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Heteronormativitätskritik light: Manuel Castells’ Beitrag zu einer geschlechtertheoretisch informierten Gesellschaftstheorie

A light critique of heteronormativity: manuel castells’ concept of social theory based on gender

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Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung

Part of the book series: Gesellschaftstheorien und Gender ((GETHEOUGFO))

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Zusammenfassung

Manuel Castells’ Entwurf einer gesellschaftstheoretisch unterfütterten Zeitdiagnose verortet das treibende Moment sozialen Wandels im bipolaren Gegensatz zwischen Netz und Ich. Eine zentrale Rolle spielen dabei die informationstechnische Revolution und die Frauenbewegung, was Perspektiven einer geschlechtertheoretisch informierten Gesellschaftstheorie eröffnet. Um diese freizulegen, skizziert der Beitrag Castells’ Konzept des informationellen Kapitalismus und rekonstruiert dessen Überlegungen zum Zusammenhang von Geschlechterverhältnissen und Netzwerklogik. Weil Castells den Zusammenhang von Netz und Ich dabei über das Phänomen Familie verknüpft, bleibt er allerdings – so die Kritik – in einem traditionell angelegten Konnex von Geschlecht und Patriarchalismus gefangen. Alternativ skizziert der Beitrag eine heteronormativitätskritische Perspektive, um das gesellschaftstheoretische Potenzial von Castells’ Entwurf besser nutzen zu können.

Abstract

Manuel Castells’ concept of a diagnosis of our time identifies the polarity between network and individual as being the most important driving force of social transformation. Essential for this transformation are the IT revolution and the women’s movement which offer perspectives for a gender sensitive social theory based on gender theory. This paper outlines Castells’ concept of informational capitalism and discusses his idea of linking gender relations and the logic of networks. Since Castells develops the nexus of network and identity based on the phenomenon of the family, he remains captured in a traditional interpretation of patriarchalism and gender. As an alternative, this article develops a perspective which is critical of heteronormativity, and thus allows a better use of Castells’ potential for social theory.

Für geduldiges Lesen, kritisches Mitdenken und hilfreiches Kommentieren danke ich Heike Kahlert und Christine Weinbach.

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Notes

  1. 1.

    Unter informationellem Kapitalismus versteht Castells eine gesellschaftliche Organisationsweise, die „auf Informationstechnologien beruht“ (Castells 2003a, S. 106) und unter Patriarchalismus die „institutionell erzwungene Autorität von Männern gegenüber Frauen und ihren Kindern in der Familieneinheit“ (Castells 2003b, S. 147). Castells spricht von Patriarchalismus, ich gehe im Folgenden aber davon aus, dass damit auch Patriarchat bzw. patriarchale Verhältnisse gemeint sind (vgl. Abschn. 3). Als Patriarchat definieren GeschlechterforscherInnen „Beziehungen zwischen den Geschlechtern […], in denen Männer dominant und Frauen untergeordnet sind“ (Cyba 2008, S. 17).

  2. 2.

    „Kapital ist im Kern global, Arbeit ist in der Regel lokal.“ (Castells 2003a, S. 533)

  3. 3.

    Während Castells in den 1990er Jahren noch die Selbstprogrammierung als Leitbild avancierten Arbeitens bezeichnete, dürfte dieses vom Leitbild mobil kommunizierender Arbeitskräfte abgelöst worden sein (vgl. Castells et al. 2006).

  4. 4.

    Ein gutes Beispiel dafür liefert die auf drei Kontinente verteilte Studie zu mobiler Kommunikation (Castells et al. 2006). Betrachtet man Statistiken zur Verbreitung von Mobiltelefonen, lag sie 2004 in Europa und den USA bei 70 % der Bevölkerung, in Afrika unter 10 %. Diese Zahlen differenzieren die ForscherInnen nach Alter, Geschlecht, Ethnizität und sozioökonomischer Status (Castells et al. 2006, S. 39–76). Erwachsene (vor allem männliche) Geschäftsleute nutzen die neuen Medien zwar als erste, junge Leute dagegen sind die TrendsetterInnen. Damit entpuppt sich vor allem Generationszugehörigkeit als ein maßgeblicher Verbreitungsfaktor. Die Studien zu Geschlechterdifferenzen indes sind uneinheitlich. Nur für Japan gibt es deutliche Hinweise auf die Entwicklung einer mobilen Kommunikationssubkultur von Frauen, in der Türkei, in Israel und Norwegen wiederum wurden bei Jugendlichen keine Unterschiede gefunden, und auch wenn sie gefunden werden, lassen sie sich immer weiter differenzieren und hinterfragen. Die ForscherInnen schätzen Technik nicht als geschlechterneutral ein, sie verfüge aber über ein ‚trans-gender‘-Potenzial, weil die Grenzen zwischen vergeschlechtlichten Praxen allmählich verschwömmen: „Variations in gender use of mobile communication technologies might, for example, be explained by factors such as work status, location of workplace, family status, and lifestyle.“ (Castells et al. 2006, S. 54) Ihr Fazit: Handys eröffnen Zugang zu Kommunikation für Minoritäten, ermöglichen auch Nähe/Bindung zur Heimatkultur. Die soziale Differenzierung von Technik reproduziert dabei die soziale Differenzierung der Gesellschaft: Geschlecht stelle ‚nur‘ einen Faktor unter anderen dar, und in der Analyse solcher Verwobenheiten kommt diese Studie intersektionalen Ansätzen recht nahe (Castells et al. 2006, S. 75).

  5. 5.

    Weitere Fallstudien in Europa, Asien und den USA zur Nutzung mobiler Kommunikationsmedien (vor allem von Handys) durch Protestbewegungen als Form horizontaler Kommunikation an der offiziellen Politik vorbei finden sich in Castells et al. (2006, S. 185–214).

  6. 6.

    Castells definiert Schwulsein und Lesbianismus nicht als sexuelle Präferenzen, sondern als Identitäten. Dabei greift er auf Naturalisierungen zurück: „Zwar existieren biologische Prädispositionen, aber homosexuelle Begierde ist zumeist mit anderen Impulsen und Gefühlen vermischt“ (Castells 2003b, S. 220), und an anderer Stelle spricht er von biologischen Prädispositionen zum Schwulsein (vgl. Castells 2003b, S. 249).

  7. 7.

    Interessanterweise rekurriert Castells nur in diesem Zusammenhang auf Gewalt als gesellschaftlich relevantem Faktor. Sonst finden sich im zweiten Band lediglich beiläufige Stellen zu Gewalt in Verbindung mit dem Nationalstaat und bei der Bestimmung von Patriarchalismus, im dritten Band spielt Gewalt vor allem in Zusammenhang mit organisierter Kriminalität eine Rolle. Im ersten Band zur Netzwerkgesellschaft taucht Gewalt als relevanter Begriff nicht auf. Zu Gewalt als durchgängigem Strukturierungsprinzip von Gesellschaft vgl. dagegen Walby (2009, S. 191–217).

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Degele, N. (2012). Heteronormativitätskritik light: Manuel Castells’ Beitrag zu einer geschlechtertheoretisch informierten Gesellschaftstheorie. In: Kahlert, H., Weinbach, C. (eds) Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Gesellschaftstheorien und Gender. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94254-4_3

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  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

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