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1 Ausgangslage

Im Zuge globaler Interdependenz wächst das Bedürfnis nach interpersonellem Austausch und gegenseitigem kulturellen Verständnis weit über die Ebene nationalstaatlicher Kontakte hinaus. Das Interesse an Kulturverständnis ist ein gesellschaftliches und förderlich für eine enge und nachhaltige Zusammenarbeit (Weigel 2019). Doch bedarf es immer einer nationalstaatlichen Plattform des kulturellen Austausches, um kulturdiplomatische Ziele zu realisieren? Am Vorbild der langjährigen Bemühungen, den zwischengesellschaftlichen Kulturaustausch jenseits von nationalstaatlicher Diplomatie oder Public Diplomacy in den Vordergrund des Dialogs zu stellen, beschreibt dieser Beitrag das Wirken des in Bonn ansässigen Vereins Ostasien-Institut e. V. (OAI) als ein Beispiel für dezentrale, zwischengesellschaftliche Kulturdiplomatie, im Sinne der durch staatliche Förderungsprogramme unterstützten zivilen Institutionen des Kulturaustausches an der Schnittstelle zu einer zersplitterten Kulturbeziehung, der People-to-People Relations. Ein Schwerpunkt liegt auf dem wissenschaftlichen Dialog über den chinesischen Sozialreformer der 4.-Mai-Bewegung und späteren Musikwissenschaftler Wang Guangqi (1892–1936), der im frühen 20. Jahrhundert zum Studium nach Deutschland aufbrach und mit seinem Leben und Werk zum zwischengesellschaftlichen Kulturaustausch beitrug. So liegt es nahe, dass gerade die kulturhistorische Aufarbeitung der Figur Wangs in Bonn Anlass für die Etablierung und spätere Festigung der Städtepartnerschaft zwischen Bonn und Chengdu war und somit ein Beispiel dafür ist, wie ein zwischengesellschaftlicher Kontakt dem diplomatischen vorausging.

Kultur als Ausdruck nationalen Selbstverständnisses wird vor dem Hintergrund von Normfragen und Ansätzen der „weichen Macht“ zum wachsenden Bestandteil internationaler Politik. Damit einhergehend kommt der Bedeutung von Öffentlichkeitsdiplomatie und Kulturdiplomatie wachsende Aufmerksamkeit zu. Neben dem klassischen Verständnis militärischer oder wirtschaftlicher Macht – auch als Hard Power bezeichnet gehören Kultur und Kulturdiplomatie dem Zweig der von Joseph Nye (*1937–) als Soft Power bezeichneten „weichen Macht“ an (Nye 2004, 2011). Entgegen der Annahme, weiche Macht habe etwas mit Idealismus oder Liberalismus zu tun, versteht Nye sie als „eine Spielart von Macht, eine Art und Weise, erwünschte Ergebnisse zu erzielen“ (Nye 2011, S. 135) und so konkurriere man um Legitimität. Denn der „Wettstreit um Legitimität ist Bestandteil des Versuchs, Akteuren zu weicher Macht zu verhelfen oder sie ihnen wegzunehmen, und das gilt in besonderem Maß im Zeitalter der Informationsgesellschaft“ (Ibid.). So ist es auch Merkmal der vernetzten Informationsgesellschaft(en), abseits der nationalen Lenkung Räume des Kulturaustausches zu erschließen, die aber nicht weniger Ausdruck des kulturellen Selbstverständnisses sind und Einfluss auf die internationale Politik nehmen.

Martin Rose spricht im Zusammenhang der Massenkommunikation durch das Internet sogar von einer „Kulturisation der internationalen Politik“ (Rose 2017, S. 2). Durch die Ausweitung auf die zivilgesellschaftliche Sphäre verlagert sich der Kulturaustausch auf Akteure, die mittelbar zur kulturdiplomatischen Agenda der nationalen Politik beitragen und sie gleichsam legitimieren. Sie tragen somit zur von Nye beschriebenen Soft Power bei. Jedoch wird die Gestaltung des Kulturaustausches vor neue Herausforderungen gestellt, da sich dieser auf jedwede interpersonellen Beziehungen (People-to-People Relations) ausdehnt und Räume außerhalb der staatlichen Lenkung ermöglicht. Wie schon Nye herausstellte, ist Kultur „nie statisch und unterschiedliche Kulturen interagieren auf unterschiedliche Weise miteinander“ (Nye 2011, S. 137). Dies gilt im besonderen Maße für Subkulturen innerhalb der nationalen Staaten, die sich selbst oder abweichend eines Mainstreams definieren und im Dialog miteinander weiterentwickeln. Die „Kulturisation der internationalen Politik“ weicht somit die Grenzen eines Nationalstaates zugunsten der kulturellen Diversität auf.

Um die Diversität innerhalb einer Bevölkerung mit ihren kulturellen Entwicklungen abzubilden, ist eine niederschwellige Plattform des Dialogs notwendig. Einer mittelbar gelenkten Förderung des gegenseitigen Austausches kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie im Sinne der Nye’schen Legitimation und Machtallokation operiert, aber den umsetzenden, zivilen Akteuren Freiräume gewährt, zum Beispiel über Systemgrenzen politischer Kulturen hinauszuschauen.Footnote 1 Darin liegt die Stärke freier Trägerschaften im Kulturaustausch zwischengesellschaftlicher Beziehungen und die Schnittmenge von Kulturbeziehungen und Public Diplomacy: als Kulturdiplomatie. Doch welche Herausforderungen entstehen aus der wachsenden Beachtung, die dem Kulturaustausch in der internationalen Politik und ihren Spannungsverhältnissen zukommt? Jedwede Anmaßung einer nationalstaatlichen Deutungshoheit über ein kulturelles Erbe im Rahmen einer „Öffentlichkeitsdiplomatie“ birgt die Gefahr der Politisierung zugunsten strategischer Machtüberlegungen und könnte somit hinderlich für einen freien Austausch zwischen den (zivil-)gesellschaftlichen Kulturen jenseits einer Systemkonkurrenz sein. Durch eine wachsende diplomatische Aufmerksamkeit steigt die politische Einflussnahme, zum Beispiel auf den kulturellen oder akademischen Austausch. So berichtete die Wissenschaftsgemeinde, dass Forschungsbeiträge für Fachkonferenzen den chinesischen Richtlinien zu entsprechen haben.Footnote 2 In dieser Praxis der Einflussnahme auf freie Wissenschaft deutet sich eine gemeinsame Herausforderung für die zwischengesellschaftliche Kulturdiplomatie der Weltgemeinschaft an,Footnote 3 die im transnationalen Umgang um gegenseitigen Respekt für mitunter verschiedene Vorstellungen über ein gemeinsam beanspruchtes – globales – kulturelles Erbe ringen.

2 Kulturdiplomatie

Kulturdiplomatie ist als eine Form von Public Diplomacy primär zielgerichtet auf das gegenseitige Verständnis unterschiedlicher Kulturkreise durch die Förderung des institutionellen, zivilgesellschaftlichen Kulturaustausches. Entgegen der eingleisigen Vermittlungsfunktion von staatlichen Akteuren zu einer Zielgesellschaft liegt jedoch der Fokus auf dem zweigleisigen, zwischengesellschaftlichen Austausch.Footnote 4 Eben dieser staatlich geförderte, zwischengesellschaftliche Austausch ist eine betonte Stärke chinesischer Außenbeziehungen, die außerhalb Chinas „weitestgehend unbemerkt“ (Winter 2016) blieb. Anders als das Verständnis der Public Diplomacy richtet sich die Kulturdiplomatie eben nicht ausschließlich darauf, die „nationale Idee in einem bestmöglichen Lichte darzustellen“ (Goff 2013), sondern sie „enthüllt die Seele einer Nation“ (US Department of State, zitiert nach Goff 2013, S. 4). Damit bietet Kulturdiplomatie die Möglichkeit, sich von der nationalpolitischen Agenda zu entheben und jenseits einer im Raum stehenden Systemkonkurrenz den bi- oder auch multilateralen Austausch zu bereichern.

Eine fortschreitende globale Verflechtung regt den zwischengesellschaftlichen Austausch an. Durch die Ausdehnung auf die interpersonelle Ebene des Kulturaustausches wird eine zwischenstaatliche Diplomatie oder ein staatlich organisierter Beziehungsaustausch ergänzt: People-to-People-Beziehungen sind sowohl Symbol als auch Folge einer neuen Kulturdiplomatie. Auf diese Weise verstanden wird dem einzelnen Nationalstaat die alleinige Deutungshoheit über ihre kulturellen Güter entzogen. Wie in anderen globalen Wirkungsbereichen transnationaler Organisationen lässt sich also auch für den Raum der Kulturbeziehungen annehmen, dass es nicht immer eine staatliche Förderung oder gar Führung für den Kulturaustausch zwischen den „Völkern“ geben muss. Die Kulturdiplomatie trägt dazu bei, indem Kultur per se als ein öffentliches Gut (Public Good) und die kulturellen Erzeugnisse als ein globales Gut der Weltgemeinschaft verstanden werden. Wie der chinesische Staatspräsident Xi Jinping betonte, ist die globale Weltgemeinschaft eine „Schicksalsgemeinschaft“,Footnote 5 die im Wesen wohl nur eine transnationale oder gar entnationalisierte sein kann.

Kulturdiplomatie ist also keine Einbahnstraße, in der sich der eine Partner dem anderen darstellt: Kulturdiplomatie ist vielmehr ein Raum, eine neutrale Begegnungsplattform des gegenseitigen Austausches von Ideen, Perspektiven und Wahrnehmungen einer gleichen, aber unterschiedlich erlebten Geschichte. Nach Patricia Goff kann Kulturdiplomatie auf diese Weise dazu beitragen, eine Geschichte eines Landes zu erzählen, die sich in einzelnen Aspekten zur offiziellen Politik abgrenzt und negative, stereotype oder stark vereinfachte Eindrücke versetzt oder gar korrigiert (Goff 2013, S. 3). Durch den Austausch auf der zwischenmenschlichen Ebene können Erfahrungen mit den Erfahrungen anderer ausgetauscht werden, die auf der offiziellen, nationalstaatlichen Austauschebene verschlossen blieben, weil sie „schwer zu greifen“ (Ibid.) seien.

Die Stärke kulturdiplomatischer Beziehungen liegt darin, dass offizielle zwischenstaatliche Beziehungen nicht zwingend sind, wie sich am Beispiel grenzüberschreitend reisender Kulturschaffender zeigt sowie an Artistinnen und Artisten, die „miteinander kommunizieren können, um bedeutungsträchtige Verbindungen zu schmieden“ (Ibid.). Diese einzigartige Stärke zeigt sich in den chinesisch-deutschen zwischengesellschaftlichen Beziehungen am Beispiel des politisch aktiven Musikethnologen Wang Guangqi, der im frühen 20. Jahrhundert nach Deutschland reiste und selbst eine Größe eben dieses zwischengesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Kulturaustausches wurde (Gong und Huang 2020).

Gleichzeitig liegt die Schwäche in der „Kulturisation diplomatischer Beziehungen“, in der Politisierung. Vor dem Hintergrund der Integration von Kulturbeziehungen und Diplomatie forderte Martin Rose eine neue Kulturdiplomatie (2017). Als politische Gesellschaften stehen wir einerseits vor der Herausforderung, auf die innovativen digitalen Entwicklungen und ihre vernetzenden Möglichkeiten einzugehen. Andererseits müssen wir Lösungen anbieten, die auch neue Spannungsverhältnisse zwischenstaatlicher und zwischengesellschaftlicher Beziehungen im Kulturaustausch berücksichtigen. Ein Schlüssel liegt möglicherweise darin, den Gesellschaften Freiräume des zwischengesellschaftlichen Dialogs zu gewähren oder sie gar außerhalb der aktuellen nationalstaatlichen politischen Agenda vertrauensvoll zu fördern. Wie schwer sich dies gestaltet, zeigt sich im Verhältnis der nationalen Deutungshoheit über ein nationalstaatlich beanspruchtes Erbe.

3 Nationale Deutungshoheit und kulturelles Erbe

Wem gehört ein kulturelles Gut? Im Zuge transnationaler Verschränkung tritt der Spagat zwischen Weltkulturgut und nationalem Anspruch als Thema in die Debatte Auswärtiger Kulturpolitik ein. Besteht ein kulturelles Erbe losgelöst von seiner gesellschaftlich-historischen Entwicklung oder wird ein kulturelles Erbe von seiner (nationalen) gesellschaftlichen Gegenwart erst als Erbe definiert? Ist es der nationale Anspruch oder eine Weltgemeinschaft, die entscheidet, welches Kulturgut es zu schützen gilt und welches der gesellschaftlichen (Fort-)Entwicklung unterliegt? Wird die Beethoven-Interpretation eines chinesischen Musikers dem deutschen oder chinesischen Kulturgut zugerechnet? Verschwimmen kulturelle Grenzen im Zuge von Globalisierung und gesellschaftlicher Transnationalisierung?

Wenn wir als Weltgemeinschaft auf die Zerstörung in Palmyra schauen,Footnote 6 scheint die Empörung eine klare Position vorzugeben. Aber wie sieht es mit einzigartigen chinesischen Architekturen wie den Hutongs in Großstädten wie Peking aus? Die einstige urbane Wohn-Kultur symbolisierte eine soziale Struktur. Die Wohnkomplexe wichen einer anderen – international-modernen – Lebenskultur, die ebenso dem Wandel der Zeit unterliegt: Neues verdrängt Altes. Was ist aber mit symbolträchtigen Gebäuden, die für eine Geschichte stehen, derer sich eine Gesellschaft entledigen will? Darf diese Architektur gemäß der Selbstbestimmung zerstört werden? Muss sich eine Gesellschaft wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft ihrer abgelehnten nationalsozialistischen Geschichte entledigen? Der Zusammenhang zur nationalen Identität und Selbstbestimmung liegt klar auf der Hand.

Öffentliche Güter sind nicht frei von dem ihm zugesprochenen Stellenwert kultureller Erzeugnisse für die jeweilige nationale Identitätsbestimmung. Ein kulturelles Erbe schafft identitätsstiftende Gemeinsamkeiten, und ideelle Werte generieren ein nationales „Wir“-Verständnis. So steht zum Beispiel die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) für eine chinesische Gesundheitskultur gegenüber einer westlichen Schulmedizin. Mit diesen Medizinschulen wird einerseits über Jahrtausende gesammeltes Wissen transportiert und andererseits eine nationale Politik manifestiert. Auch an diesem Beispiel verdeutlicht sich die Verflechtung zwischen der Behauptung kulturellen (geistigen) Erbes mit internationaler Politik. Gemäß den Gedanken Mao Zedongs symbolisierten die Barfußärzte eine nationale Besonderheit. 1980 erfuhr diese Initiative von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) internationale Anerkennung. Heute wird TCM als ein Kultur-Exportgut alternativer Medizin gehandelt.Footnote 7 Sie symbolisiert Chinas Bereitschaft zur wachsenden internationalen Verantwortungsübernahme und trägt speziell auf interpersoneller Ebene zur Soft Power der chinesischen Außenkulturbeziehungen bei. Der gezielten Instrumentalisierung kultureller Güter zur Ausweitung von Soft Power sprechen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine zunehmende Bedeutung zu (Zhou und Luk 2016; Hartig 2014; Winter 2016).

Der staatlich gelenkte Kulturaustausch wird dann zum Problem für eine freie Außenkulturbegegnung, wenn die Bandbreite gesellschaftlicher Kulturen zugunsten strategischer Diplomatie einem staatspolitischen Mainstream unterworfen wird. Die Vorteile einer zwischengesellschaftlichen Kulturdiplomatie würden dem politisierten Kampf um die Deutungshoheit unterliegen und zurückfallen auf das „gegenseitige Zeigen“ (Weigel 2019) kultureller Erzeugnisse. Kulturvermittelnde Vereine wie das deutsche Goethe-Institut oder staatliche Einrichtungen wie das chinesische Konfuzius-Institut haben Teil an einer Public Diplomacy des entsendenden Nationalstaats. Sie sind per definitionem nicht losgelöst von der jeweiligen Soft-Power-Strategie des Staates zu betrachten (Zhou und Luk 2016; Hartig 2014). Umso wichtiger ist ergänzend oder als wesentlicher Bestandteil ein dezentraler, zwischengesellschaftlicher Austausch, der sich an den Erfahrungen der Anfänge kulturellen Austausches orientiert. Ein klassisches Beispiel ist der Versuch, Kultur erfahrbar zu machen und sie gar zu einer eigenen erlebten Erfahrung werden zu lassen – das Hören fremder Klänge gehört dazu.

4 Kultur bewegt, Musik versteht – das Ostasien-Institut e. V

„Von allen fremden Dingen in China, die dem Europäer unverständlich sind, auch wenn er sich jahrelang in jenem Land aufgehalten hat, gehört zu den fremdesten die Musik. (…) Aber wenn man die richtige Geduld besitzt, gehen einem auch die Schönheiten der chinesischen Musik allmählich auf.“ (Wilhelm 1927).

Ein Schwerpunkt des Bonner Ostasien-Instituts e. V. (OAI) liegt auf dem verbindenden Charakter der Musikforschung. Das Interesse an kulturellem Austausch bewegt Menschen schon seit Jahrhunderten, sich in die Ferne zu begeben. Reisende berichten von ihren Erlebnissen und bereichern das Verständnis ihrer Heimatgesellschaft. So finden sich zum Beispiel in den Reiseberichten Richard Wilhelms (1873–1930) vielzählige überlieferte Eindrücke über das China seiner Zeit, in der er die Fremdartigkeit der chinesischen Musik hervorhebt. Im Erleben fremder Klänge sieht er die Emotionalität einer ganzen Gesellschaft vertont in Musik. Für Wang Guangqi lag der musikkulturelle Unterschied zwischen dem westlichen und fernöstlichen Stil darin, dass jener wie im Deutschland der 1920er-Jahre lebendig sei, wohingegen fernöstliche Musik sentimentaler und nahezu melancholisch wirke (Wang 2009).

Über klassischen Kulturaustausch und die Ermöglichung des Erlebens „fremder Klänge“ hinaus veranstaltete das OAI in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur musikalische Abende für eine am Kulturaustausch interessierte Öffentlichkeit, sondern es schuf in akademischen Workshops eine Bühne für den gemeinsamen Dialog über die Faszination Musik. Unter dem Titel „The Strange Sound“ organisierte das OAI 2014 ein Symposium, das sich sowohl mit dem soziopolitischen und musikwissenschaftlichen Beitrag Wangs als auch mit diversen Aspekten der Musikologie und Musikethnologie auseinandersetze (siehe dazu Münning, Perkuhn und Sturm 2016).

Das OAI wurde 1969 als freie Forschungseinrichtung zur Verbesserung des Austauschs zwischen Deutschland und Asien von privater Initiative, unter anderem durch Alois Osterwalder (1933–2021), gegründet (siehe dazu Huang 2016). Bis heute leistet das OAI einen Beitrag zum Kulturaustausch zwischen Europa und Asien. Es bildet die von Weigel in Transnationale Auswärtige Kulturpolitik – Jenseits der Nationalkultur identifizierten Entwicklungsschritte sich überschneidender Diskurse in der Außenkulturpolitik ab (Weigel 2019, S. 14–22). Die „Wechselseitigkeit des Austausches“ (von Herwarth 1965, S. 403–412, S. 407) steht im Mittelpunkt. Der Aufbau der Beziehungen zielt zudem verstärkt auf Langfristigkeit ab, worin auch ein Unterscheidungskriterium zur reinen Informationspolitik besteht (vgl. Weigel 2019, S. 15). Das OAI wurde im Geiste der Reform „zwischenstaatlicher Gesellschaftspolitik“ (Weigel 2019, S. 16) der späten 1960er-Jahre aus einem Arbeitskreis einer interessierten zivilen Öffentlichkeit gegründet. Neben chinesischer Musik und Theaterkunst behandelte das OAI auch Themenfelder wie Technologie und warb erfolgreich Forschungsgelder ein. Zunächst galt das Interesse dem Technologieaustausch mit Japan. In den anschließenden 1980er- und 1990er-Jahren beschäftigte sich das OAI jedoch entsprechend dem Zeitgeist der Entwicklungspolitik schwerpunktmäßig mit China. So beteiligte es sich im Jahre 1992 an dem Projekt „Mountain-River-Lake“ in der Provinz Jiangxi.Footnote 8 Ebenso kooperierte es von 1988 bis 2003 mit der Universität Nanchang zur Errichtung eines gemeinsamen Labors der Lebensmittelsicherheit, woraus das Jiangxi-OAI Joint Research Institute hervorging.Footnote 9

Mit der Jahrtausendwende rückten im Zeichen der Globalisierung Werte in den Vordergrund der Kulturpolitik, die sich auch auf die Verwirklichung der Menschenrechte oder die Stärkung der Zivilgesellschaft bezogen und den Fokus auf partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Akteuren im Ausland lenkten (vgl. Weigel 2019, S. 1). Diese Kulturbeziehungen waren durch „eine Tendenz zur Entstaatlichung der Maßnahmen“ (Weigel 2019, S. 19) ausgezeichnet. Im Zeitalter einer globalisierten Weltbevölkerung rücken die Idee der Zweibahnstraße und damit ein gegenseitig entstehendes Kulturverständnis in den Vordergrund. Mit der 2012 präsentierten Ausstellung „China meets Europe – Europe meets China“ entwickelte das OAI ein Programm, das diesem Anspruch gerecht wird. Dem OAI geht es in Kooperation mit ihren chinesischen Partnern um ein gemeinsames geschichtliches Verständnis. So lautet der Untertitel des Tagungsbandes The Beginnings of European-Chinese Scientific Exchange in the 17th Century (Deiwiks et al. 2014).

Kein anderes Thema aber besetzt das OAI so beständig wie den Bereich des musikalischen Kulturverständnisses. Die zwei Musiksymposien, die das OAI 2014 und 2016 im Bonner Kammermusiksaal des Beethoven-Hauses veranstaltete, waren öffentlichkeitswirksame Höhepunkte eines langjährigen und dezentralen Dialogs zum Austausch von Erfahrungen und wissenschaftlicher Reflexion über gemeinsames kulturelles Erbe. Namhafte Musikologinnen und Musikologen sowie Musikhistorikerinnen und Musikhistoriker, wie Gong Hong-yu von der Unitec Institute of Technology Neuseeland und Zhao Chonghua von der Sichuan Musikhochschule in Chengdu, zählen zu den akademischen Kontaktpersonen des OAI. Durch das private Engagement Einzelner entstand über die Jahrzehnte eine Institution des integrierten deutsch-chinesischen Kulturaustauschs.

Das OAI fungiert als eine freie Mittlerorganisation, die als Verein organisiert ist. Der durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und erworbene Drittmittel finanzierte Verein ist ein gutes Beispiel für einen nachhaltigen, praktischen und kulturwissenschaftlichen chinesisch-deutschen Dialog über das Verständnis eines gemeinsamen kulturellen Erbes jenseits politischer Systemgrenzen. Allerdings steht auch diese frühzeitig initiierte Mittlerorganisation vor der Herausforderung einer nachhaltigen Existenzsicherung und finanziellen Förderung. Gerade das Feld des deutsch-chinesischen Kulturaustauschs scheint gänzlich staatlichen Instituten Auswärtiger Kulturpolitik überantwortet zu sein. Ein Grund könnte in der Behauptung nationalstaatlicher Deutungshoheit liegen bzw. in der als politisch zunehmend wichtig angenommenen deutsch-chinesischen Kulturbeziehung.

Die jahrzehntelange Beschäftigung mit Wang Guangqi und seinem politischen und musikwissenschaftlichen Lebenswerk verdeutlicht die Suche nach gegenseitigem Verständnis über Widerstände wie die unterschiedlichen Sprachen hinaus. Musik stellt eine eigene Sprache dar, die ohne Worte erfahrbar ist. Dieser kulturelle Austausch beschreibt eine eigene Geschichte der Verständigung auf zwischenmenschlicher und zwischengesellschaftlicher Beziehungsebene in bewegten Zeiten politischen Wandels. Wang war im Juni 1919 neben Li Dazhao (1889–1927)Footnote 10 und Zeng Qi (1892–1951) Mitbegründer der Gesellschaft des Jungen Chinas (Shaonian Zhongguo xuehui).Footnote 11 Wang steht exemplarisch für eine Generation der chinesischen Jugend, die von der Phase des politischen Umbruchs zwischen Tradition und Moderne geprägt wurde. Er zählt zu jener offenen Jugend der 4.-Mai-Bewegung.Footnote 12

5 Das Musikinteresse der 4.-Mai-Bewegung

Es ist bemerkenswert, dass die interessierte Jugend dieser Bewegung den Kulturaustausch mit dem „Westen“ suchte. Viele Beteiligte schlossen sich der Reise in die Welt, speziell nach Europa, an. Es war die Jugend, die sich in Bewegung setzte, um zur Veränderung der heimischen Kultur mit ihren Erfahrungen beizutragen: Die einen widmeten sich dem Studium des Kommunismus, die anderen fanden eine neue akademische Heimat in der Musikforschung. Revolutionäre wie Wang Guangqi oder auch Cai Yuanpei (1868–1940) und Xiao Youmei (1884–1940) verschrieben sich der Musik und studierten Musikethnologie.Footnote 13 Doch wer war dieser junge Student Wang Guangqi und was macht die Figur für den gelebten Kulturaustausch so interessant?

6 Wang Guangqi: vom politischen Aktivisten zum Musikwissenschaftler

Wang GuangqiFootnote 14 wurde 1892 nahe Wenjiang in der westchinesischen Provinz Sichuan in eine verarmte Gelehrtenfamilie geboren. Als Sohn einer verwitweten Mutter war er auf die Unterstützung seines familiären Umfelds angewiesen. Diese erhielt er von seinem Großvater Zhao Erxun (1844–1927), der dem jungen Wang sowohl zur traditionellen chinesischen SchulbildungFootnote 15 als auch zur ersten offiziellen Anstellung im Amt für Qing-Geschichte (Qingshi guan) verhalf. Zuvor verdingte sich Wang als Herausgeber einer Zeitung, zog in die ostchinesische Küstenregion, wo er in Shanghai und Qingdao lebte und verstärkt in Kontakt mit westlichen Ideen kam. Zu den wichtigsten chinesischen Bekanntschaften, mit denen Wang sich bereits in der Mittelschule anfreundete, gehörten Persönlichkeiten wie der spätere Schriftsteller und Gründer der Provinzzeitung Chuanbao (Sichuan News), Li Jieren (1891–1962), der Gründer der Chinesischen Jugendpartei (Zhongguo qingnian dang), Zeng Qi (1892–1951) und Wei Siluan (1895–1992), dessen Lebensweg ebenso nach Deutschland führte, wo er sich zum Mathematiker ausbilden ließ (vgl. Deiwiks und Osterwalder 2017).

Wang Guangqi war im Zeitalter des Aufbruchs ein politischer Aktivist. Getrieben von der Vorstellung einer modernen Zukunft Chinas verließ er 1920 seine Heimat und reiste nach Deutschland. Auf seiner „Reise gen Westen“ entdeckte er für sich den Schlüssel zum kulturellen Verständnis in der Volksmusik und begann das Studium der Musikethnologie (Gong 2016). Die ersten zwei Jahre hielt er sich in Frankfurt am Main auf, bevor er gut eine Dekade zum Studium bei Größen wie Curt Sachs (1881–1959) in Berlin verbrachte. Auf Empfehlung, unter anderem von dem Professor für Orientalistik Paul E. Kahle (1875–1964), wurde Wang als „Außerplanmäßiger Lektor für Chinesisch“ an der Universität Bonn angestellt. Bei der Klosterruine Heisterbach entstand auch die Fotografie Wangs auf dem steinernen Fisch (Abb. 1). In Bonn verlebte Wang seine letzten Lebensjahre. Er starb im Januar 1936 im Alter von knapp 44 Jahren (Gong 2002).

Abb. 1
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(© OAI e. V)

Wang Guangqi auf dem Stein vor der Klosterruine Heisterbach.

Wang wurde laut dem Musikhistoriker Gong Hong-yu in Deutschland zu „einem unbeabsichtigten Musikologen“ (Gong 2016). Der stürmische Aktivist, der zuvor eine Laufbahn als Revolutionär und Jugendführer eingeschlagen hatte, wandte sich nun, angeregt durch seine musikethnologischen Studien mit Reformideen, an das Neue China (Zhao 2016). Erst in Deutschland entwickelte der junge Wang seine Leidenschaft für die Bedeutung der Musik, die nach Wang einen hohen Stellenwert zur nationalen Identitätsbildung einnimmt (Ibid.).

Gong Hong-yu identifizierte die wichtigsten sozialen Rollen Wangs, an denen sich sein nachhaltiger Einfluss auf den Kulturaustausch abzeichnet. Wang war Verbreiter deutscher Musikpädagogik, Übermittler der Vergleichenden Musikwissenschaft und Vertreter der neuen Vision für die Modernisierung Chinas (Gong 2016). Obgleich Wangs Lebenswerk in China weitläufig bekannt sein sollte, ist seine außerordentliche Rolle aufgrund seiner sozialen und journalistischen Aktivitäten als Jugendführer, die mit Größen wie Li Dazhao, Chen Duxiu (1879–1942)Footnote 16 und Hu Shi (1891–1962) vergleichbar sind, bislang wenig bekannt (vgl. Gong 2016).

7 Wang Guangqi und das OAI

Die Beschäftigung mit der Person Wang Guangqi begann bereits mit der dem OAI vorausgegangenen Arbeitsgemeinschaft „China-Europa“. Sie organisierte die Ausstellung „Musik und Theater in China“, die im Februar und Oktober 1968 im Rheinischen Landesmuseum Bonn beziehungsweise in Sankt Augustin gezeigt wurde und dem Musikwissenschaftler Wang gewidmet war. Besonders das Vereinsmitglied Klaus Stermann hatte sich um die Sammlung von Material zu Wang bemüht (vgl. Gong und Huang 2020). Er trug eine Reihe von Informationen, Briefwechseln und Zeitzeugenaussagen zusammen und dokumentierte Wangs Leben und Werk mit eigenen Fotografien. In Bonn wohnte Wang in der Argelanderstraße 33. Das Haus ist heute denkmalgeschützt. Klaus Stermann fotografierte auch Zimmer und Habseligkeiten wie „seinen Schreibtisch, eine deckentragende Karyatide aus dem Stuckornament im von Wang bewohnten Zimmer, drei geschnitzte Affen in Jade, die Wang seinen Wirtsleuten schenkte“ (Deiwiks und Osterwalder 2017, S. 32). Dieses Bildmaterial wurde im OAI verwahrt, bis es dem Musikhistoriker Gong Hong-yu für seine Forschungszwecke zur Verfügung gestellt wurde.

Mittlerweile wurde Wangs Geburtsort bei Wenjiang in die angrenzende Provinzhauptstadt Chengdu eingemeindet und der „Anspruch auf Wang Guangqis kulturelles Erbe“ mit einem Musikwissenschaftlichen Zentrum zu Ehren Wangs am Sichuan Conservatory of Music (Sichuan Yinyue xueyuan Wang Guangqi xueshuyanjiu zhongxin) verstetigt. Die Bedeutung der Figur Wang Guangqi für den chinesisch-deutschen Kulturaustausch tritt deutlich in der späteren Begründung der mittlerweile zehnjährigen Städtepartnerschaft zwischen Chengdu und Bonn hervor.

Das OAI bemühte sich, Wangs Beitrag für die Nachwelt aufzubereiten. Es setzte sich unter anderem dafür ein, zu seinen Ehren eine Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus in der Bonner Argelanderstraße anzubringen (Abb. 2). Zudem veranstaltete das OAI mit freundlicher Unterstützung des gegenwärtigen Hausbesitzers Stefan-Peter Greiner am 4. Mai 2019 eine Jubiläumsfeier, um an Wangs politischen Beitrag bei der gleichnamigen Bewegung zu erinnern. Unter dem Titel „Aus Chengdu in die Welt: Wang Guangqi und die Jung-China-Vereinigung im Europa der Zwischenkriegszeit“ trug die frisch promovierte Nachwuchswissenschaftlerin Christina Till ihre Forschungsergebnisse vor. Der Kerngedanke der gemeinsamen, akademischen Aufarbeitung seines Lebenswerks für eine breite Öffentlichkeit unter Beteiligung einer interkulturell-versierten Wissenschaftsgemeinde war auch hier zentrales Anliegen des OAI.

Abb. 2
figure 2

(© OAI e. V. Aufgenommen am 9. September 2017)

Gedenktafel für Wang Guangqi, Argelanderstraße 33.

8 Schlussbetrachtung

Vor dem Hintergrund eines wachsenden Stellenwerts der „Kulturisation“ internationaler Politik nimmt sowohl die interpersonelle Kulturbeziehung als auch die Notwendigkeit entstaatlichter Plattformen der freien Begegnung eine wachsende Bedeutung des Austauschs ein. Auch dank ökonomischer Verflechtungen treten zunehmend Menschen in den Dialog, um sich über ihre kulturellen Erfahrungen als Mediatorinnen und Mediatoren ihrer Nation und als Teil einer zusammenwachsenden Weltgemeinschaft auszutauschen. Es kommt zu weitreichenden Verflechtungen unterschiedlicher Sektoren des Austausches. Die globale Herausforderung liegt in der Selbstbehauptung kultureller Erzeugnisse: Kunstschaffende oder -interpretierende jenseits der nationalen Politikstrategie erhalten derart auch Deutungshoheit über ihr (nationalgeprägtes) Kulturverständnis, was sie gleichsam bewahren und womit sie potenziell auch einer (nationalstaatlichen) Politisierung entgegenwirken können. Dafür ist ein Kulturaustausch jenseits der politischen Agenda nationaler Kulturdiplomatie zwingend erforderlich. Freie Institute können außerhalb des (national-)staatlichen Auftrags operieren. Auch wissenschaftliche Einrichtungen tragen zum Gelingen des Kulturaustausches im gegenseitigen Dialog bei, wie das Beispiel der jahrzehntelangen Verbundenheit des OAI mit der musikwissenschaftlichen Fachgemeinde aus dem westchinesischen Sichuan belegt.

Ein Beitrag, dieser globalen Herausforderung zu begegnen, ist es, den Kulturaustausch jenseits der Systemfragen zu stärken, indem langjährige Kooperationen akademischer und künstlerischer Natur vertieft werden, indem der zwischengesellschaftliche Austausch gefestigt und der aktive Dialog zwischen der Wissenschaftsgemeinschaft und einer interessierten Bevölkerung auch jenseits (direkter) staatlicher Förderung verfolgt wird. Das Beispiel der Musikforschung wirft aber auch die Frage auf, ob Musikethnologie einer Zukunft standhält oder vielmehr transnationale Musikkulturen Ausdruck einer globalen Schicksalsgemeinschaft werden.