1 Problemstellung und Motivation

Die von digitalen Technologien und veränderten Nutzererwartungen ausgelöste Digitale Transformation (DT) betrifft alle Branchen; lediglich die Dynamik der Entwicklung und damit der Handlungsdruck sind branchenabhängig (IMD Global Center for Digital Business Transformation 2021). Unter DT verstehen wir hier die Kombination von Veränderungen in Strategie, Geschäftsmodell, Organisation/Prozessen und Kultur in Unternehmen durch Einsatz von digitalen Technologien mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Unternehmen können sich nicht auf die laufende Verbesserung ihres erfolgreichen Bestandsgeschäfts beschränken, sondern müssen gleichzeitig neue, digitale Geschäftsmodelle aufbauen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und allenfalls bereits wegbrechendes Geschäft zu kompensieren.

Als Metapher für diese Gleichzeitigkeitsanforderung wurde das Bild der Beidhändigkeit unter dem Begriff „Organisationale Ambidextrie“ (OA) bereits seit 1976 (Duncan 1976) auf Unternehmen übertragen. Gemeint ist die Fähigkeit von Organisationen, sowohl effizient, stabil und kontrolliert zu leisten (Exploitation), aber gleichzeitig auch kreativ und innovativ unter Zulassung von Unsicherheit zu sein (Exploration) (O’Reilly und Tushman 2004). OA ist demnach nicht neu, aber mit der DT besonders akut geworden; denn durch die digitalen Technologien und die Gesetzmäßigkeiten der Digitalen Ökonomie hat sich die Veränderungsgeschwindigkeit enorm beschleunigt und die Wettbewerbsintensität stark erhöht. Hierfür ist eine Anpassung der allgemeinen OA notwendig und Gegenstand dieses Artikels.

Zugrundeliegende Kernkompetenzen im Unternehmen vorausgesetzt, empfehlen O’Reilly und Tushman (2021, S. 204) den Einsatz von OA bei der Umsetzung eines Vorhabens von strategisch hoher Wichtigkeit. Ausgangspunkt unserer Arbeit ist dazu die Feststellung, dass jedes Vorhaben der DT von hoher strategischer Wichtigkeit ist und gleichzeitig IT-Skills eine Kernkompetenz bei deren Umsetzung sind. Viele Unternehmen haben zunächst die von Christensen (1997) für disruptive Innovationen empfohlene strukturelle Differenzierung gewählt und Exploration- von Exploitation-Einheiten strikt getrennt, indem sie z. B. sogenannte Inkubatoren oder unabhängige Kreativabteilungen aufgebaut haben. Als Problem hat sich jedoch vielfach die Fähigkeit erwiesen, die Ergebnisse in das Bestandsgeschäft der Mutterfirmen zu transferieren (Wildhirt und Bub 2018). So wurden einzelne solcher Einheiten auch wieder geschlossen, wie z. B. durch den Verkauf von Daimlers Lab1886 an eine Investmentgesellschaft (Gerster 2020), oder wie das MAN Truck & Bus X‑Lab (Infront Consulting & Management GmbH 2021). Der Vorteil der OA liegt im Brückenbau zwischen Exploration und Exploitation, d. h. insbesondere in der Sicherstellung der Anschlussfähigkeit der digitalen Innovationen an das Kerngeschäft, auch wenn sich diese in unterschiedlichen Kulturen entwickeln.

Für das gesamtheitliche Management der DT ist eine neue Rolle aufgekommen, die des Chief Digital Officers (CDO). Sie tritt neben die klassische, schon lange etablierte Rolle des IT-Leiters, die seit einigen Jahren an Business-Relevanz gewinnt, näher an die Geschäftsführung rückt und folglich zumeist Chief Information Officer (CIO) heißt. Die CIO-Rolle zeichnet sich durch Exploitation-Charakteristika wie Effizienz, Stabilität und Kontrolle und gleichzeitig hohe IT-Kompetenz aus, während die CDO-Funktion – durch den Exploration-Charakter der DT – von vergleichsweise kurzfristigen und innovativen Vorhaben mit hoher Nähe zu Produkten und dem Markt geprägt ist. Diese Rollen stehen somit für unterschiedliche Kulturen, die jedoch beide für das Gelingen der DT von außerordentlicher Bedeutung sind (Singh und Hess 2017; Tumbas et al. 2018).

Durch die Gegensätzlichkeit der dafür notwendigen Rahmenbedingungen entstehen erhöhte Anforderungen an das Management. Diese lassen sich jedoch in einen strategischen Wettbewerbsvorteil umwandeln, sofern das Unternehmen über Kernkompetenzen verfügt, die nicht nur für die Exploitation, sondern auch für die Exploration eingesetzt werden können. Wie eingangs schon erwähnt, stellt das IT-Know-how im Zeitalter der DT eine solche Kernkompetenz dar. Wir wenden das allgemeine Konzept der OA auf das Zusammenspiel zwischen der CDO- und CIO-Rolle an, d. h. wir fokussieren und detaillieren die allgemeine OA für CDO und CIO auf den Bereich ihrer sich überlappenden Aufgaben. Es gibt daneben jeweils Aufgaben im Tagesgeschäft von CDO und CIO, die nicht unter den Bereich der OA fallen.

Während etliche Unternehmen schon mit Praktiken Erfahrungen gesammelt haben, Exploitation und Exploration gleichzeitig zu verfolgen, suchen immer mehr diesbezüglich Orientierung in der Organisations- und Managementforschung sowie -beratung. Wie werden Fähigkeiten der OA im Unternehmen beschrieben? Welche Ausgestaltungen von OA sind am erfolgversprechendsten? Wie erfolgt eine Standortbestimmung und -messung? Oder wie kann eine Zielvorstellung dazu Schritt für Schritt verfolgt werden? Antworten auf diese Fragen dürften jedoch weiterhin als „Research in Progress“ anzusehen sein, wie Betrachtungen von Gassmann et al. (2016, S. 58), zum Forschungsstand zeigen. Ein Managementinstrument, das gerade in der Anfangsphase den Weg der DT strukturiert und dabei besonders die Implementierung der beschriebenen OA anleitet – inklusive des dafür orchestrierten Zusammenspiels von CDO, CIO und CEO – erscheint uns hilfreich. Hierfür mit Reifegradmodellen zu arbeiten ist ein bewährter Ansatz; sie sind sowohl in der Beratungs- und Führungspraxis verbreitet und werden auch in der Forschung laufend anwendungsorientiert weiterentwickelt. Dieser Artikel stellt den Weg zu einem neuen Reifegradmodell in dieser besonderen Prägung vor. Der wesentliche Beitrag dieses Artikels ist hierbei die Entwicklung und Vorstellung des umfangreichen Kriterienkatalogs eines neuartigen Reifegradmodells für CDO-CIO-Ambidextrie.

2 Konzeptionelle Grundlagen

2.1 Ambidextrie

Der Begriff OA steht für die Fähigkeit eines Unternehmens, zwei scheinbar unvereinbare Ausrichtungen zugleich erfolgreich meistern zu können. Vor allem die Vereinbarkeit von Exploration und Exploitation ist seit der grundlegenden Publikation von March (1991) Gegenstand der Organisations- und Managementforschung (Gassmann et al. 2016, S. 57 f.). Bei Exploitation geht es darum, schon bestehende und erfolgsbegründende organisationale Fähigkeiten kontinuierlich zu verfeinern und zu verbessern, d. h. effizienter zu werden. Bei Exploration hingegen steht die Erneuerung des Unternehmens durch Innovationen im Vordergrund, sei es durch organisationale, produkt- und servicebezogene Innovationen oder auch gänzlich neue Geschäftsmodelle. Für unsere gewünschte Fokussierung auf die DT ist Exploration mit digitaler Innovation gleichzusetzen (Bub und Gruhn 2022). Diese digitale Innovation muss also transformierend wirken und ist in der Regel disruptiver Natur.

In der Literatur wird in unterschiedliche Modi von OA unterschieden (z. B. O’Reilly und Tushman 2013; Markides 2013), von denen zwei hier von Bedeutung sind: strukturelle Ambidextrie bezeichnet die dauerhafte Umsetzung von Exploration und Exploitation in unterschiedlichen Organisationsbereichen; kontextuelle Ambidextrie zielt auf die Fähigkeit von Individuen ab, je nach Vorhabenkontext zwischen Umsetzung von Exploration oder Exploitation zu wechseln. Sobald man sich entschieden hat, OA als normalen Geschäftsmodus zu haben, bleiben weiterhin Fragen im Hinblick auf die konkrete Umsetzung im Unternehmen durch verantwortliche Rollen – wie insbesondere CDO, CIO, und CEO – und deren Zusammenspiel unbeantwortet.

2.2 Rollen von CDO, CIO und CEO

Für die Führungsposition des „Transformer in Chief“ mit Exploration-Fokus, wie sie Rickards et al. (2015) nennen, hat sich in den letzten Jahren die Bezeichnung CDO etabliert. Häufige Rollentitel sind auch der/die Head of DT oder Digital Director. Die Rolle ist jedoch im Vergleich zum CIO recht neu und deshalb verwundert es nicht, dass CDO-Positionen in Unternehmen unterschiedlich ausgeprägt sein können (Tumbas et al. 2018). Seeher et al. (2020) finden es angemessen, dass kein One-fits-all-CDO-Profil zu beobachten ist. In ihrem Artikel kategorisieren sie die verschiedenen Erscheinungsformen in vier Rollentypen: Evangelist, Marketer, Innovator und Orchestrator (S. 5). Darüber, welche Zuständigkeiten und Aufgaben dieser Rolle zukommen, herrscht dennoch viel situative Interpretation (Singh und Hess 2017). Ohne eine Klärung dazu im einzelnen Unternehmen drohen Reibereien insbesondere zwischen CIO und CDO. Im Folgenden gehen wir auf die Abgrenzung zentraler Rollen ein. Zum Verständnis von verwandten Rollen wie Chief Data Officer oder Chief Strategy Officer verweisen wir auf Hess (2019, S. 74).

Die CEO-Rolle trägt die oberste Verantwortung für den Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens und damit auch für die gesamtheitliche DT, d. h. er oder sie könnte selbst „Transformer in Chief“ sein. Diese Aufgabe ist für immer mehr Unternehmen jedoch so vorranging, umfänglich und anforderungsreich, dass diese einer eigenen Person und Stelle in Form einer CDO-Rolle übertragen wird. Eher umstritten ist, ob eine eigenständige Position neben den schon länger vorhandenen Stellen Chief Innovation Officer und CIO erforderlich ist. Die Chief-Innovation-Officer-Rolle ist in der Regel nicht ausschließlich auf Innovationen fokussiert. Sie ist seit jeher damit betraut, im Unternehmen ein innovationsfreudiges Klima zu schaffen, Ideenmanagement (interne und externe) zu betreiben und geeignete Praktiken und strukturelle Rahmenbedingungen für die Entwicklung neuer Produkte und Services zu etablieren (Singh und Hess 2017, S. 3).

Die wichtigste Rollenklärung ist jedoch die zwischen der CDO- und CIO-Rolle. Üblicherweise leitet die CIO-Rolle die IT-Abteilung und ist für die traditionelle IT-Strategie zuständig. Die klassische informationstechnisch ausgerichtete CIO-Rolle befindet sich jedoch seit längerem im Umbruch und nimmt eine viel stärkere Business-Orientierung an (Haffke et al. 2016, S. 13–14). Beide Rollen in einer Person sind denkbar und in der Praxis auch anzutreffen. Als CDO hat man jedoch den expliziten Fokus auf DT. In der Literatur wird als Kern der CDO-Rolle folgendes angeführt: Aufbrechen von Silostrukturen, eingefahrenen Denkmustern und Geschäftslogiken (Tumbas et al. 2018); Etablieren einer funktionsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit, Business-Value-Fokus und Mobilisierung der gesamten Organisation (Singh und Hess 2017, S. 2), sowie die Führung des gesamten Unternehmens zu einem „Digitalen Mindset“ und in eine „Digitale Zukunft“ (Haffke et al. 2016, S. 2). Die CDO-Rolle wird auch nicht als Ersatz für die der CIO-Rolle gesehen, sondern vielmehr fungieren beide Rollen komplementär und symbiotisch zueinander (u. a. Buchwald und Lorenz 2020; Engesmo und Panteli 2020; Haffke et al. 2016). Die CDO-Rolle adressiert dabei mehrheitlich geschäftsstrategische Aufgaben mit Themen der digitalen Innovation, während die CIO-Rolle sich primär um kosteneffiziente und stabile Bereitstellung von IT-Systemen kümmert. Beide Rollen weisen jedoch für die DT eine Überlappung auf, u. a. wird die CIO-Rolle zunehmend für geschäftsrelevante Themen hinzugezogen, während von der CDO-Rolle relevante IT- und Technologiekenntnisse erwartet werden. Hess (2019) ebenso wie Buchwald und Lorenz (2020) weisen auf die Gefahr einer kognitiven Überlast bei zu großer Dehnung der Verantwortlichkeiten hin. Bub und Gruhn (2022) bestätigen diese Einschätzung und schlagen eine jeweilige Spezialisierung vor, bei der die CDO-Rolle kreativ und innovativ tätig wird (Exploration), während die CIO-Rolle effizient und stabil Aufgaben ausübt (Exploitation). Die CIO-Position verfügt über tiefgehendes Technologieverständnis und Personal mit entscheidender IT-Kompetenz, die für die DT zur Wirkung gebracht werden muss. Für den Brückenschlag sehen sie strukturelle Ambidextrie für die CDO- und CIO-Organisationen vor, die durch eine übergeordnete Instanz, z. B. die CEO-Rolle, beidseitig orchestriert wird. Eine kontextuelle Ambidextrie für individuelle Ressourcen mit IT-Kernkompetenzen ermöglicht die Arbeit in gemischten Teams. Bub und Gruhn (2022) entwickelten Merkmale und Anforderungen für Ambidextrie im Überlappungsbereich CDO und CIO. Der vorliegende Artikel baut auf diesem Verständnis auf und übernimmt auch die gefundenen Merkmale als einen der wesentlichen Ausgangspunkte für den Kriterienkatalog.

2.3 Reifegradrahmenmodell auf Basis des House of Digital Business

Reifegradmodelle sind für Führungskräfte, die mit DT betraut sind, ein etabliertes Managementinstrument. Mit ihrer Hilfe wird das Bewusstsein für die relevanten Gestaltungsbereiche geschaffen und kann ein fortlaufender Entwicklungsprozess strukturiert werden, in dem schrittweise und systematisch die Verbesserung von Fähigkeiten, Prozessen oder Strukturen angegangen wird (Blondiau et al. 2013). Im Kontext der DT sind Reifegradmodelle populär und es gibt eine Vielzahl von Varianten, wie folgende Modelle exemplarisch zeigen, die auch in solider Analyse den bestehenden Wissensstand zu Reifegradmodellen einbezogen haben: Das Modell zur Evaluation der Digitalen Reife von Unternehmen anhand von Gestaltungsbereichen der DT (DT Maturity Model – DTMM) von Berghaus und Back (2016), sowie der Corporate Agility Navigator von Klimenko und Winter (2021), oder auch Ansätze mit besonderen Perspektiven wie das für Digital Services Capabilities von Wulf et al. (2017) und das Reifegradmodell für KI-Initiativen von Limat (2022).

Ein Reifegradmodell besteht aus einem Katalog von Reifekriterien (vielfach auch Indikatoren oder Capabilities, zu Deutsch Fähigkeiten genannt), deren Erfüllungsgrad für die Berechnung der Reifegrad-Kennziffern eruiert wird. Für die Umsetzung in einem Erhebungsinstrument müssen die zugehörigen Frageformulierungen ausgearbeitet werden, z. B. „Wir binden Kunden aktiv in die Entwicklung neuer digitaler Innovationen ein“. Bei kontinuierlichen Reifegradmodellen sind die Antworten in der Regel Selbsteinschätzungen auf Fünfer- oder Siebenerskalen mit Ausprägungen in der Art von „gar nicht“ bis „völlig“, ergänzt mit der Option „weiß nicht“. Die zahlreichen Reifekriterien sind üblicherweise zu Faktoren mit möglichst aussagekräftiger Bezeichnung gebündelt (z. B. Analytics und Experience Design), welche wiederum Dimensionen zugeordnet sind (z. B. Customer Experience, Strategie, Organisation etc.). Diese sind typischerweise vier bis neun Gestaltungsbereiche, die als visuelle Übersichtsdarstellung des Reifegradmodells verwendet werden. Hinzu kommen die Kurzbeschreibungen für die fünf bis sieben möglichen Reifestufen. Ein Reifegradmodell benötigt auch eine Methodik, die bestimmt, welche Fähigkeiten für die jeweiligen Reifestufen erfüllt sein sollen und wie die Reifegrad-Kennziffern berechnet werden.

Bei der Entwicklung des angestrebten Kriterienkatalogs des Reifegradmodells orientieren wir uns an Modellen, die für die DT bereits forschungsbasiert entwickelt wurden und sich gleichzeitig in der Praxis bewährt haben. Unter anderem stützen wir uns auf das DTMM von Berghaus und Back (2016), das von 2015–2017 für jährliche Benchmark-Studien im D‑A-CH-Raum diente, welches zahlreiche Forschende und Praktiker/innen als Grundlage für ihre Digital-Maturity-Projekte nutzen, und welches seit 2020 in vereinfachter Form beim Fachverband swissICT als „Digital Excellence Checkup“ im Einsatz ist. Die konzeptionelle Grundlage für das DTMM ist das in den aktuellen Wirtschaftsinformatik-Lehrbüchern beschriebene Sankt Galler „House of Digital Business“ (u. a. publiziert in Leimeister 2021). Dieses dient in Lehre und Forschungsprogrammen als Ordnungsrahmen für die DT eines Unternehmens. Daraus wurden für das DTMM die folgenden 9 Dimensionen in Experteninterviewrunden methodisch abgeleitet: Customer Experience – Produktinnovation – Strategie – Organisation – Prozessdigitalisierung – Zusammenarbeit – Informationstechnologie – Kultur & Expertise sowie Transformationsmanagement. Diese neun Dimensionen bilden für unser Modell einen sowohl unternehmenspraxisbezogenen als auch wissenschaftlich fundierten Ausgangspunkt. Darüber hinaus beziehen wir im Hinblick auf die Aspekte der OA ein aktuelles und wissenschaftlich rigoros entwickeltes Reifegradmodell von Stelzl et al. (2020) mit ein, wie im Methodenkapitel näher beschrieben wird.

3 Forschungsmethodisches Vorgehen

3.1 Design Science Research Prozess als Methode

Um das Reifegradmodell in wissenschaftlich anerkannter Weise zu entwickeln, orientieren wir uns an Vorgehensmodellen für Design Science Research (DSR). In dessen Terminologie ist das Reifegradmodell ein Artefakt, das als Lösung für ein als praxisrelevant erkanntes Problem entwickelt wird. Im Wesentlichen lassen sich DSR-Prozesse in drei Hauptphasen gliedern: Problemidentifikation, Lösungsentwurf und Evaluation (Offermann et al. 2009). In der Literatur werden zahlreiche DSR-Prozesse vorgeschlagen, wobei Peffers et al. (2007) der meistverbreitete und angewendete Ansatz ist. Wir stellen unser Vorgehen anhand der drei Hauptphasen vor. Die Phase Problemidentifikation ist mit den einleitenden Kapiteln Problemstellung und Konzeptionelle Grundlagen bereits abgedeckt: Es wird ein Reifegradmodell gesucht, dass speziell auf die OA zwischen der CDO- und CIO-Rolle zugeschnitten ist. Das bestehende Reifegradmodell OAMM von Stelzl et al. (2020) ist zu allgemein, um diese Spezialisierung abzudecken. Zudem bestätigt die bisherige Literatur die Praxis- und Forschungserfahrung der Autoren dahingehend argumentativ, dass die Organisationsgestaltung für die DT ein aktuell relevantes Problem ist, sich die Perspektive der OA mit Fokus auf die CDO- und CIO-Rollen als Lösungsansatz eignet, ebenso wie das darauf abstellende Reifegradmodell als Managementinstrument.

Die Phase Lösungsentwurf wird in 3.2.1 behandelt, während die folgenden Abschnitte die Evaluationen mit einer Fokusgruppe (3.2.2) und mit dem allgemeinen Modell OAMM (3.2.3) vorstellen. Der Designprozess wird iterativ durchlaufen, so dass nach jeder Evaluation das Design angepasst wird. Der hier vorgestellte Lösungsentwurf umfasst den Reifekriterienkatalog mit Frageformulierungen für das Erhebungsinstrument; dies ist als Grundlage bereits verwendungsfertig. Eine weitere iterative Verfeinerung, wie im Kapital 5 angeführt, ist vorgesehen, bevor das Reifegradmodell vollständig entwickelt ist.

3.2 Vorgehen mit beteiligten Experten und Expertise im Überblick

Abb. 1 veranschaulicht die von uns gewählte Konfiguration des gesamten Vorgehens. Im DSR-Prozess werden regelmäßig Beteiligte aus Forschung (Expertengruppe F) und Praxis (Expertengruppe P) eingebunden. Die Expertengruppe F wirkte aktiv an den ersten beiden Entwurfsschritten mit und bestand aus den drei Autoren sowie einer Wissenschaftlichen Mitarbeiterin, d. h. insgesamt somit umfangreicher Expertise in der Forschung und teils Praxis zu DT und Digitaler Innovation.

Abb. 1
figure 1

Design Science Research Prozess im Überblick

Die Expertengruppe P setzte sich aus 12 Unternehmensberater/-innen mit Berufserfahrung zwischen zwei bis 20 Jahren auf den Führungsstufen Associate bis Managing Consultant in der Managementberatung von Großunternehmen, insbesondere im Bereich IT-Organisation, sowie Klein- und Großunternehmen der DACH-Region zusammen. An Schritt 3 beteiligte sich die Expertengruppe P in Form von schriftlichem Feedback zur Version 1 des Kriterienkatalogs. Mit acht Mitwirkenden war die Rücklaufquote von zwei Drittel der per E‑Mail angeschriebenen hoch. Am Schritt 4 wirkten schließlich zehn Personen aus Expertengruppe P sowie die drei Autoren in einem – Covid-bedingt – synchronen Online-Workshop aktiv mit.

3.2.1 Lösungsentwurf mit der Expertengruppe Forschung

In Schritt 1 war der Auftrag an die drei DT-Experten und Autoren, eigenständig und unabhängig voneinander jeweils eine Erstfassung des Kriterienkatalogs als Entwürfe A, B und C für das Reifegradmodell zu erstellen (Abb. 1). Zwei Autoren zogen als Ausgangslösung den Ordnungsrahmen des DTMM von Berghaus und Back (2016) heran, von dem fast alle Dimensionen übernommen wurden. Die Design-Entscheidungen dafür fielen wie folgt aus: Die drei DTMM-Dimensionen Customer Experience, Prozessdigitalisierung und Produktinnovation wurden begründet durch den überlappenden Verantwortungsbereich von CDO und CIO zur Dimension „Innovation“ zusammengefasst. Lediglich besonders innovative Aspekte, bei denen die Einbringung des CIOs zu diesen Themen wünschenswert ist, sollten für unser zu entwickelndes Modell maßgeblich sein. Dies gilt umso mehr als die DTMM-Dimension Prozessdigitalisierung weitgehend dem Tagesgeschäft für CDO und CIO entspricht und nur bestimmte Innovationen die spezifische Beachtung durch Ambidextrie benötigen. Die Dimension Strategie wurde zu „DT-Strategie“ umbenannt und der Gestaltungsbereich Informationstechnologie zu „IT und IT-Kompetenz“. Im Rahmen einer Dokumentenanalyse flossen neben dem schon verwendeten DTMM noch weitere ausgewählte relevante Publikationen ein, und zwar die Kriterien für Ambidextrie aus Bub und Gruhn (2022), das Innovationskultur-Assessment zu Erfolgsfaktoren für Digitale Solutions von Lötscher und Back (2020) sowie der Artikel Wildhirt und Bub (2018). Ebenso als zwei weitere Reifegradmodelle das für Digital Services Capabilities von Wulf et al. (2017) und das von Klimenko und Winter (2021) zu Corporate Agility. Darüber hinaus ein Online-Beitrag mit Kriterien zu sechs Gestaltungsbereichen für Organizational Ambidexterity (Nieto-Rodriguez 2014). Eine weitere Erstfassung für einen Reifekriterienkatalog entstand abweichend von diesem Vorgehen allein auf Basis der Forschungsexpertise in Digital Intrapreneurship.

In Schritt 2 kodierte und konsolidierte ein Koautor diese drei Erstfassungen in eine Tabelle, nummerierte die Kriterien und stellte sowohl die Fragenformulierungen als auch die Diskussionsfragen zu den Kriterien – soweit bereits in einer der Erstfassungen vorhanden – in ergänzenden Spalten zusammen. Diese Version 1 war der Einstiegspunkt in die darauffolgende Phase Evaluation.

Die Unterschiedlichkeit des Erfahrungshintergrunds in der Expertengruppe, mit spezifischer CDO-CIO-Ambidextrie‑, Reifegradmodell- und Digital-Intrapreneurship-Expertise, bringt diese verschiedenen Perspektiven ein und erfüllt somit Anforderungen der Triangulation. Das „Organizational Ambidexterity Maturity Modell“ (OAMM) für allgemeine OA von Stelzl et al. (2020) wurde in diesen ersten Entwurfsschritten bewusst ausgeklammert, um es erst für einen Evaluationsschritt des fortgeschritten gestalteten Artefakts zu nutzen, wie wir es in 3.2.3 beschreiben.

3.2.2 Evaluation mit der Expertengruppe Consulting

Die Evaluation von Anwendungsbezug und Nützlichkeit des Artefakts mit den Praxisvertretern aus dem Consulting fand in den Schritten 3 und 4 statt. Zunächst war die Expertengruppe P gebeten, Feedback zur Version 1 zu geben. Zum einen gaben sie übergreifende Anmerkungen, zum anderen fügten sie Kommentare oder Diskussionsfragen direkt in den Zeilen mit den einzelnen Kriterien ein. Dies erfolgte in einem kollaborativ editierbaren Dokument, bei denen acht Personen aus dieser Fokusgruppe schriftliches Feedback anführten, welches als Diskussionsgrundlage für den anschließenden Online-Workshop (Schritt 4) in den Kriterienkatalog einfloss. Dies entspricht einer Rücklaufquote von zwei Drittel. In Schritt 4 erfolgte dann dieser zweistündige Workshop mit einer kurzen Einführung zu OA für DT und zu „Ambidextrous Attitude“ der CDO- und CIO-Rollen. Darin wurden wesentliche Punkte der Praktikabilität des Modells besprochen und durch Anpassungen geklärt. So wurde beispielsweise festgelegt, dass nicht alle digitalen Innovationsvorhaben eines Unternehmens automatisch durch den oder die CDO getrieben sein müssen. Jedoch muss ein/e CDO für einen hohen Reifegrad einen vollständigen Überblick über alle digitalen Innovationsvorhaben der Organisation haben (Formulierung des Kriteriums I.4 aus Tab. 1). Ebenso wurde beispielsweise das zugehörige Kriterium O.1 zum Faktor „CDO-Rolle eingerichtet und ausgestattet“ so formuliert, dass Abstufungen möglich sind. Das Kriterium ist somit auch anwendbar, wenn die CDO-Rolle in einem Unternehmen noch nicht explizit eingerichtet ist, aber Initiativen der DT dennoch existieren.

Schritt 5 enthielt aufgrund dieses Inputs nochmals intensive Gestaltungsschritte. Die Faktoren wurden von Substantiven in Verbformulierungen umgewandelt und änderten sich auch in Anzahl und Einordnung in die Dimensionen leicht. Ebenfalls benötigten die Fragenformulierungen zu den Kriterien substanzielle Entwurfsschritte, um sie passend zu der Likert-Skala eines späteren Erhebungsinstruments zu machen und dabei gut verständlich und eindeutig beantwortbar zu formulieren. Auch in Schritt 5 gab es dazu mehrere Kollaborationsgespräche im Autorenteam, z. B. hinsichtlich Problemfokussierung, Konsistenz und Redundanzfreiheit, so dass schließlich Version 2a für den nächsten Evaluationsschritt erstellt werden konnte.

3.2.3 Evaluation im Vergleich mit einem Reifegradmodell für allgemeine Organisationale Ambidextrie

Das OAMM von Stelzl et al. (2020, Fig. 4) ist für die allgemeine OA, d. h. nicht für den Themenfokus dieses Artikels (CDO-CIO, DT) erstellt worden. Es ist mit wissenschaftlicher Rigorosität auf Basis einer vollständigen Analyse bestehender Literatur zu OA entstanden und stellt das erste Reifegradmodell zu OA überhaupt dar (Stelzl et al. 2020). Dieses OAMM umfasst 46 sogenannte Actionable Practices (AP) in fünf Dimensionen. Die beiden Erstautoren haben unabhängig voneinander die APs und die Faktoren und Kriterien aus Tab. 1 abgeglichen, wobei diese überwiegend nicht eins zu eins gegenübergestellt werden können, da sie unterschiedliche Abstraktionsniveaus haben. Beispielsweise ist AP Cult-11 „Establish an organizational culture that builds on performance management and control (exploitation) as well as social support and collaboration (exploration)“ sehr aggregiert und demnach in mehreren spezifischeren Kriterien für „practices“ in Tab. 1 enthalten. Von einzelnen APs flossen Aspekte in Version 2b der Kriterien- und Fragenformulierungen ein. Wo es verbleibende diskussionswürdige APs (Cult‑7, Stra‑1 und Stru‑1, -2 und -5) gab, konnte darüber leicht Konsens erreicht werden. Es stellte sich sogar heraus, dass die sich auf temporale Ambidextrie beziehenden APs Stru-1: „Perform exploitation and exploration alternately by temporal sequencing within one business unit“ und Stru-2: „Develop switching rules and change processes to facilitate temporal sequencing of exploitation and exploration within one unit“ in unserer vorgestellten Fokussierung bewusst nicht als Reifekriterien zählen, da sich unser Modell ausschließlich auf strukturelle und kontextuelle Ambidextrie bezieht. Im Ergebnis bestätigte dieser Evaluationschritt 6, dass die maßgeblichen Aspekte von allgemeiner OA des OAMM im CDO-CIO-Do-it-Kit, Version 2b, bereits enthalten sind und durch weit konkretere Praktiken abgefragt werden; ebenso dass die spezielle Prägung auf OA für DT klar ersichtlich ist, sowohl in Form von zusätzlichen als auch spezifischeren Kriterien für Praktiken, und sogar in Form von bewusster Ausklammerung der oben erwähnten APs.

4 Vorschlag und Diskussion des Reifegradrahmenmodels „CDO-CIO Do-it Kit“

Als Überblicksdarstellung zeigt Abb. 2 die Dimensionen des Reifegradrahmenmodells als Spinnendiagramm, denn dessen visuelle Auswertung erfolgt typischerweise mit Ist- und Sollwerten in dieser Form. Den Kriterienkatalog nennen wir nach den Anfangsbuchstaben der Dimensionen: „CDO-CIO Do-it-Kit“. Für die allgemeine Erläuterung der Dimensionen verweisen wir auf Leimeister (2021) sowie Berghaus und Back (2016), in Verbindung mit den unter 3.2.1 aufgeführten Designentscheidungen zur Anpassung und Reduktion auf sieben Dimensionen für den speziellen Fokus der CDO-CIO Ambidextrie. Innerhalb dieser Dimensionen haben wir die in Tab. 1 (siehe Anhang) aufgeführten aggregierenden Faktoren identifiziert, wobei es pro Faktor mindestens ein Kriterium bzw. eine Frage gibt. Der Reifekriterienkatalog besteht somit aus den folgenden sieben Dimensionen mit 46 Faktoren und den für ein zugehöriges Erhebungsinstrument formulierten 99 Fragen.

  • Zusammenarbeit (CDO-CIO): 6 Faktoren, 10 Kriterien

  • DT-Strategie: 3 Faktoren, 10 Kriterien

  • Organisation: 7 Faktoren, 9 Kriterien

  • Innovation: 7 Faktoren, 13 Kriterien

  • Transformationsmanagement: 10 Faktoren, 23 Kriterien

  • Kultur & Kompetenz: 9 Faktoren, 23 Kriterien

  • IT & Kompetenz: 4 Faktoren, 11 Kriterien

Abb. 2
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Dimensionen des Reifegradrahmenmodells CDO-CIO Do-it Kit. (Kriterienkatalog dazu vgl. Tab. 1 im Anhang)

Die Fragen können anhand einer Likert-Skala mit Ausprägungen wie folgt beantwortet werden: „Bitte beurteilen Sie, in welchem Maße die folgenden Aussagen für Ihr Unternehmen gelten“: „trifft gar nicht zu“; „trifft wenig zu“; „trifft teilweise zu“; „trifft überwiegend zu“; „trifft völlig zu“ oder „kann ich nicht beantworten“.

Der Kriterienkatalog ist eine Version 2b, da wie in Kap. 5 ausgeführt noch Evaluationsschritte mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Managementpraxis folgen sollen. Dabei werden die einzelnen Fragen in ihrer Bedeutung gewichtet und die Einordnung in fünf Reifegradstufen ermöglicht werden. Typischerweise wird die gewichtete Mittelwertbildung für jede der sieben Dimensionen separat durchgeführt und in einem Spinnendiagramm wie in Abb. 2 eingeordnet. Nach dem Ist-Assessment mit dem Kriterienkatalog als Fragebogen wird das gewünschte Soll-Szenario bestimmt. Anhand der Unterschiede lässt sich der Handlungsbedarf in den einzelnen Dimensionen identifizieren und es können zugehörige Transformationsprojekte aufgesetzt werden. Die Bestimmung eines Gesamtreifegrads über alle Dimensionen ist weniger bedeutend als die Besprechung des relativen Unterschieds zwischen Soll und Ist. Erst wenn ausreichend Daten über viele Unternehmen pro Branche vorliegen, kann eine Einordnung als Benchmark sinnvoll sein. Da Reifegradmodelle der DT ohnehin regelmäßig überarbeitet werden müssen, ist der Wert einer absoluten und nur scheinbar dauerhaften Klassifizierung gegenüber dem strukturierten Dialog zur Identifikation des Handlungsbedarfes zurückzustellen. Es ist also in der Praxisanwendung auch keinesfalls ein vorrangiges Ziel, in allen Kriterien möglichst nah an den Wert 5 der Likert-Skala zu kommen. Es geht vielmehr darum, einen passenden Arbeitspunkt für eine Firma zu erreichen, mit dem die DT in Abhängigkeit von Branche, Firmenkultur und handelnden Personen vorangetrieben werden soll. Es wird auch notwendig sein, das CDO-CIO Do-it Kit fallweise an einzelne Branchen und Kunden anzupassen und dabei einzelne Fragen unterschiedlich zu gewichten oder gar wegzulassen. Aus diesem Grund haben wir uns auch für eine Ausprägung als zukünftiges kontinuierliches Reifegradmodell entschieden, bei dem die gewichtete Mittelwertbildung im Vordergrund steht und nicht die Einordnung in Reifegradstufen über Schlüsselfragen.

Reifegradmodelle müssen also nicht perfekt sein. Zum einen, da sie ohnehin für Entscheidungen zur Strategieimplementierung einen Diskussionsprozess erfordern, denn ein Reifegradmodell kann nicht automatisch konkrete Handlungs- und Investitionsvorschläge liefern. Zum anderen sind schon allein Reifekriterienkataloge von hoher Nützlichkeit, da sie für verschiedenste Zwecke und von verschiedenen Stakeholdern – z. B. CDOs, Beratern, Branchenverbänden oder auch in der Executive Education – eingesetzt werden. Wulf et al. (2017) führen u. a. auf, dass sie inspirieren, denn „Good Practices“ zur Problemstellung werden sichtbar und an Beispielen anschaulich, sie können bei der Konsensbildung über Entscheide wie die Priorisierung von DT-Initiativen helfen, sie stellen eine Sprechfähigkeit über dieses komplexe Aufgabengebiet her und erlauben es für OA- und DT-Verantwortliche auch, Fortschritte in ihren Managementaufgaben zu kommunizieren. Schließlich nennen die Autoren auch „Establishing Trust“ als Nutzen, denn Reife-Assessment-Ergebnisse liefern auch eine Argumentationsbasis, um bestimmte strategische Vorhaben im obersten Führungskreis durchzusetzen.

5 Ausblick auf weitere Design-Science-Research-Schritte

Nach den in Abb. 1 aufgeführten Evaluationsschritten stehen weitere Evaluationsschritte für Version 2b des Kriterienkatalogs aus. Es ist in Planung, dass Führungskräfte ihn vor dem Hintergrund der jeweils eigenen Organisation reflektieren. Diese Fokusgruppe aus der Managementpraxis soll verschiedene Branchen repräsentieren und je Organisation Führungskräfte aus unterschiedlichen Stufen und Positionen beinhalten. Wichtig wäre, dass sich gerade auch Unternehmen bereit erklären darin mitzuwirken, die nicht erfolgreiche Ambidextrie-Strategien vorzuweisen haben, ebenso wie Unternehmen, welche überzeugt sind, die OA bereits umgesetzt zu haben. Aus Testanwendungen mit einem prototypischen Erhebungsinstrument können wichtige Erkenntnisse sowohl für die Weiterentwicklung zu einem Reifegradmodell als auch für die vollständige Ausgestaltung eines Erhebungsinstruments, z. B. mit Kontextfragen, gewonnen werden. Nach den Erfahrungen aus den Studien mit dem Modell von Berghaus und Back (2016) wird aus der Managementpraxis darauf gedrängt, nicht mehr als 30–40 Kriterien abzufragen, wenn mehrere Mitarbeitende den Fragenkatalog beantworten sollen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass ein Katalog von Reifekriterien nicht für alle Zeit unverändert bleibt. Er sollte periodisch in Retrospektiven – ebenfalls im Rahmen von Fokusgruppen – überarbeitet werden. Es sind verschiedene Gründe denkbar, bestimmte Kriterien herauszunehmen, andere hinzuzufügen, oder auch Umformulierungen vorzunehmen. Diese können sowohl aus Erfahrungen mit in der Praxis durchgeführten Erhebungen oder aus neuen Forschungsergebnissen kommen; auch Veränderungen im Marktumfeld, insbesondere etwa hinsichtlich der digitalen Technologien und IT-Kompetenzen, sind Anlässe für eine Überarbeitung.

Der herausforderndste nächste Entwicklungsschritt ist der Ausbau zu einem Reifegradmodell. Es ist zu bestimmen, wie die Reifegrade genau definiert sein sollen, d. h. welche Kriterien und welche Erfüllungsgrade jeweils einen der fünf Reifegrade ausmachen. Hierfür gibt es verschiedene Vorgehensweisen, wie sie z. B. in Becker et al. (2009) oder in Stelzl et al. (2020) beschrieben sind. Viele Reifegradmodelle, wie etwa Berghaus und Back (2016) oder Klimenko und Winter (2021), nutzen die Überlegung, dass es einfacher und schwieriger bzw. aufwändiger zu erfüllende Reifekriterien gibt und dass die einfacheren entsprechend einem niedrigeren Reifegrad zugeordnet werden können. In Reifegrad-Benchmark-Studien wird dafür oft mit dem Rasch-Algorithmus gearbeitet (Berghaus und Back 2016). Aus der Managementpraxis verlautet dazu jedoch oft, dass dies bei der Interpretation der Ergebnisse zu stark erklärungsbedürftig ist; hier wünscht man sich vielfach ganz pragmatisch ein simples Aufsummieren von Punkten, wobei Reifekriterien durchaus nach Wichtigkeit für eine bestimmte Branche oder andere besondere Situationen unterschiedlich gewichtet sein können.

Schließlich ist noch die Überführung in ein Erhebungsinstrument erforderlich. Dies mag auf den ersten Blick sehr einfach erscheinen, je nach praktischem Einsatzzweck stellen sich jedoch zusätzliche Anforderungen. Solche Anforderungen aus Praxissicht sind der Wunsch, ein Begleithandbuch für eine leitfadengestützte Interviewerhebung der Kriterien zu erhalten, oder auch die Ergebnisse ohne großen Aufbereitungsaufwand ansprechend visualisieren zu können. Eine Anforderung aus der Forschungsgemeinschaft ist, in das Erhebungsinstrument über die Reifekriterien hinaus Kontextfragen einzubauen, so dass man diese mit den Reifeergebnissen in Beziehung setzen kann, um bestimmte Forschungsfragen zu beantworten, wie in Berghaus und Back (2017).