1 Einleitung

Der Übergang zwischen sekundärer und tertiärer Bildung gilt in Bezug auf die Mathematik als äußerst problematisch [21]. Dies betrifft sowohl ein mathematisches Fachstudium als auch Studiengänge, in denen Mathematik als „Servicefach“ behandelt wird [11]. Zentrales Symptom der Übergangsproblematik ist eine überdurchschnittlich hohe Studienabbruchquote. Für ein Mathematikstudium liegt diese bei 54 % [25, S. 6] und ist damit die höchste aller Fächer, während sie beispielsweise für das ebenfalls mathematikhaltige Studium der Wirtschaftswissenschaften nur bei 27 % liegt. Es ist zu vermuten, dass diese großen Unterschiede bei den Abbruchquoten zwischen den Studiengängen nicht zuletzt auf den Charakter der in der Studieneingangsphase vermittelten Mathematik zurückzuführen sind [28]. Indiz ist die von Dieter [13] für das Studienfach Mathematik berechnete Schwundquote zwischen erstem und drittem Semester, die durchschnittlich 35 % beträgt. In diesem Artikel soll daher vordergründig die Übergangsproblematik des Fachstudiums Mathematik betrachtet werden. Aufgrund der Tatsache, dass in der Studieneingangsphase Fachstudierende meist mit Studierenden des gymnasialen Lehramts gemeinsam die Lehrveranstaltungen besuchen [3], sind die folgenden Ausführungen auch für Lehramtsstudierende gültig.

Neben einigen einleitenden Ausführungen zu inhaltlichen und organisatorischen Charakteristika von Hochschulmathematik im Vergleich mit der Schulmathematik werden im Artikel die Aufgaben an Schule und Hochschule in den Fokus der Betrachtungen gestellt. Ziel soll es sein, kognitive Gestaltungsmerkmale von Übungsaufgaben zur Analysis I herauszuarbeiten. Dafür wird in Kapitel 2 zunächst die Definition und Funktion von Aufgaben beleuchtet, bevor auf vorhandene empirische Studien zu Aufgaben sowohl aus der Schulmathematik als auch aus der Hochschulmathematik eingegangen wird. Im Anschluss wird das für die Untersuchung verwendete Konzept der Wissenseinheiten nach Neubrand [48] vorgestellt. Aus diesen theoretischen Betrachtungen werden dann die Untersuchungsfragen (Kapitel 4) abgeleitet und die methodische Herangehensweise an die Untersuchung erläutert (Kapitel 5). Abschließend erfolgen eine Darstellung und Diskussion der gewonnenen Ergebnisse (Kapitel 6 und 7), um die eingangs formulierten Fragen beantworten zu können.

2 Charakteristika von Schul- und Hochschulmathematik

2.1 Fachlicher Charakter von Schul- und Hochschulmathematik

Kern der Hochschulmathematik ist ihr Selbstverständnis als beweisende Disziplin [24]. Dies zeigt sich durch die Darbietung akademischer Mathematik in der Trias aus Definition-Satz-Beweis [14, 61]. Ausgehend von einer Menge von Grundannahmen, den Axiomen, werden mathematische Strukturen definiert. Somit werden Begriffe der Hochschulmathematik im Gegensatz zur Schulmathematik nicht anhand von sinnlichen Wahrnehmungen konstituiert, sondern durch die Angabe charakterisierender Eigenschaften [41, 61, 62] und über symbolische Repräsentationen zugänglich gemacht. Formale Aussagen über definierte Objekte, die nicht als Axiome festgelegt sind und den syntaktischen Grundsätzen der mathematischen Formelsprache genügen, werden als Sätze bezeichnet. Ein deduktiver Pfad, der nur die Axiome und bereits bewiesene Aussagen nutzt und den Wahrheitsgehalt eines Satzes feststellt, ist dessen Beweis bzw. dessen Widerlegung. Zu den Funktionen des Beweisens gehört das Verifizieren einer Aussage, das Erklären warum diese gilt, das Systematisieren im Sinne des Einordnens in das System gesicherten Wissens, das Entdecken neuer Aussagen, sowie das Kommunizieren der Ergebnisse [12, S. 18]. Für den Kontext dieser Arbeit sind vor allem die Verifikations- und Systematisierungsfunkion des Beweisens im Hochschulkontext von Bedeutung, da diese eine objektive Unterscheidung zwischen bewiesenen und somit nutzbaren Wissensbestandteilen und nicht einsetzbarem Wissen ermöglicht (vgl. 5). Dies stellt einen wesentlichen Kontrast zum Beweisen in der Schulmathematik dar. Hier dürfen, im Sinne eines lokalen Ordnens [19, S. 142], anschaulich evidente Fakten bzw. Eigenschaften von Begriffen, die man „mit dem bloßen Auge sieht“ [ebd.] genutzt werden. Eine intuitive Begriffsverwendung wird daher im Rahmen des Beweisens in der Schulmathematik zugelassen. Darüber hinaus spielt das Beweisen in der Schulmathematik eine untergeordnete Rolle. Zwar legen die Bildungsstandards [35] normativ fest, dass das mathematische Argumentieren eine der sechs prozessbezogenen Kompetenzen ist, die der Mathematikunterricht vermitteln soll, die diesbezügliche Steuerungswirkung der Bildungsstandards ist aufgrund der mangelnden Implementierung dieser Forderung jedoch eher unzureichend (vgl. Kap. 2.2).

Statt den kognitiv anspruchsvollen Tätigkeiten des Argumentierens, Problemlösens oder Modellierens rückt im Mathematikunterricht oft das Einüben und Abarbeiten von Algorithmen in den Vordergrund, wobei deren inhaltliche Bedeutung vielfach nicht ausreichend thematisiert wird [52, 65]. Vor allem in der Studieneingangsphase erwerben auch Studierende eine Vielzahl technischer Fertigkeiten. Das Erlernen solcher technischer Fertigkeiten steht im Mathematikstudium aber nicht im Vordergrund. So soll die Studieneingangsphase nicht als „Anhäufung von Faktenwissen“ [33, S. 31] oder Prozeduren dienen, sondern zu kognitiv anspruchsvollen Tätigkeiten befähigen. Dementsprechend legt die Rahmenordnung des Diplomstudiengangs MathematikFootnote 1 „das Erlernen präzisen Argumentierens […] sowie der Fähigkeit zum Problemlösen“ [ebd.] als zentrale Ziele des Grundstudiums fest. Eine Anwendung der erworbenen Kenntnisse auf realitätsbezogene bzw. alltägliche Probleme wird in der Rahmenordnung des Diplomstudiengangs hingegen nicht thematisiert. Grundsätzlich scheint der Begriff „Anwendung“ im fachmathematischen Diskurs in Bezug auf eine innermathematische Begriffsvernetzung genutzt zu werden [2, S. 132], die als weiteres Ziel der Hochschulmathematik formuliert werden kann.

2.2 Organisation der Lehr-Lern-Prozesse in der Studieneingangsphase

Die Umsetzung der genannten Ziele der mathematischen Hochschulausbildung erfolgt im Lehrangebot der Module der Studieneingangsphase sowie im Selbststudium. Traditionell gliedert sich dieses Lehrangebot in Vorlesungen und Übungen. Zusätzlich werden meist wöchentlich Übungsaufgaben gestellt, die leitend auf den Lernprozess im Selbststudium wirken. Die Vorlesungen in der Studieneingangsphase werden oftmals von über 200 Studierenden besucht [4]. Diese organisatorische Besonderheit hat als Konsequenz, dass die Möglichkeit, Fragen zu Vorlesungsinhalten zu stellen, oft ungenutzt bleibt und das Mitschreiben der von den Lehrenden präsentierten Inhalte die Hauptaktivität der Studierenden während der Vorlesung darstellt.

Übungen zu den Vorlesungen finden meist in Kleingruppen von höchstens 30 Studierenden statt und vertiefen die Vorlesungsinhalte und/oder thematisieren die Lösungen der Übungsaufgaben. Es konnten – insbesondere bei Übungen zur gleichen Vorlesung – erhebliche qualitative Unterschiede bei der Besprechung der zugehörigen Übungsaufgaben festgestellt werden [53]. So ließen sich Gestaltungsvarianten der Übungen identifizieren, bei denen die Lehrenden anhand von typischen Problemstellen für Studienanfängerinnen und -anfänger die Lösungen vorstellen, wohingegen andere Lehrpersonen die Lösung der Übungsaufgaben ohne spezielle Adaptionen an den Adressatenkreis vorstellen. Sowohl die Vorlesung als auch die klassische „Vorrechenübung“, in der entweder die Lehrperson oder jeweils einzelne Studierende die Lösung der Übungsaufgaben vorstellen, weisen oftmals einen eher instruktiven Charakter auf, da häufig nur einzelne Studierende aktiviert werden [22]. Die bloße Rezeption von Definitionen, Sätzen und Beweisen in der Vorlesung bzw. gelöster Aufgaben in der Übung kann aus einer konstruktivistischen Perspektive nur bedingt zu einem erfolgreichen Kompetenzerwerb – insbesondere für anspruchsvolle kognitive Tätigkeiten wie oben beschrieben – führen [60].

Die Übungsaufgaben stellen in der Studieneingangsphase ein konstruktives Gegengewicht zur Vorlesung bzw. Übung dar. Im Gegensatz zu den institutionalisierten Lehrveranstaltungen erfordern sie einen hohen Grad an Eigenaktivität bei den Studierenden und können daher zu den Zielen der Studieneingangsphase einen erheblichen Beitrag leisten. Allerdings zeigen verschiedene Studien (z. B. [42, 55]), dass dieses inhärente Potenzial der Übungsaufgaben häufig ungenutzt bleibt. So sind nur etwa ein Achtel der Studierenden in der Studieneingangsphase in der Lage, selbstständig die Übungsaufgaben zu lösen. Die Gruppe dieser Studierenden ist relativ homogen. Es handelt sich um Studierende, die mit besonders guten Lernvoraussetzungen – gemessen an der Abiturnote bzw. Tests zur mathematischen Kompetenz [55] – das Studium beginnen. Da aber das korrekte Lösen eines gewissen Anteils der Übungsaufgaben (meist 50 %) für alle Studierenden nötig zum Erwerb der Klausurzulassung und somit Voraussetzung für ein erfolgreiches Studium ist, konfligieren der Wunsch, die Aufgaben eigenständig zu lösen und der soziale Druck, erfolgreich zu studieren [20]. Viele Studierende greifen daher auf Kompensationsstrategien wie das Abschreiben von Mitstudierenden, aus Büchern bzw. dem Internet zurück [42]. Ein größerer Lerneffekt bleibt bei Nutzung dieser Strategien aus [57]. In diesem Ausmaß ist eine Abschreibeproblematik für die Schulmathematik nicht zu vermuten. Da die meisten Studierenden im Fachstudium Mathematik, insbesondere auch diejenigen, die die Übungsaufgaben nicht selbst lösen, die Schule mit einer wenigstens guten Mathematiknote [56] abschließen, liegt nahe, dass sie die Aufgaben, die in der Schule gestellt werden, ohne größere Probleme selbstständig lösen können. Somit kann erwartet werden, dass sich die Übungsaufgaben der Hochschulmathematik in ihren kognitiven Gestaltungsmerkmalen von den Aufgaben der Schulmathematik deutlich unterscheiden. In diesem Zusammenhang stellen sich verschiedene Fragen: Welche kognitiven Gestaltungsmerkmale können untersucht werden, um Aufgaben der Schul- und Hochschulmathematik zu vergleichen? Inwiefern unterscheiden sich die Aufgaben der Schul- und Hochschulmathematik in diesen Merkmalen? Sind Unterschiede in Abhängigkeit der Lehrpersonen feststellbar? Zur Untersuchung dieser Fragen wird im folgenden Abschnitt das zu untersuchende Konstrukt „Übungsaufgabe“ näher beschrieben sowie bisherige Ergebnisse zu den Aufgaben der Schul- bzw. Hochschulmathematik referiert.

3 Aufgaben an Schule und Hochschule

Es ist unbestritten, dass die Übungsaufgaben an der Hochschule wichtige Funktionen beim Erwerb mathematischer Begriffe, Verfahren und Arbeitsweisen [64] haben. Jedoch befindet sich die systematische, deskriptive Beforschung der Übungsaufgaben noch im Anfangsstadium [64, 66, 67]. Daher soll im Folgenden zunächst eine tragfähige Definition des Konstrukts Übungsaufgabe generiert werden.

3.1 Definition und Funktion von Aufgaben

Die Rolle von Aufgaben im Mathematikunterricht sowie der Studieneingangsphase ist zentral. Es konnte empirisch gezeigt werden, dass 80 % der Unterrichtszeit mit dem Lösen und der Besprechung von Aufgaben verbracht wird [51]. Für die Studieneingangsphase ist bekannt, dass Übungsaufgaben ebenso einen Großteil der Selbststudiumszeit in Anspruch nehmen [55]. Aufgaben sind deshalb in der Fachdidaktik Mathematik häufig Gegenstand theoretischer Diskussion und empirischer Forschung. Es haben sich verschiedene, weit gefasste Definitionen für Aufgaben im Schulkontext etabliert wie „Aufforderung[en] zum Lernhandeln“ [6, S. 69], Initiatoren von Lernendenaktivitäten (vgl. [16, S. 281]) oder „mathematikhaltige Situation[en], die Schüler zur Auseinandersetzung mit diese[n] anreg[en]“ [8, S. 12]. Gemein ist allen diesen Ansätzen eine Dualität in der Betrachtung des Begriffs. Einerseits umfassen Aufgaben eine Aufforderungs- oder Stimuluskomponente, andererseits setzen sie Bearbeitungsprozesse und somit eine Responsekomponente in Gang. Auch in weiteren Wissenschaftsdisziplinen wie der Psychologie wird dies als charakteristische Eigenschaft von Aufgaben verstanden [31]. Darüber hinaus beziehen sich Aufgaben auf einen konkreten, abgeschlossenen Inhaltsbereich [29, 48]. Neubrand [48, S. 16] fügt dahingehend einschränkend hinzu: „Aufgaben sind immer Auseinandersetzung mit einem Beispiel (Hervorhebung im Original) eines Sachverhalts.“ Sie beschreibt damit, dass Aufgaben aus der Schulmathematik sich im Gegensatz zu allgemeingültigen Definitionen und Sätzen nur mit Einzelfällen beschäftigen.

Obgleich bisher im Hochschulbereich keine tragfähige Definition von Übungsaufgaben vorliegt, können die grundsätzlichen Merkmale, die für Aufgaben aus dem schulischen Bereich gelten, das Vorhandensein von Stimulus- und Responsekomponente sowie eine Fokussierung auf einen konkreten Inhaltsbereich auch auf den Hochschulkontext übertragen werden. Allerdings ist aufgrund des deduktiven Charakters der Hochschulmathematik keine ausschließliche Auseinandersetzung mit Beispielen zu erwarten (vgl. 1). Vielmehr ist klar, dass Übungsaufgaben auch Beweise von Sätzen verlangen, die für ganze Objektklassen gelten [64]. Neben den Eigenschaften von Aufgaben der Hochschulmathematik im Allgemeinen ist fraglich, was das Konstrukt Übungsaufgabe im Besonderen auszeichnet. In der Literatur wird häufig (z.B. [20, 41, 55, 64]) der funktionale Aspekt der Zulassung zur Klausur genannt. Weiterhin handelt es sich bei den Übungsaufgaben um Hausaufgaben, für deren Bearbeitung keine Zeit in den Lehrveranstaltungen zur Verfügung gestellt wird – im Gegensatz zu sogenannten Präsenzaufgaben, für die explizit Bearbeitungszeit in Übungen eingeplant ist [17]. Schließlich ist der obligatorische Charakter von Übungsaufgaben im Vergleich zu Wahl- bzw. Zusatzaufgaben, die sich thematisch bzw. aufgrund der Leistungsanforderungen nur an einen Teil der Studierenden richten, charakteristisch. Nimmt man all diese Merkmale zusammen, dann lassen sich Übungsaufgaben im Hochschulbereich wie folgt definieren:

Übungsaufgaben geben Studierenden eine mathematische Situation in einem abgeschlossenen Inhaltsbereich vor, mit der sie sich auseinandersetzen sollen. Sie sind als Hausaufgaben konzipiert, die im Rahmen einer Vorlesung von allen Vorlesungsteilnehmenden bearbeitet werden sollen. Aufgaben für die zusätzlich eine Korrektur und Bewertung erfolgt, um die Zulassung zur Abschlussprüfung oder die Vergabe eines Leistungsnachweises zu steuern, werden als bewertete Übungsaufgaben bezeichnet.

Auch hinsichtlich der verschiedenen Funktionen von Aufgaben an den Institutionen Schule und Hochschule lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen. In der Schulmathematik gelten Aufgaben als wichtige Schnittstelle der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden [5, 15], da über sie die Anforderungen im Lernprozess konkretisiert und gesteuert werden. Aufgaben sind hierbei als Ausgestaltung subjektiver Interpretationen der curricularen Inhalte durch die Lehrenden und als Träger von Lernendenaktivitäten im Unterricht zu verstehen. Die Auswahl und Orchestrierung von Aufgaben ist daher verantwortungsvoll zu treffen, da Erfolg bzw. Misserfolg im Bearbeitungsprozess die Motivation und das Interesse am Lerngegenstand erheblich beeinflussen können. Schließlich bergen Aufgaben das Potenzial, Rückschlüsse über das Lernangebot und dessen Qualität zu treffen [23].

Parallelen zu den Übungsaufgaben der Hochschulmathematik sind unverkennbar. Die Übungsaufgaben konkretisieren Leistungsanforderungen, die Lehrende an die Studierenden stellen. Aufgrund der Besonderheiten des Lehr-Lern-Angebots im Studienfach Mathematik ist dies eine der wenigen realisierten Möglichkeiten der Interaktion zwischen Lehrenden und Studierenden. Wie oben beschrieben ist das Bearbeiten von Übungsaufgaben die zentrale Aktivität von Studierenden im Selbststudium. Dies wirkt sich vor allem bei Misserfolg im Lösungsprozess negativ auf affektive und motivationale Faktoren bei den Studierenden aus [41]. Da ein solcher Misserfolg bei den meisten Studierenden auftritt, ist die Entwicklung von Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen eine zusätzliche Funktion von Übungsaufgaben [54]. Insbesondere ist es eine schwierige Aufgabe für die Lehrenden, Übungsaufgaben zu stellen, die einerseits zum Erreichen der hochgesteckten Ziele der Studieneingangsphase beitragen können und andererseits einen Anspruch aufweisen, dem eine Vielzahl von Studierenden gerecht werden können. Dieser Balanceakt gelingt meist nicht.

Analog zu Aufgaben der Schulmathematik können die Übungsaufgaben der Hochschulmathematik untersucht werden, um einerseits festzustellen, welche Aufgabenmerkmale zu dieser höheren Komplexität beitragen und um andererseits die Qualität des Lernangebots fundiert beurteilen zu können. Ansatzpunkte für eine Untersuchung der Übungsaufgaben zu kognitiven Gestaltungsmerkmalen liefern die einschlägigen Studien zu Aufgaben der Schulmathematik. Anschließend soll der bisherige Forschungsstand zu den Übungsaufgaben der Hochschulmathematik betrachtet werden.

3.2 Empirische Studien zu Aufgaben in der Schulmathematik

Nach den ernüchternden Ergebnissen deutscher Schülerinnen und Schüler bei den Large-Scale-Studien PISA und TIMSS rücken Aufgaben in das Interesse empirischer Forschung sowohl in der Mathematikdidaktik (z. B. [15, 30, 48]) als auch in der allgemeinen Didaktik bzw. Naturwissenschaftsdidaktik [29, 38, 39]. In entsprechenden Studien werden Aufgaben anhand von Merkmalskatalogen kategorisiert, die Aufschluss über den Charakter der kognitiven Anforderungen bzw. die inhaltliche Gestaltung der Aufgaben geben. Diese Methode bezeichnet man als rationale Aufgabenanalyse [59]. Untersuchungsgegenstand sind bei der rationalen Aufgabenanalyse ausschließlich die Aufgaben sowie ggf. von Experten erstellte Musterlösungen. Daher können aus rationalen Aufgabenanalysen nur theoretische Schlüsse über die Aufgaben gezogen werden. Um festzustellen, wie eine gewisse Zielgruppe mit Aufgaben umgeht, wie sich Lösungsquoten verhalten und welche Schwierigkeiten im Lösungsprozess auftauchen, ist eine empirische Aufgabenanalyse, die zusätzlich tatsächliche Lösungen von Lernenden oder die Beobachtung von Lösungsprozessen erfordert, nötig. Das Zusammenspiel von rationalen und empirischen Aufgabenanalysen ermöglicht es, ein umfassendes Bild von der Aufgabenkultur eines Faches zu zeichnen. Der Begriff Aufgabenkultur umfasst sowohl die Art und Qualität der gestellten Aufgaben als auch deren horizontale und vertikale Vernetzung und tatsächliche Einbettung in den Lernprozess [63]. Da in diesem Artikel der Fokus ausschließlich auf der Qualität der Aufgaben liegt, wird der schwächere Begriff des Aufgabenprofils, der Merkmalsausprägungen bzw. -kombinationen von Aufgaben beschreibt [66], genutzt.

Zur Untersuchung von Aufgabenprofilen im deutschen Mathematikunterricht liegen vergleichsweise wenige empirische Ergebnisse vor (z. B. [15, 30, 48, 49]). Neubrand [48] untersucht in ihrer Studie die kognitiven Gestaltungsmerkmale von Aufgaben. Dabei zeigt sich insgesamt eine geringe Komplexität der Aufgaben. So können 81,8 % [ebd., S. 242] der Aufgaben algorithmisch-prozedural gelöst werden. Zusätzlich erfordern knapp 10 % der Aufgaben eine Mischform von Wissensarten also z. B. algorithmisch-prozedurales und konzeptuelles Wissen.Footnote 2 Des Weiteren verlangen 92,6 % [ebd., S. 269] der von Neubrand untersuchten Aufgaben kein eigenständiges Finden einer Lösungsidee, da diese durch die Aufgabenstellung schon explizit vorgegeben wird. Ebenso zeigen die Daten, dass eine Vernetzung von Wissen kaum von den Aufgaben im deutschen Mathematikunterricht gefordert wird. So muss bei 95,7 % der untersuchten Aufgaben nur eine einzelne Wissenseinheit aktiviert werden [ebd.]. Diese Befunde sind spezifisch für die Aufgaben des deutschen Mathematikunterrichts. Neubrand bestimmte einen mit 31,7 % erheblich geringeren Anteil von Aufgaben im japanischen Mathematikunterricht, die einen rein algorithmisch-prozeduralen Lösungsweg zulassen [ebd., S. 242]. Diese Befunde legen nahe, wieso deutsche Schülerinnen und Schüler in der ersten PISA-Studie vor allem bei Problemlöseaufgaben im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich abgeschnitten haben: entsprechende Aufgaben, die das eigenständige Finden von Lösungswegen und nicht das bloße Anwenden gelernter Verfahren verlangen, spielen kaum eine Rolle im deutschen Mathematikunterricht [32].

Ein ähnliches Bild der Unterrichts- und Hausaufgaben zeichnet auch die COACTIV-Studie [30, 49]. In dieser wurden über 45.000 Aufgaben der neunten und zehnten Klasse auf ihr kognitives Aktivierungspotential untersucht. Es zeigte sich, dass die meisten Aufgaben kaum nichtalgorithmische mathematische Tätigkeiten wie das Argumentieren oder inner- bzw. außermathematisches Modellieren erfordern. Die Autoren schließen, dass „anspruchsvollere mathematische Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler nicht über den Einsatz geeigneter Aufgaben entwickelt“ [49, S. 127] werden. Stattdessen zeigen die Ergebnisse von COACTIV eine Dominanz von technischen-prozeduralen Aufgaben im deutschen Mathematikunterricht. Dieser Befund konnte auch in einer Folgestudie bestätigt werden. Hierfür wurde das von COACTIV genutzte Klassifikationsschema um die Kategorie des technischen Arbeitens erweitert. Unter dem Terminus technisches Arbeiten werden kognitive Handlungen des Umgangs mit verschiedenen Kalkülen, wie die Verknüpfung verschiedener mathematischer Operationen subsumiert [15, S. 70]. Die unterschiedlich komplexen Kalküle, die beim technischen Arbeiten zum Einsatz kommen, spielen bei der Berechnung von Resultaten von Aufgaben, nachdem ein zuvor gewählter Ansatz implementiert wurde, eine zentrale Rolle. Insbesondere für Aufgaben, für die ein Ansatz bekannt ist, stellt das technische Arbeiten sich als einzige kognitiv aktivierende Tätigkeit dar. Mit 86,9 % erfordert die Mehrheit der von Drüke-Noe untersuchten Aufgaben der zehnten Klasse des Gymnasiums [ebd., S. 113] den Einsatz technischer Aktivitäten auf einem mittleren oder hohen Niveau. Im Unterschied dazu werden außer- und innermathematisches Modellieren, mathematisches Argumentieren sowie der Gebrauch mathematischer Darstellungen allesamt in weniger als 10 % der Aufgaben auf einem mittleren oder hohen Niveau benötigt [ebd.]. Die referierten Studien beschreiben die Aufgabenprofile des deutschen Mathematikunterrichts in ähnlicher Weise. Aufgaben sind meist algorithmisch-prozedural mit vorher behandelten Ansätzen zu lösen und weisen daher insgesamt ein niedriges kognitives Aktivierungspotential auf. Aufgrund niedriger Erfolgsquoten bei der Lösung mathematischer Übungsaufgaben von Studierenden am Übergang Schule-Hochschule sind Unterschiede in den Gestaltungsmerkmalen der Aufgaben beider Institutionen erwartbar. Die Forschungslage ist hierzu, vor allem im deutschsprachigen Raum, bislang allerdings eher gering.

3.3 Empirische Studien zu Aufgaben in der Hochschulmathematik

Die Untersuchung der Gestaltungsmerkmale mathematischer Übungsaufgaben hat erst in den letzten Jahren begonnen. Erste Ansätze [66] beziehen sich dabei auf Sichtstrukturmerkmale der Aufgaben. So konnte in einer Untersuchung mit Analysis I Übungsaufgaben festgestellt werden, dass 97,2 % der Aufgaben keine Realitätsbezüge herstellen und sich die Anteile zwischen geschlossenen Aufgaben, das heißt Aufgaben, bei denen es nur eine korrekte Lösung gibt und diese explizit in der Aufgabenstellung genannt wird sowie halboffenen Aufgaben, bei denen es nur eine korrekte Lösung gibt, welche aber erst noch durch den Aufgabenlöser gefunden werden muss, in etwa hälftig verteilen.

Eine erste umfangreichere Studie zu mathematischen Übungsaufgaben beschreibt die mathematischen Tätigkeiten, die zur Lösung der Aufgaben erforderlich sind [64]. Die genutzte Stichprobe umfasst Übungsaufgaben (n = 277) zu vier Vorlesungen der Universität Kiel (Analysis II, Codierungstheorie, Lineare Algebra II und Mathematik für Ingenieure). Dabei werden zur Klassifizierung der Aufgaben in Anlehnung an [58] drei Typen mathematischen Arbeitens unterschieden: schematisches innermathematisches Anwenden, außermathematisches Anwenden und Beweisen. Die drei Typen mathematischen Arbeitens weisen Anknüpfungspunkte zu den mathematischen Tätigkeiten technisches Arbeiten, (außermathematisches) Modellieren und Argumentieren auf, die im Schulkontext genutzt werden (vgl. 2.2). Es konnte gezeigt werden, dass sich die Typen des mathematischen Arbeitens in der betrachteten Stichprobe nahezu gleich auf das schematische innermathematische Anwenden (47 %) bzw. das Beweisen (53 %) verteilen [64, S. 274]. Aufgaben, die ein außermathematisches Anwenden erfordern, konnten nicht identifiziert werden. Eine feinere Klassifikation der Aufgaben unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Anwendung mathematischer Definitionen und Sätze rekonstruiert die fünf Aufgabentypen Skizzen oder Ähnliches (2 %), Rechenaufgaben (27 %), Beweise mittels Rechnung (24 %), Beweise mittels Definitionen (10 %) und Beweise mittels Sätzen (34 %) [ebd., S. 276]. Zwar geben die Ergebnisse der Studie Auskunft über die Art der gestellten Übungsaufgaben, allerdings kann aus den erhobenen Daten aufgrund des differierenden Erhebungsinstrumentariums im Vergleich zu den Studien der Schulmathematik kaum ein Vergleich zu ebenjenen Studien gezogen und insbesondere nicht die aufgabeninhärente Komplexität verglichen werden. Zusätzlich werden in der Stichprobe die Aufgaben für verschiedene Zielgruppen, Fachstudierende und Gymnasialehramtsstudierende der Mathematik, aber auch Studierende von Ingenieurswissenschaften gleichsam untersucht, was aufgrund eines sich unterscheidenden Charakters der vermittelten Mathematik im Fachstudium bzw. Servicefächern das Gesamtbild eher verzerrt (vgl. 1.1). Studien, die dies berücksichtigen, liegen im deutschsprachigen Raum bisher nicht vor. Eine der wenigen internationalen Studien zu diesem Thema kontrastiert die kognitiven Anforderungen zwischen schulischen Abschlussprüfungen und den Klausuren der Studieneingangsphase der Mathematik [10]. Die Autorin unterscheidet Aufgaben, die die Anwendung von Routineprozeduren erfordern (Gruppe A), Aufgaben, für die bekanntes mathematisches Wissen in unbekannten Kontexten angewendet werden muss (Gruppe B) und Aufgaben, die konzeptuelles Wissen zur Konstruktion anspruchsvoller mathematischer Argumentationen benötigen (Gruppe C). Es fallen 72,6 % der Aufgaben aus der Schule in Gruppe A, 21,2 % in Gruppe B und nur 6,4 % der Aufgaben in Gruppe C. Hingegen werden an der Hochschule 31,6 % Aufgaben aus Gruppe A, 14,4 % Aufgaben aus Gruppe B und 54,1 % aus Gruppe C gestellt. Die Ergebnisse bescheinigen erhebliche Unterschiede bei der Art des Wissens, die in Aufgaben Schule bzw. Hochschule erforderlich sind. Es ist fraglich, ob entsprechende Ergebnisse sich auch für die Übungsaufgaben im Fach Mathematik im deutschsprachigen Raum übertragen lassen.

4 Wissenseinheiten/Wissensarten/Wissensformen

Für die Untersuchung der Übungsaufgaben auf ihre kognitiven Gestaltungsmerkmale, insbesondere hinsichtlich ihrer Komplexität, wird auf das aus der Mathematikdidaktik stammende und von Johanna Neubrand [48] entwickelte Konzept der Wissenseinheiten zurückgegriffen, welches u. a. auch bei der Konzeption eines allgemeindidaktischen Aufgabenanalysesystems herangezogen wird und bereits in einigen Untersuchungen in verschiedenen Unterrichtsfächern erprobt worden ist [43].

Die Bewertung der Anforderungen einer Aufgabe wird dabei nicht anhand von individuellen Studierendenlösungen vorgenommen, sondern durch einen Experten, der über das entsprechende fachspezifische Wissen verfügt [37, S. 94, 48, S. 95]. Auch im Hochschulkontext sprechen mehrere Gründe für ein solches Vorgehen. Erstens kann bei der Betrachtung von Studierendenlösungen nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Inhalte jeweils vollständig verstanden wurden und die Studierenden über das für die Aufgabenlösung erforderliche Wissen verfügen, sodass eine Bewertung erschwert wird. Zweitens beeinträchtigt die starke Heterogenität der Studierenden hinsichtlich des Vorwissens und der Fähigkeit, aufgabenadäquate Lösungswege zu nutzen, eine Modellierung einer geeigneten Studierendenlösung. Die Expertenlösung hingegen bietet den Vorteil, dass anhand dieser das für die Aufgabenlösung absolut notwendige strukturelle Wissen bzw. die für „die Anforderung der jeweiligen Aufgabe aktivierten Wissensbestandteile“ [48, S. 95] beschrieben werden können, die sogenannten Wissenseinheiten. Diese entsprechen dabei der obersten hierarchischen Ebene in einem hierarchisch geordneten Wissensnetz, jedoch werden „Subprozeduren oder deklaratives Wissen auf unteren Ebenen […] der oberen Hierarchieebene zugeordnet“ [43, S. 33], weshalb Wissenseinheiten alle darunter liegenden Wissenselemente miteinschließen. Entsprechend der konkreten Anforderungen einer Aufgabe werden diese jeweils aus dem gesamten Wissen herausgefiltert, sodass manchmal eine, manchmal mehrere Wissenseinheiten für die Aufgabenbearbeitung aktiviert werden und die Wissenseinheiten ein sich dynamisch veränderndes Netzwerk bilden [44]. Für den Klassifikationsprozess von Aufgaben hinsichtlich ihrer kognitiven Gestaltungsmerkmale spielt demnach neben der Untersuchung, welche Wissenseinheiten aktiviert werden, auch die Anzahl der benötigten Wissenseinheiten eine Rolle, da mit steigender Anzahl der zu aktivierenden und zu kombinierenden Wissenseinheiten auch die Komplexität einer Aufgabe wächst.

Ebenfalls Einfluss auf den kognitiven Anspruch einer Aufgabe hat die gegebene Form der Aktivierung einer Wissenseinheit. Dabei wird zwischen explizit und implizit gegebenen Wissenseinheiten unterschieden. Explizit gegebene Wissenseinheiten werden direkt in der Aufgabenstellung benannt bzw. legt die Aufgabestellung nahe, welche Lösungsverfahren und -methoden sich eignen [7, S. 195]. Die bearbeitende Person muss daher Lösungsansätze nicht eigenständig finden. Dies ist im Wesentlichen bei Grund- bzw. geschlossenen Aufgaben gegeben [48]. Ganz anders verhält es sich bei implizit gegebenen Wissenseinheiten, bei denen der Aufgabenlöser zunächst aus dem Aufgabenkontext auf das zu nutzende Lösungsverfahren und damit auf die zugrunde liegende Wissenseinheit schließen muss. Neben dem Abruf der entsprechenden Wissenseinheit muss in diesem Fall also auch noch eine aktive Auswahl der nutzbaren Wissenseinheiten vorgenommen werden, was deutlich macht, dass implizit gegebene Wissenseinheiten mit einer höheren Komplexität einer Aufgabe einhergehen [7].

Schlussendlich hat auch die Art des in einer Aufgabe geforderten Wissens einen Einfluss auf die kognitiven Anforderungen der Aufgabe. Anderson und Krathwohl [1] unterscheiden zwischen deklarativem, prozeduralem, konzeptuellem und metakognitivem Wissen. Ersteres wird als „verbalisierbares und für [eine] bestimmte Fachdomäne relevantes Wissen bezeichnet“ [44, S. 86], das ausschließlich die Wiedergabe bestimmter Regeln etc. umfasst. Hier geht es also nicht um die Anwendung von Wissen, sondern ausschließlich um die Reproduktion bestimmter Inhalte. Das prozedurale Wissen hingegen wird „als eine Art „Handlungswissen“ verstanden“ [47, S. 33], als „know how to do it knowledge“ [46, S. 143]. Es umfasst Regeln und Prozeduren ebenso wie die Kenntnis über die formale Sprache der Mathematik, um überhaupt Aufgaben lösen zu können [27]. Die Prozeduren oder auch Verfahren laufen sequenziell ab und sind hierarchisch geordnet, d. h. sie können auch als Unterprozedur in anderen enthalten sein [1, 47]. Bei konzeptuellem Wissen handelt es sich um solches Wissen, das sich durch seine Beziehungshaltigkeit hervorhebt:

„Conceptual knowledge is characterized most clearly as knowledge that is rich in relationships. It can be thought of as a connected web of knowledge, a network in which the linking relationships are as prominent as the discrete pieces of information“ [27, S. 3–4].

Es umfasst demnach das Wissen über Zusammenhänge einzelner Elemente. Charakterisierend für konzeptuelles Wissen ist die zugrundeliegende Netzstruktur, die durch den Aufbau von Beziehungen zwischen verschiedenen Wissenselementen, seien es bereits vorhandene oder neu hinzukommende, gefördert wird [1].Zum konzeptuellen Wissen sind demzufolge auch Strategiewissen sowie die Fähigkeit des Übersetzens einer in der Aufgabenstellung gegebenen Situation in ein mathematisches Modell zu zählen. Es kommt also vorrangig bei solchen Aufgaben zum Tragen, bei denen kein Algorithmus direkt verfügbar ist oder die auf das Erkennen von Zusammenhängen ausgerichtet sind [48]. So kann bei der rationalen Aufgabenanalyse die Wissensart Aufschluss darüber geben, ob Aufgaben auf das Beherrschen von Prozeduren oder das Erkennen von Zusammenhängen ausgerichtet sind. Beispielsweise deutet ein geringes Auftreten von Aufgaben mit konzeptuellen Wissensanteilen auf eine mangelnde Fähigkeitsorientierung in der Lehre hin.

Da metakognitives Wissen als Wissen über die eigenen Kognitionen individuell konzeptualisiert wird [44], wird es in dieser Arbeit aufgrund der geringen Passung zur Beschreibung objektiver Kriterien von Übungsaufgaben nicht genutzt.

5 Zielstellung und Fragen

In der vergleichenden Auseinandersetzung zwischen Schul- und Hochschulmathematik konnten bereits einige allgemeine Unterschiede hinsichtlich des Charakters der Mathematik sowie Besonderheiten bezüglich des Lehrens und Lernens an der Hochschule aufgezeigt werden. Im Fokus dieses Artikels steht eine Untersuchung von Analysis I Übungsaufgaben hinsichtlich ihrer kognitiven Gestaltungsmerkmale. Es ist zu vermuten, dass die Ausprägung dieser Merkmale (z. B. Anzahl und Art der Wissenseinheiten) sich aufgrund des Charakters der Hochschulmathematik im Allgemeinen und der geringen eigenständigen Bearbeitungsquoten der Übungsaufgaben im Speziellen erheblich von den beschriebenen Aufgabenprofilen der Aufgaben der Schulmathematik unterscheiden. Dabei soll folgenden Fragestellungen im Detail nachgegangen werden:

  1. 1.

    Inwieweit lassen sich in den Übungsaufgaben der Analysis I mehr Wissenseinheiten per se, mehr implizit gegebene Wissenseinheiten sowie mehr konzeptuelles Wissen finden als in Aufgaben zur Schulmathemathematik?

  2. 2.

    Inwieweit sind Wissenseinheiten der Schulmathematik trotz ihres eher prozeduralen Charakters für das Bearbeiten der Hochschulaufgaben relevant?

  3. 3.

    Inwieweit unterscheiden sich Übungsaufgaben verschiedener Hochschulen aufgrund einer geringeren Bedeutung zentraler Steuerungsdokumente für die Hochschulmathematik?

6 Methoden

Um die AufgabenFootnote 3 bezüglich der Wissenseinheiten zu klassifizieren und das Auftreten entsprechender Wissensarten zu untersuchen, ist es sinnvoll, sowohl das innerhalb der Schule als auch das aus der Hochschule erworbene mathematische Wissen einzubeziehen, da die in der Schulmathematik erworbenen Kenntnisse eine wesentliche Grundlage für die Hochschulmathematik darstellen. Dazu wurden zunächst unabhängig zwei Kataloge – einer zu Wissenseinheiten der Hochschulmathematik bezüglich der Themen der Vorlesung Analysis I und einer zu den für die Analysis I relevanten Vorkenntnissen aus der Schulmathematik – auf der Basis einer theoriegeleiteten Konstruktion entwickelt.

Ersterer wurde auf Basis von drei Standardwerken der Analysis [18, 26, 36] entwickelt. Trennlinie zwischen den Werken der Analysis I und II sowie den meisten Vorlesungen ist dabei der Übergang vom Eindimensionalen ins Mehrdimensionale. Nach einer inhaltsanalytischen Untersuchung [45] der genannten Lehrwerke ergaben sich die folgenden sieben Themenschwerpunkte, denen die identifizierten Wissenseinheiten zugeordnet wurden:

  1. 1.

    Grundlagen (u. a. der Umgang mit logischen Aussagen, Mengen oder Abbildungen)

  2. 2.

    Folgen und Grenzwerte

  3. 3.

    Reihen

  4. 4.

    Elementare Funktionen und Stetigkeit

  5. 5.

    Differentialrechnung – die Theorie

  6. 6.

    Differentialrechnung – ausgewählte Anwendungen

  7. 7.

    Integralrechnung.

Diese Einteilung ist, ohne weitere Konventionen zu nutzen, nicht trennscharf. So hätte beispielsweise die Wissenseinheit „Integralvergleichskriterium für Reihen“ sowohl dem dritten als auch dem siebten Themenschwerpunkt zugeordnet werden können. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, wurden entsprechende Wissenseinheiten immer dem Themenschwerpunkt zugeordnet, welcher der späteste in obiger Liste ist. Dies entspricht dem angenommenen Expertenkonzept, welches den Wissenseinheiten zugrunde liegt (vgl. 3). Ein idealtypischer Experte entwickelt das Wissensnetz kumulativ und in der angenommenen Reihenfolge der Themenschwerpunkte. Deswegen wird das „Integralvergleichskriterium für Reihen“ der Integralrechnung zugeordnet, da das bloße Wissen über Reihen zu dessen Nutzung nicht ausreichend ist.

Um der Vielzahl der so herausgearbeiteten Wissenseinheiten angemessen zu begegnen und den Katalog handhabbar zu machen, wurden zum einen Wissenseinheiten zu Themen, die eher als Randbemerkung zu verstehen sind, nicht in den Katalog aufgenommen. Zum anderen wurden Wissenseinheiten nur dann als zentral für die Analysis I erkannt, wenn sie in mindestens 2 der 3 Werke auftraten.

Ähnlich erfolgte das Vorgehen bei dem Katalog zu Wissenseinheiten der Schulmathematik. Anders als in der Hochschulmathematik wurde für das Herausarbeiten der Wissenseinheiten nicht auf aktuell verwendete Lehrbücher zurückgegriffen, sondern auf allgemeingültigere Dokumente. Neben den Bildungsstandards Mathematik für den mittleren Schulabschluss [34] und für die Allgemeine Hochschulreife [35], in denen national verbindliche Vorgaben gemacht werden, über welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Zeitpunkten verfügen sollen, wurden auch der sächsische und der bayrische Lehrplan u. a. aufgrund ihrer inhaltlichen Detailliertheit herangezogen, um möglichst konkrete Wissenseinheiten formulieren zu können. Um auch die Sichtweise von Dozierenden zu berücksichtigen, welche Erwartungen von Seiten der Hochschule hinsichtlich der mathematischen Vorkenntnisse und Kompetenzen zu Studienbeginn erwartet werden, wurden zudem der cosh-Katalog [9] mit seinen Mindestanforderungen für ein WiMINT-Studium und die MaLeMINT-Studie [50] in die Erstellung des Wissenseinheitenkatalogs mit einbezogen. Zunächst wurden die relevanten Wissenseinheiten der verschiedenen Dokumente einzeln identifiziert. Wie bei obigem Katalog wurden anschließend Wissenseinheiten hier nur dann als zentral erkannt, wenn sie in mindestens 3 der 5 Dokumente zu finden waren, wobei die Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss und die Allgemeine Hochschulreife als ein Dokument gewertet wurden. Abschließend wurden die beiden Kataloge auf Überschneidungen untersucht und ein gemeinsamer Katalog entwickelt, der sowohl Wissenseinheiten der Schule als auch der Hochschule umfasst und mit Hilfe dessen dann die Aufgaben analysiert wurden. Der Katalog dient für die Bestimmung der Anzahl der Wissenseinheiten, die im Lösungsprozess von einem Experten aktiviert werden würden, als zentrales Hilfsmittel, um einerseits eine klarere Zuordnung von Inhalten zur Schul- bzw. Hochschulmathematik zu ermöglichen, andererseits das explizite Ausformulieren eines Wissensnetzes für jede Aufgabe überflüssig zu machen.

Die Stichprobe der Studie umfasst bewertete Übungsaufgaben (n = 530, vgl. 2.1) der Analysis I Vorlesungen des Wintersemesters 2018/19 von vier verschiedenen Universitäten. Diese wurden zufällig aus dem Datensatz eines Promotionsprojektes zu Übungsaufgaben der Analysis I entnommen [66]. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Zielgruppe der jeweiligen Vorlesungen gymnasiale Lehramtsstudierende oder Fachstudierende umfasst. Ein genauerer Überblick über die jeweiligen Zielgruppen der Vorlesungen sowie die Aufgabenanzahlen kann Tab. 1 entnommen werden.

Tab. 1 Studiengänge und Anzahl der Übungsaufgaben der jeweiligen Vorlesungen in der Stichprobe

Zusätzlich wurden alle Aufgaben von Experten gelöst sowie anschließend einem Reviewprozess unterzogen, um die Qualität als Expertenlösungen sicherzustellen und eine Passung zum Wissenseinheitenkonzept herzustellen [37]. Als eine Aufgabe wurde in Übereinstimmung zur oben beschriebenen Definition von Übungsaufgaben jede getrennt bearbeitbare Situation verstanden. Der in Abb. 1 dargestellte Aufgabenkomplex weist zwar hinsichtlich der Vorstrukturierung durch den Aufgabenstellenden nur eine Aufgabe auf, jedoch handelt es sich bei jeder Teilaufgabe um eine getrennt bearbeitbare Situation. Vor allem bei der Untersuchung der Konvergenz von Folgen oder Reihen tritt der Fall auf, dass mehrere verschiedene Objekte mit ähnlichen Verfahren (z. B. Quotienten- oder Wurzelkriterium) untersucht werden müssen, ohne dass überhaupt eine Vorstrukturierung in Teilaufgaben gegeben ist. Auch in diesem Fall wird jede Untersuchung eines einzelnen Objektes als eine Aufgabe gewertet.

Abb. 1
figure 1

Aufgabenkomplex, der das Bearbeiten von vier trennbaren Situationen erfordert

In Anlehnung an [48] wird folgendes Kategoriensystem zur Klassifikation der Aufgaben verwendet (vgl. Tab. 2). Dieses wurde jedoch teilweise angepasst. So wird insbesondere zwischen dem Erwerbskontext der verwendeten Wissenseinheiten – Schule bzw. Hochschule – unterschieden. Es ist zu erwarten, dass Aufgaben, für deren Lösung mehrere Wissenseinheiten aus der Hochschule aktiviert werden müssen, besonders anspruchsvoll sind, da diese aufgrund des Charakters der Hochschulmathematik die Vernetzung von Wissen in besonderem Maße erfordern. Andererseits sind Aufgaben, die nur Wissenseinheiten aus dem Schulkontext benötigen, weniger komplex, da hier ausschließlich schon konsolidiertes Wissen eingesetzt werden muss.

Tab. 2 Klassifikationsschema

Hinsichtlich der Wissensarten wurde im Gegensatz zu Neubrand [48] auf eine Kategorie verzichtet, die die Verknüpfung mehrerer Wissensarten beschreibt. Dieser Weg wurde gewählt, um einen stärker deklarativen, prozeduralen bzw. konzeptuellen Charakter der Aufgaben herausstellen zu können. Die Gefahr einer Mischkategorie wird vor allem dahingehend gesehen, dass dieser eine Vielzahl von Aufgaben zugeordnet werden, deren Lösung in einem Teilschritt zwar eine Prozedur benötigt, der Kern der Aufgabenlösung jedoch in der Verknüpfung von Konzepten liegt. Bei den Wissensformen wurde nur zwischen Aufgaben unterschieden, die ausschließlich explizite Wissenseinheiten erfordern und Aufgaben, die mindestens eine implizite Wissenseinheit verlangen. Diese Kategorisierung wurde gewählt, da zwischen diesen beiden Ausprägungen ein erheblicher qualitativer Unterschied besteht. Während der erste Fall das Aufgreifen eines durch die Aufgabenstellung naheliegenden Ansatzes verlangt, ist im zweiten Fall die eigenständige Modellierung eines Lösungswegs nötig.

Zur Illustration soll der Klassifikationsprozess anhand zweier Beispiele (vgl. Abb. 2 und 3) beschrieben werden. Die erste Aufgabe der Universität III verlangt das Berechnen der Ableitung der Identitätsfunktion mittels Differentialquotienten. Die angegebene Musterlösung benötigt die Kenntnis der Definition des Differentialquotienten, den Umgang mit Variablen, Grenzwerten sowie das Kürzen von Brüchen. Es ordnen sich alle genannten Wissensbestandteile im hierarchisch geordneten Wissensnetz der Definition des Differentialquotienten unter, da diese den Umgang mit Variablen, Grenzwerten und Brüchen voraussetzt. Die Institution, an der die Definition des Differentialquotienten erstmals erworben wird, ist die Schule. Somit wird in der Aufgabe genau eine Schulwissenseinheit aktiviert und die Aufgabe mit A1 und B0 klassifiziert. Da die Aufgabe das bloße Einsetzen in eine Definition sowie das Anwenden einfacher Rechenverfahren verlangt und die zu verwendende Wissenseinheit im Wesentlichen explizit benannt wird, erfolgt eine Klassifizierung mit C2 sowie D1. Die gegebene Aufgabe stellt somit nur niedrige kognitive Anforderungen an die Studierenden, die insbesondere mit den Anforderungen von schulischen Mathematikaufgaben vergleichbar sind.

Abb. 2
figure 2

Aufgabenkomplex zur Berechnung der Ableitung aus Universität III

Abb. 3
figure 3

Aufgabe zur Ableitung, die einen Widerspruchsbeweis erfordert

Die in Abb. 3 gegebene Aufgabe erfordert den Beweis, dass eine stetig differenzierbare Funktion, bei der die Summe aus Funktionswert und Ableitung an keiner Stelle verschwindet, nur endlich viele Nullstellen hat. Der über Widerspruch geführte Beweis erfordert mindestens zwei Wissenseinheiten aus dem Hochschulbereich, die auch nicht hierarchisch angeordnet sind: den Satz von Bolzano-Weierstraß sowie die Vertauschbarkeit der Grenzwertbildung im Argument und dem Funktionswert bei stetigen Funktionen. Des Weiteren muss eine Ableitung über das Einsetzen von Werten in den Differentialquotienten bestimmt werden, was als Wissenseinheit aus dem Schulkontext gewertet wird. Die Aufgabe wird bzgl. der Wissenseinheiten daher mit A1 und B2 klassifiziert. Vordergründig müssen in der Lösung der Aufgabe Zusammenhänge zwischen verschiedenen Sätzen bzw. definitorisch gegebenen Eigenschaften erkannt werden. Es muss festgestellt werden, dass für eine Funktion bei einer unendlichen Nullstellenmenge aufgrund des kompakten Definitionsintervalls eine konvergente Teilfolge von Argumenten existiert, die jeweils Nullstellen der Funktion sind. Über die Stetigkeitseigenschaft kann der Grenzwert dieser Folge als Nullstelle bestimmt werden. Die Berechnung der Ableitung an ebenjener Stelle über die Folgendefinition des Differentialquotienten sowie das Nutzen der vorausgesetzten Differenzierbarkeit der Funktion führt zum Widerspruch. Somit wird bei der Aufgabe vorrangig vernetztes Wissen benötigt und diese mit C2 klassifiziert. Da schließlich der Satz von Bolzano-Weierstraß weder in der Aufgabenstellung explizit benannt wird, noch dessen Anwendung durch die Aufgabenstellung nahe liegt, handelt es sich um eine implizit gegebene Wissenseinheit, sodass die Aufgabe mit D2 klassifiziert wird. Die in dieser Aufgabe gestellten kognitiven Anforderungen sind hoch.

7 Ergebnisse

Die Stichprobe wurde von einer Lehrkraft für besondere Aufgaben sowie einem der beiden Autoren der Studie geratet, die jeweils über langjährige Lehrerfahrung in Übungen zur Analysis verfügen. Dabei wurden die Übungsaufgaben der Universitäten I und II (n = 255) jeweils doppelt kodiert, um ein Maß für die Übereinstimmung zwischen den Ratern ermitteln zu können. Für die Anzahlen der Wissenseinheiten, die aus dem Schul- bzw. Hochschulkontext benötigt werden, liegt eine gute Übereinstimmung vor, für die Kategorien der Wissensarten und -formen liegt sie im sehr guten Bereich ([40, S. 165], vgl. auch Tab. 3). Dabei sollte berücksichtigt werden, dass die Kategorien A und B sehr anspruchsvoll zu kodieren sind, da sie eine vollständige Analyse der Aufgabenlösungen sowie einen Abgleich mit dem umfangreichen Wissenseinheitenkatalog erfordern.

Tab. 3 Interraterreliablität der Kategorien

Tab. 4 informiert über die Anzahl der Schulwissenseinheiten, die für die Lösung der Übungsaufgaben der verschiedenen Universitäten benötigt werden. Die aggregierten Ergebnisse zeigen eine ungefähre Gleichverteilung auf die drei Kategorien, wobei Übungsaufgaben, die die Aktivierung genau einer Schulwissenseinheit benötigen, häufiger vorkommen als jene, deren Lösung mehrere Schulwissenseinheiten erfordert. Die Verteilung unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Universitäten signifikant (\(\chi ^{2}=54,532;df=6;p=.000\)). Besonders stark von der Gesamtverteilung unterscheiden sich die Übungsaufgaben der Universitäten I und II. Bei der Universität I werden in fünf von sechs Aufgaben Wissenseinheiten aus der Schule verlangt. Dahingegen verlangen weniger als die Hälfte der Übungsaufgaben der Universität II das Aktivieren von im Schulkontext erworbenen Wissenseinheiten. Die Universität III und IV verlangen in etwa gleich häufig das Aktivieren einer Schulwissenseinheit. Jedoch müssen bei den Aufgaben der Universität IV etwa doppelt so häufig mehrere Schulwissenseinheiten genutzt werden wie bei den Übungsaufgaben der Universität III.

Tab. 4 Verteilung der Schulwissenseinheiten nach Universitäten und gesamt

Bei knapp zwei Dritteln der Übungsaufgaben wird genau eine Wissenseinheit aus dem Hochschulkontext benötigt (vgl. Tab. 5). Insgesamt gibt es mehr Aufgaben, deren Lösung die Aktivierung mehrerer Hochschulwissenseinheiten benötigt, als solche, die gar keine erfordern. Die Verteilung der einzelnen Standorte unterscheidet sich wiederum signifikant (\(\chi ^{2}=42,389;df=6;p=.000\)). Besonders prominent differieren abermals die Verteilungen der Universitäten I und II. Die Lösungen der Übungsaufgaben der Universität I verlangen zu über zwei Dritteln genau eine Wissenseinheit aus dem Hochschulkontext und nur in etwa jede zehnte Aufgabe das Aktivieren von mehreren Hochschulwissenseinheiten. Im Gegensatz dazu verteilen sich die Anteile von Aufgaben, die genau eine bzw. mehrere Hochschulwissenseinheiten verlangen bei der Universität II in etwa gleich. Die Verteilungen der Universitäten III und IV sind sehr ähnlich.

Tab. 5 Verteilung der Hochschulwissenseinheiten nach Universitäten und gesamt

Aus den Verteilungen der Kategorien A und B lassen sich die Anteile der Aufgaben bestimmen, die höchstens eine bzw. mehrere Wissenseinheiten benötigen (vgl. Tab. 6). Hier lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Aufgaben aus der Schulmathematik und denen der Hochschulmathematik feststellen (vgl. 2.2). Für die Aufgaben jeder der Universitäten müssen in mehr als der Hälfte der Fälle mehrere Wissenseinheiten aktiviert werden. Insgesamt verlangen mehr als zwei Drittel der Aufgaben den Einsatz mehrerer Wissenseinheiten.

Tab. 6 Verteilung der Summe aller Wissenseinheiten nach Universitäten und gesamt

Hinsichtlich der vorrangig geforderten Wissensarten kann ein Fehlen deklarativ orientierter Aufgaben festgestellt werden (vgl. Tab. 7). So lässt sich in der untersuchten Stichprobe nur eine Aufgabe finden, die die bloße Wiedergabe von Faktenwissen fordert. Aufgrund dessen werden im Folgenden stets nur noch prozedurales und konzeptuelles Wissen betrachtet. In der Gesamtverteilung zeigt sich, dass konzeptuelles Wissen etwas häufiger vorrangig in den Übungsaufgaben genutzt werden muss als prozedurales Wissen. Hier lassen sich wiederum signifikante Unterschiede (\(\chi ^{2}=56,885;df=3;p=.000)\) in Bezug auf die verschiedenen Universitäten beobachten. Am deutlichsten kommen erneut die Unterschiede in den Verteilungen der Universitäten I und II zum Tragen. Die Übungsaufgaben der Universität I verlangen zu knapp zwei Dritteln eher prozedurales Wissen und zu etwas mehr als einem Drittel konzeptuelles Wissen. Dahingegen fordern die Übungsaufgaben der Universität II in nur einem Fünftel der Fälle eher prozedurales Wissen, während das konzeptuelle Wissen bei rund vier von fünf Aufgaben im Vordergrund steht. Das Ergebnis der Universität III ist sehr nah an der Gesamtverteilung, während sich die Übungsaufgaben der Universität IV, die vorrangig prozedurales bzw. konzeptuelles Wissen benötigen, im Verhältnis 1:2 verteilen.

Tab. 7 Verteilung der der Wissensarten nach Universitäten und gesamt

Abschließend werden noch die Ergebnisse der in den Aufgaben geforderten Wissensformen präsentiert (vgl. Tab. 8). Hier zeigt sich bei den Universitäten I, III und IV sowie im Gesamtergebnis ein nahezu gleicher Anteil von Aufgaben, die nur explizite Wissenseinheiten erfordern bzw. Aufgaben, die das Aktivieren mindestens einer implizit gegebenen Wissenseinheit erfordern. Bei der Universität II werden etwas häufiger implizite Wissenseinheiten benötigt. Die Unterschiede zwischen den Universitäten bei den Wissensformen sind jedoch nicht signifikant (\(\chi ^{2}=5,411;df=3;p=.144\)).

Tab. 8 Verteilung der Wissensformen nach Universitäten und gesamt

8 Interpretation

In diesem Artikel wurde ein Kategoriensystem entwickelt und erprobt, welches die kognitiven Gestaltungsmerkmale von Übungsaufgaben der Analysis I erfassen kann. Das Instrument wurde so konstruiert, dass die gewonnenen Ergebnisse einen Vergleich zu den bereits vorliegenden Resultaten der kognitiven Gestaltungsmerkmale schulischer Mathematikaufgaben zulassen. Es zeigte sich eine gute bis sehr gute Interraterreliabilität der einzelnen Kategorien. Insbesondere die Nutzung von Musterlösungen als Referenz im Ratingprozess zeigt positive Einflüsse, da diese potenziell divergente Lösungsideen von Ratern verhindert. Allerdings wirkt dies gleichsam als Nachteil einer vorab bereitgestellten Musterlösung. Sie macht es unmöglich, verschiedene Lösungen gleichzeitig zu betrachten. Dies ist jedoch ein Nachteil von rationalen Aufgabenanalysen (vgl. 2.2) im Allgemeinen.

Die Ergebnisse zeigen eindrücklich, dass nicht von „den“ Übungsaufgaben als homogene Gesamtheit gesprochen werden kann, sondern dass Verteilungen der zur Lösung der Übungsaufgaben aktivierten Wissenseinheiten, -formen und -arten von Universität zu Universität bisweilen deutlich variieren. So ist die Anzahl der Schulwissenseinheiten, die für die Lösung der Aufgaben benötigt werden, zwar in etwa gleichverteilt, aber die Unterschiede zwischen den einzelnen Universitäten haben sich dabei als signifikant herausgestellt. Dies wird insbesondere an den Universitäten II und III deutlich, in denen ca. bei der Hälfte aller Aufgaben keine Schulwissenseinheiten zur Lösung aktiviert werden müssen – ein Indiz für die Kluft zwischen Schul- und Hochschulmathematik? Auf der anderen Seite zeigt sich im Gesamtbild der betrachteten Aufgaben, dass über die Hälfte dieser Wissenseinheiten aus der Schule benötigen, die nicht den jeweils aktivierten Hochschulwissenseinheiten untergeordnet sind. Für die Bearbeitung benötigt wird demzufolge ein sicherer und flexibler Umgang mit dem in der Schule erworbenen mathematischen Wissen, um Übungsaufgaben bewältigen zu können. Insbesondere Universität I weist mit einer Quote von über 80 % einen hohen Anteil an Übungsaufgaben auf, die zusätzliches Schulwissen benötigen, was dahingehend interpretiert werden kann, dass man bestrebt ist, an dem Wissen, welches die Studierenden aus der Schule mitbringen, anzuknüpfen und einen Anspruch zu schaffen, dem die Studierenden auch gerecht werden können (vgl. 2.1). Allerdings könnte man dies auch so deuten, dass ein fehlerfreier Umgang mit Schulwissen Grundvoraussetzung für die Lösung der Übungsaufgaben und somit implizit auch für den Studienerfolg ist. Ferner ist in mehr als 85 % der Aufgaben mindestens eine Hochschulwissenseinheit beim Lösen der Übungsaufgaben nötig – ein Ergebnis, das sicherlich nicht ganz unerwartet ist. Dennoch zeigt die detaillierte Betrachtung der einzelnen Universitäten, dass es einige gibt, wie etwa Universität I, bei der die Bearbeitung der Aufgaben anteilig mehr Schulwissen erfordert und potenzielle Probleme bei der Bearbeitung der Übungsaufgaben demzufolge nicht allein im Bereich der Hochschulmathematik zu suchen sind. Eher überraschend ist, dass sich knapp 15 % der Aufgaben ohne die Nutzung von Hochschulwissenseinheiten lösen lassen. Dies spricht für erhebliche inhaltliche Überscheidungen zwischen Schul- und Hochschulanalysis, zumindest in einzelnen Themenbereichen (vgl. 5).

Insgesamt konnte festgestellt werden, dass mehr als zwei Drittel aller Aufgaben bei der Bearbeitung mindestens zwei Wissenseinheiten erfordern, egal ob es sich um Schul- oder Hochschulmathematik handelt. Die Verteilungen der Universitäten I und IV scheinen dabei auf den ersten Blick sehr ähnlich, aber die Aufteilung der Wissenseinheiten hinsichtlich der Schul- und Hochschulmathematik machen Unterschiede zwischen den beiden Hochschulen deutlich. Dies zeugt davon, dass es nicht ausreichend ist, sich ausschließlich auf die Anzahl der Wissenseinheiten zu konzentrieren, sondern detailliertere Betrachtungen bzgl. der Wissenseinheiten im Schul- und Hochschulkontext angestellt werden müssen, um entsprechende Rückschlüsse über die Komplexität der Aufgaben ziehen und Unterschiede in den kognitiven Anforderungen dieser im Vergleich mit Aufgaben aus der Schule sichtbar zu machen zu können.

Bezüglich der zur Aufgabenbearbeitung erforderlichen Wissensarten konnte u. a. ein fast vollständiges Fehlen deklarativ ausgerichteter Aufgaben attestiert werden. Dies kann mit dem Hausaufgabencharakter der Übungsaufgaben (vgl. 2.1) begründet werden, welcher es ermöglicht, Fachbücher bzw. Vorlesungsmitschriften bei der Bearbeitung zu nutzen. Da die Übungsaufgaben bewertet werden, erscheint das Abfragen von Faktenwissen unter diesem Gesichtspunkt wenig gewinnbringend. Konzeptuelles Wissen wird im Allgemeinen etwas häufiger gefordert als prozedurales Wissen, aber auch hier lassen sich signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Standorten der Stichprobe ausmachen. Mit fast 80 % eher konzeptuell orientierten Aufgaben sticht Universität II deutlich heraus. Dies lässt sich vermutlich darauf zurückführen, dass ca. die Hälfte aller Aufgaben mehrere Hochschulwissenseinheiten erfordert, die stärker die Anwendung von Konzepten als von Prozeduren fordern (vgl. 2.3). Die Universitäten I und IV zeigen ein spiegelverkehrtes Bild hinsichtlich der zugrundeliegenden Wissensarten. Während bei Universität I in fast zwei Dritteln aller Aufgaben prozedurales Wissen gefordert ist, ist es bei der Universität IV lediglich ein Drittel. Beide Universitäten haben einen verhältnismäßig hohen Anteil an Schulwissenseinheiten in den Aufgaben aufzuweisen, was eher für einen Zusammenhang zwischen Schulwissen und prozeduralem Wissen sprechen würde (vgl. 2.2). Allerdings ist der Anteil der Aufgaben, in denen mehrere Hochschulwissenseinheiten bei der Bearbeitung gefordert sind, deutlich höher als bei Universität I, was durchaus als eine Ursache für den deutlich größeren Anteil an gefordertem konzeptuellem Wissen gedeutet werden kann (vgl. 2.3).

Die Verteilung der explizit und der implizit gegebenen Wissenseinheiten ist nahezu ausgeglichen, allerdings sticht die Universität II auch hier deutlich heraus. Neben dem deutlich häufigeren Auftreten von mindestens zwei Hochschulwissenseinheiten bei der Bearbeitung der Aufgaben und einem geringen Anteil von Aufgaben, die mehr als zwei Schulwissenseinheiten verlangen sowie dem zugleich verstärkt geforderten konzeptuellen Wissen in den Aufgaben erscheinen die kognitiven Anforderungen an dieser Universität deutlich höher, was auch anhand der in den Aufgaben geforderten Wissensformen weiter bestärkt wird.

Insgesamt lässt sich für die vier betrachten Universitäten festhalten, dass aufgrund der Anzahl an in den Aufgaben geforderten Wissenseinheiten, dem ausgeglichenen Verhältnis zwischen expliziten und impliziten Wissensformen und nicht zuletzt an den dominierenden Wissensarten ein deutlich höherer kognitiver Anspruch im Vergleich zu Schulaufgaben vorliegt. Dennoch – und das ist nicht zu unterschätzen –, gibt es beachtliche Unterschiede zwischen den Universitäten. So scheint der kognitive Anspruch der Übungsaufgaben der Universität I aus den genannten Gründen deutlich geringer zu sein als der der Universität II. Damit stellt sich unweigerlich die Frage: Inwieweit spiegelt sich dies in den Klausurergebnissen und den Abbruchquoten an besagten Universitäten wider? Stellen die Aufgaben der Klausuren jeweils ein Spiegelbild der den Übungsaufgaben inhärenten Anzahl an Wissenseinheiten, -arten und -formen dar?

9 Fazit und Ausblick

Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich mit dem entwickelten Kategoriensystem die kognitiven Gestaltungsmerkmale von Übungsaufgaben der Analysis I erheben und beschreiben lassen. Dies trägt dazu bei, die Merkmalsverteilung ebenjener Aufgaben mit denen der Schule vergleichen zu können. Hier konnten erhebliche Unterschiede festgestellt werden. So erfordern die Übungsaufgaben der Analysis I zum größten Teil die Aktivierung mehrerer Wissenseinheiten und somit stärker das Verknüpfen von Wissen als dessen bloße Anwendung. Dies zeigt sich auch in einem größeren Anteil von Übungsaufgaben, die eher konzeptuell als prozedural orientiert sind. Nahezu gleich häufig müssen in Übungsaufgaben eigenständig Ansätze gefunden werden bzw. ausschließlich aus der Aufgabenstellung ersichtliche Wissenseinheiten aktiviert werden. Alle diese Ergebnisse zeigen beträchtliche Unterschiede zwischen den Aufgaben der Schulmathematik und den Übungsaufgaben der Analysis I (vgl. 2.2). Dies kann zur Erklärung der Abschreibeproblematik bzw. einer geringen eigenständigen Lösungsquote der Übungsaufgaben in der Studieneingangsphase beitragen. Es konnten weiterhin signifikante Unterschiede zwischen den Merkmalsverteilungen der Übungsaufgaben der verschiedenen Standorte gefunden werden.

Die gewonnenen Ergebnisse müssen jedoch noch weiter empirisch abgesichert werden. So werden in dieser Studie zwar theoretische Merkmale des universitären Lehrangebots beschrieben, inwiefern diese jedoch einen messbaren Einfluss beispielsweise auf die Schwierigkeit von den Aufgaben haben, ist fraglich. So wird durch das Wissenseinheitenkonzept nur eine Mindestkomplexität der Aufgaben bei einer logischen Anordnung der Wissensbestandteile der Studierenden erhoben. Potenziell vorliegende individuelle Lücken der Wissensbestandteile von Studierenden können nicht abgebildet werden. In Folgestudien sollte z. B. untersucht werden, ob Aufgaben, die aus Expertenperspektive die Aktivierung mehrerer Wissenseinheiten erfordern, bei Studierenden niedrigere Lösungsquoten aufweisen als solche, die nur eine Wissenseinheit benötigen. So erlangte Erkenntnisse können dann Einfluss in die Gestaltung des institutionellen Lehrangebots der Module der Studieneingangsphase haben bzw. eine gezielte Konzeption von Unterstützungsmaßnahmen hinsichtlich Studierendenproblemen ermöglichen.

Zwar konnten in dieser Studie die Übungsaufgaben von vier verschiedenen Universitäten untersucht werden, für eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse müssten jedoch weitere Studien die Erkenntnisse replizieren. Dafür wäre insbesondere eine größere Stichprobe in Bezug auf die verwendeten Standorte nötig. Da in dieser Studie nur die Aufgaben von vier Universitäten untersucht worden sind, können Zufallseffekte das Gesamtbild deutlich verzerren. Ebenso beziehen sich Ergebnisse ausschließlich auf das Fach Analysis I. Die Übungsaufgaben der Module Analysis II bzw. Lineare Algebra I und II könnten abweichende Merkmalsverteilungen aufweisen. Insbesondere wäre zu erwarten, dass aufgrund des kumulativen Charakters mathematischen Lernens im zweiten Semester noch häufiger Aufgaben auftreten, die die Aktivierung mehrerer Wissenseinheiten benötigen, gleichzeitig aber der Anteil der Aufgaben, die mit dem bloßen Einsatz von Schulwissen zu lösen sind, sinkt. Analoge Erwartungen sind für fortgeschrittene Lehrveranstaltungen zu formulieren.

Ein grundsätzlicher Nachteil der verwendeten rationalen Aufgabenanalyse besteht darin, dass nur theoretische Erkenntnisse über die Aufgaben gewonnen werden können. So liegen bei der Untersuchung der Aufgaben keinerlei Erkenntnisse über den jeweiligen Kontext, in dem die Übungsaufgabe gestellt wird, vor. So kann der kognitive Anspruch einer Aufgabe deutlich variieren; je nachdem, ob in den Vorlesungen bzw. Übungen des jeweiligen Moduls bereits ähnliche Aufgaben als Beispiele behandelt worden sind oder die Studierenden in den Übungsaufgaben erstmals mit den entsprechenden Anforderungen konfrontiert sind. Für Folgestudien wäre deshalb eine nicht nur isolierte Betrachtung einzelner Übungsaufgaben, sondern die Untersuchung des Zusammenspiels von Vorlesungs- und Übungsinhalten sowie der Übungsaufgaben gewinnbringend. Dadurch kann das den Aufgaben inhärente Potenzial zur kognitiven Aktivierung mit dem tatsächlich realisierten Potenzial abgeglichen werden. Die vorliegende Studie kann keine Erkenntnisse zum realisierten Potenzial liefern.

Abschließend ist festzustellen, dass die Ergebnisse dieser Studie die bereits bekannten Erkenntnisse zu den Gestaltungsmerkmalen der Übungsaufgaben an der Hochschule [64] bestätigen können. So erfordern die Übungsaufgaben entgegen den Charakteristika der Hochschulmathematik in der Studieneingangsphase nicht nur die Verknüpfung von Konzepten im Rahmen anspruchsvoller mathematischer Tätigkeiten. Stattdessen werden in nahezu der Hälfte der auch Aufgaben (Rechen‑)Verfahren eingeübt oder angewendet. Ein solches Vermitteln bzw. Einüben von Prozeduren wird im Hochschulkontext bisher selten konstatiert. Die Ziele des Lehrangebots (vgl. 1) und die Umsetzung ebenjener Ziele im Rahmen der Gestaltung der Übungsaufgaben scheinen zumindest teilweise zu divergieren. Für eine genauere Beschreibung des Lehrangebots der Studieneingangsphase wäre es wünschenswert, in weiteren Untersuchungen dieses Phänomens, Aufgaben, wie sie in Präsenzübungen oder Klausuren gestellt werden, zu betrachten.