Einführung

Das Jugendalter ist von jeher eine besondere Phase im Leben eines Menschen. In keinem anderen Lebensabschnitt treten körperliche Veränderungen, soziokulturelle Erwartungen und individuelle Entscheidungen derart gebündelt auf. Die Entwicklung der Persönlichkeit ist zwar über die gesamte Lebensspanne hinweg eng mit der Entwicklung der Gesellschaft verwoben, aber im Jugendalter läuft sie „meist in einer intensiven und oft auch turbulenten Form ab, die sich nur wenig mit der in anderen Lebensphasen vergleichen lässt“ (Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 5). Jugend ist insofern immer Zweierlei: „Sie ist einmal eine subjektive biographische Lebensphase, in der Aufgaben der inneren Entwicklung, des Lernens, der Identitätsbildung anstehen; zum anderen ist sie eine gesellschaftlich bestimmte Lebenslage, abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen und Erwartungen“ (Münchmeier 1998, S. 5; Hervorhebung d. Verf.). Das Bild, das sich eine Gesellschaft von „ihrer“ Jugend macht, ist also grundsätzlich zeit- und kulturabhängig (Abb. 1). Ob Jugend als Reichtum oder Belastung, als Hoffnungsträger oder Untergang, als Motor gesellschaftlicher Veränderung oder Vorbote sittlichen Verfalls betrachtet wird, hängt von den soziokulturellen Rahmenbedingungen ab – und vom Standpunkt des Betrachters (vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016).

Abb. 1
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Jugendliche beim Seilspringen. Das Bild, das sich eine Gesellschaft von „ihrer“ Jugend macht, ist zeit- und kulturabhängig. (Foto: LSB NRW/Andrea Bowinkelmann)

Die ältere Generation hat schon immer versucht, sich ein möglichst passendes Bild von der jüngeren Generation zu machen – sei es die „Kritische Generation“ der 1970er-Jahre, die „Null-Bock-Generation“ der 1980er oder die „Spaß-Generation“ der 1990er-Jahre (Ferchhoff 2011, S. 133–190). Immer war es das Bestreben, das Wissen über die jeweilige Jugendgeneration fassbar zu machen, „die“ Jugend möglichst pointiert zu charakterisieren. Spätestens seit den ausgehenden 1980er-Jahren ist die Zahl der Typisierungen jedoch sprunghaft angestiegen. Im jugendkulturellen Milieu haben sich zahllose „Unterabteilungen und Stämme (house, tribes) (rück‑)gebildet, deren Lebens‑, Sprachen- und Artenvielfalt selbst Kenner und Trend-Scouts der Jugendszenen (…) nicht mehr erschließen und überblicken“ können (Ferchhoff 2011, S. 200–201). Gleichwohl existieren auch für diese Zeit Ansätze zur Kategorisierung, beispielsweise die „Generation Y“, die als erste mit digitalen Medien aufgewachsen ist, oder die nachfolgende „Generation Z“, die wieder stärker politisiert ist als vorherige Jugendgenerationen (Albert et al. 2019). Vor dem Hintergrund der zunehmenden Diversifizierung des Jugendbegriffs entstand zu Beginn der 2000er Jahre die Idee, typische Charakteristika junger Menschen grundsätzlich theoretisch zu erfassen. Eine vergleichsweise umfassende Typisierung jugendlicher Entwicklungswege wurde von der Arbeitsgruppe um Heinz Reinders (2003, 2006) entwickelt. Die Grundidee besteht darin, subjektive Verständnisweisen von Jugendlichen über die Zeit zum Ausgangspunkt zu nehmen.

Das Konzept geht auf die pädagogische Idee der Verschränkung von Gegenwart und Zukunft im Aufwachsen junger Menschen zurück. Bereits im 19. Jahrhundert stellte Schleiermacher (1966, S. 48) fest, dass zukunftsbezogene Entwicklungsziele nur im Zusammenspiel mit gegenwärtigen Motiven im Sinne einer „erfüllten Gegenwart“ zu legitimieren seien. Dieses Verständnis greift die pädagogische Jugendforschung der 2000er Jahre auf, indem sie gegenwarts- und zukunftsbezogene Sichtweisen als Moratoriums- und Transitionskonzepte begreift und entsprechend theoretisch ausbuchstabiert (Reinders und Butz 2001). Die Idee wurde sukzessiv weiterentwickelt und empirisch untermauert. In späteren Arbeiten spricht Reinders (2003, 2006) auch vom Freizeit- und Bildungsmoratorium, bleibt seiner grundsätzlichen Orientierung an den Zeitperspektiven Heranwachsender aber treu, auf deren Grundlage er spezifische „Jugendtypen“ entwirft. Vor dem Hintergrund zunehmender Entstrukturierung und Dynamisierung der Jugendphase (BMFSFJ 2013) kann jedoch auch dieses Konzept nicht unverändert bleiben. Reinders selbst schreibt dazu bereits 2006 (S. 14): „In zehn Jahren müsste sich […] jemand ans Werk machen, die bisherigen Studien zu den Jugendtypen zu replizieren.“

Hier setzt der vorliegende Beitrag an. Allerdings wird dabei der Schwerpunkt auf die Zeitperspektiven Jugendlicher im Sport gelegt. Ausgangspunkt sind die Arbeiten von Neuber (2007), der das Konzept der typologischen Entwicklungswege zu Beginn der 2000er Jahre auf die sportpädagogische Jugendforschung bezogen hat. Ausgehend von den Konstrukten der gegenwartsbezogenen Entfaltungsbedürfnisse und der zukunftsbezogenen Entwicklungsaufgaben untersuchte er die generelle Bedeutung von Zeitperspektiven im Zusammenspiel mit den Potenzialen, die die sportbezogenen Settings „Schulsport“, „Vereinssport“ und „Selbstorganisierter Sport“ jungen Menschen bieten. Mit Blick auf die enormen Veränderungen, denen auch der Kinder- und Jugendsport in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren ausgesetzt war (Schmidt et al. 2015), erscheint eine Neujustierung hier ebenfalls sinnvoll. Die Leitfrage dabei lautet: Inwiefern hat sich das Verständnis von „Jugend“ in Bezug auf den Sport in der Selbsteinschätzung Heranwachsender in den vergangenen 15 Jahren verändert? Dazu wird zunächst das Konzept der Zeitperspektiven umrissen, bevor Forschungsstand und Fragestellung der Untersuchung vorgestellt, die Ergebnisse im Überblick berichtet und anschließend diskutiert werden.

Moratoriums- und Transitionskonzepte

Das Konzept der Zeitperspektiven geht davon aus, dass sich Jugendliche vor dem Hintergrund ihrer individuellen Voraussetzungen, Anforderungen und Zielsetzungen mehr oder weniger bewusst für einen eigenen Entwicklungsweg entscheiden (vgl. Reinders 2003). Während sich die einen stärker auf das Leben im Hier und Jetzt konzentrieren und ihre Freizeitbedürfnisse ausleben, rücken die anderen zukunftsbezogene Entwicklungsfragen in den Vordergrund und investieren stärker in ihre Qualifikation. Während die Ersten das Jugendalter als Moratorium und damit als eigenständige Lebensphase begreifen, fühlen sich die Zweiten der Idee der Transition, also des Übergangs vom Jugend- in das Erwachsenenalter, verpflichtet. Beide Facetten des Jugendalters können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und vielfältig miteinander kombiniert werden (vgl. Reinders und Butz 2001). Daraus ergeben sich jeweils unterschiedliche typologische Entwicklungswege, die auch empirisch dargestellt werden können (Reinders 2006). Zunächst sollen die beiden Konzepte jedoch kurz skizziert werden (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Modelle des Jugendalters. (Nach Reinders und Butz 2001)

Moratoriumskonzepte verstehen das Jugendalter als eigenständige Lebensphase mit soziokulturellem Eigengewicht. Sie betonen die gegenwartsbezogene Entfaltung der Heranwachsenden. Die Grundidee des Moratoriums liegt in einer Übereinkunft der Generationen, die vorsieht, „dass sich Jugendliche eine von Erwachsenen zugestandene Auszeit nehmen, um sich auf das spätere Leben vorzubereiten“ (Reinders und Wild 2003, S. 24). Diese Entpflichtung von gesellschaftlicher Verantwortung ist mit einer relativen Autonomie verbunden, die es den Heranwachsenden erlaubt, eigene Lebensformen auszuprobieren und eigene Lebenswege zu entwickeln. Dementsprechend können sie „spezifische soziale Lebensweisen, kulturelle Formen und politisch-gesellschaftliche Orientierungsmuster ausbilden“ (Zinnecker 1991, S. 10; Hervorhebung im Orig.). Insofern ist das Moratorium nicht nur eine gesellschaftlich eingeräumte Vorbereitungsphase, sondern zugleich auch „eine subjektive Konstruktion dieser Lebensphase, die durch explizite Gegenwartsorientierung und Peer-Bezug, eine Sozialisation in Eigenregie und den jugendspezifischen Ausdruck von Lebensstilen gekennzeichnet ist“ (Reinders und Wild 2003, S. 27). Damit geht eine Abgrenzung von der Erwachsenengeneration einher. Als zentrale Bezugsgruppe fungieren daher weniger Eltern oder Lehrkräfte als vielmehr die Gleichaltrigengruppe (Reinders 2003, S. 41–52).

In der empirischen Forschung kommt der Moratoriumsgedanke zunächst im Bereich von Lebensstilen und Jugendkulturen zum Tragen. In Abgrenzung zur Erwachsenengeneration werden hier Alltagsorientierungen und kulturelle Inszenierungen von Jugendlichen nachgezeichnet (Baacke 2007; Ferchhoff 2011). Andere Ansätze fokussieren Gesellungsformen von Jugendlichen, die sich insbesondere in informellen Szenen ausdrücken (Hitzler und Niederbacher 2010). Darüber hinaus wird das Moratoriumskonzept in Arbeiten zur sozialräumlichen Forschung virulent. Den Ausgangspunkt dieser Ansätze bildet die Annahme, dass sich Jugendliche unabhängig von Erwachsenen Räume aneignen, in denen sie sich entfalten können (Deinet 2009). Diese Annahme konnte in empirischen Studien bestätigt und differenziert werden. Danach ist die Auswahl bestimmter Sozialräume eine aktive Leistung der Jugendlichen, die dabei „eher ortsspezifisch und weniger personenspezifisch vorgehen“ (Merkens 2001, S. 452).

Transitionskonzepte begreifen das Jugendalter als Übergangsphase vom Kindes- zum Erwachsenenalter. Sie betonen dementsprechend die zukunftsgerichtete Entwicklung der Heranwachsenden im Sinne einer „gelungenen Sozialisation“. Die Adoleszenz wird dabei als Statuspassage angesehen, die die Jugendlichen durchlaufen müssen, um für ihr späteres Leben als Erwachsene gerüstet zu sein. Jugend bedeutet in dieser Perspektive, „sich für später zu qualifizieren, sich auf das spätere Leben (vor allem auf Arbeit und Beruf) vorzubereiten“ (Münchmeier 1998, S. 3). Einstellungen und Verhaltensweisen von Heranwachsenden werden daher vor allem „unter dem Aspekt der (Dys‑)Funktionalität für die Vorbereitung auf bzw. spätere Übernahme von Erwachsenenrollen betrachtet“ (Reinders und Wild 2003, S. 15). Letztlich ist die Jugendphase damit ein unvollständiger Lebensabschnitt, in dem die Jugendlichen nicht mehr Kinder, aber noch nicht Erwachsene sind. Entsprechend orientieren sich junge Menschen in diesem Fall eher an der Erwachsenengeneration, d. h. an Eltern, Lehrkräften oder im Sport auch an Trainerinnen und Trainern.

Den größten Einfluss auf die transitionsorientierte Jugendforschung hat bis heute das Konzept der Entwicklungsaufgaben von Havighurst (1964). Der Begriff kennzeichnet die spezifischen Anforderungen, die das Individuum im Spannungsfeld von psycho-physischen Voraussetzungen, soziokulturellen Anforderungen und individuellen Zielsetzungen und Werten in bestimmten Lebensphasen zu bewältigen hat (Hurrelmann und Quenzel 2016). Das besondere Kennzeichen der Adoleszenz „liegt nach diesem Konzept im Aufeinandertreffen von u. U. divergierenden Anforderungen, die aus körperlichen Veränderungen, gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Bedürfnissen resultieren“ (Reinders 2003, S. 20). Insbesondere die entwicklungspsychologischen Arbeiten von Dreher und Dreher (12,13,a, b) haben die Diskussion um den Transitionsaspekt des Jugendalters über viele Jahre hinweg bestimmt. Unter Rückgriff auf die Idee des Individuums als „Produzent seiner eigenen Entwicklung“ verstehen sie „die Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben als aktives, zielbezogenes Handeln, das vom Jugendlichen geleistet wird und deshalb individuelle Züge trägt“ (Dreher und Dreher 1985b, S. 32; Hervorhebung im Orig.). Ausgehend von diesen Grundüberlegungen hat die Idee der Entwicklungsaufgaben zahlreiche neuere Arbeiten zur transitionsorientierten Jugendforschung beeinflusst (z. B. Meckelmann und Dannenhauer 2014).

In dem Konzept von Reinders (2003, 2006) werden nun Gegenwarts- und Zukunftsorientierung aufeinander bezogen. Ausgangspunkt ist die Kombination von Moratoriums- und Transitionsaspekten, die stellvertretend für zwei Gesellschaften – die der Jugendlichen und die der Erwachsenen – stehen. Die Grundannahme besteht darin, dass sich Heranwachsende „für die Orientierung an zwei unterschiedlichen Gesellschaften entscheiden können, die durch je unterschiedliche Sozialisationsagenturen repräsentiert werden“ (Reinders 2003, S. 59). Daraus ergeben sich vier Idealtypen juveniler Entwicklung, die sich jeweils durch unterschiedliche Ausprägungsgrade in den beiden Dimensionen unterscheiden:

  • Assimilierte Jugendliche streben einen raschen Übergang in den Erwachsenenstatus im Sinne einer „Normalbiografie“ an und bewältigen die Anforderungen des Jugendalters bei entsprechenden Ressourcen zielstrebig. Die Orientierung an juvenilen Alltagskulturen ist dagegen gering.

  • Integrierte Jugendliche verknüpfen Elemente gegenwartsorientierter Entfaltung mit Elementen zukunftsgerichteter Entwicklung. Sie legen Wert auf die Autonomie der Jugendphase und engagieren sich zugleich für ihre eigene Entwicklung in Schule oder Berufsausbildung.

  • Segregierte Jugendliche grenzen sich explizit von der Erwachsenengeneration ab. Im Vordergrund steht die gegenwartsbezogene Entfaltung, die sich nicht selten in expressiven Lebensstilen ausdrückt. Zukunftsbezogene Entwicklungsaufgaben können oder wollen diese Jugendlichen nicht umfassend lösen.

  • Marginalisierte Jugendliche haben keine eindeutige Vorstellung davon, ob sie sich an der Gleichaltrigen- oder der Erwachsenengesellschaft orientieren wollen. Sie entwickeln weder ausgeprägte Autonomiebestrebungen im Sinne des Moratoriums, noch eine Ausrichtung an den Standards der älteren Generation im Sinne der Transition.

Diese theoretisch abgeleiteten Idealtypen lassen sich empirisch belegen. Im Hinblick auf den Umfang bilden assimilierte und integrierte Jugendliche mit 25,3 % und 26,4 % die größten Gruppen, segregierte und marginalisierte (diffundierte) Jugendliche sind mit 22,5 % und 21,9 % etwas weniger häufig vertreten. Die Alters- und Geschlechtsverteilungen sind im Großen und Ganzen homogen. In Bezug auf die Schulformen zeichnen sich Hauptschülerinnen und Hauptschüler durch einen hohen Grad an Integration der Zeitperspektiven aus, während Gymnasiasten hohe Werte im Bereich der Assimilation aufweisen. Realschülerinnen und Realschüler verteilen sich relativ gleichmäßig auf alle vier Typen (Reinders 2006, S. 168–174). Insgesamt ergibt sich damit ein komplexes Modell juveniler Entwicklungswege, mit dem das Jugendalter strukturiert werden kann. Zudem können Sinnzusammenhänge zwischen verschiedenen Ausprägungsformen hergestellt und schließlich auch mögliche Verhaltensweisen vorhergesagt werden (Reinders 2006, S. 23). Zugleich bietet das Modell der Zeitperspektiven eine allgemeine Heuristik, die auf spezifische Forschungszusammenhänge übertragen werden kann. Das soll im Folgenden am Beispiel des Jugendsports aufgezeigt werden.

Sportpädagogischer Forschungsstand und Fragestellung

Moratoriums- und Transitionskonzepte können in besonderer Weise auf den Sport übertragen werden. Als ein Feld, das sich durch einen starken Gegenwartsbezug mit hohem Identifikationspotenzial auszeichnet, folgen sportliche Aktivitäten zunächst explizit der Moratoriumsidee. Der Sport gilt aber auch als ein Feld mit einem hohen Lern- und Bildungspotenzial, womöglich gerade, weil er für viele Heranwachsende so positiv besetzt ist. Insofern lassen sich auch Transitionsaspekte im Sport gut abbilden (vgl. Neuber 2011). Dementsprechend finden sich beide Zugänge auch in der sportpädagogischen Jugendforschung wieder. Moratoriumsaspekte finden sich beispielsweise in Arbeiten zum informellen Sportengagement oder zu Trendsportaktivitäten (z. B. Bindel 2015; Schmidt 2015; Schwier und Erhorn 2015). Auch neuere Arbeiten zur Aneignung von sportbezogenen Sozialräumen (z. B. Deinet und Derecik 2016) sowie ethnografische Arbeiten zu juvenilen Fitnesssportszenen lassen sich hier verorten (z. B. Bindel und Theis 2020). Transitionsaspekte werden in der Sportpädagogik allerdings deutlich häufiger untersucht. Sie orientieren sich zumeist an sozialisationstheoretischen Modellen, die weniger an Entwicklungsaufgaben als vielmehr an der Entwicklung des Selbstkonzepts festgemacht werden (z. B. Gerlach und Brettschneider 2008; Gerlach und Herrmann 2015; Brettschneider 2020). Diese Perspektive erscheint deshalb besonders interessant, „weil im Jugendalter nicht nur der Aufbau grundlegender Handlungskompetenzen wichtig ist, sondern die Entwicklung von Identität und der Aufbau eines reflektierten Selbstbildes herausragende Bedeutung besitzt“ (Heim 2002, S. 42).

Zur Integration von Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven gibt es nur wenige sportpädagogische Arbeiten. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Konowalczyk (2017), die neben Gegenwart und Zukunft auch die Vergangenheit als handlungsrelevante Perspektive aufgreift. Dabei verfolgt sie zwei zentrale Zielsetzungen: Zum einen geht es ihr um die Erfassung jugendlicher Zeitperspektiven unter Berücksichtigung kultureller und soziodemografischer Einflussfaktoren. Zum anderen vergleicht sie die Zeitperspektiven von sportlich aktiven und nicht aktiven Jugendlichen und stellt damit einen Zusammenhang zur Entwicklungsbedeutsamkeit des Sports her. In Bezug auf die erste Fragestellung fallen die Ergebnisse erwartungskonform aus: „Bilanzierend bewerten Jungen, jüngere Jugendliche, Jugendliche mit einem hohen SES [Sozioökonomischer Status; die Verf.] und ohne Migrationshintergrund […] die Zeitdimensionen positiver als Mädchen, ältere Jugendliche, Jugendliche mit einem niedrigen SES und mit Migrationshintergrund“ (Konowalczyk 2017, S. 258). Darüber hinaus sind die Profile der Zeitperspektiven bei sportlich aktiven Jugendlichen durchgängig positiver ausgeprägt als bei nicht sportlich Aktiven. Vor dem Hintergrund der theoretischen Vorüberlegungen kann damit tatsächlich von einem gewissen Entwicklungseinfluss des Sportengagements ausgegangen werden.

Für die vorliegende Untersuchung wird der integrative Ansatz von Neuber (2004, 2007) aufgegriffen. In die Untersuchung sind seinerzeit sechs Teilstudien eingegangen, die zwischen 2002 und 2004 durchgeführt wurden. Mit ihnen wurde die Bedeutung gegenwartsbezogener Entfaltungsbedürfnisse und zukunftsgerichteter Entwicklungsaufgaben aus der Sicht von Jugendlichen generell sowie in Bezug auf die drei Settings „Schulsport“, „Vereinssport“ und „Selbstorganisierter Sport“ erfasst.Footnote 1 Die Untersuchungsergebnisse weisen zum einen auf eine hohe Bedeutsamkeit von Entfaltungsbedürfnissen im Jugendsport hin. Im Zentrum stehen Bedürfnisse aus den Bereichen Kontakt & Entspannung sowie Körper & Erfolg. Zum anderen bestätigen die Befunde die Relevanz juveniler Entwicklungsaufgaben. In Bezug auf den Jugendsport werden insbesondere die Aufgaben Kontakte zu anderen Jugendlichen entwickeln (Kontakt), Mich in meinem Körper wohlfühlen (Körper) sowie Wissen, wer ich bin und was ich will (Identität) als bedeutsam erachtet. In Bezug auf die drei erfassten Settings kommt die Untersuchung der Entfaltungsbedürfnisse zu erwartungskonformen Befunden: Je größer der Freiheitsgrad in den Settings, desto größer die wahrgenommenen Entfaltungsmöglichkeiten. Im Hinblick auf die Entwicklungsaufgaben fallen die Ergebnisse erwartungswidrig aus: Die Zunahme an pädagogischer Anleitung führt in den Augen der Heranwachsenden nicht zu einer größeren Entwicklungsunterstützung.Footnote 2

Mit Blick auf die Entstrukturierung und Dynamisierung der Jugendphase in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren bietet sich eine Wiederholung der Studien zu den Zeitperspektiven im Sport an. Nicht zuletzt sind auch im Jugendsport erhebliche Umbrüche zu verzeichnen. Neben der Ausweitung der öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen junger Menschen und insbesondere dem Ausbau von Ganztagschulen (Rauschenbach 2015) ist eine erhebliche Ausdifferenzierung im Bereich der Sportszenen zu beobachten (Schwier und Erhorn 2015), was nicht ohne Auswirkungen auf die traditionellen Settings juvenilen Sportengagements bleiben dürfte (Bindel 2015). In diesem Zusammenhang steht auch der Jugendleistungssport auf dem Prüfstand (Breuer et al. 2020). Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen soll die Untersuchung zu den Zeitperspektiven Jugendlicher von 2002–2004 repliziert werden. Dafür sind folgende Fragestellungen maßgeblich:

  1. 1.

    Welche Bedeutung messen Jugendliche aktuell Entfaltungsbedürfnissen und Entwicklungsaufgaben generell bei?

  2. 2.

    Mit welchen Entfaltungs- und Entwicklungserwartungen gehen sie aktuell an unterschiedliche Settings des Sports (Schulsport, Vereinssport, Selbstorganisierter Sport) heran?

  3. 3.

    Inwiefern verändern sich die Einschätzungen von Jugendlichen zwischen 2002 und 2019?

Untersuchungskonzeption

Für die erste Erhebungswelle aus den Jahren 2002–2004 wurden in sechs unabhängigen Studien insgesamt N = 1341 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren befragt. Diese ursprünglichen Befragungen wurden in Teilstichproben mit jeweils unterschiedlichen Instrumenten durchgeführt. Um die Vergleichbarkeit mit den neuen Daten gewährleisten zu können, wurde daraus die Teilstichprobe mit dem identischen Instrument aus dem Jahr 2002 mit 214 Probandinnen und Probanden ausgewählt. Für die Erhebung 2019 wurden N = 502 Jugendliche derselben Altersspanne untersucht. Die Stichproben sind sowohl im Hinblick auf die Altersverteilung als auch in Bezug auf das Geschlechterverhältnis und die Mitgliedschaft in einem Sportverein vergleichbar (vgl. Tab. 2).

Tab. 2 Vergleich der Stichproben 2002 und 2019

Die Instrumente basieren auf der Grundidee der Moratoriums- und Transitionskonzepte (vgl. Reinders und Butz 2001). Abgebildet wird die Bedeutung, welche die Jugendlichen den Settings „Schulsport“, „Vereinssport“ und „Selbstorganisierter Sport“ jeweils in Bezug auf gegenwartsorientierte Entfaltungsbedürfnisse sowie die zukunftsgerichtete Entwicklungsaufgaben zusprechen. Die Entfaltungsbedürfnisse kennzeichnen „gegenwartsorientierte Vorlieben und Wünsche von Jugendlichen, die als Antrieb für Aktivitäten vor allem im Freizeitbereich wirken“ (Neuber 2007, S. 109). Zur Entwicklung des Fragebogens für die Erhebung der Entfaltungsbedürfnisse (EBJU-21), wurden offene Interviews mit etwa 50 Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I durchgeführt. Angesprochen wurden dabei vor allem die Freizeitaktivitäten der Jugendlichen und ihre jeweilige Begründung dazu. Durch inhaltsanalytische Auswertungen ergaben sich daraus 39 Aspekte, die für Jugendliche in ihrer Freizeit bedeutsam sind. Das darauf aufbauende Instrument wurde anschließend mittels explorativer Faktorenanalysen und unter Berücksichtigung der internen Konsistenz, der Retest-Reliabilitäten sowie externer Validitäten abgesichert und auf 21 Items reduziert. Der endgültige EBJU-21 umfasst die drei Skalen Action & Fun, Kontakt & Entspannung sowie Körper & Erfolg (vgl. Tab. 3).

Tab. 3 Reliabilität der Skalen im Vergleich 2002 und 2019 (Neuber 2007, S. 171)

Inhaltlich erfassen die Items des Instruments Entfaltungsbedürfnisse in den drei Skalen in möglichst großer Breite. So beinhaltet Action & Fun beispielweise die Items „Mich stylen“, „Geld ausgeben“ und „Verbotene Sachen ausprobieren“, während Kontakt & Entspannung unter anderem durch „Gute Gespräche führen“, „Etwas ohne Druck und Bewertung machen“ und „Meine Gefühle ausdrücken“ repräsentiert wird. Die Skala Körper & Erfolg beinhaltet Items wie „Meinen Körper beherrschen“, „Meinen Körper spüren“ und „Meinen Körper formen“. Der Erfolgsaspekt wird mit Items wie „Erfolgreich sein“ und „Mich mit anderen vergleichen/Wettkämpfen“ angesprochen (Neuber 2007, S. 170–176). Zum anderen wurden elf zukunftsgerichtete Entwicklungsaufgaben erfasst (EAJU-11), die auf gängigen entwicklungspsychologischen Ansätzen (Oerter und Dreher 2002) beruhen und für die Untersuchung auf der Grundlage der oben genannten qualitativen Interviews angepasst wurden (Retest-Reliabilität r = 0,33 bis 0,66). Dazu gehören beispielsweise „Wissen, wer ich bin und was ich will“ (Identität), „Mich in/mit meinem Körper wohlfühlen“ (Körper) und „Kontakte zu anderen Jugendlichen entwickeln“ (Kontakt) (Neuber 2007, S. 176–178).

Beide Instrumente wurden für die vorliegende Revision punktuell an den aktuellen Sprachgebrauch von Jugendlichen angepasst. So wurde beispielsweise „Mal richtig „draufhaun““ im neuen Fragebogen zu „Mal richtig Party machen“. Nach einer Erhebung soziometrischer Daten wie Alter, Geschlecht und Sportengagement wird im Gesamtinstrument danach gefragt, wie bedeutsam 21 konkrete Themen des Auslebens der Jugendphase (Moratorium) für den Befragten „im Moment“ sind. Gleiches erfolgt im Hinblick auf elf Entwicklungsaufgaben (Transition). Anschließend werden sowohl die Moratoriums- als auch die Transitionsaspekte auf die drei Settings Sportverein, Schulsport und Selbstorganisierter Sport bezogen, indem zu jedem Setting erhoben wird, wie sehr die Aspekte aus der Sicht der Jugendlichen dort jeweils verwirklicht werden. Beide Instrumente nutzen eine vierfache Skalierung von „stimme nicht zu“ bis „stimme voll zu“ bzw. „überhaupt nicht wichtig“ bis „sehr wichtig“. Die Berechnungen wurden mit SPSS vorgenommen, wobei in erster Linie t‑Tests zur Anwendung kamen. Das Signifikanzniveau wird dreistufig festgelegt (p < 0,05*, p < 0,01**, p < 0,001***). Signifikante Unterschiede wurden zur genaueren Einordnung durch die Ermittlung der Effektstärke Cohens d analysiert.

Untersuchungsergebnisse

Entfaltungsbedürfnisse im Sport

In Bezug auf die Entfaltungsbedürfnisse lässt sich zunächst feststellen, dass dem Faktor Kontakt & Entspannung 2002 die größte Bedeutung zugeschrieben wird. Verwirklichung finden die Jugendlichen hier vor allem im Sportverein und im Selbstorganisierten Sport, weniger in der Schule. Alle drei Settings eignen sich nach Auffassung der befragten Jugendlichen besonders für den Bereich Körper & Erfolg, wobei hier der Sportverein erwartungsgemäß heraussticht. Weniger geeignet erscheint der Sport in Bezug auf freizeitbezogene Entfaltungsbedürfnisse der Skala Action & Fun. Am ehesten bietet dafür noch der Selbstorganisierte Sport in der Perspektive der Heranwachsenden gewisse Chancen. Im Zeitvergleich bleibt die generelle Ausrichtung der Entfaltungsbedürfnisse und ihrer wahrgenommenen Potenziale in den drei Settings zunächst erhalten. Moratoriumsbezogene Freizeitbedürfnisse scheinen also unverändert wichtig zu sein. Allerdings nimmt die Einschätzung der Jugendlichen in Bezug auf die Bedeutung des Selbstorganisierten Sports sowohl in Bezug auf die Skala Action & Fun als auch in der Skala Kontakt & Entspannung 2019 signifikant ab (p < 0,001; d = 0,58 bzw. 0,41). Die Einschätzung der Skala Körper & Erfolg bleibt dagegen auch im Bereich des Selbstorganisierten Sports unverändert hoch (vgl. Abb. 2). Mädchen und Jungen ähneln sich in ihrer Einschätzung der Entfaltungsbedürfnisse weitgehend. Allerdings schätzen Mädchen 2019 die Skala Kontakt & Entspannung etwas höher ein (p < 0,001; d = 0,40), während Jungen 2019 dem Bereich Körper & Erfolg etwas mehr Bedeutung beimessen (p < 0,005; d = 0,46).

Abb. 2
figure 2

Allgemeine Bedeutung der Entfaltungsbedürfnisse und settingbezogene Einschätzungen der Jugendlichen im Vergleich von 2002 und 2019 (***p < 0,001)

Entwicklungsaufgaben im Sport

Der Blick auf die Entwicklungsaufgaben zeigt, dass Jugendliche 2002 den Bereichen Identität finden, Körper wohlfühlen und Kontakte entwickeln die größte Bedeutung beigemessen haben. In der Befragung von 2019 haben Körper, Schule und Identität die größte Bedeutung für junge Menschen. Am wenigsten bedeutsam sind Medienumgang, Intimität und Politik. Dabei bestehen im Zeitvergleich deutliche Veränderungen. Die stärksten Rückgänge im Vergleich zu 2002 betreffen die Bereiche Intimität (p < 0,001; d = 0,55) und Kontakte entwickeln (p < 0,001; d = 0,61). Damit fällt Kontakte entwickeln vom ehemals dritten auf den siebten Platz ab, während sich der Umgang mit den Anforderungen der Schule vom viert- zum zweitwichtigsten Bereich entwickelt, wobei der Itemwert selbst konstant bleibt. Signifikant, wenn auch mit geringen Effektstärken, sind außerdem die Rückgänge in den Bereichen Identität finden (p < 0,001; d = 0,29), Umgang mit Geld (p < 0,01; d = 0,24) und Unabhängigkeit von den Eltern (p < 0,05; d = 0,16). Lediglich der Berufswahl wird 2019 eine höhere Bedeutung zugeschrieben als 2002 (p < 0,001; d = 0,26) (vgl. Abb. 3). In Bezug auf die generelle Bedeutung transitionsorientierter Entwicklungsaufgaben hat also insgesamt eine Verschiebung stattgefunden, die größtenteils auf eine Abnnahme der zugeschriebenen Bedeutung zurückzuführen ist.

Abb. 3
figure 3

Allgemeine Bedeutung der Entwicklungsaufgaben aus der Sicht von Jugendlichen im Vergleich von 2002 und 2019; ausgewiesen werden nur die hochsignifikanten Unterschiede (***p < 0,001)

Auch die Bedeutung der drei Entwicklungsaufgaben mit dem größten Sportbezug wird hinsichtlich der drei Settings 2019 tendenziell geringer eingeschätzt. Besonders auffällig ist die überproportional abnehmende Bedeutung des Kontakt-Themas im Selbstorganisierten Sport (p < 0,001; d = 0,91), während in Bezug auf den Schul- und Vereinssport keine signifikanten Rückgänge zu verzeichnen sind. Die Bedeutung der Entwicklungsaufgaben Körper und Identität nimmt in den drei Settings ebenfalls tendenziell ab, wobei die Unterschiede teilweise nur auf dem 1 %-Niveau signifikant sind und die Effektstärken mit d = 0,22 bis 0,40 eher gering ausfallen. Eine Ausnahme bildet die körperbezogene Aufgabe im Selbstorganisierten Sport, bei der keine Veränderung festzustellen ist (vgl. Abb. 4). Der Vergleich zwischen Jugendlichen mit und ohne Mitgliedschaft in einem Sportverein zeigt sich im Zeitverlauf entsprechend der bisherigen Ergebnisse mit mäßigen Abnahmen. Dabei fällt jedoch auch hier ein deutlicher Bedeutungsverlust der Entwicklungsaufgabe Kontakte entwickeln auf, die in besonderem Maße die Nicht-Sportvereinsmitglieder betrifft (p < 0,001; d = 0,91).

Abb. 4
figure 4

Entwicklungsaufgaben mit Sportbezug aus der Sicht von Jugendlichen im Vergleich von 2002 und 2019; ausgewiesen werden nur die hochsignifikanten Unterschiede (***p < 0,001)

Diskussion

Das Konzept der Zeitperspektiven verspricht in der immer unübersichtlicher werdenden Welt juveniler Lebenswelten eine gewisse Orientierung. Die Grundannahme geht davon aus, dass junge Menschen sich einen individuellen Weg zwischen Gegenwarts- und Zukunftsorientierung suchen. Dabei hat der Jugendsport eine nicht unerhebliche Bedeutung, da er sowohl gegenwartsorientierte Entfaltungspotenziale als auch zukunftsgerichtete Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Das bestätigen sowohl die Studien aus den Jahren 2002 bis 2004 (Neuber 2007) als auch die vorliegende Untersuchung aus dem Jahr 2019. Vergleicht man die Ergebnisse der Studien, fällt zunächst auf, dass die generelle Bedeutung von Entfaltungsbedürfnissen, wie auch deren wahrgenommene Potenziale in den drei Settings Schulsport (Abb. 5), Vereinssport (Abb. 6) und Selbstorganisierter Sport tendenziell gleichgeblieben sind. Mit zunehmender Autonomie des Settings vom Schulsport über den Vereinssport zum Selbstorganisierten Sport nehmen die von den Jugendlichen wahrgenommenen Entfaltungsmöglichkeiten erwartungsgemäß zu. Die einzige Ausnahme bildet der Bereich Körper & Erfolg, für den – wiederum erwartungskonform – der Sportverein in der Sicht der Jugendlichen die besten Entfaltungsmöglichkeiten bietet.

Abb. 5
figure 5

Sport in der Schule, hier Volleyball. (Foto: LSB NRW/Andrea Bowinkelmann)

Abb. 6
figure 6

Sport im Verein, hier Fußball. (Foto: LSB NRW/Andrea Bowinkelmann)

Im Hinblick auf die zukunftsbezogenen Entwicklungsaufgaben kann festgehalten werden, dass die von den Heranwachsenden zugeschriebenen Bedeutungen im Zeitvergleich teilweise abnehmen, insgesamt aber nach wie vor bedeutsam sind. Wie schon 2002 fällt die Bedeutung des Schulsports in der aktuellen Untersuchung besonderes deutlich ab, während dem Vereinssport und dem Selbstorganisierten Sport immer noch ein gewisses Entwicklungspotenzial bescheinigt wird. Offensichtlich fühlen sich Jugendliche durch mehr oder weniger rigide pädagogische Inszenierungen in der Schule in ihrer Entwicklung weniger unterstützt als durch den flexiblen Austausch mit Gleichaltrigen in offeneren Handlungssituationen (vgl. Neuber 2004). Gleichwohl kann insgesamt festgehalten werden, dass dem Sport von jungen Menschen auch heute noch ein hohes Entfaltungs- und Entwicklungspotenzial bescheinigt wird. Das deckt sich mit aktuellen Studien zur Sportpartizipation von Heranwachsenden, die dem Sport in Schule und Verein nach wie vor eine hohe Attraktivität bei Kindern und Jugendlichen attestieren, wobei sie sich mit zunehmendem Alter vermehrt privat und kommerziell organisierten Angeboten zuwenden (Mutz 2020). Gerade für den kommerziellen Bereich könnte das Konzept der Zeitperspektiven durchaus eine interessante Rolle spielen, da diese Angebote von den Jugendlichen freiwillig und mit einem hohen Identifikationspotenzial gewählt werden, mit den Angeboten in der Regel aber keine pädagogischen Ziele verfolgt werden (Thieme 2015).

Bei aller Übereinstimmung zwischen den beiden Erhebungen gibt es im Zeitvergleich aber auch auffällige Unterschiede. So nimmt das wahrgenommene Potenzial im Bereich Kontakt & Entspannung in Bezug auf den Selbstorganisierten Sport im Vergleich zu 2002 deutlich ab. „Gute Gespräche führen“, „Anderen Menschen helfen“ oder „Neue Leute kennenlernen“ – um nur einige Items zu nennen – scheint 2019 weniger wichtig zu sein als 2002. Interessanterweise gibt es für die Entwicklungsaufgaben vergleichbare Befunde. Hier ist zunächst auffällig, dass die generelle Bedeutung für die Aufgabe „Intime Beziehungen zu einem Partner bzw. einer Partnerin aufnehmen“ im Zeitvergleich stark zurückgeht. Noch deutlicher ist die Bedeutungsabnahme für die Aufgabe „Kontakte zu anderen Jugendlichen entwickeln“, was insofern überraschend ist, als die soziale Entwicklungsaufgabe neben der Körper- und der Identitätsaufgabe über viele Jahrzehnte hinweg zu den drei wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Jugendalters zählte (Oerter und Dreher 2002). Auch hier ist die Bedeutungsabnahme im Bereich des Selbstorganisierten Sports besonders auffällig. Schließlich ist die Entwicklung sozialer Kontakte zu Gleichaltrigen bei den Nicht-Vereinsmitgliedern noch einmal deutlich weniger bedeutsam als bei den Mitgliedern.

Bei aller gebotenen Vorsicht aufgrund vergleichsweise kleiner Stichproben kann damit von einem kohärenten Befund gesprochen werden, der an verschiedenen Stellen auf eine Entwicklung hindeutet (Erdmann 1988). Offensichtlich hat die Bedeutung der Entwicklung sozialer Kontakte zu Gleichaltrigen im Zeitvergleich abgenommen. Das Phänomen zeigt sich sowohl generell in Bezug auf die entsprechende Entwicklungsaufgabe als auch settingbezogen, wobei soziale Kontakte im nicht vereinsgebundenen, selbstorganisierten Sport am wenigsten wichtig zu sein scheinen (Abb. 7). Wie ist das zu erklären? Ein erster Erklärungsversuch kann in der zunehmend pragmatischen Ausrichtung aktueller Jugendgenerationen gesehen werden. Bereits 2002 stellte die Shell-Studie die Frage, ob sich eine Generation der Egotaktiker entwickelt: „Egotaktikerinnen und Egotaktiker fragen die soziale Umwelt ständig sensibel nach Informationen darüber ab, wo sie selbst in ihrer persönlichen Entwicklung stehen“ (Hurrelmann et al. 2002, S. 33). Das bedeutet nicht, dass junge Menschen grundsätzlich egoistisch sind, wohl aber, dass sie vor dem Hintergrund dynamisierter Lebenswelten flexibel die Chancen nutzen, die sich ihnen bieten. Hurrelmann (2013, S. 45) attestiert auch der aktuellen „Generation Z“ eine „auffällig pragmatische Grundstimmung im Blick auf ihre eigene persönliche Zukunft“ (Hervorhebung d. Verf.).

Abb. 7
figure 7

Soziale Kontakte im nicht vereinsgebundenen, selbstorganisierten Sport scheinen am wenigsten wichtig zu sein

In eine ähnliche Richtung geht die Argumentation von Reinders (2016), der mit Blick auf sein Konzept der Zeitperspektiven von einer Weiterentwicklung des Bildungsmoratoriums zu einem Optimierungsmoratorium spricht. Darunter versteht er einen „Prozess zur Effizienzsteigerung beim Ressourceneinsatz für die Erlangung von Bildungszertifikaten und/oder -inhalten sowie Kompetenzen“ (Reinders 2016, S. 152). Auch wenn er den Auslöser für diese Optimierungsphilosophie vor allem in der Bildungsadministration und Bildungsforschung sieht, bleibe der gesteigerte Druck sich zu qualifizieren nicht ohne Auswirkungen auf die Heranwachsenden. Die Zunahme transitionsbezogener Aspekte zeigt sich im Übrigen auch in unseren Studien in einer Zunahme der Bedeutungszuschreibung der Berufswahl bei gleichbleibend hoher Bedeutung der Entwicklungsaufgabe „Umgang mit den Anforderungen der Schule“. Inwieweit die Internalisierung bildungsbezogener Erfolgskriterien bereits zu einer Veränderung der aktuellen Jugendgeneration geführt hat, kann diskutiert werden. Tröstlich erscheint zumindest das (wiederentdeckte) politische Engagement junger Menschen, nicht zuletzt im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes (Shell Deutschland Holding 2019).

Eine dritte Erklärungslinie für die abnehmende Bedeutung sozialer Kontakte ist sportspezifisch. Insofern ist sie womöglich die Begründungsfolie, die am weitesten reicht. Spätestens seit Mitte der 2010er Jahre mehren sich sportpädagogische Stimmen, die von einer Veränderung des informellen Jugendsports sprechen. Während die Sportszenen der 1990er-Jahre durch den spielerischen Wettstreit etwa in Street-Basketball- oder Street-Soccer-Gruppen gekennzeichnet waren, steht jetzt das individuelle Fitnessstreben im Vordergrund. Die Logiken des Sportreibens verschieben sich „weg vom spielerischen Teamwettkampf hin zum individuellen Leisten und Darstellen“ (Bindel 2017, S. 423). Soziale Kontakte in der Gruppe werden damit weniger wichtig, zumindest werden sie anders gewichtet. Dagegen werden Leistungssteigerung und Körperoptimierung wichtiger (Rode 2019). Diese Form der Selbstoptimierung wird „in hohem Maße durch medial verbreitete, körperbezogene Schönheits‑, Fitness‑, Leistungs- und Gesundheitsideale beeinflusst“ (Bindel et al. 2020, S. 66).

Die vorliegende Untersuchung unterstützt diese Einschätzung dadurch, dass die Bedeutung der körperbezogenen Entfaltungsbedürfnisse im Selbstorganisierten Sport im Zeitverlauf als einzige nicht abnimmt, während die spaßorientierten Bedürfnisse der Skala Action & Fun ebenso deutlich zurückgehen wie die sozialen Bedürfnisse der Skala Kontakt & Entspannung. Letztlich kann damit von einer neuen, digital geprägten Jugendkultur mit den Schwerpunkten Fitness, Körper und Gesundheit gesprochen werden, die durch ein hohes Maß an Einschränkung und Selbstdisziplin gekennzeichnet ist (Bindel 2017). Zugleich entsteht eine neue, medial geprägte Wissenskultur, die neben der Gefahr einer Übernahme kaum erreichbarer Körperideale auch die Chance einer selbstbestimmten Körperinszenierung bietet (vgl. Bindel und Theis 2020). Hier ist zweifellos eine Schwachstelle der vorliegenden Untersuchung zu sehen, weil digitale Körperkulturen in der Ausgangserhebung 2002 noch keine Rolle spielten und dementsprechend 2019 auch nicht aufgegriffen werden konnten. Jugendliche der Millennium-Generation Y oder der nach 1995 geborenen Generation Z kombinieren Offline- und Online-Modi jedoch ganz selbstverständlich miteinander (Wolfert und Leven 2019). Als Digital Natives beziehen sie diesen Lebensstil auch auf körper- und sportbezogene Praxen.

Insgesamt scheint damit eine Tendenz vom mehr oder weniger spielerischen Sporterleben in der Freizeit hin zu einer körper- und fitnessbezogenen Selbstoptimierung vorzuliegen. Diese Formen der Körperdisziplinierung und Körpernormierung durchdringen mittlerweile weite Teile der juvenilen Freizeitgestaltung (Thiel et al. 2020) und haben aufgrund ihrer medialen Vermittlung erheblichen Einfluss auf die Identitätsentwicklung Heranwachsender (Stern 2019). Insofern erscheint es nachvollziehbar, dass soziale Kontaktaufnahmen für junge Menschen heute weniger bedeutsam als noch vor zehn, fünfzehn Jahren sind. Ohne das an dieser Stelle bewerten zu wollen, ergeben sich daraus drängende sportpädagogische Forschungsfragen, etwa zur Bedeutung leibhaftiger Erfahrungen im digitalen Zeitalter oder zu den Auswirkungen eines technisierten Körperverständnisses auf die Identitätsentwicklung von Jugendlichen. Zugleich ist die pädagogische Praxis in Schule, im Ganztag und im Sportverein gefordert, diese veränderten Ausgangsbedingungen zur Kenntnis zu nehmen, die vorhandenen Trends aufzugreifen, altersangemessen zu reflektieren und ihnen ggf. auch entgegenzuwirken (Bindel et al. 2020). So könnten Schul- und Vereinssport bewusster das soziale Potenzial nutzen, das der Sport in einer Gruppe bietet. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass jugendliche Freizeitbedürfnisse allzu schnell einer effizienzorientierten Leistungsphilosophie geopfert werden (Voigts 2020) – der Sport sollte hier sein Potenzial zur Schaffung eines juvenilen Freizeitmoratoriums in die Waagschale werfen.