1 Vorab: Können Sie „Zahlen“?

Als Leser dieses Buches werden Sie möglicherweise Wirtschaftswissenschaften oder ein anderes zahlenlastiges Fach studieren, an einer Hochschule arbeiten, als Risikomanager oder für einen Versicherer tätig sein oder anderweitig regelmäßig mit großen Beträgen, Formeln, Statistiken und Wahrscheinlichkeiten umgehen. Aber Hand aufs Herz: Wie sicher sind Sie im Umgang mit Zahlen und Statistiken wirklich?

Zum Einstieg in meine Vorlesungen konfrontiere ich meine Studierenden gern mit Fragen wie:

  • Wie viel ist eine Milliarde?

  • Wie wahrscheinlich ist bei einem Wurf mit zwei Würfeln ein Pasch?

  • Welcher Anteil der Todesfälle in Deutschland beruht auf Verkehrsunfällen?

  • Wie hat sich die Kriminalität in den letzten 20 Jahren entwickelt?

  • Wie gut fahren Sie im Vergleich zu Ihren Freunden und Kollegen Auto?

  • Welchen Durchmesser hat der Mond?

Falls Sie beim Lesen der Fragen bereits über mögliche Antworten nachgedacht haben, dann schreiben Sie diese am besten auf, bevor Sie weiterlesen. Die Auflösungen werden Sie im Laufe dieses Kapitels finden, und Sie werden sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur über die dort beschriebenen Antworten „der Anderen“ wundern, sondern ein wenig auch über sich selbst.

2 Begrenzte Informationsverarbeitung und wie wir damit umgehen

Egal ob als wahlberechtigter Bürger, als Konsument, im Beruf oder im Privatleben: Wir sind ständig damit konfrontiert, neue Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, Einschätzungen vorzunehmen und Urteile zu bilden, Risiken zu analysieren und die möglichen Konsequenzen unserer Entscheidungen abzuwägen. Das heißt auch, dass wir stets – bewusst oder unbewusst – mit Wahrscheinlichkeiten und großen Zahlen zu tun haben. Wie stehen wir zur Staatsverschuldung? Sollte das Rentenniveau angepasst werden? Führt die Entscheidung für ein Rendezvous, für ein neues Produkt, für ein Reiseziel oder für eine Investition zum erhofften Ergebnis? Und ist es sicher genug, erst eine Stunde vor Beginn zum Vorstellungsgespräch aufzubrechen, mit dem Motorrad in den Urlaub zu fahren, abends die Abkürzung durch den Park zu nehmen, sich gegen Corona impfen zu lassen oder trotz möglicher Ansteckungsgefahren eine Party zu besuchen? Oder sollen wir lieber früher losfahren, einen Zug nehmen, den Umweg in Kauf nehmen und ungeimpft zuhause bleiben?

Die Evolution hat uns mit einem wunderbaren Gehirn ausgestattet, das unvergleichlich leistungsfähig ist und das nicht zuletzt die hoch komplexe Zivilisation erschaffen hat, in der wir leben. Und gleichzeitig ist es anscheinend viel zu limitiert, um sich in diesem komplexen Umfeld zurechtzufinden.

So scheiterten in einer Studie (Müller-Peters und Gatzert 2020),Footnote 1 die wir zum Thema Zahlenverständnis und Risikowahrnehmung durchgeführt haben, fast zwei von drei Befragten an der Aufgabe, das Wievielfache einer Million eine Milliarde sei (korrekt ist, Sie haben es sicher schon erkannt, das Tausendfache). Sogar nur 22 Prozent konnten richtig antworten, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, beim Münzwurf zweimal hintereinander „Zahl“ zu werfen (nämlich ein Viertel), nur 16 Prozent tippten bei der Frage nach dem Pasch richtig auf „ein Sechstel“. Noch viel schlechter fallen die Ergebnisse aus, wenn es um eine Billion geht (mittlerweile leider eine gängige Zahl, wenn es um das Ausmaß der Staatsverschuldung geht), oder auch um exponentielle Entwicklungen: Angesichts der Corona-Pandemie haben wir in einer weiteren Studie das Verständnis solcher exponentiellen Entwicklungen, wie sie zum Beispiel durch den Reproduktionswert R dargestellt werden, überprüft. Je nach Steigerungsgrad und Periodenanzahl lagen die Schätzungen der Befragten um den Faktor drei bis 560.000 unterhalb des wahren Wertes (vgl. Müller-Peters 2020, S. 8).

Die obigen Beispiele verdeutlichen, wie schwer uns die realistische Einschätzung von Risiken fällt. Unser Gehirn ist zwar nach mehr als einer halben Milliarde Jahre evolutionärer Entwicklung für viele Höchstleistungen bestens ausgerüstet. Wir sind großartig im Erkennen von Emotionen, im Umgang mit Sprache, aber auch wenn es um spontane Einschätzungen von Situationen geht oder wenn wir durch die Beobachtung von anderen Menschen hinzulernen. Der Umgang mit großen Zahlen und die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten gehört aber nicht zu unseren Stärken: Zwar sind wir im Prinzip sehr leistungsfähig, wenn es um analytisches Denken geht; es ist aber anstrengend, zeitraubend und wird von den meisten Menschen als aversiv erlebt – denken Sie dafür einfach an die Statistik- und Mathematikklausuren Ihrer Schul- oder Studienzeit zurück. Daher verzichten wir – zumindest außerhalb von Prüfungen – gern auf komplexe Kalkulationen und greifen lieber nach Faustregeln und einfachen Näherungen, um unsere Probleme schnell und dennoch effektiv in den Griff zu bekommen. Mit Hilfe solcher „Heuristiken“ können wir den Alltag selbst in der heutigen, komplexen Welt recht gut bewältigen. Zugleich unterliegen wir damit aber auch einer ganzen Reihe von systematischen – und damit in Grenzen auch vorhersagbaren – Fehlern in unseren Einschätzungen, die uns wiederum oft zu falschen Bewertungen und Entscheidungen verleiten.

Die Gefahr von Fehleinschätzungen ist besonders dann gegeben, wenn es um die Einschätzung von komplexeren Risiken geht. Während uns die Evolution ganz hervorragend vorbereitet hat, auf unmittelbare Bedrohungen wie Schlange, Spinne oder Säbelzahntiger zu reagieren, fällt uns die realistische Einschätzung und damit ein halbwegs rationaler Umgang mit abstrakten, in der Zukunft liegenden Bedrohungen schwer. Und genau um solche dreht es sich beim Thema Risikovorsorge und Versicherung in der Regel.

Ein vereinfachtes, aber sehr hilfreiches Modell, das uns hilft, zahlreiche vom rationalen „Idealbild“ abweichende Erwartungen, Bewertungen und Verhaltensweisen zu verstehen, ist die Annahme zweier unterschiedlicher kognitiver Systeme. Hierzu haben zahlreiche Forscher ähnliche Modelle und Begrifflichkeiten vorgeschlagen. So sprechen Petty und Cacioppo (1986) von „peripherer“ und „zentraler Informationsverarbeitung“, Stanovich und West (2000) haben die Begriffe „System 1“ und „System 2“ vorgeschlagen (diese Terminologie fand insbesondere durch die populären Arbeiten von Kahneman (2011) eine große Verbreitung), und die Neuropsychologen und Werbeforscher Scheier und Held (2012) nutzen die etwas selbstredendere Bezeichnung „Pilot“ und „Autopilot“.

Der „Autopilot“ respektive „System 1“ bezeichnet den evolutionär älteren, weitgehend automatischen und vielfach unbewussten Teil unserer Informationsverarbeitung und Handlungssteuerung. Darin lassen wir uns stark von Emotionen leiten, greifen auf einfache Heuristiken zurück (dazu zählen auch Gewohnheiten oder die Befolgung sozialer Normen) und vernachlässigen nicht sofort zugängliche Informationen. Der „Pilot“ oder „System 2“ bezeichnen dagegen unsere bewusste, kontrollierte und explizite Informationsverarbeitung.

Das Problem sind nun die unterschiedlichen Kapazitäten dieser beiden Systeme und die Energie, die sie uns abverlangen. Während System 1 weitgehend mühelos arbeitet und auf eine enorm hohe Verarbeitungskapazität zurückgreifen kann, verfügt System 2 über weitaus geringere Ressourcen, verlangt Konzentration und Selbstkontrolle und verbraucht in hohem Maße Energie. Durch diese ungleichen Voraussetzungen und unser durchaus rationales Bestreben, jegliche (auch geistige) Anstrengungen zu vermeiden, wird unser Verhalten weitaus mehr durch System 1 als durch System 2 gesteuert. Viele Vorschläge von System 1 winkt unser bewusstes System 2 einfach durch; Kahneman spricht hier vom „faulen Kontrolleur“ (Kahneman 2011, S. 55 ff.).

Und selbst sehr „bewusst“ getroffene Entscheidungen unterliegen immer noch einem Einfluss durch System 1, das fortlaufend „dazwischenfunkt“ und „mitreden will“, sodass auch vermeintlich abwägend getroffene Einschätzungen und Entscheidungen kaum frei von solchen vielfach verzerrenden Einflüssen sind.

3 Verzerrte Risikoeinschätzung

Einen guten Eindruck, wie stark solche Verzerrungen gerade auch bei der Einschätzung von Risiken sein können, vermitteln die Antworten meiner Studenten und Studentinnen zur bereits eingangs gestellten Frage zu den Verkehrstoten: Welcher Anteil der Todesfälle in Deutschland beruht auf Verkehrsunfällen?

Was haben Sie selbst geschätzt? In Deutschland wurden im Schnitt der letzten Jahre nur etwa drei Promille aller Todesfälle durch Verkehrsunfälle verursacht.Footnote 2 Die Schätzungen unserer Seminarteilnehmer – übrigens durchgehend in den höheren Semestern des Bachelor- oder Masterstudienganges und fast alle mit mehrjähriger Berufserfahrung in der Versicherungsbranche – weichen massiv von diesen Ist-Werten ab. Die Spanne der mittleren Schätzwerte (Median) für die Verkehrstoten liegt je nach Semester zwischen neun und 20 Prozent!Footnote 3 Das bedeutet im Allgemeinen eine Überschätzung um den Faktor 50, und selbst der beste Kurs lag noch um mehr als das Zehnfache über dem realen Wert.

Als Vergleichswert frage ich jeweils die Wahrscheinlichkeit ab, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben. Die faktische Todesrate durch Herzinfarkt ist in Deutschland mehr als zehnmal so hoch wie die durch Verkehrsunfälle und die durch Herz-Kreislauferkrankungen insgesamt mit 34 Prozent aller Todesfälle sogar ca. 100-fach höher.Footnote 4 Die durchschnittlichen Schätzungen in den Seminaren lagen bei 25 Prozent und damit erheblich unterhalb des wahren Wertes.Footnote 5

Wir sehen also: Selbst „angehende“ Experten sind vor krassen Fehleinschätzungen nicht gefeit. Dabei handelt es sich hier noch nicht einmal um eine schnelle Ad-Hoc-Einschätzung, sondern um eine relativ konzentrierte Antwort im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Hochschule. Worauf lassen sich nun solche massiven Urteilsfehler bei der Einschätzung von Risiken zurückführen?

Eine ganz wesentliche Heuristik bei der Einschätzung von Risiken besteht nach Kahneman darin, dass wir aufgrund unserer kognitiven Beschränktheit und Bequemlichkeit die anfängliche, komplizierte Frage nach der Häufigkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ersetzen durch die viel simplere Frage, wie leicht wir uns ein entsprechendes Ereignis vorstellen können (vgl. Kahneman 2011, S. 127 f.).

Aufgrund dessen überschätzen wir Gefahren, die besonders leicht aus unserem Gedächtnis abrufbar sind („Verfügbarkeitsheuristik“) − also beispielsweise besonders „bildhafte“, emotional aufwühlende und medienpräsente Ereignisse. Weitere Faktoren, die die Abrufbarkeit und damit die Einschätzung eines Risikos erhöhen, sind die Aktualität von oder die eigene Erfahrung mit entsprechenden Ereignissen (vgl. auch Abschn. 2.3.4 und 2.3.6). Abstrakte statistische Daten dagegen sind ungeachtet ihres weitaus höheren Informationsgehaltes deutlich schwerer aus unserem Gedächtnis abrufbar und werden damit bei der Urteilsfindung eher vernachlässigt. So sind im obigen Beispiel Autounfälle deutlich medienpräsenter als der „stille“ Herztod.

Auch die Frage, wie „typisch“ uns etwas vorkommt, kann die schwierige Frage nach Häufigkeiten und Anteilswerten ersetzen. Beispiele für diese „Repräsentativitätsheuristik“ (Tversky und Kahneman 1973; vgl. Kahneman 2011) sind:

  • Über Flugzeugabstürze wird jeweils ausführlich in allen Medien berichtet, sodass uns das Risiko beim Fliegen hoch erscheint. Dabei wird aber die große Gesamtheit aller Flüge übersehen, von denen die allermeisten ohne Unfall verlaufen („Nennervernachlässigung“, Slovic und Peters 2006).

  • Als Ursache von Verkehrsunfällen erscheint uns Alkoholeinfluss sehr plausibel. Dennoch ist der Anteil von Alkoholfahrten am gesamten Unfallgeschehen überraschend gering, weil jeweils nur ein sehr kleiner Teil aller Autofahrenden unter Alkoholeinfluss steht („Vernachlässigung der Basisrate“, Kahneman 2011, S. 115).

  • In meinen Seminaren schätzen die Teilnehmer regelmäßig die Anzahl jährlicher Morde, wobei die eine Teilgruppe die Morde in Frankfurt und die andere Teilgruppe die Morde in Hessen schätzt. Regelmäßig liegt die Zahl der geschätzten Morde für Frankfurt deutlich höher (meist um den Faktor 1,5 bis 2), obwohl das faktische Verhältnis natürlich umgekehrt sein muss, da Frankfurt ja ein Teil von Hessen ist. Aber ein Mord in der Großstadt „Frankfurt“ kommt uns eben typischer vor als ein Mord irgendwo in Hessen.

Wenn es ein stimmiges Bild ergibt, überschätzen wir auch die Wahrscheinlichkeit, dass zwei miteinander verknüpfte Ereignisse gleichzeitig eintreten, gegenüber dem Auftreten der einzelnen Wahrscheinlichkeiten. Zum Beispiel erscheint uns in der Vorweihnachtszeit ein Zimmerbrand durch einen brennenden Adventskranz naheliegender als ein Zimmerbrand insgesamt. Dabei ist letzteres bei nüchterner Betrachtung natürlich wahrscheinlicher als ein Brand, der nur durch eine bestimmte Ursache ausgelöst worden ist („Konjunktionsfehlschluss“, Tversky und Kahneman 1973).

Hinzu kommt, dass wir Wahrscheinlichkeiten keinesfalls „linear“ wahrnehmen. Nach der Prospect Theorie gewichten wir mittlere und hohe Eintrittswahrscheinlichkeiten geringer, als es deren eigentlichem Wert entspricht, während wir niedrige Wahrscheinlichkeiten tendenziell zu stark berücksichtigen (vgl. Kahneman und Tversky 1979, S. 280 ff.).

Besonders deutlich wird das an den Rändern des Spektrums: Sehr kleinen Wahrscheinlichkeiten (wie sie zum Beispiel beim Lottospiel gegeben sind) − also dem Unterschied zwischen „sicher nicht“ und „ganz eventuell doch“ − messen wir deutlich zu viel Gewicht zu („Möglichkeitseffekt“). Gleiches gilt spiegelbildlich für den Unterschied zwischen „ganz sicher“ und „fast sicher“ („Sicherheitseffekt“, Kahneman 2011, S. 382 ff.).

Der Möglichkeitseffekt führt also dazu, dass wir gerade sehr unwahrscheinlichen Ereignissen eher eine zu hohe Bedeutung beimessen; umgekehrt führt der Sicherheitseffekt dazu, dass wir auch gegenüber sehr kleinen verbleibenden Unsicherheiten motiviert sind, uns dagegen abzusichern. Beide Effekte liefern also wesentliche Argumente für die Suche nach Versicherungsschutz.

Dass sehr unwahrscheinliche Ereignisse dennoch nicht generell überschätzt werden, liegt daran, dass wir im Sinne vereinfachter Informationsverarbeitung meist nur einen Ausschnitt möglicher Ereignisse in unser „Kalkül“ aufnehmen. Möglicherweise wichtige Aspekte oder Gefahren, die uns im Augenblick einer Entscheidung gerade nicht dargeboten werden und die uns nicht spontan in den Sinn kommen, bleiben vielfach schlichtweg unberücksichtigt. Kahneman (2011) benutzt in diesem Zusammenhang das Kürzel WYSIATI − ausgeschrieben „What You See Is All There Is“. Für solche sehr unwahrscheinlichen Risiken lässt sich also ein zweiseitiger Effekt unterstellen: Entweder sie finden zu viel Beachtung oder sie werden schlichtweg ignoriert. Für unsere psychische Gesundheit ist letzteres sicherlich hilfreich, für ein effektives Risikomanagement sollten wir aber auch unwahrscheinliche, jedoch möglicherweise einschneidende Gefahren berücksichtigen (in Bezug auf Naturrisiken und Corona vgl. auch Abschn. 2.3.6 sowie Kap. 3 in diesem Buch).

3.1 Einschätzung von Alltagsrisiken in Deutschland

In der schon zitierten Studie (Müller-Peters und Gatzert 2020) haben wir für die deutsche Bevölkerung erhoben, wie unterschiedliche Risiken aus den Lebensbereichen „Auto und Mobilität“, „Eigentum, Beruf und Familie“ sowie „Gesundheit und Leben“ eingeschätzt werden. Der subjektiven Risikowahrnehmung wurden dann die entsprechenden statistischen Eintrittswahrscheinlichkeiten gegenübergestellt.

Abb. 2.1 vergleicht objektive Eintrittswahrscheinlichkeiten mit der subjektiven Einschätzung durch die Befragten, wie oft ein solches Ereignis bezogen auf die Bevölkerung eintreten könne.Footnote 6 Aufgrund der sehr ungleichen Häufigkeiten der Ereignisse sind die Skalen logarithmiert. Die grau gestrichelte Diagonale stellt den Sollwert dar: Risiken, die deutlich darüber liegen, werden also in ihrer Häufigkeit überschätzt, Risiken unterhalb der Diagonalen werden tendenziell unterschätzt. Die rote Kurve stellt eine grafisch vorgenommene Annäherung an den empirisch vorgefundenen Zusammenhang zwischen objektivem Wert und subjektiver Einschätzung dar, ist aber keine Regressionskurve im mathematischen Sinne. Zu beachten ist, dass aufgrund der logarithmischen Darstellung eine Abweichung von einem Skalenstrich („Kästchen“) bereits einer Abweichung um den Faktor 10 entspricht.

Abb. 2.1
figure 1

Risiken in Deutschland: Objektive Häufigkeiten vs. subjektiver Einschätzung durch die Bevölkerung. (Quelle: Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 36)

Die Kurve und die Punktewolke verdeutlichen, dass im Sinne eines Möglichkeitseffekts vor allem die Wahrscheinlichkeiten von faktisch sehr seltenen Ereignissen (die hier ja explizit abgefragt wurden und damit mental präsent waren) in der Tendenz überschätzt werden. Das verstärkt sich – im Sinne der besseren kognitiven Verfügbarkeit – noch für besonders „dramatische“ und „medienwirksame“ Risiken wie tödliche Verkehrsunfälle oder die Gefahr, durch einen Terroranschlag zu sterben.

Häufigere Ereignisse aus der vorgegebenen Liste von Risiken wurden von den Befragten dagegen eher unterschätzt. Neben Eigentumsdelikten gilt dies zum Beispiel für eine Reihe von typischen Sachschäden wie Brand- und Leitungswasserschäden. Besonders hoch ist zudem die Unterschätzung der Häufigkeit von Rechtsfällen. Und auch die „großen“ Krankheitsrisiken wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebserkrankung werden – analog zum Beispiel aus unserer Vorlesung – in ihrer Häufigkeit unterschätzt.

3.2 Extrembeispiel des Terrorismus

Wie wir schon oben gesehen haben, war Terrorismus zum Zeitpunkt der Befragung die meistüberschätzte Gefahr. Terrorismus ist ein „politisches Instrument“, das sich die beschriebenen Wahrnehmungsverzerrungen besonders perfide zunutze macht, und dadurch mit (relativ zu anderen Todesursachen) geringen Opferzahlen einen maximalen Effekt bei der Bevölkerung erzielt.

In unserer Studie zeigt sich das deutlich an einer Einschätzung zur Gefährlichkeit von Urlaubsländern. Dabei haben wir erfragt, welche Länder die Befragten im Urlaub nicht bereisen würden, „weil es Ihnen dort zu gefährlich wäre“, und die Antworten dann in Relation zu den tatsächlichen „unnatürlichen“ Todesraten durch Verkehr, Kriminalität und Terrorismus gesetzt.

Abb. 2.2 vergleicht die objektive Gefährdung zu den subjektiven Ängsten der Befragten. Dabei zeigen die blauen Rauten die Position der Länder an, wenn lediglich Verkehrstote und Mordfälle berücksichtigt werden. Die gelben Rauten zeigen die Änderung des Gefährdungsindex, wenn für akut terrorismus-betroffene Länder die Zahl der Terroropfer hinzuaddiert wird.

Abb. 2.2
figure 2

Länderrisiken: Ängste versus Fakten. (Quelle: Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 56) (Die Daten zu den einzelnen Ländern beziehen sich auf 2012 (Morde), 2013 (Verkehr) und 2015 (Terror), die Befragung erfolgte 2016, vgl. Müller-Peters, Gatzert 2020.)

Auch wenn Touristen nicht allen Risiken in gleichem Maße ausgesetzt sind wie Einheimische, so nehmen sie doch in der Regel intensiv am Straßenverkehr teil und sind auch regelmäßig Ziel von Gewaltverbrechen. Entsprechend hoch ist der Zusammenhang zwischen dem anhand von Mord- und Verkehrsopfern gebildeten Gefährdungsindex und der subjektiven Einschätzung der Gefährdung in den „normalen“ Ländern − ablesbar an der Punktewolke der blauen Rauten und der daraus abgeleiteten Trendlinie. Sobald jedoch Terrorismus ins Spiel kommt (grün gefärbte Länder, dort gab es im Zeitraum vor der Befragung Anschläge), resultiert eine exponentielle Steigerung der Risikowahrnehmung – ungeachtet der in Relation zu den übrigen Todeszahlen nur jeweils geringen Opferzahlen.

So wurden zum Beispiel Ägypten und noch mehr die Türkei ungleich stärker gemieden als Südafrika, Brasilien oder Thailand mit einem faktisch deutlich höheren Gefahrenpotenzial. Auch die westeuropäischen Länder Frankreich und Belgien hatten 2015 (also im Jahr vor der Befragung) Anschläge erlebt, waren aber objektiv gesehen selbst in diesen Jahren deutlich sicherer als etwa die USA oder Polen. Beide wurden aber relativ zu ihrem Gewaltindex als weitaus unsicherer eingestuft.

Wie gering der Beitrag des Terrorismus zur gesamten „unnatürlichen“ Todesrate ist, zeigt die Position der gelben im Vergleich zu den blauen Länderpunkten in Abb. 2.2. Der Index verschiebt sich durch die Hinzunahme der Terroropfer nur wenig, die relative Position der Länder bleibt so gut wie konstant. Um es auf die Spitze zu treiben: Wenn wir uns vorstellen, dass alle Terroranschläge, die seit der Jahrtausendwende in Westeuropa stattgefunden haben, die verhältnismäßig kleinen Niederlande getroffen hätten, dann würde es uns wohl kaum noch dahinziehen. Faktisch wären die Niederlande dann immer noch eines der sichersten Länder der Welt.Footnote 7

Es lässt sich also festhalten: Terrorismus „wirkt“ in unseren Köpfen − und zwar weit über die tatsächliche gegebene Gefährdungslage hinaus.

3.3 Selbstüberschätzung, Überoptimismus und Vertrautheit

Viele Verzerrungen in der Einschätzung von Risiken sind nicht nur kognitiv, sondern auch motivational bedingt, indem wir unsere Einschätzungen mit unseren Wünschen, Gefühlen oder einem positiven Selbstbild in Einklang bringen wollen.Footnote 8 Vielfach führt dies zu einer Unterschätzung von Risiken, indem wir zum Beispiel

  • zu viel Vertrauen haben in unsere Fähigkeiten („Kompetenzillusion“, „Better-than-Average-Effekt“), unsere Urteilssicherheit („Overconfidence Bias“) und das Ausmaß, mit dem wir unsere Umwelt kontrollieren („Kontrollüberschätzung“),

  • Einschätzungen anhand unserer emotionalen Bewertungen vornehmen und so Gefahren von Tätigkeiten oder Dingen vernachlässigen, die wir mögen („Affektheuristik“),

  • Objekte und Situationen für sicherer halten, die uns nah oder vertraut sind („Vertrautheitseffekt“, an der Börse auch bekannt als „Home-Country-Bias“) sowie

  • Risiken in Bezug auf unsere eigene Person verdrängen („unrealistischer Optimismus“,It won’t happen to me“-Phänomen).

Auch diese Verzerrungen lassen sich gut anhand der Befragung in meinen Seminaren zeigen. So hält sich der Großteil unserer Studierenden für bessere Autofahrer „als der Durchschnitt in diesem Kurs“ (im letzten Semester beispielsweise 74 Prozent). Nicht besser sieht es bei der Urteilssicherheit aus. In einem Versuch wurden die Teilnehmer gebeten, Einschätzungen zu verschiedenen Fragen vorzunehmen, aber nicht als Punktschätzung, sondern als Intervall mit einem Maximal- und einem Minimalwert. Dabei sollte das Intervall so breit gewählt werden, dass der richtige Wert in 90 Prozent der Fälle eingeschlossen ist. Diese Aufgabe spiegelt im Prinzip alltägliche Situationen wider, in denen wir ein Ergebnis zwar nicht präzise vorhersagen wollen, aber bestrebt sind, das Feld möglicher Entwicklungen (zum Beispiel beim Wetter, beim Börsenverlauf oder bei der Dauer einer Autofahrt) ungefähr einzugrenzen. Auf eine Liste entsprechender Fragen wie beispielsweise:

  • Wie alt ist Angela Merkel?

  • Wie lang ist der Nil?

  • Wie viele Seiten hat unser Lehrbuch?

  • Wie weit ist die kürzeste Autobahnverbindung von Köln nach Berlin?

  • Wie viele Tore schoss Lukas Podolski in der ersten und zweiten Bundesliga insgesamt für den 1. FC Köln?

haben die Studierenden über acht Semester verteilt im Mittel anstelle der geforderten 90 Prozent richtigen Antworten nur 34 Prozent richtige Antworten abgegeben. Die Teilnehmer hatten also eine deutlich zu hohe Zuversicht in ihre Schätzungen und haben die Intervalle viel zu eng gewählt! Bevor Sie sich allerdings darüber lustig machen: Der Mond hat einen Durchmesser von 3475 Kilometern. Wäre Ihr Intervall breit genug gewesen?

Dass diese überzogene Urteilssicherheit keinesfalls nur für Laien, sondern ebenso für Führungskräfte in Unternehmen zutrifft, wird am Beispiel von Versicherungsunternehmen und Banken deutlich:

  • Stephan und Kiell (1998) baten 36 Investmentbanker einer Großbank um Schätzintervalle. Die Fragen bezogen sich teils auf Allgemeinwissen, teils auf Devisenkurse und teils auf Aktienkurse. Einerseits stieg in den gegebenen Antworten mit zunehmender Expertise die Selbstsicherheit, das heißt, die Schätzintervalle wurden bei den Finanzfragen deutlich enger gewählt als bei den Fragen zum Allgemeinwissen. Andererseits waren aber nur 25 Prozent der abgegebenen Schätzungen korrekt (noch weniger als bei unseren Studierenden!), und ausgerechnet bei den Aktienkursen wurde mit 17 Prozent die geringste Trefferrate erzielt.

  • Kahneman (2021, S. 32 f. und S. 438) bat 48 Underwriter (also die Spezialisten bei Versicherern, wenn es um die Abschätzung und Bewertung von Risiken geht),Footnote 9 eine Reihe von Fällen zu analysieren. Zugleich ließ er deren Führungskräfte schätzen, wie hoch die Bewertungen (und damit die vorgeschlagenen Versicherungsprämien) ihrer Underwriter voneinander abweichen. Während die meisten Führungskräfte durchschnittliche Abweichungen von höchstens zehn Prozent erwarteten, betrug die tatsächliche mittlere Differenz der durch die Underwriter kalkulierten Prämien 55 Prozent!

Die Auswirkung von vermeintlicher Kontrolle lässt sich anekdotisch recht gut erläutern durch Erfahrungen, die wir während eines halbjährigen Aufenthalts in Florida gemacht haben. Während wir beim Schwimmen am benachbarten Strand oft sehr ängstlich vor möglichen (unkontrollierbaren) Haiangriffen waren, haben uns die dort ebenfalls auftretenden Strömungen (Rip Currents) kaum beunruhigt, konnte man diese doch als guter Schwimmer vermeintlich beherrschen. Dabei liefert die Statistik ein genau umgekehrtes Bild: mit nur 0,1 bis 0,5 tödlichen Haiangriffen im langjährigen Jahresmittel, aber einer 40- bis 100-mal höheren Zahl an Ertrunkenen aufgrund der ablandigen Strömungen. Darunter sind viele sportliche junge Männer, die ihre Fähigkeiten überschätzt haben. Auch Genickbrüche durch die Brandung – selbst in moderaten Wellen – fordern deutlich mehr Opfer als der gefürchtete Hai.Footnote 10

Beim selben Aufenthalt ließ sich auch die Wirkung von „Vertrautheit“ auf die Einschätzung von Gefahren beobachten: Viele unserer Freunde und Nachbarn versicherten uns, sie würden Europa aus Sorge um ihre Sicherheit nicht besuchen. Besonders prägend waren dabei die noch frischen Nachrichten über eine Reihe von Terroranschlägen (vgl. auch den vorherigen Abschnitt) sowie besonders über die Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof, in der es zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch junge Männer (häufig mit Migrationshintergrund) gekommen war, und über die ausführlich in den amerikanischen Medien berichtet wurde. Über die Sicherheit ihres eigenen Umfeldes machten sich unsere Gesprächspartner dagegen wenig Sorge. Und das in einem Land, in dem zur Zeit unseres Aufenthalts die Zahl der Verkehrsopfer um den Faktor 3, die der Tötungsdelikte (nicht zuletzt durch die hohe Verbreitung von SchusswaffenFootnote 11) um den Faktor 5 bis 7 und die der Drogenopfer um den Faktor 12 höher war als in Deutschland.Footnote 12

Auch in der oben dargestellten Bevölkerungsbefragung zeigten sich deutliche Abweichungen, wenn nicht nach dem Risiko „in der Bevölkerung“, sondern nach der „persönlichen Gefährdung“ gefragt wurde. Dabei wurden insbesondere solche Risiken als weniger wahrscheinlich eingeschätzt, die vermeintlich kontrollierbar sind − wie Verlust der Fahrerlaubnis, Scheidung, Alkoholsucht, psychische Erkrankung oder aber mit einem Straftatverdacht konfrontiert zu werden (vgl. Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 32).

Wenn wir nun in unseren Einschätzungen über uns selbst so regelmäßig danebenliegen, warum lernen wir so wenig daraus und passen unsere Einschätzung im Laufe der Zeit nicht an?

Zum einen liegt das daran, dass eine realistische Selbsteinschätzung schwierig ist. Viele Ergebnisse und Rückmeldungen sind mehrdeutig und nicht in einfache Kategorien wie „richtig“ oder „falsch“ einzuordnen. Aus unserem persönlichen Umfeld erfahren wir in der Regel mehr Anerkennung als Kritik, und wenn wir einmal von einer Sache überzeugt sind, finden wir immer wieder bestätigende Informationen dazu („Confirmation Bias“). Im Nachhinein glauben wir fälschlicherweise, dass wir unsichere Ereignisse richtig vorhergesehen hätten („Rückschaufehler“) und finden scheinbar logische Erklärungen für überraschende Entwicklungen („Narrative Verzerrung“). So erliegen wir der Illusion, die Welt besser zu verstehen und Entwicklungen zutreffender vorhersagen zu können, als es tatsächlich der Fall ist. Und schließlich wollen wir uns und unsere Zukunft auch gar nicht unbedingt in einem neutralen Licht sehen, sondern – wie schon dargestellt – unsere Zuversicht und unser positives Selbstbild aufrechterhalten.Footnote 13 Ein Bestreben, das nicht zuletzt unserer psychischen Gesundheit zuträglich ist.

3.4 Der Effekt der eigenen Erfahrung

Das heißt nicht, dass wir immun gegen jegliche Art von Erfahrung sind. Gerade auch in der Risikoeinschätzung spielen persönliche Erfahrungen eine große Rolle, was sich wiederum gut mit der Abrufbarkeit zugehöriger Informationen erklären lässt.

In unserer oben beschriebenen Studie haben wir erfasst, inwieweit ein bestimmtes negatives Ereignis bereits selbst erlebt wurde oder zumindest im näheren persönlichen Umfeld eingetreten ist. Im Ergebnis zeigt sich, dass in Folge so „erlebter“ Gefahren auch die eigene Gefährdung deutlich höher eingeschätzt wird. Das gilt in besonderem Maße für solche Risiken, die ansonsten als sehr unwahrscheinlich angesehen werden. Auch Krankheitsrisiken – wie zum Beispiel psychische Erkrankungen – rücken durch Erfahrungen im persönlichen Umfeld verstärkt ins Bewusstsein.

Abb. 2.3 zeigt, in welchem Ausmaß die Befragten sich persönlich unterschiedlichen Risiken ausgesetzt sehen in Abhängigkeit davon, ob sie diese selbst oder in ihrem direkten Umfeld innerhalb der letzten fünf Jahre erlebt haben (blaue Linie) oder nicht (rote Linie).

Abb. 2.3
figure 3

Einschätzung der Gefährdung in Abhängigkeit von der persönlichen Erfahrung. (Quelle: Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 27)

Eine zweite (hier nicht abgebildete) Stichprobe wurde nicht nach dem Grad der persönlichen Gefährdung, sondern nach der Häufigkeit solcher negativen Ereignisse in der Bevölkerung insgesamt gefragt. Auch in diesem Fall wurden die Gefahren deutlich höher eingeschätzt, wenn zuvor eigene Erfahrungen mit den Ereignissen bestanden (vgl. Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 31).

Negative Erfahrung – sei es unmittelbar oder aber mittelbar aus dem persönlichen Umfeld – führt also ganz im Sinne der Verfügbarkeitsheuristik dazu, dass wir Risiken höher einschätzen. Interessanterweise ist dieser Effekt unabhängig davon, ob die jeweilige Gefahr im Vergleich zu ihrer tatsächlichen Häufigkeit unter- oder überschätzt wird. Erfahrung führt also zu einem erhöhten, nicht aber notwendigerweise zu einem realistischeren Gefahrenbewusstsein.

3.5 Früher war alles besser?

Und wie ist es, wenn wir Risiken wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit oder Verkehrsunfälle im Vergleich zur Vergangenheit einschätzen sollen? Wohl jeder von uns ist vertraut mit Aussagen wie „Heutzutage kann man vermutlich kaum noch …“ oder „früher war es noch nicht so gefährlich …“.

In unserer Studie haben wir die Entwicklung von sechs unterschiedlichen Gefahren im Zeitablauf beurteilen lassen. Zwei der abgefragten Risiken hatten sich im betreffenden ZeitraumFootnote 14 negativ entwickelt, die Mehrheit dagegen positiv − zum Teil sogar wie im Falle der tödlichen Verkehrsunfälle (Rückgang von 34 Prozent) und der Arbeitslosigkeit (Rückgang um 45 Prozent) sehr positiv.

Wie die Ergebnisse in Abb. 2.4 zeigen, wichen die Einschätzungen der Befragten davon erheblich in negativer Richtung ab. Insbesondere (aber nicht nur) in den Fragen zur Kriminalität waren die Einschätzungen der Befragten bei weitem zu pessimistisch, und zwar weitgehend unabhängig von der realen Entwicklung.

Abb. 2.4
figure 4

Einschätzung von Entwicklungen im Zeitverlauf. (Quelle: Müller-Peters und Gatzert 2020, S. 42)

Das wird besonders deutlich am Beispiel der Wohnungseinbrüche, für die wir die Hälfte unserer Stichprobe zu einem Zeitraum (nämlich 20 Jahre) befragt hatten, in dem die faktische Entwicklung genau gegensätzlich war. Die Antworten unterscheiden sich in den beiden Varianten faktisch überhaupt nicht, sondern waren gleichermaßen fast durchgängig negativ. Aber auch so fundamentale positive Entwicklungen wie am Arbeitsmarkt und der Verkehrssicherheit haben nicht wirklich Eingang in das Bewusstsein der Bevölkerung gefunden.

Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch in anderen Bereichen machen:

  • Ist Ihnen bewusst, dass wir auch bei weltweiter Sicht in einer der friedlichsten Phasen (wenn nicht der friedlichsten Phase) der gesamten Menschheitsgeschichte leben, sowohl was Gewaltkriminalität als auch die Zahl der Kriegsopfer angeht? (vgl. Keeley 1996; vgl. Pinker 2011, 2018)

  • Viele Menschen, die (wohl zu Recht) besorgt sind über den Klimawandel, sind äußerst verwundert, wenn sie hören, dass die Treibhausgasemissionen in Deutschland bereits deutlich gesunken sind − von 1990 bis 2019 um immerhin 35 Prozent und bis 2020 sogar um über 40 Prozent (wobei der Sprung zwischen 2019 und 2020 allerdings zum Teil einem pandemiebedingten Sondereffekt zuzuschreiben ist; vgl. Umweltbundesamt 2021).

  • In unserer Befragung bejahten nur 40 Prozent die Frage

    Haben sich die Lebensbedingungen der Menschen in den meisten Ländern der Welt in den letzten 30 Jahren verbessert?

    Mehr als 30 Prozent gingen hingegen sogar von einer Verschlechterung aus. Dabei hat sich laut den Statistiken der Vereinten Nationen seit 1990 Großartiges getan: Die Kindersterblichkeit hat sich mehr als halbiert, der Anteil der unterernährten Menschen in den Entwicklungsländern ist von 23 Prozent auf 13 Prozent gefallen, die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen ist von 1,9 Milliarden auf 836 Millionen gefallen und die Zahl der Erwerbstätigen, die der sogenannten Mittelschicht angehören (also von mehr als vier US-Dollar pro Tag leben), hat sich fast verdreifacht.Footnote 15 Auch wenn sicher jedes tote Kind und jeder Hungernde zu viel ist, sind das große Erfolge!Footnote 16

Die Ergebnisse zeigen: Im Rückblick neigen wir dazu, die Vergangenheit zu verklären, während uns andererseits die Medien im „Heute“ laufend mit schlechten Nachrichten konfrontieren.Footnote 17 Dies führt zu übertriebenen Sorgen und ist zugleich ein bedenklicher Motor von Politikverdrossenheit, Demokratiemüdigkeit, Fatalismus oder aber der Befürwortung populistischer oder extremistischer Positionen.

3.6 Elementarrisiken: Gehypt oder verdrängt

Abschließend soll noch ein Blick auf die Wahrnehmung von Elementarrisiken geworfen werden. Diese Risiken werden nicht zuletzt aufgrund einer Häufung von Hochwasserereignissen in den letzten Jahren und der Erwartung ihrer weiteren Zunahme in Deutschland infolge des Klimawandels (vgl. Kap. 7 in diesem Band) derzeit besonders intensiv diskutiert. Dabei spielt auch die Frage nach einer Pflichtversicherung eine große Rolle, da die Versicherungsdichte in Bezug auf Elementarschäden mit 46 Prozent (vgl. GDV 2021) relativ gering ist, und nach größeren Schadenereignissen immer wieder der Staat einspringen musste.

Anzunehmen ist, dass bei der Einschätzung von Elementarrisiken gleich mehrere der beschriebenen Effekte zusammenwirken. Zum einen greift hier die oben schon beschriebene Tendenz, dass solche sehr unwahrscheinlichen Ereignisse entweder überschätzt werden (Möglichkeitseffekt), in anderen Fällen aber überhaupt keine Beachtung finden (WYSIATI). Zudem zeigen die obigen Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage, dass mögliche Sachschäden den meisten Bürgern tendenziell weniger präsent sind als Risiken „für Leib und Seele“. Und schließlich bietet der Bereich der Naturgefahren ein dankbares Feld für Verdrängung und Abwehrreaktionen, sei es durch Verleugnung der Gefahr („wir wohnen nicht am Fluss“, „in unserer Gegend ist so etwas noch nie passiert“) oder einfach durch unreflektierten Optimismus („It won’t happen to me“).

In Verbindung mit diesen Einflüssen zeigt sich in der Regel ein starker zyklischer Effekt, wonach die öffentliche Aufmerksamkeit für solche Risiken in Folge großer Schadenereignisse massiv ansteigt („Hype“ oder „VerfügbarkeitskaskadeFootnote 18), bevor diese dann nach einem gewissen Zeitabstand wieder aus den Medien – und unserem Bewusstsein – verschwinden (vgl. hierzu auch Kap. 3 in diesem Band). Eine entsprechende Zyklizität ließ sich zum Beispiel in den USA anhand der Nachfrage nach Flutdeckungen aufzeigen (vgl. Michel-Kerjan et al. 2012; vgl. Gallagher 2014; vgl. Kunreuther et al. 2013, S. 115 f.).

Aber auch auf der Angebotsseite scheinen entsprechende Tendenzen zu bestehen, indem Angebotspreise in Folge von eingetretenen Großereignissen trotz vorab vorhandener Modelle nachkalibriert und Deckungskapazitäten reduziert werden, oder indem Anbieter ganz aus dem Markt ausscheiden (vgl. Hillebrand 2015;Footnote 19 vgl. Aseervatham et al. 2017). Auch die vermeintlich „rationale“, aktuariell kalkulierende Angebotsseite ist also gegenüber solch subjektiven Verzerrungen nicht immun.

Über diese primär wahrnehmungsbedingten Effekte hinaus dürfte die nach wie vor (zu) geringe Versicherungsdichte gegenüber Elementargefahren auch durch unsere „Trägheit“ bei Entscheidungen begünstigt sein, zumindest solange eine Elementardeckung nicht verpflichtend ist oder zumindest nicht als Default-Lösung in die Gebäudeversicherung aufgenommen wird. Der mögliche fördernde Effekt einer solchen „Default-Lösung“ − also einer standardmäßigen Voreinstellung, die aber abgewählt werden kann − ist leicht an der Versicherungsdichte in Baden-Württemberg zu erkennen, die mit 94 Prozent weitaus höher als in anderen Bundesländern ist (vgl. GDV 2021). Grund ist, dass in Baden-Württemberg eine Pflichtversicherung bestand (vgl. auch Kap. 14 in diesem Buch) und nur die wenigsten Hausbesitzer sich aktiv für eine Kündigung derselben entschieden haben, während in den meisten anderen Bundesländern eine aktive Entscheidung für einen Einschluss der Elementarrisiken notwendig war.

Und schließlich dürfte bei manchen Hausbesitzern auch die (mit Blick auf vergangene Ereignisse durchaus realistische) Sichtweise, dass im Katastrophenfall der Staat schon einspringen werde, einer Absicherung auf eigene Kosten entgegenstehen (vgl. dazu auch Kap. 8 in diesem Band).

4 Empfehlungen für besseres Entscheiden

Wir sehen also: Irren ist im wahrsten Sinne menschlich. Heuristiken und Urteilsverzerrungen sind tief in unserer Natur verwurzelt und lassen sich (wenn überhaupt) auch bei wichtigen Entscheidungen nur schwer bändigen. Versicherungsvertriebe kennen und nutzen das: Manche Versicherungen, die leicht vorstellbare Risiken absichern, lassen sich vergleichsweise einfach verkaufen, während die Absicherung anderer, objektiv viel bedeutenderer Risiken oft intensiver Aufklärungsarbeit bedarf. So werden die Gefahren durch Krankheiten tendenziell unterschätzt, die von Unfällen überschätzt.Footnote 20 Die Gefahren durch Terrorismus, Flugreisen und Autoverkehr werden (in dieser Reihenfolge) drastisch überschätzt, die durch ungünstige Ernährung hingegen unterschätzt.

Politisch resultiert daraus eine interessante Diskussion, ob staatlicherseits eher solche Gefahren zu bekämpfen sind, die objektiv eine hohe Gefährdung darstellen, oder solche, die zu besonderen Ängsten in der Bevölkerung führen. „Freie Bleistifte für Alle“ anstelle exzessiver Terrorismusbekämpfung (oder welches andere Risiko im Moment gerade gehypt ist) würde nicht nur den Etat entlasten, sondern zugleich auch mehr zur „Inneren Sicherheit“ beitragen, sterben bei uns doch deutlich mehr Menschen an Erstickung durch verschluckte Kugelschreiberteilchen als an Terroranschlägen, Schusswaffen und Blitzschlägen zusammen.Footnote 21

Einige Grundregeln für eine realistischere Einschätzung von Risiken und in Folge eines realistischeren Risikomanagements – auch im Privatleben – könnten lauten:

  1. 1.

    Überwinden Sie Ihre Abneigung gegen Zahlen! Seien Sie vorsichtig mit „Intuition“ und „Gefühl“ und suchen Sie soweit möglich nach belastbaren statistischen Grundlagen, bevor Sie wichtige Entscheidungen fällen.

  2. 2.

    Vernachlässigen Sie dabei nicht die Basisrate. Fragen Sie sich also nicht nur, wie oft etwas passiert, sondern auch, auf Basis von wie vielen Fällen insgesamt, um das tatsächliche Risiko abzuschätzen, betroffen zu sein.

  3. 3.

    Berücksichtigen Sie nicht nur die „bildhaften“ und medial präsenten Gefahren, sondern denken Sie vor allem auch an die großen, „stillen“ Risiken wie Verlust der Berufsfähigkeit oder das Pflegerisiko im Alter.

  4. 4.

    Bleiben Sie dabei realistisch und lassen Sie sich nicht von Überoptimismus, Verdrängung oder Wunschdenken leiten. Wenn Sie meinen, sie können ein Risiko kontrollieren, dann hinterfragen Sie das noch einmal kritisch. Und wenn Sie sich – zum Beispiel an der Börse – als Experte fühlen, bedenken Sie, wie zuverlässig Ihre Erfahrung wirklich ist, um das gegebene Problem einschätzen zu können, und erinnern Sie sich dabei an unsere Studenten, den Mond und an Lukas Podolski.Footnote 22

  5. 5.

    Verlassen Sie sich auch nicht zu sehr auf andere „Experten“. Auch diese unterliegen den gleichen Urteilsfehlern. Manchmal können die Effekte geringer ausfallen als bei Laien, aber keineswegs immer, denken Sie beispielsweise an unsere Underwriter und Investmentbanker.

  6. 6.

    Lassen sie sich nicht von Katastrophenmeldungen und medialen Hypes mitreißen: Ist das aktuelle Thema wirklich für Sie so relevant und bedrohlich? Vergessen Sie dabei aber diejenigen Risiken nicht, die gerade im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen.

  7. 7.

    Widerstehen Sie der Versuchung, die Vergangenheit zu verklären und die Gegenwart zu beklagen. Vieles hat sich im Vergleich zu früher verbessert, viele Gefahren haben sich reduziert.

  8. 8.

    Seien Sie vollständig: Überlegen Sie zum Beispiel beim Abschluss einer Versicherung, welche Risiken es außer den in der Werbung dargestellten oder durch den Vermittler beschriebenen noch geben könnte, und ob sie diese nicht auch absichern möchten. Oder greifen Sie gleich zu einer (in Deutschland leider nicht sehr verbreiteten) Allgefahrenversicherung.Footnote 23 Hier werden alle nicht eingeschlossenen Risiken explizit aufgeführt, sodass kein Raum bleibt für „WYSIATI“.

  9. 9.

    Bewerten Sie, wieweit ein Risiko eine wirklich essenzielle (finanzielle) Gefährdung für Sie darstellt, und lassen Sie Risiken, die nicht wirklich relevant sind „links liegen“. Denken Sie dabei breit und nicht eng,Footnote 24 also langfristig und über verschiedene Risikokategorien hinweg statt nur in Bezug auf einen einzelnen möglichen Schaden. Am Ende ist es günstiger, kleine Schäden selbst zu tragen, als dauerhaft Versicherungsbeiträge dafür zu zahlen.

  10. 10.

    Setzen Sie sich dazu Regeln, zum Beispiel „keine Absicherung von Bagatellschäden“ oder „immer die höchste Selbstbeteiligung“. Dabei kann die Grenze je nach finanzieller Lage durchaus hoch liegen: Brauchen Sie wirklich die Vollkasko für Ihr vielleicht schon etwas älteres Auto, oder könnten Sie sich zur Not auch so Ersatz kaufen? Bei Risiken wie Wegfall des Einkommens oder Verlust des Hauses sieht die Rechnung dann wahrscheinlich anders aus, insbesondere wenn die Hypothek noch nicht abgezahlt ist.

  11. 11.

    Der breite Blick gilt auch für andere Arten der alltäglichen „Risikovorsorge“. Vielleicht es ja besser, sich alle zehn oder zwanzig Jahre einmal das Fahrrad oder den Geldbeutel stehlen zu lassen, als ständig verängstigt, misstrauisch oder übervorsichtig durch das Leben zu „schleichen“?

  12. 12.

    Berücksichtigen Sie auch, wie häufig sie tatsächlich einem Risiko ausgesetzt sind: Einmal nicht angeschnallt oder ohne Kindersitz Auto fahren oder einmal über die rote Ampel laufen kann ein durchaus überschaubares Risiko sein. Wenn Sie jeden Tag über die rote Ampel laufen, kumuliert die Wahrscheinlichkeit und das Risiko kann ganz erheblich werden.

  13. 13.

    Wenn Ihnen die Absicherung eines essenziellen materiellen Risikos wirklich wichtig ist, dann lassen Sie das Argument „die Versicherung kann ich mir nicht leisten“ nicht gelten, denn dann können Sie sich in Wirklichkeit das Gut selbst nicht leisten. Wählen Sie also Ihr Haus, Ihr Auto oder Ihre Yacht lieber eine Nummer kleiner aus. Gleiches gilt im übertragenden Sinne auch für die Absicherung des Einkommens durch eine Berufsunfähigkeits- oder auch Risikolebensversicherung. Ist die zu teuer, dann passen Sie ihren Lebensstil an, nicht ihre Absicherung.

  14. 14.

    Und schließlich: Seien Sie vorsichtig in Gruppen. Auch wenn die durchschnittliche Einschätzung einer möglichst großen Zahl von Menschen durchaus besser sein kann als ein Einzelurteil (vgl. Surowiecki 2007), so unterliegen doch die meisten Menschen gleichgerichteten Verzerrungen, sodass ein „Ausgleich“ durch die Gruppe nicht unbedingt gegeben ist. Darüber hinaus können gruppendynamische Effekte dazu führen, dass Selbstüberschätzung und überzogene Urteilssicherheit noch weiter zunehmen und in Folge die Einschätzungen und Entscheidungen noch extremer werden (vgl. Irving 1972; vgl. Stürmer und Siem 2020).

Die Auflistung zeigt: Es ist schwer, aber nicht unmöglich, die Einschätzung von Risiken – sei es beruflich oder im Privatleben – auf eine realistischere Grundlage zu stellen. Und das bedeutet keinesfalls „immer mehr“ Ängste, Vorsicht und Absicherung, sondern ebenso, unnötige (Vor-)Sorge(n) abzubauen und sich nicht vor dem Falschen zu fürchten und so gleichzeitig gelassener und rationaler unsere komplexe Umwelt zu bewältigen.

Noch besser wäre es natürlich, direkt im Rahmen der Schulbildung eine bessere Risikokompetenz zu vermitteln (vgl. Gigerenzer 2013, S. 314 ff.). Aber auch Versicherer und deren Berater können durch passende Produkte und vor allem durch eine aktive und realistische Aufklärung eine wichtige Rolle spielen – und sind dazu aufgrund der gesetzlichen Vorgaben zur Risikoanalyse und -beratung auch zunehmend in der Pflicht.

Falls Sie sich selber noch ein wenig informieren wollen, empfehle ich unseren Selbsttest auf www.kenn-dein-risiko.de, oder werfen Sie einen Blick in unser Themenportal www.behavioralinsurance.de.Footnote 25 Dort finden sich noch deutlich mehr Verzerrungen, Hintergründe sowie Tipps, die eigenen Entscheidungen zu rationalisieren.