; Quelle: IAV)

Anhand des Portfolio Managements konnten so zu qualifizierende Funktionsrollen und zukunftsweisende Funktionsrollen identifiziert und quantifiziert werden (Abb. 2). Die Zahlen beziehen sich auf den Zeithorizont bis 2024. Die Ist-Zahlen geben Auskunft über die aktuelle Anzahl an Mitarbeitenden in den Funktionen (d. h. Wie viele Ingenieure gibt es zu dem Zeitpunkt? Ausgangszeitpunkt: Juli 2022; Aktueller Stand: September 2022) und die Ziel-Zahlen identifizieren die in Zukunft gebrauchte Anzahl an Mitarbeitenden in den Funktionen. Diese Zahlen wurde aus der Unternehmensstrategie ermittelt, indem zunächst die Marktpotentiale eingeschätzt und anschließend um den entsprechenden Bedarf an Mitarbeitenden in einem iterativen Prozess ergänzt wurden.

Abb. 2
figure 2

Zu qualifizierende Funktionsrollen und zukunftsweisende Funktionsrollen bei IAV bis 2024; vorl. POM vorläufiger Portfolio Management Prozess (Quelle: IAV)

2.2 Transformationsprozess

Um von den Ist-Zahlen (d. h. Mitarbeitende in der Funktion zum jetzigen Stand) zu den Ziel-Zahlen (d. h. die in Zukunft gebrauchte Anzahl an Mitarbeitenden in der Funktion) zu kommen, wurde ein Transformationsprozess entwickelt. Der Transformationsprozess bei IAV wurde in fünf Schritten angelegt. Im ersten Schritt, der Analyse, wird auf Basis des Portfolio Management Prozesses der zukünftige Personalbedarf (hier bis 2024) und daraus der Recruiting‑, Transformations- und Qualifizierungsbedarf ermittelt. Ergänzend wurde eine Funktionsrollenabfrage verwendet. Eine Funktionsrollenabfrage bezeichnet die Abfrage innerhalb der Fachbereiche von IAV, welche Funktionsrollen in welcher Anzahl benötigt werden, d. h. wie viele Mitarbeitende sollen eine bestimmte Rolle zum Stichtag x haben. Die Bedarfsanalyse ist der erste Schritt in der systematischen Personalentwicklung und zeigt die Soll-Ist Differenz zwischen dem tatsächlichen (Ist‑)Zustand und dem gewünschten (Soll‑)Zustand (Becker 2010).

Im zweiten Schritt, der Kommunikation, wird eine unternehmensweite Kampagne eingeleitet. Transparenz ist hier zentral, allgemeine Informationen gehen an alle Mitarbeitenden und für die Betroffenen in Rollen, die im „sunset szenario“ identifiziert wurden, gibt es zudem spezifische Ansprachen. Es gibt Gesprächsangebote und Job-Cafés, bei denen stellenausschreibende Führungskräfte offene Positionen vorstellen, wobei die Anforderungen an den internen Bewerbermarkt angepasst werden.

Der dritte Schritt ist zweiteilig, das heißt er besteht zuerst aus der Bewerbung und dann einem zweistufigen Beratungsgespräch. IAV bietet als Transformationspfad den internen Arbeitsmarkt oder den internen Qualifizierungsmarkt an. Sowohl für den internen Arbeitsmarkt als auch für den internen Qualifizierungsmarkt können sich Mitarbeitende über SuccessFactors (SF; cloudbasierte Softwarelösung für alle Aufgabenbereiche der Personalabteilung) bewerben. Die smartPeople Plattform (Plattform für Skill-Management) dient dazu, dass Mitarbeitende ihre eigenen Kompetenzen eintragen und pflegen und ihnen dann offene Positionen vorgeschlagen werden, die einen hohen Passungsgrad mit ihren Kompetenzen haben. Nach erfolgter Bewerbung werden die interessierten Mitarbeitenden zu einem zweistufigen Beratungsgespräch eingeladen. Alle interessierten Mitarbeitenden erhalten ein Qualifizierungsangebot, unabhängig von ihrem Transformationsstatus (d. h. alle Mitarbeitenden, unabhängig davon, ob sie in einer abzubauenden Funktionsrolle sind oder nicht). Die Basis der Beratung bildet eine Qualifizierungsmatrix, welche aufzeigt, wie groß der Qualifizierungsaufwand bei der Entwicklung aus einer abzubauenden Funktionsrolle in eine zukunftsfähige Funktionsrolle ist. Dabei werden der voraussichtliche zeitliche Aufwand und die Voraussetzungen, welche an die jeweilige Rolle geknüpft sind, ersichtlich. Am Ende der Bewerbung/des Auswahlverfahrens wird ein Weiterbildungsplan für jeden einzelnen Mitarbeitenden festgelegt. Die Basis der Weiterbildungspläne bilden die internen Qualifizierungsprogramme, welche für alle Zukunftsfunktionsrollen zusammengestellt wurden und immer aus einem Grundbaustein, einem Praktikum und einem Aufbaubaustein bestehen (siehe Tab. 1). Individuell können die Qualifizierungspfade auf eine Rolle durchaus unterschiedliche aussehen in Abhängigkeit von der Rolle, die verlassen wird und den individuellen Kompetenzen (vgl. Kauffeld und Paulsen 2018).

Tab. 1 Bausteine der Qualifizierungsmaßnahmen bei IAV

Im vierten Schritt, der Qualifizierungsmaßnahme, wird die festgelegte Qualifizierungsmaßnahme durchgeführt. Diese dauert je nach Distanz zwischen der aktuellen und der zukünftigen Funktionsrolle ein bis drei Jahre und wird neben den aktuellen Tätigkeiten durchgeführt. Alle Qualifizierungsprogramme sind so aufgebaut, dass sie innerhalb der Arbeitszeit und neben laufenden Projekten absolviert werden können. Das Qualifizierungsprogramm kann intern, extern, on-the-job, off-the-job und in Mischformen stattfinden (Becker 2010). Dabei ist es wichtig, die individuellen Unterschiede der Mitarbeitenden zu berücksichtigen, d. h. Störereignisse zu erkennen und auf unterschiedliche Ziele oder persönliche Präferenzen und Voraussetzungen Rücksicht zu nehmen (Becker 2010).

Der fünfte Schritt ist dann der Funktionsrollenwechsel.

Jedes Qualifizierungsprogramm besteht aus Grundbausteinen, einem Praktikum und Aufbaubausteinen (Abb. 4; Tab. 1). Bei der Qualifizierung zum Software Entwickler gibt es zusätzlich noch ein sogenanntes Bootcamp, um Programmierkenntnisse zu vertiefen (Tab. 1). Das Praktikum dient der Kompetenzentwicklung, da Wissen alleine nicht ausreicht, um eine Kompetenz zu erlangen, auch Erfahrung spielt hier eine Rolle (Kauffeld und Paulsen 2018). Die Motivation, Wissen anzuwenden gepaart mit der Möglichkeit der Anwendung von Wissen, führt zum Handeln. Ist das Handeln erfolgreich, dann handelt es sich um eine Kompetenz (North 2002).

Am Ende eines Qualifizierungsprogramms erhalten Mitarbeitende ein Zertifikat. Es gibt keine Rückzahlungsvereinbarung (der Mitarbeitende würde verpflichtet werden, finanzielle Leistungen an den Arbeitgeber zurückzuzahlen, wenn das Arbeitsverhältnis beendet wird), die Qualifizierung findet über einen psychologischen Vertrag statt, sprich das Vertrauen, dass Mitarbeitende ihre neu erlernten Kompetenzen firmenintern nutzen. Dadurch, dass Tätigkeiten in der Zukunft immer spezialisierter werden, wird die individuelle Gestaltung von Qualifizierungsmaßnahmen (z. B. durch verschiedene Bausteine) immer wichtiger (Herrmann et al. 2020).

Beispiel Qualifizierung Systems Engineer

Die Umqualifizierung zum Systems Engineer, im Wesentlichen die Schnittstelle zwischen Mechanik, Elektrik und Informatik mit Fokus auf den Kunden (Huth und Vietor 2020) funktioniert durch verschiedene Bausteine, die dann zur Einarbeitung in dem jeweiligen Bereich führen (siehe Abb. 3 und Tab. 2).

Abb. 3
figure 3

Beispiel Bausteine bei der Umqualifizierung zum Systems Engineer (Quelle: IAV)

Tab. 2 Erläuterung Bausteine bei der Umqualifizierung zum System Engineer

Die einzelnen Bausteine bauen aufeinander auf und machen es möglich, sich innerhalb des Konzerns immer weiter zu qualifizieren. Eine Qualifizierungsmatrix veranschaulicht abhängig von den individuellen Voraussetzungen den zeitlichen und inhaltlichen Umfang einer Umqualifizierung, (Abb. 4). Prinzipiell sind Qualifizierungen von grünen Bereichen (Qualifizierung < 12 Monate) zu roten Bereichen (Qualifizierung < 36 Monate) nicht empfohlen, aber dennoch im Rahmen einer Kettenqualifizierung möglich.

Abb. 4
figure 4

Qualifizierungsmatrix bei IAV (Quelle: IAV)

Exkursbox: Rechenbeispiel Qualifizierung zum Software Entwickler

Am Beispiel eines Software Entwicklers wurden die Kosten einer Umqualifizierung von 1500 Mitarbeitenden abgeschätzt. Die Qualifizierungskosten setzen sich aus den Stundenkosten der Mitarbeitenden für die Qualifizierungsbausteine inklusive des internen Praktikums zur Festigung des angeeigneten Wissens sowie den Sachkosten für die Qualifizierung zusammen. Sachkosten sind die reinen Trainingskosten von externen Anbietern. Die Stundenkosten betragen im Durchschnitt 90 € pro Mitarbeitenden. Abhängig vom Zeitaufwand des Qualifizierungsprogramms variieren die Gesamtkosten stark. Die Qualifizierung zum Software Entwickler stellt das zeitlich umfangreichste Qualifizierungsprogramm dar. Würden alle umzuqualifizierenden 1500 Mitarbeitenden die Qualifizierung zum Software Entwickler absolvieren, so würden Kosten in Höhe von 185,5 Mio. € verursacht. Für das Qualifizierungsprogramm werden bis zu 66,5 Mio. € geplant bzw., wenn man die Stundenaufwendungen für Praktika mitrechnet, bis zu 222,7 Mio. € (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Qualifizierung Software Entwickler (längstes Qualifizierungsprogramm), Bootcamp Erklärung: siehe Tab. 1, Bausteine der Qualifizierungsmaßnahmen bei IAV, 1483 h entsprechen Stundenkosten in Höhe von 133,5 T€ bei einem durchschnittlichen Stundensatz von 90 € (Quelle IAV)

Im letzten Schritt 5 findet der Funktionsrollenwechsel statt. Ziel ist es, dass die qualifizierten Mitarbeitenden zeitnah nach Abschluss der Qualifizierungsmaßnahme in einer neuen Aufgabe tätig werden, dies kann sowohl innerhalb der eigenen Organisationseinheit erfolgen als auch mit einem internen Wechsel verbunden sein.

3 Reflexion und Fazit

Die Automobilindustrie befindet sich im großen Umbruch. Veränderte und neue Produktportfolio der Automobilhersteller erfordern Veränderungen in der gesamten Wertschöpfungskette und auch Zulieferer brauchen neue Produkte und neue Produktentstehungsprozesse. Nicht nur die vier großen D’s (Digitalisierung, Dekarbonisierung, Deglobalisierung und Demographie) zwingen Unternehmen in der Automobilindustrie zum Umdenken (Demary et al. 2021). Mitarbeitende müssen jahrzehntelange Tätigkeiten aufgeben und neue Aufgaben übernehmen. Daher ist auch die Transformation von Mitarbeitenden notwendig. Wichtig ist dabei einer Entwertung und fehlender Anerkennung der Mitarbeitenden vorzubeugen und die Veränderungsbereitschaft zu kräftigen. Die Transformationsstrategie von IAV zeichnet sich dadurch aus, dass sie strategisch aufgebaut ist, auf Qualifizierung fußt und freiwillig ist. Der Transformationsprozess 1.0 war aufgrund der Zuordnung von Mitarbeitenden in andere Bereiche und Funktionsrollen nicht erfolgreich. Eine top-down Transformation erlaubt in kurzer Zeit größere Bewegungen von Mitarbeitenden im Unternehmen, allerdings auf Kosten der Motivation und Leistung der Mitarbeitenden. Die Interaktion von den psychologischen Grundbedürfnissen Autonomie, Kompetenz und Soziale Einbindung haben Einfluss auf den wahrgenommenen Grad der Selbstbestimmtheit einer Handlung (Selbstbestimmungstheorie, SDT; Ryan und Deci 2002, 2017). Das Resultat war, dass die Transformation bei Mitarbeitenden und Führungskräften sehr negativ behaftet war. Offen bleibt, ob es unterschiedliche Veränderungstypen gibt, die unterschiedliche Unterstützung in der Transformation brauchen?

Die Transformation 2.0 der IAV ist durch strategische Personalplanung geprägt. Wie eingangs beschrieben, ist das Geschäft mit Verbrennern nach wie vor profitabel und füllt die Auftragsbücher, das heißt, es bedarf einer strategischen Planung, das Alltagsgeschäft zu bewältigen und Mitarbeitende gleichzeitig für den zukünftigen Personalbedarf zu qualifizieren. Konkret heißt das, Mitarbeitende werden parallel zu ihrer aktuellen Tätigkeit qualifiziert. Wie man Personal- und Organisationsentwicklung verknüpft, wenn das Standardgeschäft (Verbrennergeschäft) noch profitabel ist und zur gleichen Zeit eine Qualifizierung für die Zukunft stattfinden muss, steht bislang aus. Durch die auf Qualifizierung basierende Transformation können individuelle Weiterbildungspläne erstellt werden und die Entwicklung von Kompetenzen in diversen Formaten gefördert werden (siehe auch Kauffeld und Paulsen 2018; Kauffeld, in Druck). Mitarbeitende werden zu Ausschreibungen, Qualifizierungen und Zeitpunkt der Maßnahme auf Basis individueller Kompetenzen und der Qualifizierungsmatrix beraten und bestimmen selbst die Zielfunktionsrolle und den Zeitpunkt der Transformation. Welche Transformationsmodelle braucht es jedoch konkret, um die Transformation erfolgreich zu gestalten? Wie kann man Mitarbeitende auf dem Weg mitnehmen und die Veränderungsbereitschaft stärken?

Um Veränderungsprozesse erfolgreich zu gestalten, muss die Motivation der Mitarbeitenden gefördert werden, Widerstände gilt es zu erkennen. Veränderungen sind mit Aufwand und dem Verlust des Gewohnten verbunden, können jedoch durch Kompetenzzuwachs und Wissensvermittlung erleichtert werden (Kauffeld und Berg 2022). Die Transformation 2.0 bei IAV hat gezeigt, dass der größte Erfolg erzielt wird, wenn Mitarbeitende ihre Autonomie behalten können und Wege und Möglichkeiten in der Transformation kennen, sich bewusst machen und anschließend selbst für einen Weg entscheiden (vgl. Selbstbestimmungstheorie, SDT; Ryan und Deci 2002, 2017). Der Erfolg der Transformation 2.0 wird regelmäßig durch Befragungen, bisher erfolgreich gestaltete Qualifizierungen und der gefühlten Wahrnehmung in der Organisation gemessen und evaluiert. Die IG Metall und die IAV haben sich auf eine im Tarifvertrag gesicherte Beschäftigungssicherung geeinigt und wollen mit den Beschäftigten gemeinsam IAV neu erfinden – der Weg zur Softwareorientierung und Elektromobilität wird beschleunigt.

Betriebe können sich durch das Qualifizierungschancengesetz und das „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ Weiterbildung fördern lassen und seit Oktober 2020 können ebenfalls Beschäftige, unabhängig von ihrer Qualifikation, ihrem Lebensalter oder der Betriebsgröße eine Förderung erhalten. Die Angebote werden bislang nicht ausgeschöpft, da die administrativen Hürden als zu hoch erlebt werden (Klaus et al. 2020). Außerdem kennen viele Betriebe die Förderinstrumente der Agenturen für Arbeit nicht (Kruppe et al. 2021). Die Frage, die sich stellt, ist, wie man den Bekanntheitsgrad der Weiterbildungsförderung erhöhen kann? Auch die IAV würde ihre Qualifizierungsprogramme gerne förderbar machen, aber die rechtlichen Fördervoraussetzungen, beispielsweise, dass die Maßnahme und der Träger zertifiziert sein müssen, erhöht die Schwierigkeit, Förderungen zu nutzen. Zusätzlich müssen die geförderten Programme nach dem „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ mindestens 120 Unterrichtseinheiten umfassen, was bei vielen der Trainings bei IAV nicht der Fall ist. Hintergrund ist, dass der Gesetzgeber ausschließen will, dass kürzere Weiterbildungen, die allein betrieblichen Interessen dienen könnten, öffentlich subventioniert werden (Biermeier et al. 2023). Fazit ist, um eine Transformation im größeren Stil zu schaffen, sind mehrere Akteure notwendig. Das ist nicht immer einfach und erfordert viel Kommunikation und Transparenz.