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Die internationale Politik hat uns gelehrt, alle Ansprüche auf universelle Wahrheiten mit Misstrauen zu betrachten. Diese Skepsis muss nicht automatisch eine Befürwortung des Kulturrelativismus bedeuten, obwohl sie dazu neigt, in diese Richtung zu gehen – oft mit vorhersehbaren Ergebnissen –, wie viele der Menschenrechtsdebatten seit dem Zweiten Weltkrieg und vor allem die Debatte über asiatische Werte seit den 1990er Jahren gezeigt haben. In dem Maße, in dem diese Diskussionen durch das unaufhörliche Spiel der Gegensätze geprägt sind, scheint es, dass der Universalismus nicht anders kann, als seine Gegensätze zu strukturieren – und gleichzeitig von ihnen strukturiert zu werden, seien es der Kulturrelativismus, der Partikularismus oder andere Begriffe. Einige wollen sagen, dass dies auf fast alle Argumente des Universalismus zutrifft, und wir können kaum eine Haltung gegen sie einnehmen, ohne zu einem ihrer Gegensätze Zuflucht zu nehmen. Oder doch? Auch wenn man dieser Logik nicht entkommen kann, sollte uns die Sackgasse nicht davon abhalten, eine Reihe differenzierter Fragen zu stellen. Was steht zum Beispiel auf dem Spiel, wenn jemand beschließt, sich für – oder gegen – die Universalität der Menschenrechte einzusetzen?

Diese Frage führt uns zwangsläufig zur Politik des Universalismus – einem Universalismus der Menschenrechte –, der sich als schwieriger zu analysieren erweist als allgemeine Ausführungen über die allgegenwärtige Politik der Menschenrechte zu machen. Letztere wurde nach dem Kalten Krieg und im Zuge seiner Folgen von Historikern und politischen Theoretikern eingehend untersucht. Unter ihnen bietet Samuel Moyn vielleicht eine der bisher überzeugendsten Kritiken (Moyn 2010). In The Last Utopia weist er das Narrativ von der Kontinuität zurück, indem er die jüngste Erfindung der Menschenrechte von der früheren Idee des Naturrechts in den europäischen rechtlichen und theologischen Traditionen einerseits und von den Rechten des Menschen im Zeitalter der Revolutionen andererseits unterscheidet. Indem er die Menschenrechte auf den Aufstieg neuer sozialer Bewegungen zurückführt, die um diese Idee herum mobilisiert wurden, und auf die amerikanische Außenpolitik, die nach dem Amtsantritt von Präsident Jimmy Carter im Jahr 1977 auf ihren Grundsätzen beruhte, zeichnet Moyn das diskursive Terrain des Menschenrechtsdiskurses im Wesentlichen als eine amerikanische Idee – wenn nicht gar als eine imperiale amerikanische Ideologie – nach, die mit einer Reihe anderer Ideen und Normen rivalisierte, die die moderne Welt geprägt haben, vor allem mit antikolonialer Selbstbestimmung und nationaler Souveränität. Dieses revisionistische Narrativ betont die Rolle der sozialen Bewegungen und ihre Beziehung zur Politik des Kalten Krieges, doch die impliziten Fragen nach der Herkunft – wer hat die Menschenrechte erfunden, wann und wo? – scheinen in einem neuen genealogischen Gewand fortzubestehen, selbst wenn die Universalität des Konzepts selbst angefochten wird.

Nicht, dass ein Anspruch auf Urheberschaft – die europäische Erfindung der droits de l’homme und die amerikanische Neuerfindung der Menschenrechte – besonders interessant ist oder mehr Aufmerksamkeit verdient als der Universalismus. Das Problem liegt gerade in der Unbestimmbarkeit, wo das Eigene aufhört und das Universelle beginnt; der eine Begriff verkehrt sich unweigerlich, um den anderen durch einen immerwährenden Taschenspielertrick zu erobern. Die unaufhörlichen Runden begrifflicher Ab- und Zugänge – die sich dem Denken nur selten erschließen – verwandeln den proprietären Anspruch im Namen der Philosophie, der Geschichtsschreibung, des Rechts, der politischen Theorie und anderer Wissenszweige (des Westens) oft in den Zustand des Universellen. Wir haben erlebt, wie sich dieser begriffliche Schachzug – die geschickte Umwandlung von „Wer hat X erfunden und wo?“ in „Die Wahrheit von X“ – immer wieder in der Art einer produktiven Dialektik von Allgemeinem und Besonderem durchgesetzt hat. Diese Dialektik stellt uns vor die zweite Schwierigkeit – die erste ist das unendliche Spiel der Gegensätze – bei unserem Versuch, den Universalismus der Menschenrechte zu verstehen. Je nachdem, wie sie formuliert wird und an wen sie gerichtet ist, kann die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem durchaus einige grundlegende politische Situationen der Vergangenheit oder Gegenwart verschleiern, die die Art von Fragen bestimmen, die man legitimerweise an die Herausforderung des Universalismus stellen kann.Footnote 1

Eine dritte Schwierigkeit betrifft die Lesbarkeit der diskursiven Struktur der Menschenrechte. In dem üblichen begrifflichen Spiel von Gegensätzen und Spiegeln, sicherlich nicht ohne implizite Bezüge zum Westen und dem Rest der Welt, gab es eine geopolitische Wanderschaft des Universalismus – stets mit dem Telos des menschlichen Fortschritts –, die für sich selbst seltsam transparent erscheint, so transparent, dass man die verdrängten Begriffe bei der Gestaltung positiver Begriffe nicht mehr erkennen kann – oder, in diesem Fall, wie das Konzept der Menschenrechte als ein universelles strukturell mit einigen anderen Begriffen, wie „zivilisiert“ und „unzivilisiert“, zusammenhängen kann. Die verdrängten Begriffe sind, wie ich in meinem Aufsatz zu erläutern versuche, genau das, was es der Politik der Menschenrechte und ihrem universellen Anspruch ermöglicht, auf einigen grundlegenden Ebenen voll funktionsfähig zu sein. Ich nenne sie die Schatten des Universalismus.

Das Problem ist, dass diese Schatten in der Regel durch den fetischistischen Fokus auf positive Begriffe verdeckt werden, der uns in der Ideengeschichte, der Begriffsgeschichte und den Studien von Schlüsselworten regelmäßig begegnet. Unsere wissenschaftliche Vorliebe für positive Begriffe – die ich als verbalen Fetischismus bezeichne – wurde leider durch die von Raymond Williams populär gemachten „Studien von Schlüsselworten“ verstärkt. Williams‘ Herangehensweise an Begriffe wie culture und civilization durch die englische, französische und deutsche Etymologie kann die Art der radikalen begrifflichen Transformation, die ich hier untersuchen möchte, nur verhindern.Footnote 2 Indem wir die mächtigen Schatten des Universalismus aufspüren, die die positiven Begriffe der Menschenrechte bedingen, anstatt ihre Gegensätze zu bilden, können wir vielleicht die diskursive Struktur der universellen Menschenrechte in der jüngeren Geschichte identifizieren und analysieren.

In diesem Sinne ist mein Aufsatz ein Methodenexperiment, und er widmet sich dem Versuch, eine Reihe von konzeptionellen Schwellen in unseren Überlegungen zu den universellen Menschenrechten zu formulieren. Ich möchte herausfinden, wie wir die Diskussion über die Menschenrechte auf ein weniger beschränktes Verständnis der Werte, Grenzen, Möglichkeiten und des Scheiterns der universellen Bestrebungen um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erneut gründen können. Dazu müssen wir zunächst das Gespenst der proprietären Genealogie der Ideen zur Ruhe legen und die Freiheit zurückgewinnen, bedeutende translinguale und transkulturelle Begegnungen von Gedanken und Konzepten in den vielfältigen Zeitlichkeiten der globalen Geschichte zu erkunden. Ich möchte diese Freiheit hier zurückgewinnen, um zu untersuchen, wie die diskursive Struktur der Menschenrechte um 1948 aussah, wie sie sich bei der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) entwickelte und wo wir in Bezug auf die Zukunft des Universalismus standen. Wenn Moyn darauf besteht, dass die Verabschiedung der AEMR nur eine unbedeutende Episode „diplomatischer Schreibkunst“ in den Händen einer kleinen elitären Gruppe bei den Vereinten Nationen war, so halte ich dem entgegen, dass diese Überzeugung nur aus seiner eigenen Ablehnung des Universalismus als politisches Problem der Menschenrechte herrühren kann und nicht aus einer sinnvollen Bestätigung durch die Ereignisse vor Ort zwischen 1945 und 1950.Footnote 3

Im ersten Abschnitt untersuche ich die innere Widersprüchlichkeit der Menschenrechte als eine universelle Aussage, indem ich auf die historische Kluft eingehe, die sich zwischen dem klassischen Zivilisationsstandard (des 19. Jahrhunderts) im zwischenstaatlichen Recht und der Verkündung der Menschenrechte aufgetan hat. Ich behaupte, dass die Wiederholung und Verleugnung des klassischen Zivilisationsstandards einen jener politischen Akte darstellt, die ungewollt den Einsatz des Universellen sowie die verallgemeinerte diskursive Struktur der Menschenrechte offenbaren. Daraus lernen wir, dass das Eindringen der Menschenrechte in die Politik der Entkolonialisierung und Selbstbestimmung nach 1948 keine Verzerrung oder Entführung der wunderbaren liberalen Idee der bürgerlichen und politischen Rechte des Individuums durch die Dritte Welt war – wie oft von wohlmeinenden Wissenschaftlern behauptet wird –, sondern dass sie ihre Verwirklichung und ihr politisches Schicksal einer vorangegangenen, gewaltsamen Provokation verdanken, einer Konfrontation mit der versuchten Wiederbehauptung des klassischen Zivilisationsstandards.

Im zweiten Abschnitt analysiere ich dann den Augenblick der Konfrontation selbst und konzentriere mich dabei auf eine der erbittertsten Debatten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Die von mir untersuchte Debatte fand im Herbst 1950 statt – zwei Jahre nach der Verabschiedung der AEMR durch die UNO –, als die Generalversammlung ihre Beratungen über die Pakte der Internationalen Menschenrechtskonvention aufnahm. Im Laufe dieser Debatte entwickelte sich die Ausnahmestellung des „unzivilisierten Status“ kolonialer und nicht-selbstregierter Völker im Völkerrecht zu einem Brennpunkt: Sollten „unzivilisierte“ Gesellschaften – d. h. nicht souveräne Völker – daran gehindert werden, in den Genuss der universellen Menschenrechte zu kommen? Diese Frage und der Sturm, den sie unter den vor Kurzem unabhängig gewordenen Nationen auslöste, warf einen langen Schatten auf die weitere Entwicklung der Menschenrechte. Es zeigte sich, dass die Teilnehmer beider Seiten der Debatte verstanden, dass der Kampf um das Recht auf Menschenrechte ein politischer Kampf war, der auf dem Boden des Universalismus ausgetragen wurde.

Der dritte und vierte Teil meiner Studie befasst sich mit der Person von Peng Chun Chang, einem chinesischen Botschafter, der in der UNO zu großer Bedeutung gelangte und 1946–48 zu einem der wichtigsten Architekten der AEMR wurde. Als leidenschaftlicher Kritiker des Kulturrelativismus und des Kolonialismus war Chang entschlossen, die Menschenrechte zu einer universellen moralischen Idee zu entwickeln, und er trug viel zu dem bei, was viele immer noch als ein westliches Dokument betrachten. Die Debatten über die frühen Entwürfe der AEMR zeigen deutlich, wie Chang versuchte, den pluralen Begriff des Menschen im Rahmen der Diskussion über die Rechte sprachlich zu überarbeiten. Der Boden des Universalismus, für den er in seiner Kapazität als stellvertretender Vorsitzender der UN-Menschenrechtskommission kämpfte, war das vermeintliche Zusammentreffen von konfuzianischer Moralphilosophie und dem Denken der europäischen Aufklärung. Diese unsichere Grundlage kam jedoch nicht aus dem Nirgendwo, da die Idee des pluralen Menschen bereits tief in die Entwicklung moderner Theorien des politischen Pluralismus und in den Menschenrechtsaktivismus des Vorkriegs-China (1927–1937) eingebettet war. Aus meiner Sicht muss diese frühere Geschichte des globalen Eintretens für die Menschenrechte auch in unser Überdenken des Universalismus einbezogen werden.

1 „Zivilisierte Nationen“: Ein rechtlicher Anachronismus?

Das Statut des Internationalen Gerichtshofs weist das Gericht an, „die von den zivilisierten Nationen anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ anzuwenden.Footnote 4 Man muss sich nicht über die genaue Definition des Begriffs „zivilisierte Nationen“ streiten – die vorsichtshalber vage gehalten wird –, um zu erkennen, dass die Formulierung ein Überbleibsel des klassischen Zivilisationsstandards aus der Zeit des Hochkolonialismus ist. Gerrit W. Gong, ein Wissenschaftler auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, nennt diesen Verweis „einen peinlichen Anachronismus“, weil „zivilisierte Nationen“ unsere Aufmerksamkeit auf den heiligen Auftrag der Zivilisation lenkt, wie es von den Kolonialmächten im neunzehnten Jahrhundert praktiziert und dann nach dem Ersten Weltkrieg durch Artikel 22 des Mandatssystems des Völkerbundes sanktioniert wurde (Gong 1984, S. 69). Meiner Ansicht nach ist dieses Überbleibsel in Artikel 38 nicht so sehr ein rechtlicher Anachronismus als vielmehr eine interessante Erinnerung daran, dass die Weltordnung der Nachkriegszeit in verschiedenen Zeiträumen erdacht wurde. Auf den Spuren dieses Überbleibsels müssen wir in Artikel 73 der UN-Charta, der am Ende des Zweiten Weltkriegs verfasst wurde, auf den Begriff des „heiligen Auftrags“ stoßen. Dort heißt es:

„Mitglieder der Vereinten Nationen, welche die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheits- gebieten haben oder übernehmen, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben, bekennen sich zu dem Grundsatz, daß die Interessen der Einwohner dieser Hoheitsgebiete Vorrang haben; sie übernehmen als heiligen Auftrag die Verpflichtung, im Rahmen des durch diese Charta errichteten Systems des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit das Wohl dieser Einwohner aufs äußerste zu fördern…“Footnote 5

Im Sommer 1945, als die Mitgliedstaaten sich feierlich auf die Charta verpflichteten, wollten die Befürworter des paternalistischen „heiligen Auftrags“ des Artikels 73 das koloniale Mandat nicht kampflos aufgeben, und die Mitgliedsstaaten der UNO sahen den bevorstehenden Konflikt über die Universalität der Menschenrechte im Jahr 1950 nicht voraus. Die ganze Frage läuft auf Folgendes hinaus: Welchen logischen Sinn macht Artikel 73 im Lichte des folgenden Artikels in derselben UN-Charta, der verspricht, die „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“ zu fördern (Art. 1 UN-Charta)? Steht dieses universalistische Credo im Widerspruch zur Moral des Artikels 73?

Die Antwort erweist sich als komplizierter, als wir erwarten. Artikel 73 legt die Bedingungen für eine wohlwollende Herrschaft der Kolonialmächte fest und räumt den Kolonisierten weder Freiheiten noch Menschenrechte ein. In der Tat lässt nichts in der paternalistischen Sprache des heiligen Auftrags auch nur die geringste Besorgnis um die Freiheiten nicht-selbstregierter Völker erkennen; stattdessen werden die „Verantwortung“ der Kolonialverwalter für und ihre „Verpflichtung“ auf das Wohl der unterworfenen Völker bekräftigt, um ein neues Nachkriegssystem des internationalen Friedens und der Sicherheit zu sichern. Wenn 1945 ein potenzieller Konflikt zwischen dem heiligen Auftrag der Zivilisation und der universellen Durchsetzung der Menschenrechte bestand, so wurde der Grund für diesen Konflikt erst 1950 deutlich sichtbar.

Bis dahin würden jedoch der klassische Zivilisationsstandard und der Diskurs der Menschenrechte jeweils ihrer eigenen Logik folgen und ihr eigenes Narrativ entwickeln, wobei sie einander nur wenig zu sagen hatten. Die Normen, die sich im 19. Jahrhundert zum Zivilisationsstandard verfestigt hatten, entstanden während der europäischen Expansion in die außereuropäische Welt. Sie wurden durch die Abfassung internationaler Rechtstexte und durch Verträge zwischen europäischen Kolonialmächten und außereuropäischen Ländern kodifiziert.Footnote 6 Die Regel der Exterritorialität galt beispielsweise nur für „halbzivilisierte“ Nationen – China, Japan, die Osmanen und andere asiatische Gesellschaften, die vom Völkerrecht als halbzivilisiert eingestuft wurden –, aber niemals für „zivilisierte Nationen“, deren Souveränitätsrechte eine solche Ausnahme wie die Exterritorialität nicht zulassen konnten, ohne dass der Gedanke der Souveränität selbst untergraben worden wäre. Es gab zahlreiche weitere Bedingungen, die souveränen europäischen Staatsangehörigen in außereuropäischen Gebieten besondere Privilegien einer Minderheit einräumten, sodass Leben, Freiheit, Würde und Eigentum der Europäer geschützt wurden. Aus diesem Grund stellte Georg Schwarzenberger 1955 fest, dass „der Zusammenhang zwischen Zivilisation und Völkerrecht eine Grundfrage des Völkerrechts ist. Er kann zugleich den Anspruch erheben, ein aktuelles Rechtsproblem ersten Ranges zu sein“ (Schwarzenberger 1955, S. 212).

Die praktischen Erfordernisse des internationalen Rechts – die Notwendigkeit, die Interessen ausländischer Staatsangehöriger in außereuropäischen Ländern zu schützen – können manchmal seine größeren moralischen und philosophischen Ziele verdecken. Für Henry Wheaton, einen der bedeutendsten Autoren völkerrechtlicher Texte des 19. Jahrhunderts, ist die Logik des historischen Fortschritts das, was den klassischen Standard der Zivilisation bestimmt. In Elements of International Law zitiert er das Argument von Friedrich Karl von Savigny: „Der Fortschritt der Zivilisation, der sich auf das Christentum gründet, hat uns allmählich dazu gebracht, in unserem Verkehr mit allen Völkern der Erde, gleich welchen religiösen Bekenntnisses und ohne Gegenseitigkeit ihrerseits, ein Gesetz zu beachten, das diesem entspricht.“ (Wheaton 1866, S. 21 f.) Indem sie den Fortschritt der Zivilisation in einen historischen Imperativ umwandelten, legten Wheaton und seine Nachfolger eine Logik des Fortschritts sowie eine Reihe von Anforderungen fest, die jedes Land erfüllen muss, um als zivilisiert anerkannt und somit in die Familie der Nationen aufgenommen zu werden.Footnote 7 Was folgte aus dieser Anerkennung? Eine „zivilisierte Nation“ würde die extraterritorialen Privilegien für fremde Staatsangehörige in ihrem Land aufheben und ungleiche Verträge kündigen, um die volle souveräne Kontrolle über ihre eigene Bevölkerung und ihr Territorium zu erlangen.Footnote 8

Japan wurde zum Vorbild für diese Logik und erhielt als erstes nichteuropäisches Land die volle Anerkennung als „zivilisierte Nation“.Footnote 9 Dieser aufgewertete Status führte unmittelbar zur Aufhebung der extraterritorialen Privilegien für ausländische Staatsangehörige in Japan, zur Beendigung ungleicher Verträge mit Großbritannien und anderen Großmächten und zur Wiedererlangung der souveränen Kontrolle über die eigenen Zölle. Gong bemerkt scharfsinnig: „Als Japan die Anerkennung als ‚zivilisierte‘ Macht erlangte, indem es sich an ihn hielt, nahm der Standard der ‚Zivilisation‘ seinen Platz als universell gültiger Grundsatz ein, der für alle außereuropäischen Länder gilt, die sich bemühen, als ‚zivilisierte‘ Staaten in die Familie der Nationen aufgenommen zu werden.“ (Gong 1984, S. 29) Diese Ausnahme für Japan bestätigte eher die Regel und entsprach der sich selbst erfüllenden Prophezeiung universeller Grundsätze. Als Japan gegen den Widerstand des weißen Rassismus die „heilige Aufgabe der Zivilisation“ in Artikel 22 der Völkerbundssatzung unterzeichnete, erlangte das Land sofort den Status eines Mandatars, dem ein Mandat der Klasse C zur Verwaltung gewisser Inseln im australischen Stillen Ozean erteilt wurde.Footnote 10

Wenn, wie wir gesehen haben, das Gespenst des heiligen Auftrags nahtlos von Artikel 22 der Völkerbundssatzung in den heiligen Auftrag des Artikels 73 der UN-Charta übergegangen ist, was geschah dann mit dem klassischen Zivilisationsstandard in der Nachkriegswelt? Hat der Standard sich ausreichend weiterentwickelt, um die Definition der zivilisierten Nationen neu zu gestalten, oder hat er jegliche Relevanz für die heutige Welt verloren? Es scheint unvorstellbar, dass die weltweiten Katastrophen und sozialen Umwälzungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Glaubwürdigkeit des klassischen Zivilisationsstandards nicht erheblich beschädigt haben. Jack Donnelly drückt es unverblümt aus: „Die ‚Zivilisation‘, die der Welt in kaum dreißig Jahren den Holocaust, den Gulag, die Atombombe und zwei globale Kriege von erschreckender Zerstörungskraft beschert hatte, tat sich zunehmend schwer mit der Behauptung, Asiaten und Afrikaner seien zu ‚unzivilisiert‘, um sich in ihre Reihen einzureihen – zumal auch die anderen intellektuellen Stützen des Imperialismus bröckelten.“ (Donnelly 1998, S. 12) Nachdem Donnelly den klassischen Zivilisationsstandard abgelehnt hat, begrüßt er die Menschenrechte als einen neuen, aktualisierten Zivilisationsstandard. Er argumentiert, dass die Menschenrechte „ein fortschrittlicher Ausdruck des späten 20. Jahrhunderts für die wichtige Idee sind, dass internationale Legitimität und volle Mitgliedschaft in der internationalen Gesellschaft zum Teil auf Standards für gerechtes, humanes oder zivilisiertes Verhalten beruhen müssen.“ (Donnelly 1998, S. 21) Dieses Argument spiegelt auf seltsame Weise die moralischen und philosophischen Ambitionen des klassischen Zivilisationsstandards wider, zusammen mit seinen rechtlichen Mechanismen der Inklusion und des Ausschlusses im Hinblick auf die volle Mitgliedschaft in der internationalen Gesellschaft. Es ist jedoch eine Ansicht, die weithin von denjenigen vertreten wird, die versuchen, den Zivilisationsstandard für die heutige Welt neu zu gestalten.Footnote 11 Brett Bowden rückt dies für uns in die richtige Perspektive, indem er die Neuerfindung des „heiligen Auftrags der Zivilisation“ nach dem Kolonialismus untersucht. Er schreibt:

„Während eines großen Teils der Geschichte betrachteten die Europäer sich als Vertreter der höchsten Stufe dieses Prozesses, und dies war ein Zustand, den andere Völker, die sich in verschiedenen Stadien einer festgefahrenen Entwicklung befanden, anstreben sollten. In jüngerer Zeit sind es die Vereinigten Staaten, die sich selbst als das strahlende Licht des Fortschritts und der Zivilisation darstellen, als Inbegriff einer voll entwickelten, individualistischen, kommerziellen und konsumorientierten Gesellschaft. Und bis heute wird von vielen behauptet, dass ‚traditionelle‘ oder ‚unterentwickelte‘ Gesellschaften immer noch ein gutes Maß an Vormundschaft benötigen, um einen ähnlichen ‚Entwicklungsstand‘ zu erreichen. Obwohl zwischen den ersten Entdeckungen von Wilden, die weitreichende zivilisatorische Missionierungen einleiteten, und der neueren Identifizierung traditioneller Gesellschaften, die einer Intervention bedürfen, viel Zeit verstrichen ist, sind die begleitende Sprache und die Ideen, die dieser Intervention zugrunde liegen, immer noch bemerkenswert vertraut“ (Bowden 2009, S. 157).

Viele neuere Versuche, die Normen der Menschenrechte zu einem neuen Zivilisationsstandard für die internationale Politik umzugestalten, können ihn tatsächlich bestätigen. Und es ist nicht schwer, einige strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem klassischen Standard und dem heutigen Zivilisationsstandard festzustellen. In der Tat haben die universellen Normen der Menschenrechte genügend moralische und rechtliche Legitimität erlangt, um an die Stelle eines Zivilisationsstandards zu treten oder von Staaten oder imperialen Mächten instrumentalisiert zu werden. Nachdem ich dies anerkannt habe, muss ich darauf hinweisen, dass es zwischen dem klassischen Zivilisationsstandard und den Normen der universellen Menschenrechte erhebliche Unterschiede gibt, die jede Behauptung einer Ähnlichkeit oder einer verallgemeinerten Kontinuität in ihre Schranken weisen.

Der wichtigste dieser Unterschiede besteht darin, dass die Universalisierung der Menschenrechte im Gegensatz zu den klassischen Zivilisationsnormen nicht das Ergebnis einer einseitigen Auferlegung durch Europäer und Amerikaner auf den Rest der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg war. Im Gegenteil wurden, wie ich im folgenden Abschnitt zeige, viele der Grundsätze dieser Normen unter Beteiligung von Denkern und Diplomaten der Dritten Welt ausgearbeitet und ausgefochten, und einige von ihnen wurden kategorisch gegen den klassischen Zivilisationsstandard durchgesetzt. Wir müssen uns diese wichtige Unterscheidung vor Augen halten, um zu verstehen, wie die Menschenrechtsnormen nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und allgemeine Akzeptanz gefunden haben.

2 Verteidigung der universellen Menschenrechte

Zum ersten Mal wurde der Gedanke der zivilisierten Nationen innerhalb von fünf Jahren nach der Verkündung des Statuts des Internationalen Gerichtshofs im Namen der universellen Menschenrechte angegriffen. In diesen fünf Jahren war die AEMR ausgearbeitet und am 10. Dezember 1948 von der UNO-Generalversammlung angenommen worden. Die moralische Proklamation der AEMR war das erste der drei Schlüsseldokumente, die in den folgenden Jahrzehnten zusammen die Internationale Menschenrechtskonvention bilden sollten.Footnote 12

Am 25. Oktober 1950 eröffnete die Generalversammlung in Lake Success, New York, die fünfte Sitzung des Dritten Ausschusses, um über den ersten zwischenstaatlichen Menschenrechtspakt sowie über Maßnahmen zu seiner Umsetzung zu beraten. Großbritannien, Frankreich, Belgien und die Niederlande schlugen eine spezielle Kolonialklausel vor, um Kolonialgebiete und nicht selbstregierte Territorien von der Anwendung der universellen Menschenrechtspakte auszuschließen. Sie begründeten diese Klausel mit den kulturellen Unterschieden und darüber hinaus mit dem Zivilisationsstandard, der diese Unterschiede bestätigte. Der belgische Delegierte Eugène Soudan verteidigte die vorgeschlagene Klausel so:

„Die Kolonialklausel solle die automatische Anwendung eines Abkommens auf Gebiete verhindern, für die ein Unterzeichnerstaat verantwortlich sei, und sei insbesondere bei multilateralen Verträgen gerechtfertigt, deren Zweck es sei, den Vertragspartnern Verhaltensregeln vorzuschreiben, die, da sie einen hohen Zivilisationsgrad voraussetzten, häufig mit den Vorstellungen von Völkern unvereinbar seien, die noch keinen hohen Entwicklungsstand erreicht hätten. Würde man ihnen diese Regeln sofort aufzwingen, liefe man Gefahr, die Grundlagen ihrer Gesellschaft zu zerstören. Es wäre ein Versuch, sie abrupt zu dem Punkt zu führen, den die zivilisierten Nationen von heute erst nach einer langen Entwicklungszeit erreicht hätten.“Footnote 13

Der französische Delegierte René Cassin sprach sich ebenfalls für die Kolonialklausel aus. Dies wurde als ein überraschender Schritt empfunden, da Cassin der eifrigste Verfechter der universellen Menschenrechte gewesen war und bei der Ausarbeitung der Erklärung als ein wichtiges Mitglied der Menschenrechtskommission fungiert hatte. Bei dieser Gelegenheit gab er jedoch auf Anweisung der französischen Regierung seine Haltung als bedingungsloser Universalist auf und warnte davor, dass der Pakt über die Menschenrechte „Umgestaltungen mit sich bringen würde, die im französischen Mutterland mehrere Monate dauern könnten, in den überseeischen Gebieten jedoch erst nach langer Zeit und dann unter Bedingungen durchgeführt werden könnten, die die öffentliche Ordnung gefährden würden, da die Völker für solche Veränderungen nicht bereit wären. In jedem Fall würden solche Maßnahmen die Gefahr bergen, den menschlichen Fortschritt aufzuhalten“ (Third Committee of the UN General Assembly 1950b, S. 152).

Die Argumente von Sudan und Cassin während der Debatte schlossen sich eng an den klassischen Zivilisationsstandard an. Der bekannte Begriff des zivilisierten Staates wird hier heraufbeschworen: der Stand der Entwicklung und der Grad der Zivilisation werden als synonyme Begriffe verstanden; der Fortschritt ist das historische Telos der Menschheit, und so weiter. Der Universalismus der Menschenrechte wird durch den Zivilisationsstandard relativiert, sodass kein geringerer Rechtsgelehrter als Cassin sowohl als Universalist als auch als Kulturrelativist auftreten konnte, ohne dass der Anschein des Widerspruchs erweckt wurde. Diese flexible Argumentationsweise wirft ein interessantes Licht auf die Relativierung von Souveränitätsrechten im 19. Jahrhundert, als das Völkerrecht gerade dabei war, weltweit universalisiert zu werden. Wie ich oben erörtert habe, wurden „zivilisierten Staaten“ volle Souveränitätsrechte zugestanden, während „halbzivilisierten“ Nationen Exterritorialität auferlegt wurde, obwohl ihr Souveränitätsstatus formal anerkannt wurde. Der bemerkenswerte Grad an Konsistenz in Bezug darauf, wie eine Rechtsinstanz die Grundsätze der Souveränitätsrechte universalisiert oder relativiert oder wie sie die Normen der Menschenrechte universalisiert oder relativiert, macht ohne Bezugnahme auf den klassischen Zivilisationsstandard wenig Sinn. So verlief zunächst die Debatte über die Kolonialklausel, bei der sich die Vertreter der westlichen Demokratien, vor allem der Kolonialmächte, den Kulturrelativismus zu eigen machten, der aber von der überwältigenden Mehrheit der Länder der Dritten Welt, die entschiedene Verfechter des Universalismus waren, abgelehnt wurde.

Mahmoud Azmi Bey, der UN-Vertreter Ägyptens, merkte beispielsweise an, dass das Argument des Kulturrelativismus „nur allzu sehr an das Hitlersche Konzept erinnerte, das die Menschheit in Gruppen von unterschiedlichem Wert einteilte.“Footnote 14 Bedia Afnan, die UN-Vertreterin des Irak, fragte, so das Protokoll, „wie der Evolutionsgrad eines Volkes es daran hindern könne, sich der Rechte zu erfreuen, die [Cassin] eigenem Eingeständnis nach der menschlichen Natur innewohnten“ (Third Committee of the UN General Assembly 1950c, S. 163). Und der äthiopische Delegierte Imru Zelleke wies darauf hin: „Die Tatsache, dass bestimmte Länder im Vergleich zu anderen rückständig sind, rechtfertigt es nicht, sie von dem Pakt auszuschließen. Der Grund für ihre Rückständigkeit bestehe viel mehr darin, dass man ihrer Bevölkerung die Möglichkeit, sich der Grundfreiheiten zu erfreuen, so lange vorenthalten habe.“ (Third Committee of the UN General Assembly 1950b, S. 155) Interessanterweise fand das Argument des Kulturrelativismus kaum Resonanz bei den UN-Delegierten des afro-asiatischen Blocks, die sich mit überwiegender Mehrheit für ein universalistisches Verständnis der Menschenrechte aussprachen.Footnote 15

Bei dieser Gelegenheit hielt der UN-Vertreter der Republik China, Peng Chun Chang, eine eindrucksvolle Rede, in der er den Kulturrelativismus kritisierte und jeden einzelnen Punkt widerlegte, den die europäischen Mächte zur Verteidigung der Kolonialklausel vorgebracht hatten. Chang sah den klassischen Zivilisationsstandard als Haupthindernis an und verwies auf dessen imperiale Logik und Ethnozentrismus:

„Es gebe nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass die Menschen in den betroffenen Gebieten nicht nach Menschenrechten strebten.“

Ein zweites Argument drehte sich um etwas, das unter dem Namen ‚Zivilisationsstufen‘ bekannt geworden war. Während der rasanten Expansion der Imperien im neunzehnten Jahrhundert habe eine Tendenz bestanden, die Begriffe ‚imperiale Expansion‘ und ‚Zivilisation‘ gleichzusetzen. Damals habe das Wort ‚Eingeborene‘ eine neue Bedeutung als Bezeichnung für Nichteuropäer erhalten, eine Definition, die, wie er [Chang] befürchte, manch einem noch im Hinterkopf herumspuken könnte. Zivilisation hätte im Wesentlichen europäische Herrschaft bedeutet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätte sich allmählich eine Reaktion auf diese Haltung herausgebildet, und nach zwei Weltkriegen solle die Welt eine andere Vorstellung von der Bedeutung der Zivilisation haben. Es stimme zwar, dass es unterschiedliche Grade der technologischen und anderer Formen von Entwicklung gebe, aber das bedeute, wie die Charta deutlich zeige, nicht, dass die weniger entwickelten Gegenden von Außenstehenden ausgebeutet werden dürften“ (Third Committee of the UN General Assembly 1950c, S. 159).

Für Chang wurzelt die Logik des Kulturrelativismus im klassischen Zivilisationsstandard. Dieser Zivilisationsbegriff diente zur Rechtfertigung der imperialen Expansion und der europäischen Herrschaft, hatte nach den Weltkriegen jedoch seine Legitimität verloren. Chang spitzt diese Beobachtung weiter zu und analysiert die Kolonialherrschaft als Quelle universellen Leids:

„Einige argumentierten, dass die Verwaltung von nicht-selbstregierten Gebieten für die Verwaltungsbehörde von Vorteil sei, während andere meinten, dass es sich um eine schwere Verantwortung handele, die selbstlos übernommen werde. Die Verantwortung könne jedoch so schwer nicht sein, da alle betroffenen Nationen sich sehr darum bemüht hätten, sie zu übernehmen. Dennoch sei die koloniale Verwaltung in gewisser Weise sowohl eine Last als auch ein Segen. Abgesehen von den Leiden der Völker in den nicht-selbstregierten Gebieten und den Vorteilen für die Kolonialmächte litten letztere auch darunter, dass die Macht sie korrumpiere. Die Vereinten Nationen sollten ihnen dabei behilflich sein, nicht länger von dieser Macht korrumpiert zu werden. Die Nichtaufnahme einer Kolonialklausel in den Konventionsentwurf wäre ein Schritt in diese Richtung“ (Third Committee of the UN General Assembly 1950c, S. 159).

Changs Sarkasmus mit Bezug auf die Kolonialmächte, die nicht umhinkönnten, die moralischen Konsequenzen ihres eigenen Machtmissbrauchs zu tragen, während sie die kolonisierten Völker unterjochten und ihnen Leid zufügten, enthält einige treffende historische Einsichten. Interessanterweise bestätigt diese Beobachtung Frantz Fanons klinische Beobachtungen über die psychische Transformation des Kolonialherrn und nimmt Ashis Nandys Diagnose der psychologischen Verletzung durch die Kolonialherrschaft vorweg, eine rekursive Struktur des Leidens, die den Kolonisator nicht verschont.Footnote 16

Im Kontext von Changs eigener Intervention in der Debatte der Generalversammlung über Menschenrechte war die Ablehnung der Kolonialklausel Teil einer umfassenderen Mission für die neu gegründeten Vereinten Nationen. Diese Aufgabe bestand darin, dem klassischen Zivilisationsstandard ein Ende zu setzen, der, wie Chang argumentierte, eine der Hauptursachen für Leid und Gewalt in der modernen Welt war. Während die logische Konsequenz dieses Arguments ein zukünftiges Vorgehen zur Entkolonialisierung ist, wäre es jedoch irreführend, daraus zu schließen, dass es bei dem Argument selbst um nationale Selbstbestimmung ging. Changs Rede wurde von einem Gefühl der Dringlichkeit angetrieben, den Standard der Zivilisation abzulehnen, der sich auf eine fehlerhafte Argumentationsweise stützte und gegenüber seinem eigenen kolonialen Erbe blind blieb. Dieses Gefühl der Dringlichkeit deutet auf eine ehrgeizigere Vision der Zukunft der internationalen Gemeinschaft hin als das unmittelbare Ziel der Entkolonialisierung für einzelne Nationen. Kurz gesagt, Chang ruft die Vereinten Nationen dazu auf, die Bedingungen der Zivilisation zu überarbeiten, indem er einerseits die Logik des Fortschritts ablehnt und andererseits die Grundlagen moralischer Universalien neu durchdenkt. Im Folgenden werde ich seinen Beitrag in diesem Lichte bewerten, insbesondere seine Rolle bei der Ausarbeitung des Textes der AEMR in den Jahren 1947–48.

Als die Mehrheit der Delegierten in der UNO-Generalversammlung am 2. November 1950 für die Ablehnung der Kolonialklausel im Entwurf des Menschenrechtspakts stimmte, beschleunigte diese historische Abstimmung eine politische Auseinandersetzung, die sich im Nachhinein als entscheidend dafür erwies, wie sich der Zivilisationsstandard und der Diskurs über die Menschenrechte zum ersten Mal einander annäherten und sich gegenseitig beeinflussten. Obwohl die Aussichten dieser Konvergenz und der gegenseitigen Bedingtheit damals ungewiss erschienen, war doch klar, dass, wie viele Wissenschaftler festgestellt haben, der afro-asiatische Block in der UNO nicht nur der Sache der nationalen Selbstbestimmung verpflichtet war. Vielmehr wollten die Delegierten dieser Nationen die Logik des heiligen Auftrags der Zivilisation untergraben und, wie ich betonen möchte, zum ersten Mal den klassischen Zivilisationsstandard in eine Konfrontation mit dem Universalismus der Menschenrechte zwingen. Wenn wir uns dieses historischen Ereignisses nicht bewusst sind, vermag ich nicht zu erkennen, wie wir das Entstehen einer neuen diskursiven Struktur der Menschenrechte in der heutigen Welt auch nur im Ansatz verstehen können.

Doch kam es im Herbst 1950 nicht nur zu einer unerwarteten Konfrontation zwischen dem klassischen Zivilisationsstandard und den universellen Menschenrechten, sondern diese außergewöhnliche Umwälzung bewirkte auch, dass sich der Menschenrechtsdiskurs in der Nachkriegszeit in eine Richtung entwickelte, die dem Recht auf Selbstbestimmung Vorrang einräumte. Zur Zuspitzung der Ereignisse schreibt Moyn: „Ob man diesen bedeutsamen Tag nun feiert oder bedauert: Die Wiederanbindung der Menschenrechte an das Prinzip der Selbstbestimmung betonte ihre notwendige Grundlage in der Kollektivität und der Souveränität als den ersten und wichtigsten Schwellenrechten.“ (Moyn 2010, S. 98) Analysiert man jedoch die Abfolge der Ereignisse, so stellt man fest, dass es sich bei dieser verspäteten Verbindung der Menschenrechte mit dem Prinzip der Selbstbestimmung nicht um eine Wiederherstellung handelt, sondern um eine neue politische Erfindung, die aus einer Reihe von Konfrontationen zwischen dem klassischen Zivilisationsstandard und dem Diskurs der universellen Menschenrechte hervorgegangen ist. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist offen für Interpretationen, wie sie es schon immer war, aber es scheint mir, dass wir dazu neigen, der Kompatibilität oder Inkompatibilität zwischen individuellen Rechten und Selbstbestimmung ein viel zu großes Gewicht beizumessen und dabei die viel entscheidendere Rolle zu übersehen, die der klassische Zivilisationsstandard bei der Ausformulierung der Modalitäten ihrer (In-)Kompatibilität gespielt hat.

Der Rechtshistoriker A.W. Brian Simpson zum Beispiel hat die Existenz einer grundlegenden Verbindung zwischen Menschenrechten und Selbstbestimmung infrage gestellt. Sein Argument, dass sich die Länder der Dritten Welt in den Vereinten Nationen für die Menschenrechte einsetzten, um das Ziel der Entkolonialisierung zu erreichen, ist bekannt und wird von vielen geteilt.Footnote 17 Louis Henkin beklagte, dass der Antikolonialismus ebenso wie der Kalte Krieg die Menschenrechtspakte einfärbte und dass „die Selbstbestimmung als zusätzliche Waffe gegen den Kolonialismus in die Liste der Menschenrechte aufgenommen wurde, obwohl es keinen Hinweis darauf gab, dass es sich dabei um ein Recht des Einzelnen handelte“ (Henkin 1965, S. 513). Neuere Studien beginnen, dieses Argument elaborierter zu gestalten, und bieten alternative Interpretationen an. Roland Burke zum Beispiel identifiziert zwei konkurrierende Tendenzen innerhalb des afro-asiatischen Blocks bei der UNO: eine universalistische und demokratische einerseits und eine strikt antikoloniale und der Demokratie gegenüber gleichgültige andererseits. Anstatt sich mit philosophischen Unvereinbarkeiten zwischen individuellen Rechten und Selbstbestimmung aufzuhalten, nimmt er die Auseinandersetzung um die Menschenrechte des Jahres 1950 als eine politische Auseinandersetzung ernst, die auf dem Boden des Universalismus und des kulturellen Relativismus geführt wurde. Auch wenn ich Burkes Analyse zustimme, frage ich mich, wie der Kampf um Universalismus und Kulturrelativismus sich in die Richtung entwickeln konnte, in die er führte, wenn die Auseinandersetzung selbst nicht eine konzertierte Ablehnung des klassischen Zivilisationsstandards war.

Binnen einer Woche nach der Ablehnung der Kolonialklausel begann die Kampagne für die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts in die Menschenrechtspakte und gewann rasch an Schwung. Am 9. November 1950 wurde der Generalversammlung ein Resolutionsentwurf zum Selbstbestimmungsrecht vorgelegt, der von den arabischen, afrikanischen, asiatischen und einigen lateinamerikanischen Staaten sowie von allen kommunistischen Vertretern einhellig unterstützt wurde. Diese Resolution, die zur Aufnahme der Formulierung „alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung“ in alle nachfolgenden Menschenrechtspakte führte, wurde am nächsten Tag gegen den Widerstand der Kolonialmächte verabschiedet. Diese Abfolge der Ereignisse impliziert einen kausalen Zusammenhang zwischen der Ablehnung der Kolonialklausel am 2. November und dem vorgeschlagenen Resolutionsentwurf zur Selbstbestimmung am 9. November 1950. Indem die europäischen Mächte versuchten, eine Kolonialklausel durchzusetzen, um nicht-selbstregierte Völker von der universellen Anwendbarkeit der Menschenrechte auszuschließen, lehrten sie den Rest der Welt, dass universelle Menschenrechte und Selbstbestimmung nicht getrennt werden können und dürfen.Footnote 18

Erinnern wir uns daran, dass Artikel 1 der ursprünglichen UN-Charta in Absatz 2 den Grundsatz der Selbstbestimmung und in Absatz 3 den der Menschenrechte verbindlich festschreibt. Da die Rechtssubjekte des Selbstbestimmungsrechts Staaten und Nationen sind – obwohl die Anwendbarkeit auf Nationen immer umstritten war –, wird der Zweck des Prinzips in Absatz 2 wie folgt festgelegt: „freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen“. (Art. 1 UN-Charta) Dies läuft parallel zu Absatz 3, der, wie wir bereits festgestellt haben, die „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“ fordert. Aber keiner der beiden Absätze ist unter den anderen zu subsumieren, denn das Prinzip der Selbstbestimmung war 1945 noch nicht als Menschenrecht in der UN-Charta verankert.

Was ist also vom Grundsatz der Selbstbestimmung in der UN-Charta zu halten, bevor er 1950 in ein Menschenrecht umgewandelt wurde? In Artikel 1 Absatz 2 heißt es unmissverständlich, dass die Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen und des Weltfriedens das oberste Anliegen dieses Grundsatzes ist, was voll und ganz mit dem Geist der Atlantik-Charta von 1941 und mit den Vorschlägen von Dumbarton Oaks übereinstimmt, die den ersten Entwurf für eine neue internationale Ordnung nach dem Krieg darstellten.Footnote 19 Als die von Präsident Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill ausgearbeitete und am 14. August 1941 veröffentlichte Atlantik-Charta die Selbstbestimmung als allgemeine Vorgabe für territoriale Veränderungen und als Grundsatz für die freie Wahl der Regeln in jedem souveränen Staat (internationale Selbstbestimmung) verkündete, wurde sie jedoch von Churchill eingeschränkt interpretiert, der alsbald am 9. September 1941 vor dem Unterhaus erklärte, dass die in der Atlantik-Charta verkündete Selbstbestimmung nicht für Kolonialvölker wie Indien, Birma und andere Teile des britischen Empire gelte.Footnote 20 Die Ausnahme für Kolonien wurde immer wieder ins Feld geführt, wenn das Recht auf Selbstbestimmung vorgeschlagen wurde, und sie wurde selbst dann wiederholt, wenn der Begriff der Selbstbestimmung fehlte, wie wir in der Debatte über die Kolonialklausel im ursprünglichen Entwurf des Menschenrechtspakts gesehen haben.

Aus der Studie von Antonio Cassese wissen wir, dass im Entwurf der Charta der Vereinten Nationen von 1944 das Recht auf Selbstbestimmung mit keinem Wort erwähnt wurde. Erst nach der Konferenz der Vereinten Nationen über die Internationale Organisation, die Ende April 1945 in San Francisco stattfand, wurde das Selbstbestimmungsrecht auf Drängen der UdSSR zu einem der Hauptziele der neuen Weltorganisation erhoben und in den Wortlaut der Charta aufgenommen. Die neue Bestimmung stieß jedoch bei einigen Mitgliedstaaten, vor allem bei den Kolonialmächten, auf starken Widerstand. Henri Rolin, der belgische Delegierte und angesehene Völkerrechtler, war der Ansicht, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker „eine Abkehr vom traditionellen staatsorientierten Ansatz“ darstelle und „unzulässigen Interventionen Tür und Tor öffnen würde, wenn man sich, wie es wahrscheinlich erscheint, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Tätigkeit der Organisation und nicht in den Beziehungen zwischen den Völkern inspirieren lassen möchte“. Ist dies eine verschleierte Verteidigung des kolonialen Status quo? Cassese deutet diese mögliche Lesart an, verwirft sie aber sogleich, wenn er vermutet: „Es scheint, dass der belgische Delegierte das Selbstbestimmungsrecht nicht als antikoloniales Prinzip angesehen hat.“ (Cassese 1995, S. 39) Die Frage ist, ob ein Vertreter der belgischen Regierung das Selbstbestimmungsrecht auch dann befürwortet hätte, wenn er das antikoloniale Prinzip in Betracht gezogen hätte. Die Art und Weise, wie der andere belgische Delegierte, Soudan, seine Regierung fünf Jahre später in der Debatte über die Kolonialklausel vertrat, scheint diese Möglichkeit auszuschließen.

Ganz offenbar wurde der Grundsatz der Selbstbestimmung nicht ohne eine Auseinandersetzung in Artikel 1 Absatz 2 der UN-Charta aufgenommen. Worum ging es bei dieser Auseinandersetzung? Es ging um die miteinander konkurrierenden Visionen für eine internationale Nachkriegsordnung, in der Entkolonialisierung und nationale Unabhängigkeitsbewegungen eine zentrale Rolle spielen sollten. Doch erst als das Prinzip der Selbstbestimmung 1950 in die darauffolgende Menschenrechtsdebatte verstrickt wurde, zeigten die politischen Einsätze des Universalismus in der weltweiten Auseinandersetzung gegen die Wiedereinführung des klassischen Zivilisationsstandards sein wahres Gesicht. Die Neuheit des Selbstbestimmungsrechts als Menschenrecht muss daher als echte Neuheit in diesem Sinne verstanden werden. Wenn Menschenrechtswissenschaftler wie Henkin beklagen, dass die Rechte des Individuums zu Unrecht dem Vorrang des Antikolonialismus und den Zielen der nationalen Selbstbestimmung untergeordnet wurden, übersehen sie, dass die Formulierung der Selbstbestimmung in den früheren Entwürfen des internationalen Menschenrechtspakts fehlte und bis nach dem Debakel der Kolonialklausel im Jahr 1950 nicht auftauchte. Seltsamerweise wurde die Erinnerung an diese Abfolge von Ereignissen von der Mehrheit der Befürworter und Kritiker der Menschenrechte verdrängt. Ich frage mich, ob die Verleugnung der Geschehnisse von Lake Success nicht dazu beigetragen hat, dass sich seither eine bestimmte vertraute Auffassung von den Menschenrechten durchgesetzt hat.

Die Ironie besteht darin, dass der klassische Zivilisationsstandard der Grund dafür ist, dass das Selbstbestimmungsrecht als Menschenrecht in den Pakten verankert wurde. Diese Abfolge von Ereignissen bestätigt die philosophische Einsicht von Étienne Balibar, die in einer aktuellen Analyse der Politik der Menschenrechte feststellt:

„Die Frage nach einem ‚Recht, Rechte zu haben‘ ist meiner Meinung nach nicht im Sinne einer höheren Abstraktionsebene (oder einer transzendentalen ‚Bedingung der Möglichkeit‘) zu verstehen, dem Äquivalent einer Grundnorm, aus der alle konkreten Rechte abgeleitet oder durch die sie gerechtfertigt werden könnten, sondern sie sollte als immanentes praktisches Problem gesehen werden, sowohl institutionell als auch kämpferisch, das die effektive Verwirklichung von Gerechtigkeit innerhalb der Rechte gebietet.“Footnote 21

Die Überwindung der Ungerechtigkeit war in Lake Success in der Tat das Gebot der Stunde. Sie richtete sich gegen den Versuch der Kolonialmächte, den klassischen Standard der Zivilisation wiederherzustellen, und zwar im Namen der universellen Menschenrechte. Wir erinnern uns hier an W.E.B. Du Bois‘ Essay „Human Rights for All Minorities“, in dem er sich 1945 als Reaktion auf die diskriminierenden Bedingungen der Vorschläge von Dumbarton Oaks dafür einsetzte, dass universelle Prinzipien eine universelle Anwendung erfordern.Footnote 22

Was bedeutete diese Auseinandersetzung um die Menschenrechte in philosophischer Hinsicht? Gab es in den Begriffen dieses Universalismus eine intellektuelle Substanz? Diese Fragen stellte der Vorstand der American Anthropological Association (AAA) bereits 1947 in seinem berühmten Brief an die UN-Menschenrechtskommission. Das Schreiben bezog sich unmittelbar auf die Ausarbeitung der AEMR, indem es die Kommission vor einer Voreingenommenheit zugunsten westlicher universalistischer Werte warnte. In einem der Absätze des Briefes heißt es: „Normen und Werte beziehen sich auf die Kultur, aus der sie stammen, so dass jeder Versuch, Forderungen zu formulieren, die aus den Überzeugungen oder Moralvorstellungen einer Kultur erwachsen, in diesem Maße die Anwendbarkeit einer Menschenrechtserklärung auf die gesamte Menschheit beeinträchtigen muss.“ (American Anthropological Association, Executive Board 1947, S. 542) Dieses Argument erscheint wirklich relativistisch, frei von der Doppelzüngigkeit der Kolonialklausel, die wir oben analysiert haben, und frei von allen Imperativen des klassischen Zivilisationsstandards.

Man kann nicht umhin, die pluralistische Vision des Universalismus zu bewundern, die die amerikanischen Anthropologen in dem Brief vorschlagen. Sie waren der Ansicht, dass die AEMR erst dann weltweite Geltung erlangen könne, wenn sie die Gültigkeit vieler verschiedener Lebensweisen einbezogen und anerkannt hatte. Interessanterweise wurde in dem Brief die Ausarbeitung des Entwurfs der AEMR wie folgt kritisiert: „Er wird den Indonesier, den Afrikaner, den Inder, den Chinesen nicht überzeugen, wenn er auf der gleichen Ebene liegt wie ähnliche Dokumente aus einer früheren Zeit. Die Rechte des Menschen im zwanzigsten Jahrhundert können nicht durch die Normen einer einzigen Kultur eingehegt oder durch die Bestrebungen eines einzigen Volkes diktiert werden.“ (American Anthropological Association, Executive Board 1947, S. 543)Footnote 23 Diese pluralistische Sichtweise des Universalismus verdient mehr als nur beiläufige Aufmerksamkeit, da sie in einem sinnvollen Zusammenhang mit Changs Arbeit steht. Außerdem war das Schreiben an den UN-Menschenrechtsausschuss gerichtet, in dem Eleanor Roosevelt den Vorsitz und Chang den stellvertretenden Vorsitz innehatte.

Ob beabsichtigt oder nicht, der Brief der AAA war tatsächlich an Chang und andere Mitglieder der Kommission gerichtet, der auch die indonesischen, afrikanischen, indischen und philippinischen Mitglieder angehörten. Sie haben einen enormen Beitrag zur Ausarbeitung der AEMR geleistet und hätten der AAA zweifellos zugestimmt, dass ein universalistisches Konzept der Menschenrechte nicht auf die Standards einer einzigen Kultur beschränkt oder von den Bestrebungen eines einzigen Volkes diktiert werden darf. Als stellvertretender Vorsitzender dieser Kommission nahm Chang seine Verantwortung ernst und wollte sicherstellen, dass die AEMR alle überzeugen könnte.

3 Peng Chun Chang: Die Übersetzung des pluralistischen Menschen

Die UN-Menschenrechtskommission hatte im Frühjahr 1947 einen problematischen Start. John P. Humphrey, der erste Direktor der Menschenrechtsabteilung des UN-Sekretariats, erinnert sich, dass Frau Roosevelt mit Unterstützung des Sekretariats und in Zusammenarbeit mit Chang und dem Berichterstatter (Rapporteur) Charles Habib Malik die Aufgabe übernahm, einen vorläufigen Entwurf für ein internationales Menschenrechtsgesetz auszuarbeiten. Frau Roosevelt wollte, dass der Entwurfsausschuss sofort mit seiner Arbeit begann, und lud Chang, Malik und Humphrey am Sonntag, dem 17. Februar 1947, zu einem Tee in ihre Wohnung am Washington Square ein. Während ihrer Diskussion über den ersten Entwurf der AEMR, der vom Sekretariat ausgearbeitet werden sollte, wurde klar, dass Chang und Malik in fast allen philosophischen Fragen uneins waren. Humphrey zeichnet im Folgenden einen Ausschnitt aus ihrem Gespräch auf:

„Es wurde viel geredet, aber wir kamen nicht weiter. Dann, nach einer weiteren Tasse Tee, schlug Chang vor, ich solle meine anderen Aufgaben für sechs Monate beiseitelegen und chinesische Philosophie studieren, danach könne ich vielleicht einen Text für den Ausschuss vorbereiten. Das war seine Art zu sagen, dass die westlichen Einflüsse zu groß sein könnten, und er sah Malik an, während er sprach. Er hatte bereits in der Kommission auf die Bedeutung der historischen Perspektive hingewiesen. Es gab noch einige weitere Diskussionen, die hauptsächlich philosophischer Natur waren, wobei Frau Roosevelt wenig sagte und weiterhin Tee einschenkte“ (Humphrey 1984, S. 29).

Dies scheint der unsichere erste Augenblick von mehrjährigen Gesprächen und intellektuellen Debatten zu sein, die zur Geburt der Internationalen Menschenrechtskonvention führten.

Malik, ein libanesischer Christ und thomistischer Philosoph, hatte vor dem Zweiten Weltkrieg in Europa Philosophie studiert, kurz mit Heidegger zusammengearbeitet und an der Harvard University seinen Doktortitel in Philosophie erlangt. Für Malik mit seinen starken Überzeugungen war der christliche Personalismus Hauptquell seines Universalismus, doch seine lebenslange Leidenschaft galt dem Antikommunismus.Footnote 24 Im Gegensatz dazu war Chang ein säkularer Humanist, Musiker und Literat. In China und den Vereinigten Staaten war er zweisprachig ausgebildet und in beiden Kulturen zu Hause. Obwohl Chang und Malik aus unterschiedlichen Verhältnissen stammten und in sehr unterschiedlichen intellektuellen Traditionen verwurzelt waren, kamen sie als Wissenschaftler und Diplomaten, die beide aus der nicht-westlichen Welt stammten und sich als Brücken zwischen Ost und West verstanden, zur UNO. Ihnen schlossen sich weitere nicht-westliche Mitglieder der achtzehnköpfigen UN-Menschenrechtskommission an, darunter der philippinische Diplomat Carlos Romulo, die indische feministische Erzieherin Hansa Mehta und lateinamerikanische Delegierte, die alle einen wichtigen Beitrag zur Konzeption der Internationalen Menschenrechtskonvention leisteten.Footnote 25 Sie alle gingen von der Annahme aus, dass die Menschenrechte im weitesten Sinne universell sein sollten.

Changs Tätigkeit als Vertreter der Republik China bei den Vereinten Nationen begann im Jahr 1945 auf der Konferenz von San Francisco, als diese Nachkriegsinstitution gegründet wurde. Er wurde schnell zu einem einflussreichen Mitglied des Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC) und zu einem der Initiatoren der Weltgesundheitsorganisation.Footnote 26 Für seine Kollegen in der Menschenrechtskommission war er eine beeindruckende intellektuelle Kraft; wie Humphrey feststellte, „überragt er [Chang] an intellektueller Statur jedes andere Mitglied des Ausschusses.“ (Humphrey 2000, Bd. 1, S. 88) Bei dem besagten Ausschuss handelte es sich um den Dritten Sozial- und Humanitären Ausschuss der Generalversammlung (den Dritten Ausschuss), der damit beauftragt war, den endgültigen Entwurf der AEMR, der der Generalversammlung vorgelegt wurde, zu erörtern und zu genehmigen. Changs Arbeit prägte den Ausschuss so stark, dass Sumner Twiss behauptete, Chang sei mehr als jeder andere im Ausschuss dafür verantwortlich gewesen, der AEMR einen universellen und nicht einen ausschließlich westlichen Charakter zu verleihen.Footnote 27

Diese Beobachtung widerspricht sicherlich der gängigen Auffassung, dass die AEMR allein ein westliches Dokument sei, das eine Reihe eindeutig westlicher moralischer und politischer Werte der individuellen Rechte verkünde, die mit den kulturellen Werten der übrigen Welt unvereinbar seien. Doch inwiefern ist dieses Dokument eindeutig westlich? Inwieweit stützt sich die etablierte Sichtweise – eine Reihe von Interpretationsmechanismen und hermeneutischen Praktiken, die seit 1948 auf die AEMR angewandt werden – auf unsere kollektive Amnesie, um ein beschränktes Verständnis des Menschenrechtsdiskurses – so wie wir ihn seit 1977 kennen – zu erzeugen und aufrechtzuerhalten, so als ob die Menschenrechte lediglich ein neuer Zivilisationsstandard wären, der den klassischen aktualisiert, und als ob Chang und andere nicht-westliche Mitglieder der UNO niemals mit dem Ziel an der Ausarbeitung der AEMR beteiligt gewesen wären, den klassischen Zivilisationsstandard zu stürzen? Ich werde später auf diesen Punkt zurückkommen.

Die Menschenrechte zu einem universellen Prinzip umzugestalten – universeller als je zuvor – war Changs erklärtes Ziel, und er sah die Grundlage dieses Universalismus irgendwo zwischen dem klassischen chinesischen Denken und den Ideen der europäischen Aufklärung, deren Wege sich – wie er nicht müde wurde zu betonen – im 18. Jahrhundert gekreuzt hatten und sich nun wieder kreuzen sollten. Nach seiner Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden der UN-Menschenrechtskommission setzte er sich dafür ein, diese beiden grundverschiedenen philosophischen Traditionen wieder zusammenzuführen. Diese Grundlage war meiner Meinung nach intellektuell prekär, nicht zuletzt weil Chang etwas zu seiner Zeit kaum Vorstellbares erreichen wollte. Und was er durch seine Mitarbeit an der Ausformulierung der AEMR einbringen konnte, ist durch die Anonymität des Dokuments aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden.

Peng Chun Chang (oder Zhang Pengchun in der Pinyin-Umschrift) kam im Alter von achtzehn Jahren in die Vereinigten Staaten, schrieb sich an der Clark University ein und erwarb einen Master-Abschluss in Kunst und Pädagogik am Teachers College der Columbia University (1914–1915). Anschließend unterrichtete er in China, bevor er erneut an die Columbia University ging, um einen Doktortitel in Pädagogik zu erwerben. In New York blühte sein kreatives Talent auf, wie die zahlreichen Theaterstücke zeigen, die er in dieser Zeit schrieb bzw. inszenierte, wie The Intruder, The Man in Gray und The Awakening. Interessanterweise war Chang der erste, der das Drama Mu Lan (Hua Mulan) in englischer Sprache inszenierte, das 1921 auf Einladung des bekannten chinesischen Dramatikers Hong Shen im Cort Theatre am Broadway aufgeführt wurde, „um Geld für die Hungerhilfe in China zu sammeln, [und die Aufführung] wurde vom Christian Science Monitor und der New York Times gut besprochen“ (Glendon 2002, S. 147).Footnote 28

Wie bei vielen seiner Freunde und anderen Akademikern in den 1930er Jahren fand auch Changs Karriere als Pädagoge und Bühnenautor am 30. Juli 1937 ein jähes Ende, als seine Universität – die Nankai-Universität in Tianjin – von den japanischen Streitkräften bombardiert und zerstört wurde. Nach seiner Flucht aus dem besetzten Gebiet wurde Chang von der chinesischen Regierung nach England und in die Vereinigten Staaten entsandt, um internationale Unterstützung für den Kampf Chinas gegen die imperiale Aggression Japans zu mobilisieren. In den Jahren 1940–1942 wurde er zum Sondergesandten in der neutralen Türkei ernannt, wo er sich für die wechselseitigen Einflüsse zwischen der arabischen und der chinesischen Kultur sowie für das Verhältnis von Konfuzianismus und Islam zu interessieren begann. In den Jahren 1942–1945 wurde Chang chinesischer Botschafter in Chile; gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entsandte seine Regierung ihn als Vertreter der Republik China zur Konferenz von San Francisco, wo er bei der Gründung der Vereinten Nationen mitwirken sollte.

Mary Ann Glendon und Johannes Morsink gehören zu den wenigen Menschenrechtshistorikern, die Changs Rolle als stellvertretender Vorsitzender der UN-Menschenrechtskommission eingehender behandeln.Footnote 29 Pierre-Étienne Will hat in den Akten des „Außenministeriums“ in Taipeh recherchiert und eine ausführliche Darstellung von Changs diplomatischen Aufgaben und seiner Beteiligung an der Menschenrechtskommission im ersten Jahrzehnt der Vereinten Nationen vorgelegt.Footnote 30 In einer neueren Studie von Twiss werden Changs konfuzianische Ideen und sein philosophischer Beitrag zum Text der AEMR eingehend untersucht. Während Will die Bedeutung von Changs Arbeit buchstäblich auf die Erstellung des Textes der AEMR selbst zu beschränken scheint, führt Twiss‘ Untersuchung der philosophischen Implikationen dieser Arbeit zu einer Reihe von aufschlussreichen und inspirierenden Einsichten. Ich bin beeindruckt von seinem Argument, dass Chang sich im Dritten Ausschuss einer konstruktiven vergleichenden Ethik widmete und dass „er selbstbewusst versuchte, normative und konzeptionelle Brücken zwischen dem konfuzianischen moralischen Denken und der westeuropäischen Philosophie zu finden, und zwar in einer Weise, die neue Blickwinkel auf beide Traditionen und darauf, wie sie voneinander lernen können, eröffnete.“ (Twiss 2009, S. 167) Während diese wechselseitigen Blickwinkel Changs Vision gut erfassen, sind die unsicheren Bedingungen dieser Vision und der vergleichenden Ethik eine weitere Untersuchung wert, weil sie uns etwas über die Schatten des Universalismus und die sich entwickelnde diskursive Struktur der Menschenrechte in der Nachkriegszeit sagen können.

Aus den Aufzeichnungen über den Entwurfsprozess der AEMR geht hervor, dass Chang sich unablässig zwischen den widerstreitenden Universalien der chinesischen und europäischen philosophischen Traditionen bewegte. Seine Methode war eine sprachübergreifende Überarbeitung von Ideen zwischen diesen Traditionen – ein ständiges Hin- und Herbewegen –, um die universelle Grundlage für die Menschenrechte zu erschließen. Er tat dies, indem er angesichts eines alten Rätsels der Unvergleichbarkeit die begriffliche Schwelle der Sprachen überschritt: Bedeutet die Idee des Menschen im Englischen das Gleiche in einer Sprache, die nicht die gleichen sprachlichen Wurzeln oder philosophischen Traditionen hat?Footnote 31 Einerseits geht Chang pragmatisch die Frage der kulturellen Unterschiede und der Unvergleichbarkeit an, um einen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten der Menschenrechtskommission herbeizuführen, andererseits – und das ist philosophisch interessanter – geht er durch eine gewisse intellektuelle Überzeugungs- und Übersetzungsarbeit, die ein unerschütterliches Bekenntnis zur Vision des Universalismus erfordert, eine Wette auf die Vergleichbarkeit ein.

Die zahlreichen Eingriffe, die Chang bei der Ausarbeitung der AEMR vornahm, veranschaulichen diesen Prozess sehr gut. Nehmen wir zum Beispiel Artikel 1. In diesem Artikel heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“.Footnote 32 Diese Aussage ist von trügerischer Einfachheit; in Wirklichkeit sind die gedruckten Worte das Ergebnis einer der hitzigsten Debatten im Dritten Ausschuss über Gott und Religion. In dem als „Genfer Entwurf“ bekannten Entwurf heißt es:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind von Natur aus mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen sich einander gegenüber wie Brüder verhalten“.Footnote 33

Die Formulierung „von Natur aus“ (by nature) im Genfer Entwurf wurde von dem philippinischen Delegierten als deistischer Verweis auf das Naturrecht eingeführt. Während Malik die Worte „von Natur aus“ durch „von ihrem Schöpfer“ (by their Creator) ersetzen wollte, versuchten andere Delegierte, ähnliche Hinweise auf Gott in die Erklärung aufzunehmen.Footnote 34 Morsinks Studie zeigt, dass zu Beginn der Sitzung des Dritten Ausschusses im Herbst 1948 zwei Änderungen vorgeschlagen wurden, um in Artikel 1 offenkundige Hinweise auf Gott einzufügen. Die brasilianische Delegation schlug vor, den zweiten Satz von Artikel 1 wie folgt zu beginnen: „Als Abbild und Ebenbild Gottes geschaffen, sind sie mit Vernunft und Gewissen begabt.“ Die niederländische Delegation schlug eine ähnliche Bekräftigung des religiösen Glaubens vor: „Die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der menschlichen Familie, die auf dem göttlichen Ursprung und der unsterblichen Bestimmung des Menschen beruhen, ist die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.“ Diese Änderungsanträge führten zu heftigen Debatten. Im Ergebnis wurde über keinen der beiden Änderungsanträge abgestimmt, obwohl der Dritte Ausschuss für die Streichung des Begriffs „von Natur aus“ aus Artikel 1 stimmte (26 zu vier Stimmen bei neun Enthaltungen).Footnote 35 Glendon weist darauf hin, dass es bei dieser Gelegenheit erneut Chang war, der „die Mehrheit auf seine Seite zog, indem er alle daran erinnerte, dass die Erklärung universell anwendbar sein sollte“ (Glendon 2002, S. 146).

Changs Argumentation war ausschlaggebend für die Entscheidung des Dritten Ausschusses, die Formulierung „von Natur aus“ aus dem Genfer Entwurf zu streichen. Er argumentierte, dass die Streichung dieses Satzes „jede theologische Frage ausschließen würde, die in einer Erklärung, die universell anwendbar sein soll, nicht aufgeworfen werden kann und sollte“. Seine Position war:

„Die Bevölkerung seines Landes umfasste einen großen Teil der Menschheit. Diese Bevölkerung hatte Ideale und Traditionen, die sich von denen des christlichen Westens unterscheiden. (…) Der chinesische Vertreter würde jedoch von dem Vorschlag absehen, sie in der Erklärung zu erwähnen. Er hoffte, dass seine Kollegen die gleiche Rücksicht an den Tag legen und einige der Änderungsanträge zu Artikel 1, die metaphysische Probleme aufwerfen, zurückziehen würden. Auch für die westliche Zivilisation sei die Zeit der religiösen Intoleranz vorbei“ (Third Social and Humanitarian Committee of the UN General Assembly 1948c, S. 98).

Die erste Zeile von Artikel 1, so schlug Chang vor, sollte sich weder auf die Natur noch auf Gott beziehen. Diejenigen, die an Gott glaubten, könnten die Idee Gottes immer noch in den starken Beteuerungen finden, dass alle Menschen frei und gleich geboren und mit Vernunft und Gewissen ausgestattet seien, doch sollten andere die Möglichkeit haben, den Text anders zu verstehen. Roosevelt war offensichtlich von seinem Argument überzeugt, denn sie übernahm dieselbe Sprache, „als sie ihrem amerikanischen Publikum erklären musste, warum die Erklärung keinen Hinweis auf den Schöpfer enthielt“ (Glendon 2002, S. 147).

Chang forderte den Dritten Ausschuss auf, sich nicht in metaphysischen Argumenten zu ergehen, und es gelang ihm, den Ausschuss vor einer Abstimmung über theologische Fragen zu bewahren. Er forderte den Ausschuss auf, „auf der Arbeit der europäischen Philosophen des 18. Jahrhunderts aufzubauen“, anstatt erneut über die menschliche Natur zu debattieren. (Glendon 2002, S. 114) Morsink spekuliert daher, dass die Motivation hinter Changs Unterstützung für die Streichung von „von Natur aus“ darin bestand, dass einige Delegierte den Satz so verstanden, dass er eher ein materialistisches als ein spirituelles oder gar humanistisches Verständnis der menschlichen Natur unterstreicht. (Morsink 1999, S. 287) Ich bin eher geneigt, Twiss‘ Analyse zuzustimmen, dass Changs Argumentation in bemerkenswerter Weise mit dem übereinstimmt, was er als „das Streben nach einem neuen Humanismus“ bezeichnete.Footnote 36 Dieser neue Universalismus bemüht sich sogar, den begrifflichen Gegensatz zwischen religiös und säkular sowie zwischen geistig und materiell zu überwinden.

Dieser Universalismus kam schon früh in einem der interessantesten und heikelsten Beiträge Changs zum Entwurf der AEMR von Cassin zum Ausdruck. Cassins Entwurf beruhte auf dem ersten, von Humphrey verfassten Entwurf. Artikel 1 von Cassins Fassung lautete wie folgt: „Alle Menschen sind als Angehörige einer Familie frei, besitzen die gleiche Würde und die gleichen Rechte und betrachten sich gegenseitig als Brüder“.Footnote 37 Als Cassin diesen Entwurf am 16. Juni 1947 dem Redaktionsausschuss vorlegte, änderte die Gruppe den Wortlaut von Artikel 1 wie folgt: „Alle Menschen sind Brüder. Mit Vernunft begabt und Mitglieder einer Familie sind sie frei und gleich an Würde und Rechten“. (Glendon 2002, S. 67) Im Verlauf dieser Diskussion schlug Chang vor, in Artikel 1 neben der „Vernunft“ einen „weiteren Begriff“ als „wesentliche menschliche Eigenschaft“ aufzunehmen. Er schlug eine wörtliche Übersetzung des Konzepts vor, das ihm vorschwebte: „Zwei-Menschen-Gesinnung“ (two-man-mindedness), eine englische Übersetzung des Schriftzeichens 仁, das in Mandarin als ren gelesen wird (Glendon 2002, S. 67).Footnote 38 Indem er ren wegen der beiden selbständigen Teile dieses zusammengesetzten Schriftzeichens, des Radikals 人 für „Mensch“ und des Schriftzeichens 二 für die Zahl „zwei“, als „Zwei-Menschen-Gesinnung“ bezeichnete, – eine unglückliche wörtliche Übersetzung –, versuchte Chang, den Begriff des Menschen für die Menschenrechte umzuformen, indem er ihn in der ursprünglichen Pluralität der Menschheit und nicht im Konzept des Individuums verankerte.Footnote 39

In seiner öffentlichen Erklärung in einer Debatte der Generalversammlung erläuterte er, warum er den „Menschen“-Aspekt der Menschenrechte anstelle des „Rechts“-Aspekts betonte. Denn „ein Mensch musste sich ständig der anderen Menschen bewusst sein, in deren Gesellschaft er lebte. Es bedürfe eines langwierigen Erziehungsprozesses, bevor Männer und Frauen den vollen Wert und die Verpflichtungen der ihnen in der Erklärung zugestandenen Rechte erkennen könnten; erst wenn dieses Stadium erreicht sei, könnten diese Rechte in der Praxis verwirklicht werden.“Footnote 40 Seinem Verständnis nach muss die Humanisierung der Menschen durch Bildung erfolgen, bevor sie ihre Rechte wahrnehmen können.Footnote 41 Dieser konfuzianische Vorrang der Bildung verrät ein ganz anderes Verständnis der Menschenrechte als das, was Cassin oder Malik vorschwebte. In seiner Erklärung während einer der Debatten in der Generalversammlung wies Chang darauf hin, dass „das Ziel der Vereinten Nationen nicht darin bestand, den Eigennutz des Einzelnen zu sichern, sondern zu versuchen, den moralischen Rang des Menschen zu verbessern. Es sei notwendig, die Pflichten des Einzelnen zu verkünden, denn erst das Bewusstsein seiner Pflichten ermögliche es dem Menschen, einen hohen moralischen Standard zu erreichen“ (Third Social and Humanitarian Committee of the UN General Assembly 1948b, S. 87.

Leider konnten keine Entsprechungen des klassischen konfuzianischen Konzepts ren im Englischen oder Französischen gefunden werden, die Chang dabei geholfen hätten, die Bedeutung dieses wichtigen Gedankens für diejenigen zu erläutern, die mit dieser jahrtausendealten chinesischen philosophischen Tradition nicht vertraut waren. Diese Tradition hatte zu einem überreichen Diskurs über den Begriff des Menschen, sein moralisches Wesen usw. geführt, wusste bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch nur sehr wenig über Rechte zu sagen.Footnote 42 Chang, der sich zwischen beiden Traditionen bewegte, befand sich in der seltsamen und heiklen Situation, dass er irreführende englische Äquivalenzen wie „Sympathie“ oder „Bewusstsein seiner Mitmenschen“ verwenden musste, um zu vermitteln, was er meinte (Drafting committee of the UN Commission on Human Rights, first session 1947, S. 2).

Dieser Versuch schlug fehl, und er hatte gewiss keinen Erfolg bei Cassin, Roosevelt und den anderen Mitgliedern des Redaktionsausschusses, die Changs Vorschlag akzeptierten, aber das Wort „Gewissen“ (conscience) für das Schriftzeichen ren setzen wollten. Der Begriff „Gewissen“ wurde prompt dem Begriff „Vernunft“ (reason) gegenübergestellt, sodass die zweite Zeile von Artikel 1 lautete: „Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt.“ Im Nachhinein schreibt Glendon: „Diese unglückliche Wortwahl hat nicht nur die Bedeutung von Changs Anliegen verhüllt, sondern verlieh dem Begriff ‚Gewissen‘ eine Bedeutung, die alles andere als offensichtlich war und gänzlich anders als im üblichen Sprachgebrauch in Ausdrücken wie ‚Gewissensfreiheit‘“ (Glendon 2002, S. 67 f.).

Das Wunder ist jedoch, dass bei der Übersetzung nicht alles verloren ging. Die Bewegung des Universalismus funktioniert auf seltsame Weise und kann uns manchmal überraschen. Sobald wir uns der von den Vereinten Nationen erstellten chinesischen Fassung der AEMR zuwenden, werden wir feststellen, dass das konfuzianische Konzept durch die Verwendung eines anderen Begriffs liangxin in das Dokument zurückgekehrt ist.Footnote 43 Dieser Begriff setzt sich aus zwei Schriftzeichen zusammen: 良(liang) für „angeborene Güte“ und 心 (xin) für „Geist/Herz“; somit nimmt der Begriff liangxin offen den Platz des Gewissens ein und interpretiert das englische Wort zurück in Changs klassischen Begriff ren, um einen grundlegenderen Sinn dessen zu vermitteln, was einen Menschen moralisch macht, als die Vorstellung von Gewissen oder Mitgefühl. Durch seine enge Verbindung mit ren in der konfuzianischen Moralphilosophie führt uns der Begriff liangxin zurück zum Plural der menschlichen moralischen Existenz – d. h. ein Mensch und ein weiterer –, der für die Bildung der individuellen Psyche grundlegend ist.Footnote 44 Obwohl sie in der englischen und französischen Fassung völlig verloren gegangen ist, kehrt Changs ursprüngliche Erklärung von ren als „Zwei-Menschen-Gesinnung“ – oder „der plurale Mensch“ in meiner eigenen Erklärung des Schriftzeichens – durch eine damit verbundene Formulierung in der chinesischen Fassung der AEMR zurück.

Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass der Text der AEMR zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948 in mehreren Sprachen vorlag und heute in 389 Sprachen verfügbar ist!Footnote 45 Viele dieser Sprachen haben zur Universalisierung des Dokuments beigetragen, wobei jede Übersetzung den Text über die ausgedehnten sprachlichen Netzwerke historischer und philosophischer Vereinigungen hinweg trägt, die für ihre eigene intellektuelle Tradition spezifisch sind. Ebenso wie die Säkularisierung von Artikel 1, die wir oben untersucht haben, ist auch der Umstand, dass dieses Dokument sowohl im Augenblick seiner Entstehung als auch in seinen späteren mehrsprachigen Wiederholungen der radikalen Mannigfaltigkeit und sprachübergreifenden Vielfalt der Philosophien und Kulturen der Welt ausgesetzt wurde, keineswegs ein alltägliches textliches Ereignis. Wir sind Zeuge eines Universalisierungsprozesses geworden, der einen Meilenstein in der Geschichte des menschlichen Denkens darstellen könnte.

4 Auf den Spuren des politischen Pluralismus

In ihrer Autobiographie erzählt Roosevelt die Geschichte, die wir aus Humphreys Erinnerung an den ersten Augenblick der UN-Menschenrechtskommission kennen. Roosevelt erinnert sich:

„Dr. Chang war ein Pluralist und vertrat auf charmante Weise die These, dass es mehr als eine Art ultimative Realität gibt. Die Erklärung, so sagte er, sollte mehr als nur westliche Ideen widerspiegeln, und Dr. Humphrey müsse in seinem Ansatz eklektisch sein. Dies sagte er zwar zu Dr. Humphrey, seine Bemerkung war aber eigentlich an Dr. Malik gerichtet, der sie sogleich erwiderte, als er ausführlich die Philosophie von Thomas von Aquin erläuterte. Dr. Humphrey beteiligte sich enthusiastisch an der Diskussion, und ich erinnere mich, dass Dr. Chang irgendwann vorschlug, das Sekretariat könne doch ein paar Monate damit verbringen, die Grundlagen des Konfuzianismus zu studieren! Zu diesem Zeitpunkt konnte ich ihnen nicht mehr folgen, so abgehoben war die Unterhaltung geworden, und so füllte ich einfach die Teetassen wieder auf und lehnte mich zurück, um mich von den Ausführungen dieser gelehrten Herren unterhalten zu lassen“ (Roosevelt, S. 317).

Roosevelt hatte guten Grund, sich über das abstrakte Gespräch dieser Männer und ihre verbale Auseinandersetzung zu amüsieren. Ihre eigene Großzügigkeit und Aufgeschlossenheit werden durch ihre stillen, aber scharfsinnigen Beobachtungen der einzelnen Gäste in ihrer Wohnung deutlich. Sie nennt Chang einen Pluralisten und scheint sich von der Idee angezogen zu fühlen, dass es mehr als eine Art ultimative Realität gibt. Ich stimme zu, dass Chang ein Pluralist war, aber hinter seinem Pluralismus steckt mehr, als man auf den ersten Blick sieht. In der Zwischenkriegszeit wurde die Diskussion über den Pluralismus in der politischen Theorie durch die Werke von G.D.H. Cole, Harold Laski und anderen führenden Mitgliedern der britischen Fabian Society weit verbreitet. Laskis A Grammar of Politics wurde bereits in den 1920-30er Jahren von chinesischen Wissenschaftlern übersetzt und erörtert, und einige dieser Diskussionen erschienen in einer Zeitschrift, die mit dem literarischen Kreis namens Crescent Moon verbunden war, zu dessen Gründungsmitgliedern Chang gehörte. Er war Teil eines lebendigen intellektuellen Netzwerks mit zahlreichen Verbindungspunkten nach Tianjin, Peking, Shanghai, New York, London und darüber hinaus.

Ich möchte betonen, dass Changs philosophische Anschauung zwar konfuzianisch geprägt sein mag, sein Werk aber nicht allein auf dieser Grundlage beurteilt werden sollte. Er gehörte zu den chinesischen Intellektuellen, die den Konfuzianismus (und den Buddhismus) neu erfinden wollten, indem sie die Universalien im Gespräch mit modernen europäischen, amerikanischen, indischen und anderen großen philosophischen Traditionen der Welt neugestalteten. Changs Verständnis von ren könnte sogar von dem revolutionären Märtyrer Tan Sitong inspiriert worden sein, dessen einflussreiches Ren xue (Eine Studie des pluralen Menschen) mit einer paläographischen Erklärung von ren als „Zwei-Menschen-Gesinnung“ (Changs Übersetzung) oder „der plurale Mensch“ (Übersetzung der Verfasserin) beginnt. Zu Beginn der chinesischen Revolution vertrat Tans philosophische Abhandlung die kühne Behauptung, dass ren die menschliche moralische Existenz bestimmt, und behandelte es darüber hinaus als universelles Prinzip des Kosmos. Diese Interpretation zielte darauf ab, die alten philosophischen Traditionen Chinas zu verjüngen, indem ihnen Bedeutung für moderne wissenschaftliche Entdeckungen zugeschrieben wurde. Seine Methode nahm die Arbeit vorweg, die Chang selbst einige Jahrzehnte später bei den Vereinten Nationen leisten sollte.

Tan und Chang waren mit diesem Bestreben nicht allein. Kung Chuan Hsiao (Pinyin: Xiao Gongquan), einer der bedeutenden politischen Theoretiker des modernen China, veröffentlichte 1927 das einflussreiche Werk Political Pluralism, in dem er die Ideen von Laski und anderen Theoretikern des politischen Pluralismus zu Fragen des Rechts, der Souveränität, der Politik und des Staates sorgfältig untersuchte und einer Kritik unterzog.Footnote 46 Luo Longji, der 1928 an der Columbia University in Politikwissenschaften promovierte, wurde in der Republik China zu einem bekannten Menschenrechtsaktivisten. Er veröffentlichte seine berühmte Streitschrift über die Menschenrechte in den Jahren 1929–30 in der Zeitschrift Crescent Moon, um gegen die repressive Politik der Nationalistischen (KMT) Regierung zu protestieren.Footnote 47 Svenssons Analyse von Luos Konzept der Menschenrechte und dem Dialog mit Laski deutet darauf hin, dass die Debatten über Menschenrechte, Volksrechte und die Ausarbeitung der Verfassung zwischen 1927 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter chinesischen Liberalen, Radikalen, Marxisten und KMT-Theoretikern intensiv geführt wurden.Footnote 48 Diese aktivistischen Bewegungen führten 1932 zur Gründung der Chinesischen Liga für den Schutz der Bürgerrechte. Kurz: Chang war mit den Theorien und dem politischen Aktivismus der Menschenrechte vertraut, ehe er 1940 seine diplomatische Karriere begann.Footnote 49 Sein tiefes Verständnis für China und die unterentwickelten Regionen der Welt bildete den Hintergrund für viele der Ideen und Vorschläge, die er bei den Vereinten Nationen vorbrachte. So drängte er beispielsweise darauf, dass die UNO eine andere Haltung gegenüber der Nachkriegsweltordnung einnehmen sollte:

„Wir müssen lernen, die Welt als Ganzes zu betrachten und dabei die wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen nicht nur wegen der riesigen Bevölkerung und der potentiellen Ressourcen zu berücksichtigen, nicht nur, weil sie die Rohstoffe liefern und Märkte für die Produktionsgüter der Industrieländer sind, sondern auch, weil hier die Konflikte und Auseinandersetzungen der Industriemächte aufeinandertreffen. In diesen ökonomischen ‚Tiefdruckgebieten‘ lassen sich die Formen der gegenwärtigen und potentiellen internationalen Auseinandersetzungen erkennen.“Footnote 50

Chang hätte diese Rede nicht halten können, wenn er nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass die diskursive Auseinandersetzung um konkurrierende Universalien im UN-Wirtschafts- und Sozialrat auch ein wesentlicher Teil der von ihm erlebten internationalen Auseinandersetzungen war. Und er hätte nicht so gehandelt, wie er es in der UN-Menschenrechtskommission getan hat, wenn er nicht auf die tatsächliche und potenzielle Gestaltung der zukünftigen Entwicklung hätte Einfluss nehmen wollen. Im Rückblick auf viele Jahrzehnte hat diese diskursive Auseinandersetzung nicht aufgehört, sich weiterzuentwickeln und die Welt zu beeinflussen. Es liegt nun an uns und an künftigen Generationen, herauszufinden, wie die Pluralität und Offenheit dieses universellen Textes nicht zu einem neuen Zivilisationsstandard verkommen. Mit der Selbstbefragung und -beantwortung von Du Bois, dessen Überlegungen zu den afrikanischen Befreiungsbewegungen eindringlich das künftige Potenzial der AEMR aufzeigen, wären diese frühen Bemühungen gebührend gewürdigt:

„Was wurde erreicht? Dies: Wir haben eine Vision am Leben erhalten; wir haben an einem großen Ideal festgehalten. Wir haben eine Kontinuität geschaffen, und eines Tages, wenn Einigkeit und Zusammenarbeit erreicht sein werden, wird man die Bedeutung dieser früheren Schritte anerkennen.“Footnote 51

Aus dem Englischen von Chunchun Hu