Am 2. November 1990 legte Ulrich Greiner in der Zeit ein weiteres Scheit in das Feuer des deutsch-deutschen Literaturstreits: Die „deutsche Gesinnungsästhetik“, die in der „Verbindung aus Idealismus und Oberlehrertum“ wurzle (1995, S. 213), habe die Literaturen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs viel zu lange beherrscht. Nun sei es (endlich) wieder an der Zeit, sich dem Schönen in der schönen Literatur zu widmen – dem eigentlich Literarischen. Der erkennbaren Polemik ungeachtet, benennt Greiner ein Charakteristikum der kanonisch gewordenen BRD- und DDR-Literatur durchaus korrekt. Die Literatur der Nachkriegszeit reagierte auf politische Krisen zahlreich mit Texten, deren kritischer Impetus eine moralische Schlagseite hatte. AutorInnen wie Heinrich Böll, Stefan Heym, Hans Magnus Enzensberger und natürlich Christa Wolf kommen hier sofort in den Sinn. Umso erstaunlicher mag es sein, dass Werte und Normen lange Zeit ein Randthema der germanistischen Literaturtheorie und Forschung waren.Footnote 1 Sie müssten eigentlich als interpretationstheoretischer Horizont die Untersuchungen eines ansehnlichen Korpus begleiten.Footnote 2

Der Nichtbeachtung moralischer Werkdimensionen entsprechend nahm und nimmt auch die axiologische Unzuverlässigkeit eine Randstellung in der narratologischen Forschung ein, wohl nicht zuletzt, da sie als erzähltheoretisches Konzept im Rahmen der rhetorischen Literaturauffassung Wayne C. Booths entstanden ist. Ein Verständnis von Literatur, das diese nicht nur als Kommunikationsmedium begreift, sondern dem literarischen Werk an sich die Absicht unterstellt, den LeserInnen eine Werthaltung zu vermitteln, erscheint den etablierten literaturtheoretischen Modellen des 20. Jahrhunderts radikal zu widersprechen.Footnote 3 Im Folgenden möchte ich Booths These, dass literarische Kommunikation auf Meinungs- oder Bewusstseinsveränderungen bei den Lesenden abziele, dennoch aufgreifen; allerdings nicht, weil ich sie in Bezug auf jedes literarische Werk für gültig halte, sondern weil sie für ein Gutteil der in der DDR entstandenen und veröffentlichten Literatur fraglos zutrifft. Das gilt insbesondere für die frühe DDR-Literatur bis in die sechziger Jahre hinein, die sich die Forderung, im Sinne der Bildung und Erziehung der sozialistischen Persönlichkeit zu wirken, zu eigen machte – dem notorischen Stalinzitat entsprechend, demzufolge die SchriftstellerInnen „Ingenieure der Seele“Footnote 4 sein sollten. Die Erkundung moralisch-ethischer Wirkungsintentionen erscheint für die frühe DDR-Literatur daher nicht nur ausgesprochen sinnvoll, sondern für ihre adäquate Interpretation unabdingbar.

In den kulturpolitischen Auseinandersetzungen herrschte allerdings mitnichten Einigkeit darüber, welche Stoffwahl, Handlungsführung, Figurenzeichnung oder Dialoggestaltung bei den LeserInnen welche Wirkung entfalten würden. Und viele der in der DDR geführten Literaturdebatten – zwischen KulturpolitikerInnen, Verlagsleuten und AutorInnen, aber auch innerhalb der AutorInnenschaft – drehten sich letztlich genau um diese Frage.Footnote 5 Geführt wurden diese Debatten häufig als Auseinandersetzungen über Realismus, also darüber, in welcher Weise die Literatur die (sozialistische) Wirklichkeit adäquat darstellt. Insofern fanden die Auseinandersetzungen über Wirkungsweisen literarischer Kommunikation hier auch und zuvorderst vermittelt über Fragen nach Funktion und Wesen von Fiktionen statt.

Bei einer so deutlichen Werteorientierung, die im DDR-typischen Spannungsfeld aus kulturpolitischen Vorschriften, der drohenden Zensur, den literarischen Debatten und den Erwartungen des Publikums einige Brisanz entfalten konnte, ist die Vermutung naheliegend, dass axiologische Unzuverlässigkeit in der DDR-Literatur als narratives Mittel häufig eingesetzt worden sein könnte. Literaturwissenschaftliche Untersuchungen liegen dazu bislang keine vor. Auch in diesem Beitrag wird es keine extensive Klärung dieser Vermutung geben. Stattdessen möchte ich im Folgenden über die Werteorientierung in Günter de Bruyns Buridans Esel (1968) nachdenken, und zwar mit Blick auf die Frage, ob hier axiologisch unzuverlässig erzählt wird. Dafür werde ich zunächst erläutern, welche Rolle die Axiologie des Romans für seine Interpretation spielt und warum der Verdacht, der Erzähler könnte axiologisch unzuverlässig sein, im Raum steht. Die darauf folgende Analyse wird zwar zeigen, dass keine axiologische Unzuverlässigkeit vorliegt; sie wird dafür aber einige Aufschlüsse über Axiologie und Erzählweise des Romans sowie über Missverständnisse in der Rezeption geben.

1 Die literaturpolitische Gretchenfrage: Lob oder Radikalkritik des Sozialismus?

Buridans Esel erschien 1968 im Mitteldeutschen Verlag und wurde in Ost und West überwiegend positiv rezipiert. In der Werkentwicklung de Bruyns gilt er als derjenige Text, in dem sich der Autor vom Schematismus seiner früheren Werke – insbesondere des Romans Der Hohlweg – befreit und zu größerer Lebendigkeit der Figurendarstellung, verfeinerten erzählerischen Mitteln und stimulierenderer Aufmerksamkeitslenkung gefunden habe. Diese Einschätzung teilen die KritikerInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen seit dem Erscheinen des Textes mit dem Autor selbst.

Erzählt wird die Geschichte des saturierten Bibliotheksleiters Karl Erp, der seine Frau Elisabeth und die beiden gemeinsamen Kinder für die junge Praktikantin Fräulein Broder verlässt, um diese am Ende doch sitzen zu lassen und in das erheblich bequemere Einfamilienhaus zurückzukehren. Es handelt sich also um eine Spielart des bürgerlichen Ehebruchromans unter sozialistischem der Vorzeichen; verhandelt werden Fragen der Moral, indem bestimmte Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften kritisch aufs Korn genommen werden. So weit herrscht in der Forschung Konsens. Eigenartigerweise wurde aber noch niemand darüber stutzig, dass es im Hinblick auf das Ziel der im Roman artikulierten Kritik, also bezüglich der Frage, wer oder was hier tatsächlich ins Visier genommen und verurteilt wird, überraschend unterschiedliche Auffassungen gibt. Zwei Rezeptionsdokumente belegen das eindrücklich: eine Rezension aus dem Jahr 1969 und ein literaturwissenschaftlicher Aufsatz von 1995. Ihr Vergleich wird zeigen, warum die Frage nach den im Roman bzw. vom Erzähler vertretenen Werten für die Interpretation unabdingbar ist – und zwar insbesondere vor dem spezifischen Publikations- und Rezeptionshintergrund der DDR.

Der DDR-Germanist und Kritiker Martin Reso lobt Buridans Esel in einer in der Akademiezeitschrift Sinn und Form 1969 erschienenen Rezension mit einigem Pathos. Die Fragestellung und Lösung des Romans müssten „sozialistisch genannt werden“, die „Bewältigung der literarischen und ästhetischen Probleme“ seien „modern im besten Sinne des Wortes“, also: nicht im westlichen, ‚dekadenten‘ Sinn (Reso 1969, S. 763). Seine positive Beurteilung fußt auf der Einschätzung, dass de Bruyn den konsolidierten Sozialismus als Hintergrund seiner Charakterstudie nutze, wobei die sozialistische Gesellschaft den außerehelich Liebenden keine Hindernisse in den Weg lege (was Reso positiv auslegt). Hemmnisse fänden sich allein in den Liebenden selbst, was de Bruyn erlaube, seine Figur Erp als „gesellschaftlichen Typus“ (Reso 1969, S. 759) in seiner Kleinheit und Engherzigkeit individuell plastisch auszugestalten.

Andrea Jäger kommt in einem Aufsatz gut 25 Jahre später zu einer ganz anderen Einschätzung: „De Bruyn zeichnet weder eine heile Welt, noch ist sein Roman Anschauungsmaterial für ‚sozialistisches Biedermeier‘“, schreibt sie. Vielmehr handle es sich um „eine radikale Absage an das sozialistische System“ (74).

Die Urteile des DDR-Kritikers und der BRD-sozialisierten Germanistin sind unvereinbar. Reso deutet den Umstand, dass de Bruyn eine minutiöse Charakterstudie vorlegt, die Standhaftigkeit, Verbindlichkeit und Liebesfähigkeit in die Verantwortung des Einzelnen stelle, dahingehend aus, dass dies nur auf einer gesellschaftlichen Grundlage möglich sei, in der das Wohl des Individuums im Mittelpunkt steht. Laut Reso wird im Roman also behauptet, dass es im konsolidierten Sozialismus keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen den Glücksmöglichkeiten und Bedürfnissen des Individuums und den Anforderungen der Gesellschaft mehr gebe. Ein größeres Lob des Sozialismus ist kaum denkbar. Jäger hingegen weist darauf hin, dass Erps patriarchalisches und verlogenes Gebaren im Roman keine wirklich negativen Folgen habe. Der Roman stelle den Opportunismus und Egoismus der Hauptfigur folglich nicht als individuellen Sonderfall, sondern als Norm sozialistischer Alltagspersönlichkeit dar. Dies müsse als höchst negative Zeitdiagnose und fundamentale Absage an die sozialistischen Emanzipationsbestrebungen gelesen werden.

Man könnte nun vermuten, dass für diese divergierenden Einschätzungen weniger der Text als vielmehr der Deutungskontext ausschlaggebend ist, also die Einbettung in ein hier sozialistisches, dort westdeutsch geprägtes Umfeld. Weitere vorhandene Rezeptionszeugnisse stützen diese Vermutung jedoch nicht. Wie de Bruyns Memoiren zu entnehmen ist, gab es im Vorfeld der Veröffentlichung von Buridans Esel heftige Auseinandersetzungen darüber, wie der Text bzw. seine politische Botschaft zu beurteilen sei bzw. wie ihn die Druckgenehmigungsbehörde aufnehmen würde. Der Verlagsleiter des Mitteldeutschen Verlags fürchtete einen weiteren Konflikt mit kulturpolitischen Schaltstellen wie etwa zeitgleich im Fall von Nachdenken über Christa T. (vgl. hierzu Drescher 1991). In einer eigens für die Evaluierung des Romanmanuskripts einberufenen Versammlung von Verlagsleuten sowie Vertretern von Schriftstellerverband und Partei gingen die Meinungen auseinander. Zwar wurde der Text überwiegend für unbedenklich gehalten, doch der Verlagsleiter selbst fand ihn – so de Bruyn in seinen Erinnerungen – „parteifeindlich und revisionistisch“ (de Bruyn 1996, S. 142). Über den Schriftsteller Max Walter Schulz schreibt de Bruyn:

Er hielt den Roman für schädlich, ohne das dem Autor subjektiv anlasten zu wollen, und sagte für den Fall, daß der Verlag ihn befürworten sollte, großen Ärger voraus. Denn der ironische Ton, der das Ganze durchziehe, würde alles, auch das Positive, in Frage stellen. Objektiv handle es sich um einen verdeckten, heimtückischen Angriff auf die sozialistische Gesellschaft, die fälschlich als etabliert begriffen würde, nicht aber als im progressiven Sinne veränderbar. (143)

Offensichtlich las Max Walter Schulz den Roman in den sechziger Jahren ähnlich wie Andrea Jäger in den Neunzigern. Umgekehrt gibt es in der Nach-Wende-Forschung zu de Bruyn mehrheitlich Stimmen, die in Buridans Esel keine Grundsatzkritik am Sozialismus sahen, sondern vielmehr wie Martin Reso meinten, der Autor sei in den sechziger Jahren mit dem Sozialismus (noch) erkennbar einverstanden gewesen.

Nun war die Frage, wie es Autor und Text mit dem Sozialismus halten, die Gretchenfrage der Literaturpolitik.Footnote 6 Und für eine gelungene Interpretation des satirischen Romans ist es auch heute noch wesentlich zu klären, wer oder was eigentlich der Gegenstand der satirischen Kritik ist. Wie die genannten Rezeptionszeugnisse zeigen, können zur Beantwortung dieser Frage verschiedene Textebenen herangezogen werden, was zu jeweils unterschiedlichen Resultaten führt. Reso beurteilt das Textganze vor dem Hintergrund einer angenommenen Haltung des Autors, wenn er äußert, de Bruyn schreibe „seine Geschichte aus dem Gefühl gesellschaftlicher Verantwortung, von der Grundposition eines Moralisten aus“ (Reso 1969, S. 757). Andrea Jäger argumentiert auf der Handlungsebene, wenn sie schreibt, die kritische Haltung des Autors zeige sich daran, dass die kritisierte Figur keine Widerstände erfahre. Schulz wiederum bezieht sich auf die ironische Haltung des Erzählers, die keine positive Sicht auf das Geschilderte zulasse.

Sollte die letztgenannte Diagnose zutreffen, wäre eine Untersuchung unter dem Gesichtspunkt axiologischer Unzuverlässigkeit wenig zielführend, da Ironie von unzuverlässigem Erzählen sinnvollerweise abgegrenzt werden sollte (Köppe und Kindt 2014, S. 241 f.). Dennoch erscheint der Verdacht, hier könnte axiologisch unzuverlässiges Erzählen vorliegen, nicht völlig aus der Luft gegriffen. Jägers Überlegungen zum Roman enthalten z. B. genau diese These (ohne sie so zu benennen): dass der Erzähler andere Werte vertrete als das Werk. Erp sei zwar deutlich negativ gekennzeichnet, der Erzähler setze ihn aber insofern immer wieder ins Recht, als er Haltung und Sichtweise des Protagonisten annehme und dessen Selbstlügen mittrage, was als „eine regelrechte Entschuldigung“ (Jäger 1995, S. 77) anzusehen sei. Damit, so Jäger, erteile de Bruyn nicht nur dem Sozialismus eine Absage, sondern jeder Möglichkeit von Emanzipation. Im Folgenden soll überprüft werden, ob diese Diagnose einer narratologisch informierten Analyse standhält. Auf diesem Weg soll auch die Frage nach dem Ziel der moralischen Kritik aufgeklärt und die moralische Wirkungsintention des Werks offengelegt werden.

2 Die ‚Normen des Werks‘

Booth band bekanntlich die Definition seines Norm-bezogenen Zuverlässigkeitsbegriffs an das Konzept des „impliziten Autors“, bei dem es sich, wie Tom Kindt und Hans-Harald Müller (2006, S. 48–50) gezeigt haben, um eine Kompromissbildung zwischen Booths rhetorischer Literaturauffassung und seinen Zugeständnissen an den damals akademisch dominanten New Criticism und dessen Warnung vor der intentional fallacy handelt. Für die Erarbeitung der Werteorientierung von Buridans Esel ist ein Rückgriff auf dieses umstrittene Konzept aber nicht unbedingt nötig. Sie lässt sich auch auf Basis textueller und kontextueller Hinweise herausarbeiten.

Zunächst lässt sich einiges über die Normen des Werks aus einer gattungsbezogenen Untersuchung gewinnen, wenn nämlich Buridans Esel auf der Folie des bürgerlichen Ehebruchromans vom Typus Effi Briest gelesen wird. De Bruyn konstruiert seinen Roman ganz auffällig im Gegensatz zu den Gattungskonventionen: Die Figur, die Ehebruch begeht, ist hier männlich, nicht weiblich, und sie erfährt aufgrund dieses Verhaltens keine Ächtung, sondern einen beruflichen Aufstieg. Stimmen, die ‚die Gesellschaft‘ repräsentieren und die das Verhalten Karl Erps verurteilen, erhalten relativ wenig Raum in der Erzählung. Der Text legt den Fokus also in der Tat nicht auf einen Widerspruch zwischen dem Begehren einer Figur und gesellschaftlichen Normen, die diesem Begehren im Wege stehen und es gegebenenfalls sanktionieren. Zudem liegt mit Blick auf die bürgerliche Ehebruchhandlung eine signifikante Verschiebung vor: Nicht der Ehebruch und das Verlassen von Frau und Kindern – oder eine Gesellschaft, die dies zuerst provoziert und dann bestraft – erscheint hier als kritikwürdig, sondern Erps schwacher und unbeweglicher Charakter, der sich im Handlungsverlauf durch seine Unfähigkeit zeigt, an der Liebe zu Fräulein Broder festzuhalten und sich mit ihr und für sie zu verändern (vgl. von Matt 1991).

Auch auf Basis der Werkstruktur ist zu erkennen, dass in Buridans Esel Charaktereigenschaften im Mittelpunkt stehen – obwohl der Text nach der handlungsdominanten Gattung Drama gebaut ist: Die 28 Kapitel weisen einen pyramidalen Aufbau nach dem Freytag’schen Modell auf. Bis zum Kap. 13 wird Erps Beziehungsanbahnung mit Fräulein Broder geschildert, die Handlung ‚steigt‘. Im Kap. 13 finden Handlung und Liebe zum Höhepunkt: Es schildert die erste gemeinsam verbrachte Nacht am Weihnachtsabend des Jahres 1965. Der Moment bezeichnet zugleich die Glücksumkehr. Kaum ist das Begehrte erreicht, beginnt der Niedergang, der in der zweiten Romanhälfte geschildert wird. Erp muss sich mit der desolaten Ein-Zimmer-Wohnung Fräulein Broders abfinden, den peinlichen Gang zum Scheidungsanwalt machen und sich mit der Frage auseinandersetzen, wer von den beiden Liebenden den Arbeitsplatz in der Bibliothek aufgibt. Und obwohl sich dieses letzte Problem am Ende in Wohlgefallen auflöst, kann oder will Erp die genannten Unbequemlichkeiten nicht auf sich nehmen. Dabei stellt sich heraus, dass die neue Beziehung an derselben Problematik scheitert wie bereits die frühere mit Elisabeth: Erp gibt ein weiteres Mal seine politischen Jugendideale auf – das Vorhaben, die sozialistische Sache durch bibliothekarische Pionierarbeit auf dem Lande zu befördern –, die durch die Verbindung mit Fräulein Broder wachgerufen worden waren. Stattdessen wählt er Verhältnisse, die persönlich angenehm sind und seine Eitelkeit befriedigen, sowie eine Frau (Elisabeth), von der er zu wissen meint, dass sie in die eigene ökonomische Abhängigkeit einwilligt und seine intellektuelle und lebensweltliche Überlegenheit bestätigt. Die Pointe des Romans besteht darin, dass Elisabeth sich in der Zwischenzeit aus dieser Rolle gelöst hat und dabei ist, eine eigene berufliche Existenz aufzubauen. Die Kapitel- und Handlungsstruktur orientiert sich also an der Hauptfigur (Erp), und zwar nicht allein an ihrem Tun, sondern auch an ihren Befindlichkeiten: Die steigende Handlung folgt Erps Wunsch nach einer sexuellen Beziehung mit Fräulein Broder, die fallende Handlung beschreibt die zunehmende Enttäuschung. Auch das Resultat des Beziehungsdramas ist allein auf Erps Psycho-Logik zurückzuführen. Erps Motivationen – und das bedeutet hier: seine Selbstrechtfertigungen – sind strukturgebend und stehen damit im Zentrum des Interesses und der Kritik. Es ist das Innere, die Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten, die thematisch ist und moralisch zur Disposition steht.

Diese Verschiebung der moralischen Beurteilung weg vom ehebrecherischen Verhalten und der es sanktionierenden Gesellschaft hin zur persönlichen Charakterdisposition ist auch zeithistorisch plausibel. Wie hinlänglich bekannt, gab es in der DDR nicht nur eine der weltweit höchsten Scheidungsraten, sondern auch ein aus heutiger Sicht progressives, weil liberales Scheidungsgesetz. Das Familiengesetzbuch der DDR, in dem dieses Gesetz geregelt wurde, trat 1965 in Kraft – also gerade in dem Jahr, in dem die Romanhandlung spielt und in dem Buridans Esel auch großteils verfasst worden sein dürfte. Ehebruch war damit offiziell kein Tabu mehr; ihn oder seine Sanktionierung zu skandalisieren, wäre anachronistisch gewesen. Das darf aber nicht mit einer positiven Haltung zu Promiskuität oder freier Liebe verwechselt werden. Vielmehr formulierten die auf dem 5. Parteitag der SED 1958 verkündeten Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik das christliche Gebot ‚Du sollst nicht ehebrechen‘ um in „Du sollst sauber und anständig leben und deine Familie achten“ (10 Gebote der sozialistischen Moral). Das bedeutete nicht zwangsläufig mehr Freiheit in Sachen Sexualität. Doch im Unterschied zu einem fest umschriebenen Verhaltenskodex sind ‚Anstand‘ und ‚Achtung‘ inhaltlich offene Konzepte, die bestimmte Persönlichkeitsdispositionen anmahnen.

Wie wird nun diese Konzentration auf Charakter, Persönlichkeit und Handlungsmotivation in der Erzählweise erkennbar? Rein quantitativ fällt auf, dass lange Passagen des Textes die Gedankenabfolgen nachvollziehen, mit denen Erp vor sich selbst und vor anderen das eigene Verhalten rechtfertigt. Die Länge entsteht dadurch, dass seine formal folgerichtigen, aber primär exkulpatorischen Argumentationsarabesken durch den narrativen Nachvollzug plastisch gemacht und dann in zusammenfassenden Kommentaren beim Namen genannt werden, etwa wenn es heißt, Erp sei ein „Meister der Selbstrechtfertigung“ (de Bruyn 1999 [1968], S. 119). So deutet der Protagonist beispielsweise die Beziehung mit Elisabeth in ihrem ersten Trennungsgespräch nachträglich um und behauptet, sie nie geliebt zu haben. Dies wird vom Erzähler folgendermaßen beschrieben und kommentiert:

Er hatte wirklich ehrlich sein, hatte alles hervorholen wollen, was in zwölf Jahren verschwiegen worden war, war nun erleichtert, weil es gesagt war, und bedrückt, weil es so leicht gewesen war, es zu sagen; er war stolz auf seine Ehrlichkeit, aber auch schamerfüllt, weil viel Lust ihr wehzutun dabeigewesen war, und weil Berechnung sich eingeschlichen hatte: die Hoffnung, Gefühle selbst leichter loswerden zu können, wenn er sie bei ihr tötete. Er hatte zu zerschlagen versucht, was zu zerschlagen er für nötig gehalten hatte, fühlte aber, daß ihr gemeinsames Gebäude noch nicht in Trümmern lag, daß weiter zerstört werden mußte, auch die Vergangenheit. Daß sie sich geliebt hatten, durfte nicht stimmen. Er hätte sonst zugeben müssen, daß die Liebe irgendwann unterwegs gestorben war, ohne Absicht, aber nicht ohne Schuld. Das hätte die Größe seiner neuen Liebe verkleinert, auch seine Ehrlichkeit, die er anerkannt sehen wollte und um derentwillen er lügen mußte […]. (de Bruyn 1999 [1968], S. 96 f.)

Auf die Weise, in der diese Selbsterkenntnisse und -rechtfertigungen erzählerisch präsentiert werden, werde ich weiter unten genauer zu sprechen kommen. Im Roman nehmen solche Passagen, die zwischen Analyse, Geständnis und Lüge hin und her pendeln, jedenfalls einen beachtlichen Raum ein.

Je mehr Figuren Erps Verhalten zum Opfer fallen (abgesehen von Elisabeth und Fräulein Broder wäre hier z. B. auch der Praktikant Kratzsch zu nennen), umso deutlicher wird ihr exkulpatorischer Charakter, und das heißt: umso entlarvender werden die betreffenden Passagen. Gegen Ende des Romans wird diese Tendenz von einem der wenigen eindeutigen Sympathieträger, dem Abteilungsleiter Theo Haßler, klar benannt: Als er begreift, dass Karl, anstatt sich scheiden zu lassen und fortan ein neues Leben mit Fräulein Broder zu führen, diese allein aufs Land gehen lässt, um rasch ins Eigenheim an der Spree zurückzukehren, wird seine (also Haßlers) Meinung mit folgenden Worten wiedergegeben: „Es gibt eine Art moralischen Handelns, bei der die Moral in die Binsen geht!“ (de Bruyn 1999 [1968], S. 216), was moralisches Handeln gemäß Handlungsvorschriften einer Moral, die sich an inneren Werten (Haltung, Charakter, Persönlichkeit) orientiert, gegenüberstellt.Footnote 7 Was wie moralisches Verhalten aussieht und von Erp natürlich auch so dargestellt wird – er erwähnt „Familie, Pflicht, Kinder, Verantwortung“ sowie die „absolute[], weil unkündbare[] Stellung des Vaters“ (de Bruyn 1999 [1968], S. 216) –, ist eigentlich gegen jede Moral, zumindest gegen die neue, an innerer Haltung ausgerichtete Moral, die Charakterfestigkeit und innere Wandlungsfähigkeit höher veranschlagt als pflichtkonformes Verhalten.

Wenn dies der unbestrittene Wertekanon ist, der das Werk regiert, so ist die Zielrichtung der Kritik schwieriger zu bestimmen als im traditionellen Ehebruchroman. Wird Erp als Individuum für seinen ‚schlechten‘ Charakter verantwortlich gemacht? Soll vermittelt werden, dass auch die diesen Charakter hervorbringende und das entsprechende Verhalten tolerierende Gesellschaft mit Schuld an seinen negativen Eigenschaften hat? Ist dem Text eine Geste der Menschenfreundlichkeit eingeschrieben, die zeigt, dass der Sozialismus auch Platz für Anti-Helden des Erp’schen Typus hat – indem etwa bis zu einem gewissen Grad mit den Schwächen des Protagonisten sympathisiert wird? Oder steht Erp stellvertretend für den zu sich gekommenen Sozialismus?

Textstruktur und Inhalt geben auf diese Fragen keine eindeutige Antwort. Im Folgenden soll deshalb die Erzählweise des Romans genauer untersucht werden. Dabei wird zunächst ermittelt, um welchen Typus von Erzähler es sich in Buridans Esel eigentlich handelt (wie zu sehen sein wird, ist das weniger einfach zu bestimmen, als es auf den ersten Blick erscheint). Dies bietet auch die Grundlage für die Frage, ob dem Erzähler eine eigene – vom Werk eventuell abweichende – Werteorientierung zugesprochen werden kann. Denn wie Tom Kindt (2008, S. 54) festgestellt hat, ist das einzige Kriterium, dessen Fehlen axiologisch unzuverlässiges Erzählen grundsätzlich ausschließt, die personale Qualität des Erzählers. Anders ausgedrückt: Der Erzähler darf keine unpersönliche Instanz sein, da die Zuschreibung kohärenter Werthaltungen dann nicht sinnvoll möglich ist.

3 Welcher Erzähler?

Auf den ersten Blick scheint es sich beim Erzähler in Buridans Esel um eine Instanz zu handeln, die über unbeschränktes Wissen über die erzählte Welt verfügt und über die Gedanken aller Figuren Auskunft geben kann. Der Gestus ist über weite Strecken auktorial im Stanzel’schen Sinn, ohne dass allerdings ein einziges Mal ‚Ich‘ gesagt würde. Vielmehr gibt es zahlreiche Stellen, die vermuten lassen, dass das Ich absichtsvoll vermieden wird, indem beispielsweise Passivkonstruktionen der Vorzug gegeben wird. Zugleich gibt diese Erzählinstanz Auskunft über die Handlungskonstruktion, verweist etwa auf Informationen, die in einem späteren Kapitel nachgereicht werden, oder schlägt den LeserInnen alternative Handlungsverläufe vor – wie etwa, um ein Beispiel zu nennen, am Ende des Kap. 13, in dem Erp und Broder die Nacht miteinander verbringen, also genau in der Mitte des Buches. Hier heißt es:

Da wird happy-end-süchtigen Lesern empfohlen, es hiermit genug sein zu lassen, das Buch auf den Nachttisch zu legen, Elisabeth, die Kinder, Haßler, Kratzsch zu vergessen und mit dem achtenswerten Irrtum: Wahre Liebe siegt, lächelnd einzuschlafen. Dem, der im Halbschlaf angefangene Lebensfäden weiter verstricken will, sei folgende Version geraten: Fräulein Broder besteht das Examen; Elisabeth trennt sich in Freundschaft von Erp; Haßler organisiert eine Betriebsversammlung, auf der Erp Scheidung und Heirat bekanntmacht; Frau Broder-Erp wird in die Zentrale berufen, wo sie sich ganz ihrem Spezialgebiet, der Bibliothekssoziologie, widmen kann; das Paar bezieht eine Neubauwohnung (zweieinhalb Zimmer, Küche, Bad, Fernheizung) in der Karl-Marx-Allee, wo es noch heute lebt, glücklich, aber nie selbstzufrieden. (de Bruyn 1999 [1968], S. 125)

Wie hier erkennbar wird, wird in Buridans Esel mit einer gewissen Jovialität erzählt. Auch gibt es immer wieder deutliche Anzeichen von Ironie in der Handlungs- und Figurenkommentierung, die ebenfalls personale Qualitäten vermuten lassen könnten. Reicht das aber bereits aus, um eine Person dingfest machen zu können, deren Werthaltungen im Verhältnis zum Werkganzen benannt und untersucht werden können?

Bliebe es bei diesen Hinweisen, könnte die personale Qualität des Erzählers kaum erhärtet werden.Footnote 8 Auch die These der axiologischen Unzuverlässigkeit wäre damit vom Tisch. Es gibt bei genauer Lektüre aber einige versteckte Hinweise darauf, dass es sich nicht nur um einen personalen, sondern sogar um einen homodiegetischen Erzähler handelt, der sich als Figur aber konsequent im Hintergrund hält. Zunächst fällt bei näherem Hinsehen auf, dass in Bezug auf das Erzählen der Ereignisse immer wieder von einem „Bericht“ gesprochen wird (de Bruyn 1999 [1968], S. 46, 106, 120, 125 etc.), der Erzähler selbst nennt sich einen „Berichterstatter“ (179, 197) und spricht von seiner „Chronistenpflicht“ (68). Zudem scheint sein Wissen an einigen Stellen doch begrenzt zu sein, was aber kaum auffällt, da es sich als ironisches Geplänkel verstehen lässt.Footnote 9

Dass der „Berichterstatter“ tatsächlich auf die mündliche Erzählung der Figuren angewiesen ist, um den Bericht wahrheitsgemäß abzufassen, wird nur an zwei kleinen, nicht sonderlich exponierten Stellen deutlich. Hier die erste:

Wie kamen die Zigarrenstummel in Elisabeths Aschenbecher? Hätte Erp, anstatt Gefühle walten zu lassen, die Brasilspur verfolgt, wäre endlich ein bißchen Spannung aufgekommen, die nachträglich zu erzeugen dem Berichterstatter durch Forschungen nicht möglich war: Er fragte Elisabeth, und die sagte es ihm. Das war alles.

Haßler?

Natürlich.

Eine Liebesgeschichte?

Nein, nein. Sicher nicht. Unwahrscheinlich. Kaum anzunehmen. Jedenfalls gibt es keine Beweise dafür. Auf eine entsprechende Frage sagte Haßler bibelfrei, in ungewohnter Kürze: ‚Um mich geht es nicht!‘ […] (de Bruyn 1999 [1968], S. 197)

Einen weiteren Hinweis für den homodiegetischen Status des Erzählers gibt eine Passage, die die Nebenfigur Kratzsch betrifft, einen Bibliothekspraktikanten, der wegen Erps Interesse an Fräulein Broder ihr gegenüber beruflich benachteiligt worden war. Der Erzähler überlegt, ob Kratzsch eventuell ebenfalls an Fräulein Broder interessiert gewesen sein könnte, und beendet die dahin gehende Spekulation mit folgenden Worten:

Aber ob Verehrung tatsächlich Sauerteig für seine [Kratzschs, BG] Wühlarbeit gewesen ist, wird unklar bleiben. Er ist nicht erreichbar, studiert in Moskau Regie und hat auf Briefe nicht geantwortet, obwohl ihm versichert wurde, daß sein wahrer Name (Kratzsch ist nur ein geborgter) nicht genannt werden würde. (de Bruyn 1999 [1968], S. 203)

Ein Erzähler/Berichterstatter, der handlungsrelevante Informationen bei den beteiligten Figuren einholen muss und dazu Briefe nach Moskau schreibt, muss man sich, denke ich, zweifellos als Person vorstellen – und zwar als Person der erzählten Welt. Es handelt sich also um einen homodiegetischen Erzähler, der allerdings keine Figur der erzählten Handlung ist – ein Umstand, der der Forschung bisher entgangen ist. Für die Frage nach der Wertzuweisung im Roman ist das aber von einiger Relevanz.

4 Ist der Erzähler axiologisch unzuverlässig?

Gibt es nun Hinweise auf die wertbezogene Einstellung, die der Erzähler zu der erzählten Geschichte einnimmt? Es ist in diesem Text beileibe nicht einfach, die Werthaltung des Erzählers zweifelsfrei zu bestimmen. Als Beispiel für diese Schwierigkeit eignet sich das Ende des Kap. 22, in dem ein Streit zwischen Erp und Fräulein Broder geschildert wird. Erps Vorschlag, ihn von seinem Posten als Bibliotheksleiter zu entbinden, ist – wider seine Erwartung und anders als von ihm tatsächlich gewünscht – angenommen worden. Seine Enttäuschung darüber lässt Erp an Fräulein Broder aus, die um eine vernünftige Reaktion bemüht ist. In einer Mischung aus Erzählerkommentar und erlebter Rede wird dann ausgeführt, dass die Möglichkeit eines Neuanfangs des Liebespaars irgendwo auf dem Land das Problem mit sich brächte, dass es dann keine äußeren Hindernisse für die Beziehung mehr gebe – und damit vielleicht auch keine große Liebe mehr:

Wenn es stimmt, daß Größe durch Widerstände entsteht, wäre unsere verständige Gesellschaft kein Boden für große Liebesgeschichten.

Möglich. Aber das spricht für die Gesellschaft.

Und gegen Karl.

Selbstverständlich. (de Bruyn 1999 [1968], S. 186)

Der Erzähler reflektiert hier den Unterschied zwischen der in seinem „Bericht“ geschilderten Liebeshandlung und der großen Tradition tragischer Erzählungen des Typus Romeo und Julia oder Abaelard und Heloisa (vgl. de Bruyn 1999 [1968], S. 184). Ganz im Sinne der Romaninterpretation Martin Resos stellt der Erzähler in den Raum, dass dies für eine gute – liberale – Gesellschaft spreche und gegen den Protagonisten (dessen Persönlichkeit dieser Freiheit nicht gewachsen ist). Das abschließende „Selbstverständlich“ kann ironisch gelesen werden – muss es aber nicht. Die Erzählung folgt hier dem Modell von Rede und Gegenrede, wobei es – mangels eines fiktionsintern eingeführten Dialogpartners – naheliegend ist, von einer Art Selbstgespräch oder phantasiertem Gespräch auszugehen.Footnote 10

Da nicht überall geklärt werden kann, ob und welche Art von Ironie vorliegt, ist es schwierig, dem Erzähler eindeutige wertebezogene Überzeugungen zuzuschreiben. Zumindest kann auf der Ebene expliziter Kommentare nicht ermittelt werden, ob sich der Erzähler in Übereinstimmung mit oder im Widerspruch zu den Normen des Werks – Charakterfestigkeit und innere Wandlungsfähigkeit – befindet. (Da er als handelnde Figur nicht auftaucht, gibt es auch keine Hinweise auf aktionaler Ebene.)

Wodurch entsteht aber auf LeserInnenseite an manchen Stellen des Textes der Eindruck, der Erzähler beziehe für seinen Protagonisten Stellung und positioniere sich damit im Widerspruch zu den Normen des Werkes? Betrachtet man die Erzählweise genauer, so fällt auf, dass sich de Bruyn über weite Strecken der erlebten Rede bedient, um die Gedankenabfolgen und Selbstrechtfertigungen seiner Hauptfigur nachvollziehbar zu machen. Er handhabt diese Weise der Gedankenwiedergabe durchaus flexibel und reizt den Spielraum von Nähe und Distanz, den sie ermöglicht, weit aus. So gibt es – vor allem in der ersten Hälfte des Romans – zahlreiche Passagen, die zur identifikatorischen Lektüre einladen, während sich der Erzähler später durch Übertreibungen und Zuspitzungen immer stärker distanziert.

Ein Beispiel für die eher empathische, Sympathie weckende Weise der Gedankenwiedergabe gibt die folgende Stelle, an der erläutert wird, warum Erp, statt zu Fräulein Broder aufrichtig zu sein, lieber verschweigt, dass er von den Bewohnern ihres Wohnhauses in Berlin Mitte für einen Freier gehalten worden ist:

So hat er es mehr als einmal Fräulein Broder erzählt, ohne Anita [eine jugendliche Nachbarin, BG] zu erwähnen, was auch schlecht möglich war, weil er sein Abenteuer mit den Mietern des Nachbaraufgangs insgesamt verschwieg: Es hätte nicht in das Bild gepaßt, das er ihr von sich vorzumalen gedachte. Er war nicht gerade mutig, selbstbewußt oder kaltblütig aufgetreten, hatte sich nicht gewehrt, alles mit sich geschehen lassen, nur schüchtern protestiert und mit viel ‚Verzeihen Sie!-‘ um Auskunft ersucht, war höchstens mal leicht ironisch geworden (‚Es würde mich wirklich interessieren, für wen Sie mich halten!‘) und hatte sich auf dem Boden ein wenig gefürchtet, kurz er hatte sich so benommen, wie er war, und gar nicht so, wie er gesehen werden wollte. Sich ihr so zu zeigen, schien ihm, hätte das Ende vor dem Anfang bedeutet, und deshalb schwieg er sich über die ganze Geschichte aus. (de Bruyn 1999 [1968], S. 46)

Dass jemand im Prozess der Beziehungsanbahnung die Schilderung peinlicher Situationen lieber vermeidet, um sich nicht in ein schlechtes Licht zu rücken, erscheint hier nicht primär als kritikwürdig, sondern kann, da nachvollziehbar, auch als entschuldbar angesehen werden.

Es ist mehr als gängig, die detaillierte Darstellung handlungsmotivierender Gedanken und Gefühle im Roman als Einladung zu verstehen, mit der betreffenden Person zu sympathisieren. Auch Booth beschreibt in The Rhetoric of Fiction einigermaßen ausführlich, dass und wie narrative Verfahren, die die Gedanken- und Gefühlswelt von Figuren mit geringer Distanz schildern, diese Figuren zu Identifikations- und Sympathieträgern machen (274–284). Aus diesem Grund ist für Booth ein so gemachtes Identifikationsangebot mit einer Figur, die amoralisch handelt, eine Spielart axiologisch unzuverlässigen Erzählens.Footnote 11

Die These, dass eine Gedankenwiedergabe mit geringer Distanz grundsätzlich Sympathie erzeuge und eine positive Bewertung von Figuren, Haltungen oder Handlungen eindeutig nahelege, lässt sich gleichwohl nur schwer aufrechterhalten.Footnote 12 Wie de Bruyn selbst vorführt, kann sie auch einen entlarvenden Charakter haben. Ein gutes Beispiel dafür findet sich an der Stelle des Romans, an der Erp nach der ersten mit Fräulein Broder verbrachten Nacht, für die er die familiäre Weihnachtsfeier abrupt verlassen hat, nach Hause zurückkehrt, und von seiner Frau Elisabeth mit beharrlichem Schweigen bestraft wird. Daraufhin werden frühere Situationen geschildert, in denen Erp das Schweigen seiner Frau nicht ertragen konnte und deshalb Wutausbrüche bekommen hatte. In einer längeren, in erlebter Rede verfassten Passage (de Bruyn 1999 [1968], S. 130 f.) wird vom Erzähler nachgezeichnet, wie Erp, der nach monatelangem Werben endlich bei seiner Geliebten gelandet ist und am Morgen nur nach Hause zurückkommt, um zwei Koffer zu packen und Hals über Kopf auszuziehen, die Reaktion auf sein verletzendes, ehebrechendes Verhalten in eine Aggression gegen sich umdeutet. Der darauf folgende kurze Dialog endet damit, dass er seiner Frau den Satz an den Kopf wirft: „Den Mann möchte ich sehen, der das jahrelang ertragen hätte!“ (de Bruyn 1999 [1968], S. 131) – mit „das“ meint er ihr Schweigen, das freilich eine Folge seiner eigenen Handlungen ist. Aus Elisabeths gekränkter Reaktion drechselt Erp also einen Grund für sein Weggehen und schiebt die Schuld für das Scheitern der Ehe dem anderen Part zu.

In Passagen wie dieser kann kaum von Sympathieerzeugung durch den Erzähler gesprochen werden. Das würde einen so unüblichen Normkontext eröffnen, dass er einer deutlicheren Markierung bedürfte, um von den LeserInnen verstanden zu werden. Die Annahme, dass Erp hier in entlarvender Absicht vorgeführt wird, ist erheblich naheliegender.

Das Changieren zwischen empathischem Nachvollzug und Entlarvung ist tatsächlich ein bestimmender Zug in der Erzählweise. Der Erzähler lässt sich, wie es scheint, nicht – oder zumindest nicht stabil – auf eine bestimmte Bewertung der Figur Erp festlegen; weder verurteilt er sie klar und deutlich, noch setzt er sie generell ins Recht. Genau dieses Nicht-Festgelegtsein ist die eigentliche narrative Strategie, die den Text bestimmt. Dies bestätigt auch der Autor selbst, und zwar weniger der heutige de Bruyn (der, wie die Lektüre seiner Memoiren zeigt, in Bezug auf das eigene Leben selbst bisweilen Erp’sche Selbstrechtfertigungs- und Umdeutungsmuster übernimmt) als vielmehr der de Bruyn, der sich kurz nach der Veröffentlichung von Buridans Esel zu seinem Text äußerte. Das zeigt ein Blick in ein Interview, das der Autor 1968 dem damaligen stellvertretenden Chefredakteur der Verbandszeitschrift Sinn und Form Heinz Plavius gab. Dort geht de Bruyn auf den detaillierten Nachvollzug der Gedanken und Begründungen Erps ein und erklärt, dieser diene der Vermeidung von Sentimentalität und schematischer Didaktik zugunsten größerer Glaubwürdigkeit. Als Ziel nennt de Bruyn eine Leseraktivierung gerade im Hinblick auf die moralische Dimension des Erzählten. Im Wortlaut:

Denn die alte Geschichte von Liebe und Ehe wird neu unter den neuen Umständen, die die neue Moral nicht so flugs und direkt erzeugen, wie man oft geglaubt hat, und um das ausleuchten zu können, schienen mir zwei Reflektoren besser als einer. Der Erzähler wird beweglicher, der Leser aktiver, er muß mitdenken, mitarbeiten: nicht beim Erzählen der Geschichte (die auch für den Erzähler geschehen und abgeschlossen ist), aber bei deren Beurteilung. (Plavius 1968, S. 11)

Mit den beiden „Reflektoren“ sind Erzähler und Leser als zwei Instanzen moralischer Bewertung gemeint. Auf die Nachfrage von Plavius, ob es nicht problematisch sei, „über lange Partien des Romans Sympathien für Karl Erp zu erwecken, die es dem Leser ermöglichen, sich mit ihm zu identifizieren, die dann aber abgebaut werden“ (12), antwortet de Bruyn mit einer Reflexion über das Verhältnis von Identifikation und Distanzierung, wobei er abermals auf den aktiven, mitdenkenden Leser zu sprechen kommt, der sich zwar mit dem Helden identifizieren können solle – für de Bruyn heißt das „die Möglichkeit haben, Handlungen und Gedanken, Gefühle und Wertvorstellungen nachvollziehen zu können“ –, der zugleich aber zu „produktiven Überlegungen angeregt werden“ solle, wozu es der Distanznahme bedürfe. Um diese „dialektische[] Wechselwirkung“ zu erzielen, habe „der Autor eine Skala sehr verschiedener Mittel zur Verfügung, von der direkten Aussage über die Figuren und Erzählerhaltung bis zur sprachlichen Gestaltung“ (13).

De Bruyn spielt also bewusst mit narrativen Mitteln, die zu Empathie und Sympathie einladen, um durch den Widerspruch zwischen dem Nachvollziehen-Können und dem Verurteilen-Müssen Reflexionsprozesse anzustoßen. Dies erfordert eine sowohl einlässliche als auch distanzierte Rezeptionshaltung, deren Fehlen zu gravierenden Missverständnissen führen kann, wie Rezeptionsdokumente früheren und späteren Datums zeigen.

5 Fazit

Da das Vorliegen axiologischer Unzuverlässigkeit die Zuweisung stabiler Normen sowohl im Werk als auch aufseiten des Erzählers voraussetzt, kann der Verdacht, dass in Buridans Esel axiologisch unzuverlässig erzählt wird, nicht bestätigt werden. Für das Werk ist zwar ein klarer Wertehorizont feststellbar, nicht aber für den Erzähler, dessen Urteile vielfach uneindeutig sind und in verschiedene Richtungen weisen. Auch äußert er sich häufig ironisch; allerdings ist nicht immer klar, wann genau und wie umfassend die Ironie jeweils zu verstehen ist. Dennoch bringt die Untersuchung der Erzählweise mit Blick auf die Axiologie eine Erkenntnis zutage, die für die Interpretation des Romans erhellend ist: Was von den LeserInnen als Werthaltung verstanden wird, sind weniger die expliziten, das Geschehen kommentierenden Urteile des Erzählers, als vielmehr die Präsentationsweise der Gedanken der Hauptfigur. Durch die ausgiebige Verwendung der erlebten Rede werden die LeserInnen so nah an Erp herangeführt, dass das als Einladung zur Identifikation aufgefasst werden kann. Das trifft insbesondere für die erste Romanhälfte – die ‚aufsteigende‘ Handlung – zu, in der zwar Schwächen und Fehler der Figur dargestellt werden, aber vor allem solche, die nachvollziehbar sind und deshalb entschuldbar erscheinen. In der zweiten Romanhälfte entsteht hingegen eine so große Diskrepanz zwischen Erps Selbstrechtfertigungen und dem (innerdiegetischen und außerliterarischen) moralischen Standard, dass der detaillierte Nachvollzug seiner Gedanken einen entlarvenden Charakter erhält.

De Bruyn nutzt die Identifikationsgewohnheiten der LeserInnen gezielt aus, indem er sie in seine Wirkstrategie einkalkuliert. Diese sucht die Beweglichkeit der Urteilskraft aufseiten der RezipientInnen zu stimulieren, und zwar durch deren affektive Einbindung via Sympathielenkung. De Bruyns Eigenaussage, dass damit „produktive Überlegungen“ angeregt werden sollen, verschleiert freilich den manipulativen Charakter dieser Erzählstrategie. Ihm zufolge wird die eigenverantwortliche Urteilsbildung angestrebt, tatsächlich steht der Wertekanon des Werks aber fest (wie die Untersuchung der Normen des Werks gezeigt hat) und kann durch das Wechselspiel von Identifikation und Distanzierung, das der Text anleitet, nur bestätigt werden.

Wie kommt es dann aber zu den so unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der politischen Ausrichtung des Romans? Andrea Jägers Lektüre, die auf einer positiven Beurteilung Erps durch den Erzähler beruht, kann auf Basis einer genauen Untersuchung des Textes nur als Missverständnis betrachtet werden. Gleichwohl lässt der Roman gerade in Bezug auf die politische Gretchenfrage das Wesentliche in der Tat offen. Die zur Debatte stehenden Normen und Charakterdispositionen beziehen sich auf eine individuelle Person, Karl Erp. Über deren Exemplarität oder Exzeptionalität ist auf Textbasis ebenso wenig eine sichere Aussage zu treffen wie über das Bedingungsverhältnis von Gesellschaft und Charakter. Es ist durchaus möglich und textadäquat, Erp nicht (nur) als typisches Relikt aus vorsozialistischer Zeit anzusehen, sondern auch als typischen sozialistischen Funktionsträger. In diesem Fall würde sich die an ihm geübte Kritik auch auf ‚den‘ sozialistischen Menschen der sechziger Jahre beziehen lassen, also weit über die Einzelperson hinausweisen. Erp kann aber auch als Problemfall in einer Gesellschaft aufgefasst werden, die sich an sich auf dem richtigen Weg befindet (wofür dann die Figur Fräulein Broder und auch die veränderungsfähige Elisabeth Pate stünden). In dieser Hinsicht bezieht der Text keine eindeutige Position und bleibt interpretationsoffen.