1 Einleitung

Post- und dekoloniale Perspektiven finden zunehmend in die Friedens- und Konfliktforschung (FuK) Eingang, zumal die koloniale Vergangenheit und Gegenwart auf gesellschaftlichen und politischen Ebenen seit ein paar Jahren verstärkt in den Blick gerät. Der sogenannte decolonial turnFootnote 1 stellt dabei Wissenschaft und ihre Institutionen disziplinübergreifend infrage, deren Dekolonisierung eine notwendige, aber unvollendete Aufgabe darstellt (Walsh 2018; Ndlovu-Gatsheni 2018). Die Friedensbildung kann von den theoretischen Erkenntnissen und politischen Forderungen, die durch dekoloniale Perspektiven an die FuK herangetragen werden, wertvolle und notwendige Anregungen gewinnen. Um auf die Fragen einzugehen, ob und wie die Friedensbildung eine dekoloniale Ausrichtung erfahren kann, stellen wir in diesem Beitrag einige theoretisch-konzeptionelle Überlegungen zu einer dekolonial informierten Friedensbildung zur Diskussion.

Auf Basis dekolonialer Analysen und Theorien greifen wir dazu im Folgenden damit einhergehende, zentrale friedenstheoretische Herausforderungen auf, deren Bearbeitung zu einer dekolonial informierten Friedensbildung beitragen kann. Mit dem Begriff der dekolonial informierten Friedensbildung verweisen wir auf den wichtigen Schritt der dekolonial informierten Reflexion theoretischer Grundannahmen von Friedensbildung auf dem Weg zu einer Friedensbildung otherwise. Diese Bezeichnung entnehmen wir dekolonialen Theorien, die Dekolonialität als Möglichkeit anderer Denk- und Seinsformen im Sinne von „worlds and knowledges otherwise“ auffassen (Escobar 2007, S. 179). Mit diesem Arbeitstitel meinen wir nicht eine andere Friedensbildung, die mit dem Verwerfen bestehender Ansätze einhergeht, sondern den Prozess, aus der Auseinandersetzung mit post- und dekolonialen Theorien Impulse für eine Friedensbildung abzuleiten, die zu einer anderen Welt jenseits kolonialer Logiken beitragen kann. Dabei zeigen wir auf, wie theoretische Grundannahmen der Friedensbildung und damit die davon abgeleiteten Ansätze selbst potenziell zur Perpetuierung von Kolonialität beitragen und wie eine dekolonial informierte Friedensbildung dem entgegenwirken kann. Die dem Vorgehen zugrunde liegende theoretische Herangehensweise wählen wir, um die wissenschaftlichen Diskurse der FuK und der Friedensbildung zu adressieren.

In einem ersten Schritt skizzieren wir die historischen und inhaltlichen Kontexte von Friedensbildung im deutschsprachigen Raum, um das Feld klarer zu umreißen, in dem wir uns bewegen. Dabei unterziehen wir diese Kontexte einer kritischen Lesart vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dekolonialen Theorien. In einem zweiten Schritt beschreiben wir konkrete friedenstheoretische Herausforderungen, die durch den decolonial turn theoretisch wie praktisch Einzug in die Friedensbildung halten. In einem dritten Schritt konturieren wir Aspekte einer dekolonial informierten Friedensbildung, die sich aus den theoretischen Überlegungen ergeben. Damit möchten wir dem vielfach konstatierten Theoriebildungsdefizit der Friedensbildung begegnen. Für die hier angebotenen Überlegungen erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wollen aber ein drängendes Thema für die Friedensbildung zur wissenschaftlichen Diskussion stellen, das insbesondere vor dem Hintergrund des Umgangs mit der allumfassenden planetaren Krise an Bedeutung gewinnt.

2 Kontexte dekolonialer Theorien und Friedensbildung

Dekoloniale Theorien betonen die konstitutive Rolle des europäischen Kolonialismus für die Entstehung des modernen Weltsystems. Dieser unterscheidet sich von anderen Formen des Imperialismus und Kolonialismus, da die sogenannte ‘Entdeckung’ des amerikanischen Kontinents durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492 und die damit einhergehende Eroberung in Verbindung mit dem transatlantischen Versklavungshandel zur Konstitution eines globalen Wirtschaftssystems geführt hat, das Ausbeutungslogiken folgt und auf dem Zusammenwirken von Rassismus, Arbeitskontrolle (Quijano 2000) sowie Sexismus, Heteronormativität und patriarchaler Kontrolle und Verteilung von Macht (Lugones 2016) beruht. In dekolonialer Lesart ist die Einteilung der Weltbevölkerung nach rassistischen Kriterien und eine darauf beruhende Verteilung und Kontrolle von Arbeit und Kapital zur Akkumulation von Reichtum bis heute zentrales Strukturprinzip des globalisierten Kapitalismus. Dekoloniale Theorien versuchen daher, mit dem Begriffspaar Modernität/Kolonialität sichtbar zu machen, dass weltgeschichtliche Prozesse, die mit dem Begriff der Moderne als europäische Errungenschaft dargestellt werden (Modernität), nur durch Kolonisierung, Versklavung und Extraktivismus, also dem auf Export ausgerichteten Abbau fossiler Rohstoffe sowie der Ausbeutung von Land, aber auch der menschlichen Arbeitskraft, ermöglicht werden (Kolonialität). Kolonialität beschreibt zudem die anhaltenden Strukturen, die, aus dem Kolonialismus hervorgehend, noch heute Beziehungen, Normen und Politik prägen (Maldonado-Torres 2007, S. 243) und den mit Modernität assoziierten Wohlstand im Globalen Norden ermöglichen.Footnote 2 Als handlungsleitende Konsequenz aus dieser Erkenntnis ergeben sich Forderungen nach einer umfassenden Dekolonisierung, die an die bislang unvollständigen formal-politischen Dekolonisierungsprozesse anknüpft.

Die konkrete Ausgestaltung von Dekolonisierung unterscheidet sich je nach geopolitischem Kontext, ist aber auch innerhalb dieser Kontexte für sozial verschieden positionierte Menschen sehr heterogen. In Kontexten ehemaliger Kolonialmächte wie beispielsweise in Deutschland umfasst sie aktuell Debatten um die Restitution gestohlener Kulturgüter und Aushandlungen um die Anerkennung und ‘Wiedergutmachung’ kolonialer Gewalt bis hin zu Völkermord, beispielsweise im Kontext des namibisch-deutschen ‘Versöhnungsabkommens’ (Imani und Theurer 2022). Sie umfasst aber auch Diskurse um die Dekolonisierung des öffentlichen Raumes, etwa den Umgang mit kolonialen Denkmälern und Straßennamen (Zwischenraum Kollektiv 2017). Auch an Universitäten spielt die Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten eine immer größere Rolle. Durch die Bewegungen Rhodes Must Fall und Fees Must Fall haben sich Debatten um eine Dekolonisierung von Bildung verstärkt, welche die Institution Universität und ihre materiellen wie nicht-materiellen Zugangsmöglichkeiten und Ausschlussmechanismen, aber auch den in den Curricula eingeschriebenen Eurozentrismus als koloniale Kontinuitäten problematisieren (Ketzmerick und Sydiq 2022; Bhambra et al. 2018; Ndlovu-Gatsheni 2018). Zudem umfasst Dekolonisierung unter anderem kollektive Heilungsprozesse, Praktiken des Benennens und der Erinnerung wie auch die Zentrierung von durch koloniale Gewalt verdrängte oder zerstörte Wissensbestände, Identitäten, Räume und Beziehungen. Dekoloniale Ansätze teilen neben der theoretischen Fundierung das ethische wie politische Bestreben, zu Heilung und gar zur Überwindung dieser Verhältnisse beizutragen, wenn auch durch verschiedene Strategien.

Eine umfassende Dekolonisierung geht auch mit den Forderungen nach Klimagerechtigkeit einher, da die menschengemachte planetare Krise durch den Kolonialismus als zugleich historisches und andauerndes Phänomen zumindest verschärft wird, wie es inzwischen sogar vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) anerkannt wurde (IPCC 2020). Im Kontext der planetaren Krise und der Debatten um Klimagerechtigkeit spielt daher auch die Dekolonisierung kolonialer, auf Ausbeutung beruhender, gesellschaftlicher Naturverhältnisse eine bedeutende Rolle.

2.1 Friedensbildung: Genese und Ausdifferenzierungen

Die moderne Friedensbildung ist aus Friedensbewegungen des 20. Jahrhunderts und in enger Verbindung mit der FuK in Europa hervorgegangen (Grasse et al. 2008, S. 8; Wulf 1973, S. 14). Die institutionelle Verankerung beider Felder lässt sich nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kontext des sich abzeichnenden atomaren Wettrüstens sowie der Konsolidierung der Europäischen Union verorten (Bhambra et al. 2020, S. 67). Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurde in der Präambel der UNESCO Charta von 1945 eine anspruchsvolle Ausrichtung für Bildung im Allgemeinen, und Friedensbildung im Speziellen formuliert: „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden“ (UNESCO [1945] 2022). Diese anfängliche Ausrichtung entsprach vor allem dem Modell einer pazifistischen Friedensbildung, in der Frieden ex negativo als Harmonie und Ordnung im Sinne einer Abwesenheit von Krieg verstanden wurde. Dabei stand die Vermittlung individualisierter Friedfertigkeit im Zentrum der Bildungsarbeit, bei der Konfliktfähigkeit, Kommunikation und Konfliktanalysekompetenzen zentrale Rollen spielen, um direkte (personale und kollektive) Gewalt zu vermeiden. Der Einfluss von Gewalt‑, Macht- und Herrschaftsstrukturen blieb zunächst ausgeblendet oder aber als „Zusammenhang zwischen individueller Konfliktbearbeitungskompetenz und der Ebene des kollektiven Unfriedens weitgehend ungeklärt“ (Seitz 2004, S. 69).

Mit der zunehmenden Rezeption kritischer Ansätze Anfang der 60er- und 70er-Jahre entfaltete sich eine Kritische Friedensforschung, wie auch – davon inspiriert – eine kritische Friedensbildung, die Frieden vor allem an der Reduktion von Gewalt ausrichtete und den Gewalt- und Friedensbegriff dabei erweiterte (Galtung 1969). Die Kritische Friedensbildung stellt seitdem also den Versuch dar, verschiedene Gewaltformen zu thematisieren, ihre Ursachen zu analysieren und zu ihrer Überwindung beizutragen. Sie zielt „auf die Bewusstseinsveränderung der Menschen und die damit zusammenhängende Veränderung gesellschaftlicher Unfriedensstrukturen durch politisches Handeln“ (Grasse et al. 2008, S. 11). In diesem Zusammenhang äußerten auch Friedensaktivist*innen wie Betty Reardon (1985) konkrete systemische Kritik aus feministischer Perspektive. Sie verknüpften Friedensbildung mit Analysen von Zusammenhängen zwischen Gewalt und Männlichkeit und trugen dazu bei, den Einsatz für Frieden mit dem Abbau des Patriarchats zusammenzudenken.

2.2 Friedensbildung und der decolonial turn

Für die sowohl historisch als auch disziplinär eng mit der FuK verwobene Friedensbildung bleibt der decolonial turn nicht ohne Folgen, zumal die systematische Produktion von Wissen und Bildungskonzepten über den, für den und zu dem modern-liberalen FriedenFootnote 3 einem konkreten historischen, geografischen und soziopolitischen Kontext entspringt. Dabei soll nicht außer Acht gelassen werden, dass es in vielen anderen Kontexten andere Formen der Friedensbildung jenseits modern-liberaler Verständnisse gegeben hat und gibt. Vor dem Hintergrund des decolonial turn treten Perspektiven hervor, die mit ihrer Kritik an modern-liberalen Friedensverständnissen ansetzen und so beispielsweise Frieden als „weißes Privileg“ (Diallo 2017, S. 328) sichtbar machen, problematisieren und andere Deutungsmöglichkeiten anbieten. Insbesondere im US-amerikanischen Kontext identifiziert beispielsweise Charisse Burden-Stelly die Schwarze Befreiungsbewegung als radikalen Schwarzen Friedensaktivismus (2018), der eine lange antikoloniale und antirassistische Tradition hat (Intondi 2015). Auch in Deutschland kritisiert das Decolonize-Bündnis die Unsichtbarmachung von Friedensaktivist*innen wie Audre Lorde und Fasia Jansen (ISD 2021). Zwar werden dekoloniale Perspektiven, die darauf hinweisen, in der FuK und der Friedensbildung im englischsprachigen Raum bereits etwas intensiver rezipiert (Archer et al. 2023). So sehen einige Autor*innen in der Kombination von kritischer Friedensbildung mit post- und dekolonialen Ansätzen eine Möglichkeit, dekoloniales Bewusstsein zu bilden (Hajir und Kester 2020; Williams 2017, S. 83). In der Gesamtbilanz ist die Theoretisierung einer dekolonial informierten Friedensbildung jedoch immer noch eher rückständig. So gibt es bei der Suche nach dekolonialen Ansätzen im einschlägigen Journal for Peace Education nur zehn Treffer, von denen sich drei auf den sogenannten transrationalen Ansatz als dekoloniale Option beziehen (Hajir und Kester 2020; Cremin et al. 2018).Footnote 4

Dekoloniale Perspektiven setzen sich mit der Dekolonisierung, also der Überwindung modern/kolonialer Strukturen, ein Ziel, von dem oft angenommen wird, es bestehe in der Rückkehr zu traditionellen, präkolonialen Wissens- und Seinsformen. Eine solche Rückkehr ist aus unserer Sicht jedoch damit nicht gemeint, da sie auf der binären, linearen Logik der kolonialen Moderne beruht und somit Gefahren der Romantisierung, Essentialisierung und des Kulturrelativismus birgt. Auch besteht Dekolonisierung aus mehr als nur dem Abschaffen von kolonialen Verhältnissen – sie hat vielmehr eine produktive Ausrichtung, auf die das otherwise hindeutet (Walsh 2018, S. 17). Es geht in privilegierten Kontexten etwa im deutschsprachigen Raum auch in der Friedensbildung also vielmehr darum, von der herrschaftskritischen Analyse der Begrenzungen, Ausschlüsse und der Gewaltförmigkeit des bestehenden modern/kolonialen Systems zu lernen, von ihm zu desinvestieren und gemeinsam an Alternativen zu arbeiten, während wir in ihm wirken.Footnote 5

Auf dieser Basis können in gemeinsamen Prozessen, die notwendigerweise über unsere Auseinandersetzung in diesem Text hinausgehen, Möglichkeiten des otherwise hervorgebracht werden, wie es das Gesturing Towards Decolonial Futures Collective (GTDFC) beispielsweise in Bezug auf ein Globales Lernen otherwise beschreibt (Gesturing Towards Decolonial Futures Collective 2019, S. 4). Es geht dabei auch nicht darum, das otherwise als bestmöglichen Horizont für dekolonial informierte Friedensbildung herauszustellen, sondern vielmehr darum, durch Kombination von dekolonialen Theorien und bestehenden Friedensbildungsansätzen, vor allem der Kritischen Friedensbildung, auf eine dekoloniale Option hinzuwirken (Mignolo 2011)Footnote 6. Die Komplexitäten von Friedensbildung können nämlich nicht erfasst werden „by any single approach, no matter how critical it alleges to be“ (Zembylas 2017a, S. 3).

Friedensbildung umfasst ein breites Spektrum „konzeptioneller Ansätze, didaktischer Modelle und praktischer Handlungsansätze, die alle auf den Zustand des Friedens ausgerichtet sind“ (Frieters-Reermann 2009, S. 62). Deshalb ist sie in besonderem Maße davon abhängig, wie Frieden definiert wird. Die theoretische Fundierung zentraler Begriffe und Grundannahmen erweist sich daher als wesentlicher Bezugsrahmen friedenspädagogischer Praxis, die es vor dem Hintergrund anhaltender kolonialer Verhältnisse kontinuierlich kritisch zu prüfen gilt. Dabei tritt auch das eigenen Eingebundensein in Gewalt(verhältnisse) deutlicher hervor, die es im Kontext einer dekolonial informierten Friedensbildung aufzudecken und zu reflektieren gilt, um daraus theoretische, politische und materielle Konsequenzen für Friedensbildung, aber auch für Forschung und Lehre der FuK abzuleiten.

Im Folgenden möchten wir mit der Kritik an modern-liberalen Friedensverständnissen aus dekolonialer Perspektive und einer Erweiterung des Gewaltbegriffs um die onto-epistemische Ebene zu einer theoretischen Fundierung einer dekolonial informierten Friedensbildung beitragen. Damit wollen wir zudem der immer wieder beklagten theoretischen Rückständigkeit der Friedensbildung begegnen (Wintersteiner 1999, S. 16), welche mitunter daran liegt, dass die Praxis der Friedensbildung ihrer eigenen Theoretisierung bisweilen weit voraus ist. Das dürfte auch auf dekoloniale (Friedens‑)Bildungspraktiken zutreffen, die eine lange Tradition haben, aber nicht immer unter dem Label Friedensbildung zu finden sind. Dekoloniale Widerstandskämpfe wurden immer auch von Analysen des Kolonialismus unterstützt, die in Form einer dekolonialen Bildungspraxis dabei halfen, die Gewalt‑, Macht- und Herrschaftsverhältnisse sichtbar und greifbar zu machen, gegen die sich der Widerstand richtete. Ansätze einer dekolonialen Friedensbildung finden überdies bereits teilweise in der Lehre der FuK Anwendung (Shroff 2018), die auch – insbesondere im Kontext der Ausbildung von Friedens- und Konfliktforscher*innen und -praktiker*innen – als Anwendungsfeld der Friedensbildung verstanden werden kann.

Es geht uns bei diesem Reflexionsangebot darum, aus der Auseinandersetzung mit dekolonialen Theorien entsprechende Konsequenzen für die Reflexion der Friedensbildung abzuleiten. Insofern ist es auch nicht unser Ziel, neue Gewissheiten zu schaffen, sondern „dominante Diskurse kontinuierlich in Frage zu stellen und auseinanderzunehmen, indem wir (neu) lernen, wie wir koloniale Kontinuitäten durch Wissensproduktion und -vermittlung sowie durch Handlungspraxen (re)produzieren“ (Ragunathan 2021, 56). Daher dient die theoretische Fundierung zuallererst dem Aufbrechen von Gewissheiten, um eine solche Friedensbildung denkbar werden zu lassen.Footnote 7 Sie kann als akademischer Verlernprozess aufgefasst werden, den wir in Kap. 4 näher beschreiben.

3 Frieden als Herausforderung einer dekolonial informierten Friedensbildung

Dekoloniale Theorien werfen sowohl für die FuK als auch für die Friedensbildung eine Vielzahl an Herausforderungen auf, von denen wir in diesem Beitrag vor allem eine aufgreifen. Sie ergibt sich aus kritisch-skeptischen Reflexionen über den Friedensbegriff, welcher der Friedensbildung einen normativen Bezugsrahmen zugrunde legt. Dieser wird durch dekoloniale Theorien auf mindestens drei Ebenen problematisiert: erstens hinsichtlich seiner normativen Ausrichtung in Form universeller Visionen für gesellschaftliches Zusammenleben, zweitens in Bezug auf die Gewaltformen, die Frieden zu reduzieren sucht, drittens hinsichtlich der Frage, ob und wie Frieden durch Bildungsmaßnahmen erreicht werden kann. Friedensbildung läuft Gefahr, zur Legitimation und Aufrechterhaltung eines von kolonialen Herrschafts‑, Gewalt- und Machtverhältnissen geprägten Status Quo beizutragen, wenn diese Verhältnisse nicht benannt und damit einer Bearbeitung zugänglich gemacht werden.

3.1 Die Kolonialität modern-liberaler Friedensvorstellungen

Friedensbildung hat eine herausfordernde Aufgabe, da der Anspruch an sie angelegt wird, durch transformative Bildungsprozesse zum Frieden beizutragen, so als sei Frieden bereits ein konsensualer, singulärer und universeller Wert (Schmid 1971, S. 38), der gelehrt und gelernt werden kann. Ziel der Friedenspädagogik sei „die Befähigung zur konstruktiven und gewaltfreien Konfliktaustragung. Friedenspädagogische Maßnahmen sollen Individuen sowie soziale Gruppen und Systeme in die Lage versetzen, Konfliktdynamiken zu erkennen, Konfliktpotenziale mit friedlichen Mitteln zu bearbeiten und Konflikteskalationen zu vermeiden“ (Frieters-Reermann 2017, S. 94). Diese in der Friedensbildung weitgehend anerkannte Definition (Jäger 2019, S. 134) orientiert sich an einem konkreten „prozessorientierten, positiven Friedensbegriff und einer Kultur des Friedens als Leitbild friedenspädagogischen Denkens und Handelns“ (Frieters-Reermann 2017, S. 94). Eine solche Ausrichtung an der Befähigung zur konstruktiven Konfliktaustragung und einer Kultur des Friedens sowie das dahinterstehende prozessorientierte Friedensverständnis lesen wir im Folgenden mit dekolonialen Theorien gegen den Strich, um im weiteren Verlauf auszuloten, welche Stoßrichtung demgegenüber eine dekolonial informierte Friedensbildung einnehmen kann.

Gerade in Hinblick auf die Prozessorientiertheit von Friedensbildung, die sich gegen eine Zielorientierung stellt und dabei an Langfristigkeit und gemeinsamen Lernprozessen ausrichtet, scheint es vor dem Hintergrund kolonialer Kontinuitäten noch Reflexionsbedarf zu geben. Eine solche Orientierung ist schließlich nicht gleichbedeutend mit Wertfreiheit, da Friedensverständnisse spezifischen Kontexten entspringen und vor diesem Hintergrund immer auch Aussagen über Idealformen gesellschaftlichen Zusammenlebens treffen. Auch prozessorientierte Friedensbildungsansätze entstehen und wirken in der kolonialen Moderne in einem von Herrschaft durchsetzten Raum und müssen sich meist an dessen Werteordnung sowie dem dort vorherrschenden Friedensbegriff orientieren. Während mit dem Prozesscharakter des Friedensbegriffs auf eine Offenheit abgestellt ist, die sich damit kontextsensitiv an Beziehungen und ungeschriebenen Regeln gewaltfreier Konfliktaustragung orientieren soll, wird Frieden gleichwohl als normatives Ziel in dieser Definition weder hinsichtlich seiner Normativität noch hinsichtlich seines Gehalts hinterfragt. Ein prozessorientierter Friedensbegriff läuft dabei Gefahr, Frieden zu einem leeren Signifikanten herabzustufen, der Frieden lediglich daran misst, ob Konflikte konstruktiv ausgetragen werden (Pauls und Rungius 2022).

Auch die Orientierung an einer konstruktiven Konfliktaustragung, bzw. -bearbeitung birgt normative Grundannahmen darüber, was als konstruktiv aufgefasst wird. Die Rahmenbedingungen modern-liberaler Werteordnungen geben – zumindest im hier erwähnten Kontext – vor, nach welchen Regeln sich eine konstruktive Konfliktbearbeitung abzuspielen hat, um als gelungen zu gelten. Wenn sich Friedensforschung vor allem an gelungener Konfliktbearbeitung misst, dann, so argumentiert die Kritische Friedensforschung, betreibt eine solche Friedensforschung tatsächlich die sogenannte „Befriedungsforschung“, die lediglich dem Erhalt des Status Quo zugutekommt (Senghaas 1971, S. 9). Diese Kritik lässt sich auch auf eine modern-liberale Friedensbildung übertragen, die mit dem Lernziel konstruktiver, gewaltfreier Konfliktbearbeitung zu einer Befriedungsbildung werden kann. Trotz vielfacher Kritik am (modern-)liberalen Friedensbegriff ist dieser hier oft noch vorherrschend (Richmond 2011). Wir nutzen den Begriff modern-liberal für den dominierenden, universalisierten Friedensbegriff, weil er an modernen Prinzipien (Vernunft, Aufklärung, Zivilisierung) und liberalen Grundwerten, wie beispielsweise individuellen Rechten, Rechtsstaatlichkeit und Ordnung sowie dem Vertrauen in die Macht des Marktes (Richmond 2011) ausgerichtet ist.

Diese modern-liberale Werteordnung spiegelt sich auch in der Anrufung einer Kultur des Friedens, die im weitesten Sinne solche Werteordnungen umfasst, die zu einer konstruktiven und gewaltfreien Bearbeitung von Konflikten beitragen und Gewalt ablehnen (Senghaas 2008, S. 28). Neben der konstruktiven Konfliktbearbeitung knüpft die Kultur des Friedens implizit an den Topos einer inhärenten Friedfertigkeit Europas an. Dieser wurde schon längst als Mythos entlarvt (Ehrmann 2021; Maldonado-Torres 2020; Mbembe 2019; Diallo 2017), erfährt aber durch den aktuellen Angriffskrieg auf die Ukraine eine Reaktualisierung, indem beispielsweise fälschlicherweise vielfach vom ersten Krieg in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Rede war (Bieß und Vondermaßen 2022). Sobald aber die Annahme der natürlichen Friedfertigkeit Europas und Nordamerikas mit einem herrschafts- und eurozentrismuskritischen Blick beispielsweise im Kontext des europäischen Grenzregimes geprüft wird (Ehrmann 2021), werden die impliziten Konnotationen der Begriffe Frieden und Kultur irritiert. Durch den Mythos einer Kultur des Friedens wird das Politische kulturalisiert und der Frieden entpolitisiert und pädagogisiert, um als individualisierter, pädagogischer Auftrag bestehende hegemoniale Machtstrukturen intakt zu lassen (Brunner 2010, S. 98). Darauf basierende Ansätze scheinen somit ihre normative Ausrichtung an modern-liberalen Friedensverständnissen und ihren etablierten Regeln zu verschleiern, indem sie den Friedensbegriff als universell, objektiv und neutral rahmen.

Nelson Maldonado-Torres (2020) hat den Begriff der Kolonialität des Friedens im Zuge der Kritik an Plünderungen im Rahmen der Black Lives Matter Proteste eingebracht. Mit dem Begriff macht er sichtbar, wie Friedensvorstellungen, in denen Frieden nur innerhalb einer bestehenden nationalstaatlichen Ordnung mithilfe von staatlicher Gewalt etabliert wird, im Dienst modern/kolonialer Herrschaft stehen. Vorstellungen von Recht und Ordnung, die historisch mit kolonialen Herrschaftsstrukturen einhergegangen sind, prägen solche staatszentrierten Friedensvorstellungen. So lässt sich auch kritisch analysieren, dass nationales und internationales Recht nicht universell und objektiv egalitär sind, sondern einer „Friedensideologie“ entsprechen, die hegemoniale Interessen im Namen des Friedens verankert und institutionalisiert hat (do Castro Varela Mar und Dhawan 2017, S. 242). In dessen Namen reproduziert sich auch das internationale (Rechts‑)System, da imperiale und koloniale Politik meist auf Basis völkerrechtlicher Grundlagen gerechtfertigt wird (Anghie 2006, 2004), die für sich beansprucht, die Sicherung oder Wiederherstellung von Frieden zum Ziel zu haben.

Wem der modern-liberale Frieden zuteil wird und wer von dessen gewaltvoller, kolonialer Unterseite betroffen und damit ausgeschlossen ist, hängt von diversen gewaltvoll etablierten, naturalisierten und aufrechterhaltenen konzeptuellen Grenzziehungen etwa entlang von Körpern, Gruppen, oder Staatsangehörigkeiten ab. Diese Grenzziehungen betreffen dabei nicht nur Menschen, sondern auch nicht-menschliche Lebewesen. Die Aneignung und Unterwerfung der Natur wird von dekolonialen Denker*innen als grundlegend für das koloniale Projekt und damit für die Genese der europäischen Moderne aufgefasst (Coronil 2000). Héctor Alimonda (2019) prägte dafür das Konzept der Kolonialität der Natur. Diese zeigt sich auf der Ebene der biophysikalischen Realität, die unter anderem von der durch Rohstoffabbau, Rodung von Wäldern und Etablierung von Monokulturen gewaltvoll veränderten Landschaften und Biodiversität unter anderem in den Amerikas gekennzeichnet ist (Alimonda 2019, S. 103). Dabei wurden auch die soziokulturellen Dynamiken, die gesellschaftliche Naturverhältnisse prägen, beeinflusst, was dazu führte, dass Landschaften und Ökosysteme nurmehr im Hinblick auf die Akkumulation natürlicher Ressourcen gedacht und zu diesem Zweck auch territorial neu gestaltet wurden, indem beispielsweise indigenes Land enteignet wurde (Alimonda 2019, S. 103). Natur wird in einem kolonialen Verständnis also kein Eigenwert und keine Handlungsmacht mehr zugesprochen; ihr Wert wird nur in direkter Abhängigkeit zur Nutzbarkeit für Menschen bemessen. Mit dem Konzept der Kolonialität der Natur wird deutlich, dass koloniale gesellschaftliche Naturverhältnisse auch moderne Friedensverständnisse beeinflussen, in denen ein anthropozentrisches, durch und für koloniale Herrschaftsstrukturen geprägtes, Verhältnis zur Natur vorherrschend ist. Hierbei wird allein der Mensch in den Mittelpunkt von Friedensbemühungen gestellt und so das Mensch-Natur-Verhältnis nur hinsichtlich seines konfliktiven Potenzials und dessen Folgen für den Menschen befragt (Krohn 2023). Aufgrund ihrer Einbettung in koloniale Herrschaftsstrukturen beruhen modern-liberale Friedensverständnisse also auf einer kolonialen Unterseite, die wir mit dem Begriff modern/koloniale Friedensverständnisse sichtbar machen wollen (Krohn und Pauls 2023; Pauls 2022).

Im Rahmen modern/kolonialer Friedensverständnisse wird Frieden also oft als Legitimationsinstanz staatlicher Gewalt instrumentalisiert und stabilisiert so – auch vermittelt durch Friedensbildung – koloniale Herrschaftsverhältnisse. Dies führt dazu, dass Menschen, die direkt oder indirekt von kolonialer Gewalt und deren Folgen betroffen sind, westlichen Enunziationen von Frieden immer skeptischer gegenüberstehen. Mahdis Azarmandi (2022, S. 613) verdeutlicht diese grundlegende Skepsis am Frieden und dessen Vermittlung anhand der pointierten Darstellung von Ngũgĩ wa Thiong’o (1983, S. 92):

  • A is sitting on B.

  • A is carried, fed, and clothed by B.

  • What kind of education will A want B to get?

Diese Skepsis dürfte auch darauf zurückführbar sein, dass institutionalisierte Friedensstrukturen in ihrer historischen Gewordenheit mit kolonialen Verhältnissen verwoben sind (Maldonado-Torres 2020). Für dekoloniale Autor*innen und Praktiker*innen ist es daher nötig, die koloniale Unterseite bestehender Vorstellungen von Frieden historisch-kritisch nachzuverfolgen (Cruz 2021; Suffla et al. 2020; Zembylas 2020). So lassen sich modern/koloniale Friedensverständnisse auf den Glauben an eine weiße Überlegenheit zurückführen, da sie vor allem in der kolonialen Begegnung europäischer Männer mit nicht-europäischen, zu Anderen gemachten Menschen entstanden sind. Durch den Prozess des Othering, im Deutschen beispielsweise als Ver-Anderung übersetzt (Reuter 2015),Footnote 8 wird das moderne, weiße Selbst durch die Abgrenzung und Abwertung der Anderen, die als von der weißen Norm abweichend verstanden werden, konstituiert. Diese Über‑/Unterordnung wurde – zunächst theologisch (Priesching und Grieser 2016), später auch naturwissenschaftlich-anthropologisch (Reimann 2017) und philosophisch (Därmann 2020) begründet – als Legitimationsgrundlage für die koloniale Expansion Europas ab dem 15. Jahrhundert herangezogen. Vor diesem Hintergrund sollten also Othering-Prozesse sowohl hinsichtlich der Definitionen von Frieden und Konflikt kritisch hinterfragt werden (Pauls und Rungius 2022), als auch hinsichtlich der Frage, inwieweit Friedensbildung und -forschung auf Othering-Prozessen beruhen und diese reproduzieren (Azarmandi 2018; Thattamannil-Klug 2015). Solche und ähnliche Fragen verweisen auf das Phänomen der onto-epistemischen Gewalt, auf das wir im Folgenden eingehen.

3.2 Onto-epistemische Gewalt als Strukturierungsmerkmal von Modernität/Kolonialität

In Anknüpfung an die Kritische Friedensbildung, die Friedensbildung als Beitrag zur Verringerung von Gewaltverhältnissen versteht, rückt mit dekolonialen Perspektiven neben dem Bestreben um die Reduktion personaler, kultureller und struktureller Gewalt (Galtung 1990; 1969) auch das Bestreben um die Reduktion epistemischer Gewalt in den Blick (Brunner 2020; Cremin et al. 2018). Wie eingangs beschrieben, deutet der für dekoloniale Theorien zentrale begriffliche Bezugsrahmen von Modernität/Kolonialität die Gleichzeitigkeit von zwei höchst gegensätzlichen Prozessen an: der Globalisierung der eurozentrischen Moderne, die mit Fortschritt und Entwicklung, Vernunft und Humanismus assoziiert wird (Modernität), und auf der anderen Seite ihrer gewaltsamen Unterseite der Kolonisierung, Versklavung, Ausbeutung und Enteignung (Kolonialität). Diese Gleichzeitigkeit ist nur aufgrund von epistemischen Gewaltformen der Verleugnung, Verdrängung, Zerstörung und des erzwungenen Vergessens von Wissensbeständen, Sprachen und Gesellschaftsformen Ver-Anderter möglich (Gesturing Towards Decolonial Futures Collective 2019, S. 3; Vázquez 2009).

Epistemische Gewalt (Brunner 2020; Spivak 1988) beschreibt diejenigen Gewaltformen, die bei der Entstehung, Ordnung, Anerkennung und Verbreitung von Wissen(schaft) ausgeübt werden und mit der Unterdrückung von anderen, als nicht-modern und damit nicht wissenschaftlich ausgewiesenen Wissensformen einhergehen. Sie dient der Aufrechterhaltung gewaltsamer gesellschaftlicher Verhältnisse, indem sie „besser sicht- und benennbare Formen der Gewalt“ (Brunner 2020, S. 272) durchzieht, diesen in vielerlei Hinsicht auch vorgelagert ist und sie somit ermöglicht, bzw. stabilisiert. Um dies anhand eines Beispiels zu verdeutlichen: Modern/koloniale Epistemologien sind durch ihre lineare Geschichtsauffassung mit einer gewaltvollen Politik der Zeitlichkeit verbunden, die der Herrschaftssicherung dient:

“Modern systems of domination are not just about material exploitation; they are also about a politics of time that produces the other by rendering it invisible, relegating the other to oblivion. There is an intimate connection between oblivion and invisibility. The destruction of memory, as a result of the modern politics of time produces invisibility. In turn, invisibility is tantamount to de-politicization” (Vázquez 2009, 2.2).

Anhand einer Dreiteilung von Zeitlichkeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird Kolonialismus als historische Epoche in die Vergangenheit geschoben und verdrängt, Moderne als Entwicklungsteleologie in die Zukunft überführt und die Gegenwart als einzig wahre, objektive Form des Realen interpretiert (Vázquez 2009, 2.12). Aber auch die Trennung und Hierarchisierung von Bevölkerungsgruppen erfolgt entlang dieser Logik: Der Entwicklungsstand nicht-europäischer Ver-Anderter wird an einer vermeintlichen europäischen Zivilisiertheit gemessen. Durch die damit einhergehende „denial of coevalness“ (Fabian 2014, S. 173) werden sie objektifiziert und als ‘rückständig’ der Sphäre der Vergangenheit zugeordnet. Wie sich anhand dieses Beispiels zeigt, ist epistemische Gewalt so tief verankert, dass sie sich über die Dimension des Wissens hinaus erstreckt und ontologische, die Welt konstituierende Konsequenzen nach sich zieht, sodass von onto-epistemischer Gewalt gesprochen werden kann. Damit ist eine spezifische koloniale Grammatik gemeint, also eine „interlinked ontology, epistemology and metaphysics“ (de Oliveira Andreotti et al. 2015, S. 22). Der Begriff onto-epistemisch verweist also auf die konzeptionelle Untrennbarkeit von Ontologie (Beschaffenheit der Welt) und Epistemologie (Wissen über die Welt).Footnote 9

Aïcha Azoulay bezieht sich mit dem Begriff „onto-epistemologische Gewalt“ beispielsweise auf die Gewalt, die durch Museen und Archive – allgemeiner gesprochen: Institutionen des Globalen Nordens – verübt wird. Sie besteht darin, dass kulturelle und spirituelle Objekte, die während der kolonialen Eroberung gesammelt und dort gelagert wurden, auch nach formaler Abschaffung von Versklavung und Kolonialherrschaft von den Menschen, zu denen sie gehören, getrennt bleiben und zum nationalen Erbe der Plünderer und ihrer Nachkommen gemacht werden (Azoulay 2021). Als onto-epistemische Gewalt kann auch die Trennung und Hierarchisierung von Menschen(gruppen) entlang von Zonen des Seins und Zonen des Nicht-Seins aufgefasst werden. Diese Trennung erfolgt aus dekolonialer Perspektive vor allem entlang rassifizierender Zuschreibungen, die intersektional mit weiteren Unterdrückungsstrukturen verschränkt sind (Grosfoguel 2016, S. 11). Zonen des Nicht-Seins ähneln „perpetual war zones where extreme violence and constant low-level violence are continually directed to colonized populations and those who are identified as their descendants“ (Maldonado-Torres 2016, S. 12). Frieden und die ihm zugeschriebene regelgeleitete, gewaltfreie Konfliktaustragung gilt de facto nur für Angehörige der Zonen des Seins und ist damit ein primär „weißes Privileg“ (Diallo 2017, S. 328), wie sich anhand des europäischen Grenzregimes nahezu täglich zeigen lässt.

Onto-epistemische Gewalt zieht sich durch modern-liberale Friedensverständnisse, beispielsweise durch die Ausblendung kolonialer Zusammenhänge ihrer eigenen Entstehungsgeschichte, durch ihnen eingeschriebene eurozentrische Grundannahmen, wie auch durch ihre angenommene Übertragbarkeit auf Kontexte des sogenannten Globalen Südens. In der Auseinandersetzung mit onto-epistemischer Gewalt rücken also auch Fragen nach der Beschaffenheit des Kanons der Disziplin in den Blick. Wer produziert Wissen über Frieden? Wer gilt als Expert*in und wessen Wissen wird nicht ernst genommen, abgewertet, oder unsichtbar gemacht? Welche Körper finden zu Institutionen der Wissensproduktion und der Bildung Zugang? Aus dekolonialer Perspektive ist es essentiell, sich diesen Fragen zu stellen und Perspektiven von Menschen zu zentrieren, die von (kolonialer) Gewalt betroffen sind. Ausgehend von diesen Erfahrungen kann Wissen über koloniale Verhältnisse, deren Auswirkungen, aber auch über Möglichkeiten ihrer Überwindung entstehen, auch da die oben beschriebene onto-epistemische Gewalt erst mit einer gewissen Exteriorität zum modern/kolonialen System erkenn- und benennbar wird (Dussel 2012, S. 33). Diese Exteriorität beschreibt Enrique Dussel als Merkmal, das angesichts der Moderne selbst hervorgebracht wurde, also kein essentieller Bestandteil bestimmter Kulturen ist. Es handelt sich um Menschen(-gruppen), die von anderen epistemischen Standpunkten aus sprechen und von der eurozentrischen Moderne abweichende Erfahrungen haben. Solch epistemische Verschiebungen, so sie denn angehört und ernst genommen werden, bringen etablierte Verständnisse von Frieden ins Wanken. Die US-amerikanische Black Alliance for Peace beispielsweise knüpft mit folgendem Friedensverständnis an den bereits erwähnten Radikalen Schwarzen Friedensaktivismus an:

“Peace is not the absence of conflict, but rather the achievement by popular struggle and self-defense of a world liberated from the interlocking issues of global conflict, nuclear armament and proliferation, unjust war, and subversion through the defeat of global systems of oppression that include colonialism, imperialism, patriarchy, and white supremacy” (Black Alliance for Peace o.J.).

Ein solches Verständnis, das unter Frieden die Befreiung von Unterdrückungssystemen auffasst, widersetzt sich den Prämissen modern-liberaler Friedensverständnisse, insbesondere ihrem Gebot der konstruktiven Konfliktbearbeitung. Es wirft entsprechend unbequeme Fragen bezüglich der Legitimität von Gewalt im Kontext von antikolonialer Selbstverteidigung auf, deren Bearbeitung allerdings den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde.

3.3 Ist Frieden erlernbar?

Mit dem Begriff der Transzendenz problematisiert Victoria Fontan (2012) die epistemologische Struktur, die modern-liberalen Friedenstheorien und damit auch Friedensarbeit und Friedensbildung zugrunde liegt. Transzendente Friedensvorstellungen beruhen ihr zufolge auf einem moralischen Dualismus (gut/schlecht), linearem Denken (Ursache/Wirkung), sowie der mechanistischen und technokratischen Auffassung, dass Frieden herstellbar, und damit erlernbar sei. Dies beinhaltet die Gefahr, binäres Denken zu reproduzieren, was mit Komplexitätsreduktion und der Gefahr von Polarisierung einhergeht. Diese Struktur richtet den Blick nicht auf das, was da ist, sondern auf das, was normativ erreicht werden soll. Doch es sind nicht (nur) intendierte Bildungsziele eines transzendenten Friedens, die Menschen in ihren Haltungen, Handlungen und alltäglichen Erfahrungen prägen. Im Gegenteil, „peace does not simply happen to people, but is embedded and felt in their everyday lives“ (Suffla et al. 2020, S. 344). Dem Modell der Transzendenz steht damit die Einsicht gegenüber, dass Frieden bereits auf lokaler Ebene besteht und nicht anhand eurozentrischer Werte anerzogen werden muss (Fontan 2012, S. 42). Damit rückt das Konzept der Immanenz in den Vordergrund, das auf die im Alltäglichen enthaltenen everyday peaces verweist (Mac Ginty 2021). Frieden ist also keine abstrakte Idee, die vermittelt werden muss, sondern eine Aktivität im Sinne einer täglichen aktiven Gestaltung von Gemeinschaft, die an Gewaltreduktion, oder gar an der Überwindung (kolonialer) Gewaltverhältnisse arbeitet und dabei in Werte- und Wissenssysteme der Handelnden eingebettet und als solche kenntlich zu machen ist.

Die Abkehr vom universalistischen, transzendenten Frieden hat bereits durch eine epistemische Pluralisierung von Friedensverständnissen im Kontext postmodernen Denkens (z. B. Frieters-Reermann 2009; Wintersteiner 1999; Dietrich und Sützl 1997) Einzug in die Friedensforschung und -bildung gehalten. Im Streben nach einer epistemischen Pluralisierung von Frieden ist es jedoch angesichts der onto-epistemischen Gewalt durchaus relevant, wie dies methodisch geschieht. Wenn etwa indigenes Wissen aus dem Kontext gerissen, von Akademiker*innen kooptiert, oder gar als neuer friedensphilosophischer Ansatz weißer Wissenschaftler*innen verkauft wird, dann steht dies potenziell sogar konträr zur Dekolonisierung. Gefahren von Aneignung, fehlerhafter Repräsentation, Erniedrigung oder auch Inklusion ohne Teilhabe und damit (epistemischer) Gewalt bestehen immer dann, wenn indigene Wissensbestände in modern/koloniale Institutionen und Theorien Einzug halten und sich ihrer Logik anpassen sollen (Stein et al. 2021, S. 20). Diese pluralen Friedensverständnisse werden durch ihre Loslösung von ihren ursprünglichen Kontexten und Wissensträger*innen potenziell wieder zu transzendenten Deutungsangeboten von Frieden, die in der Friedensbildung entpolitisiert und pädagogisiert werden. Ein Beispiel dafür ist die eingangs erwähnte transrationale Friedensphilosophie. Im transrationalen Ansatz wird zwischen fünf verschiedenen sogenannten Friedensfamilien unterschieden, die durch je eigene thematische Ausrichtungen gekennzeichnet sind: Harmonie, Gerechtigkeit, Sicherheit und Wahrheit. Die fünfte Friedensfamilie beansprucht mit dem transrationalen Frieden, alle diese Familien zu vereinen, indem die Rationalität der Moderne mit der spirituellen Relationalität sogenannter energetischer Frieden (im Plural) verbunden werde (Echavarría Álvarez 2014, S. 63). Die transrationale Friedensphilosophie verdeutlicht aus unserer Sicht jedoch die Gefahren, die dem Streben nach einer Überwindung moderner Friedensverständnisse und Gewaltformen zugrunde liegen: Sie verkennt die koloniale Unterseite modern-liberaler Friedensverständnisse und daraus erwachsender theoretischer wie materieller Konsequenzen und reproduziert dadurch koloniale Verhältnisse. Indem dieser Ansatz in wissenschaftlichen Diskursen mit einer Dekolonisierung von Frieden assoziiert wird, scheint es daher, als könne letztere allein durch eine Pluralisierung von Friedensverständnissen erreicht werden, ohne einer fundamentalen Auseinandersetzung mit den kolonialen Logiken der Wissensproduktion und ihrer materiellen Auswirkungen zu bedürfen.

Mit dem Konzept des Pluriversums (Kothari et al. 2019; Escobar 2017; Dussel 2012) hingegen, wird der modernen Ontologie des Universalismus – dem Credo der Zapatista folgend – eine Vielheit von anderen möglichen Welten entgegengesetzt, worauf das otherwise verweist: „Otherwise is a word that names plurality as its core operation, otherwise bespeaks the ongoingness of possibility, of things existing other than what is given, what is known, what is grasped“ (Crawley 2017, S. 24). Damit umfasst das Pluriversum vielfältige Onto-Epistemologien und damit einhergehende Konzepte und (politische) Praktiken der Friedensbildung. Die Idee der Pluriversalisierung ist kein kultureller Relativismus, vielmehr geht es um eine vernetzte Diversität, in der mehrere Onto-Epistemologien miteinander verflochten sind (Mignolo 2018b, X). Diese müssen nicht neu herbei theoretisiert werden – im Gegenteil lassen sich viele konkrete, bereits bestehende Konzepte, Weltsichten und Praxen sichtbar machen und aufgreifen, die teils lange Geschichten haben. Das Pluriversum ist damit nicht bloß Konzept, sondern Praxis (Kothari et al. 2019, XXXIV).

Kombiniert mit einer herrschaftskritischen Haltung gegenüber modern/kolonialen Strukturen lassen sich die immanenten, alltäglichen Frieden als dekoloniale Frieden denken, die zum Ziel haben, „to achieve a decolonized and deimperialized world in which a pluriversal humanity is made possible, and where Other knowledges, languages, symbologies, practices, paradigms and methodologies may be privileged in the creation of a more just and peaceful world“ (Suffla et al. 2020, S. 344). Auf systemischer Ebene geht damit einher, sich von Gewaltformen der kolonialen Moderne abzuwenden und so an den Möglichkeitsbedingungen für ein Pluriversum zu arbeiten, ohne im Zuge dessen auch gleich konkrete alternative Zukunftsvisionen einer Friedensbildung otherwise bereitstellen zu können. Das otherwise deutet auf diese Ergebnisoffenheit hin, die auch mit sich bringt, dass die ontologische Sicherheit einer transzendenten Vision dessen, wo es hingehen soll, als Illusion entlarvt und aufgegeben werden muss (Stein et al. 2017).

Eine dekolonial informierte Friedensbildung hat also zum Ziel, Frieden zu pluriversalisieren (Zembylas 2017b) und so der Transzendenz eine Immanenz von Frieden entgegenzusetzen, indem die real gelebte Vielfalt von Friedensverständnissen sichtbar gemacht und zugleich das modern/koloniale Machtgefälle problematisiert wird, das ihre Beziehungen zueinander strukturiert. Dies beinhaltet sowohl die Dezentrierung und aktive Demontage universalisierter eurozentrischer Vorstellungen von Frieden, als auch die Hervorhebung anderer Wissensbestände (Ndlovu-Gatsheni 2018, S. 80), die in der kolonialen Moderne marginalisiert, ab- und entwertet oder gar vernichtet wurden. Damit wiederum steht eine bewusste Repolitisierung von Frieden im Raum, die nicht nur theoretische, sondern politische und ganz konkrete materielle Änderungen ein- und erfordert. Es geht um den aktiven Abbau modern/kolonialer Strukturen in miteinander verflochtenen Widerstandskämpfen und in Solidarität mit ihnen. Diese Widerstandskämpfe sind auch Teil des Umgangs mit der allumfassenden Klima- und Biodiversitätskrise, wie es beispielsweise das Black Earth Kollektiv (2023) betont.

Für eine dekolonial informierte Friedensbildung geht es also darum, sich an der realen Vielheit dekolonialisierender Praxen auszurichten und sie als lebendige, dynamische Ressource für die Bildungsarbeit zu nutzen. Dabei ist es auch wichtig, dekoloniale Kritik an westlicher Bildung ernst zu nehmen und daraus zu lernen, da formalisierte Bildung nach westlichem Modell als ‘Zivilisierungsmission’ oft eine zentrale Aufgabe und Legitimationsquelle für den europäischen Kolonialismus darstellte, „deren genuin pädagogische Begründungsmuster man bis heute in abgewandelter Form als ‘civilizing mission’ in pädagogischen Programmatiken wiederfinden kann“ (Drerup und Knobloch 2021, S. 8).

4 Konturierungen einer dekolonial informierten Friedensbildung

Die theoretische Auseinandersetzung mit dekolonialen Perspektiven zur Fundierung einer dekolonial informierten Friedensbildung bleibt ohne Praxisbezug bedeutungslos. Daher verknüpfen wir im Folgenden unsere theoretischen Überlegungen mit einigen Beispielen aus der Praxis, insbesondere die Schaffung mutiger Lernräume (brave spaces), die auf einer dekolonialen Haltung, auf accountability, Fehlerfreundlichkeit und radikaler Hoffnung beruhen. Diese stellen wir als mögliche Eckpfeiler einer dekolonial informierten Friedensbildung in dem Wissen zur Diskussion, dass es weder die eine Friedensbildung otherwise gibt, noch dass wir sie im Kontext der von Kolonialität geprägten neoliberalen Institution Universität konzipieren und etablieren können. In dem Prozess inspirieren uns unter anderem Überlegungen des bildungslab*, eines Zusammenschlusses migrantischer Akademiker*innen und Akademiker*innen of Color aus dem pädagogisch-kulturellen Bereich (bildungslab* 2021). Für sie ist:

„das Chiffre ‘postkoloniale Bildung’ selbst ein Affront gegen das positivistische Wissenschaftsverständnis, in dem eine klare Definition als Grundlage und notwendige Bedingung jedes weiteren Forschens und Denkens gilt. Das Unklare (…) ist gemäß postkolonialer Epistemologien (…) kein Manko, sondern vielmehr Möglichkeitsbedingung einer doppelbödigen Reflexionsbewegung, die ersucht, Wissen zu schaffen, während sie gleichzeitig die Geltungsbedingungen ebenjenen ‘Wissens’ mitverschiebt. Ein Balanceakt, der ohne Selbstkritik zum Sturz führt“ (Boger et al. 2021, S. 15).

Insofern können Überlegungen zu einer dekolonial informierten Friedensbildung nicht bei der kritischen Hinterfragung von Konzepten stehen bleiben, da, wie Gutiérrez Rodríguez festhält, postkoloniale Kritik zu bloßer Rhetorik wird, „wenn sie Ideen von Praktiken trennt und ihr Endziel im Umformulieren von Konzepten statt der Transformation institutioneller Praktiken findet“ (2010, S. 49).

Auf dem Weg zur Friedensbildung otherwise ist es unabdingbar, sich den Theorie- und Praxisangeboten bereits bestehender Bildungsinitiativen zuzuwenden, die sich auf ähnliche Wissensbestände beziehen, aber deren Wirkungen sich – meist auch intentional – jenseits der Wissenschaft entfalten. Dabei ist an dieser Stelle auf das angesammelte Wissen und die Erfahrung zahlreicher bildungspolitischer Initiativen und Gruppierungen zu verweisen, die schon lange für solche Sensibilisierung- und Bildungsprozesse einstehen. Akteur*innen wie glokal e. V., die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD), ADEFRA e. V. – Schwarze Frauen in Deutschland, das Black Earth Kollektiv, Phoenix e. V., lokale Postkolonial-Gruppen, das bildungslab* und viele andere mehr arbeiten teils schon seit Jahren und Jahrzehnten für die Sensibilisierung und Transformation kolonialer und rassistischer Strukturen. Dass diese im wissenschaftlichen Diskurs zumeist nicht im Kontext der Friedensbildung verortet werden, lässt sich ebenso auf den modern/liberalen Friedensbegriff zurückführen. Solche Initiativen haben beispielsweise kolonialismus- und machtkritische Reflexionsprozesse bestehender (Friedens-)bildungspraktiken initiiert. Diese umfassen eine grundlegende Sensibilisierung für koloniale Verhältnisse und Strukturen, die Dekonstruktion kolonialer Grundannahmen und Praktiken, beispielsweise mithilfe von Reflexionstools wie HEADSUP und CIRCULAR,Footnote 10 wie auch kollaborative Erkundungen alternativer bzw. angepasster Praktiken.

Aus der theoretisch fundierten Kritik am Bestehenden lassen sich bildungspraktisch vor allem dekoloniale Verlernprozesse ableiten, die eine zentrale Stoßrichtung einer solchen Friedensbildung kennzeichnen. Tlostanova und Mignolo beschreiben dekoloniales Verlernen als Aufgabe „to forget what we have been taught, to break free from the thinking programs imposed on us by education, culture, and social environment, always marked by the Western imperial reason“ (Tlostanova und Mignolo 2012, S. 7). Die kritische Auseinandersetzung mit dem westlichen imperialen Verstand ist zentral, um die gewaltförmigen materiellen, sozialen und ökologischen Auswirkungen des gelernten Wissens bewusst zu machen. Das Einsetzen der Desillusionierung mit Modernität/Kolonialität erlaubt, sich bewusst dafür zu entscheiden, in modern/koloniale Bedürfnisse und Seinsweisen zu desinvestieren und stattdessen alternative Formen des Denkens, Wollens und Zusammenseins hervorzubringen. Solche Verlernprozesse sind nicht rein kognitiver Art, sondern adressieren neben Wissens- auch Bedürfnis- und Gefühlsstrukturen, die in Wechselwirkung mit dem modern-kolonialen System stehen und – so die Hoffnung – durch Verlernprozesse durchbrochen werden können.

Mit dem Blick auf onto-epistemische Gewalt wird deutlich, dass Modernität/Kolonialität sich nur aufgrund von Verleugnungs- und Verdrängungsprozessen reproduzieren kann: der Verleugnung von Gewaltformen, Verleugnung von ökologischer Nicht-Nachhaltigkeit, Verleugnung von Verflechtungen und Beziehungen (der eigenen, der Menschen zueinander, sowie mit der un/belebten Mitwelt) sowie der Verleugnung des Ausmaßes der durch die koloniale Moderne erzeugten Probleme (Gesturing Towards Decolonial Futures Collective 2019, S. 3). Solche Leugnungsmuster sind tief in die Affekt- und Bedürfnisstrukturen vieler Menschen (insbesondere im von Kolonialität profitierenden Globalen Norden) eingeschrieben, weil diese den Ist-Zustand überwiegend als gut empfinden und daher die Komplexitäten, Widersprüche und Kompliz*innenschaften ihres eigenen In-der-Welt-Seins nicht erkennen bzw. nicht aushalten können. Es ist daher Auftrag einer dekolonial informierten Friedensbildung, diese Verdrängungs- und Verleugnungsmuster einerseits zu benennen und andererseits mutige Räume zu schaffen, in denen diese bearbeitet werden können. In solchen Räumen wird es möglich, die in diesem Kontext verdrängten und verleugneten Zusammenhänge aufzudecken, auszuhalten und für sie Verantwortung (accountability) zu übernehmen. Für eine dekolonial informierte Friedensbildung geht es langfristig also mehr um das gemeinsame Lernen und Verlernen, als um Erziehung und Bildung im Sinne eines individualistischen Wissenserwerbs.Footnote 11

Im Folgenden werden die möglichen Eckpunkte für die Gestaltung von Lernräumen dekolonial informierter Friedensbildung konturiert.

4.1 Dekoloniale Haltung

Was wir als ausschlaggebenden Aspekt dekolonial informierter Friedensbildung verstehen, ist das Erlernen und Praktizieren einer dekolonialen Haltung, die Maldonado-Torres mit Fanon als Versuch interpretiert, „die Welt des Du“ zu kreieren (Maldonado-Torres 2008, S. 244), in der die ontologische Priorität der eigenen Identität zurückgestellt und „the perspectives and points of view of those whose very existence is questioned and produced as dispensable and insignificant“ (Maldonado-Torres 2008, S. 8) zentriert werden. Dekoloniale Theorien erweitern dieses „Du“ weg von einem anthropozentrischen, kolonialen (Natur‑)Verständnis, das den Menschen in seinem Herrschaftsanspruch zentriert, hin zu einem Verständnis, das den Menschen als Lebewesen inmitten vieler Lebewesen versteht (multispecies). Eine dekoloniale Haltung kann aus unserer Sicht unabhängig von der sozialen Position kultiviert werden, kann aber für verschieden positionierte Menschen unterschiedliche (Ver‑)Lernprozesse bedeuten. Für durch modern/koloniale Verhältnisse privilegierte Menschen können das Üben epistemischer Demut und die Anerkennung des Eingebundenseins in koloniale Verhältnisse genauso wie die des Ausmaßes der damit verbundenen Gewalt wichtige Aspekte dieser Haltung sein (de Oliveira Andreotti et al. 2015, S. 36). Sie ist nicht durch das einmalige oder mehrmalige Lesen relevanter Lektüre gewonnen und wird von uns nicht als kognitive Errungenschaft verstanden, die uns davor beschützt, Fehler zu machen, über lückenhaftes Wissen zu verfügen, oder gar davor, bestehende Gewaltformen zu reproduzieren. Daher erfordert sie insbesondere die beständige, reale Arbeit dekolonialen Denkens und vor allem auch Tuns, z. B. durch accountability oder Prozesse der Solidarisierung. Solidarisierung ist dabei keine passive, sondern eine transformative Handlung, die vor allem diejenigen Personen berührt, betrifft oder gar verändert, die sich aktiv mit anderen solidarisieren (Gaztambide-Fernández 2012, S. 54).

4.2 Mutige Räume

Für den Umgang mit der ständigen Produktion von Unsicherheit, Zweifel und Misstrauen bedarf es fehlerfreundlicher, relationaler und mutiger Räume (brave spaces). Die Abgrenzung von mutigen zu sicheren Räumen (safe spaces) ist im Rahmen universitärer Lernräume entstanden, als marginalisierte Studierende feststellten, dass sichere Räume Macht- und Ungleichheitsverhältnisse reproduzieren können, wenn Sicherheit mit Komfort und Wohlfühlen assoziiert wird und dadurch die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in Gewaltverhältnisse vermieden wird (Arao und Clemens 2013). Solch mutige Räume haben für unterschiedlich positionierte Lernende und Lehrende verschiedene Implikationen, etwa was Verletzlichkeit in Bezug auf bestimmte Themen betrifft. Für (in einem konkreten Kontext) Privilegierte könnte das Gefühl der Verletzlichkeit darin liegen, sich trotz Angst vor Fehlern auf ein Gespräch einzulassen, während es für (in dem gleichen Kontext) Deprivilegierte darin liegen kann, sich in Gesprächen verletzlich, bloßgestellt, frustriert und wütend zu fühlen. Während beispielsweise Empowerment- und Critical Whiteness-Räume zu bestimmten Phasen in Lernprozessen wichtige Funktionen einnehmen, gilt es für die angestrebte Überwindung kolonialer Binaritäten, an entscheidenden Punkten Räume zu schaffen, in denen auf Basis intersektionaler SensibilitätFootnote 12 eine gemeinsame Arbeit am otherwise möglich wird. In solchen Lernräumen ist es erforderlich, gemeinsam einige Regeln festzulegen, wie miteinander umgegangen werden soll. Grundlegend ist dafür die Absicht, Pluriversalität zu leben und Arbeit im Sinne der accountability und im Rahmen einer dekolonialen Haltung nicht auf Marginalisierte abzuwälzen.

4.3 Accountability

Von dekolonialen und abolitionistischen Ansätzen lässt sich die zentrale Bedeutung von accountability ableiten, die verschiedene Ebenen hat: intellektuelle, affektive, relationale, historische, politische, ökonomische und ökologische (Stein et al. 2021, S. 17). Diese Vielschichtigkeit entspricht der Einsicht, dass Kolonialität tief in all diese Ebenen eingeschrieben ist, nicht nur in die intellektuelle. Intellektuelle accountability bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit den epistemischen Grundlagen der friedenspädagogischen Arbeit und ihren Auswirkungen unter anderem im Kontext des Umgangs mit indigenem bzw. marginalisiertem Wissen. Auf affektiver Ebene stehen beispielsweise die eigenen Abwehrreaktionen im Zentrum, die mit der Leugnung von Kolonialität und der damit verbundenen Verstrickung in Gewalt(verhältnisse) einhergehen. Relationale accountability lenkt den Blick auf die Beziehungen zu indigenen, rassifizierten bzw. marginalisierten Gruppen und nicht-menschlichen Lebewesen und fragt nach Verteilung von Macht und Zugang zu bzw. Verteilung von Ressourcen, die Beziehungen strukturieren. Ökologische accountability bezieht sich auf die Kompliz*innenschaft mit der planetaren Krise, sowohl in Verbindung mit kolonialer Gewalt als auch auf der Suche nach Alternativen (Stein et al. 2021, S. 17–19). Diese Ebenen sind in der Praxis allerdings vielfach miteinander verwoben und bedürfen eines verantwortlichen, macht- und herrschaftskritischen Umgangs. Indem sich Lernende in einem relationalen Prozess gegenseitig zur Verantwortung ziehen und auf gewaltvolle Momente aufmerksam machen, geht es bei dem Prinzip der accountability um das wie des Umgangs mit Fehlern, nicht darum, dass Fehler gemacht wurden.

4.4 Fehlerfreundlichkeit

Mit Fehlerfreundlichkeit verstehen wir eine Haltung, von der aus Fehler, insbesondere die (un-) bewussten Reproduktionen von Gewalt in gemeinsamen Lernsettings, z. B. in Form von rassistischen, misogynen, sexistischen, oder klassistischen (neben anderen) Handlungen oder Aussagen, als Resultat einer modern/kolonialen Sozialisation gedeutet und als solche bearbeitet werden. Fehler können also kollektiven Lernprozessen dienen, indem sie auf oft versteckte koloniale Kontinuitäten hinweisen. Die vertrauensbildende Erarbeitung einer Atmosphäre der Fehlerfreundlichkeit ist Voraussetzung, um die weit verbreitete Angst, Fehler zu machen, aufzufangen und als gemeinsame Lernressource zu kanalisieren. Dabei kann es nicht um eine normative Bewertung eigener Lernerfolge gehen, sondern vielmehr um die Ausrichtung an gemeinsamen Lernprozessen. So sind beispielsweise Rituale der Landanerkennung (land acknowledgement), die in siedlerkolonialen Kontexten wie den USA oder Kanada inzwischen gängig sind, nicht intrinsisch gut (transformativ) oder schlecht (tokenistisch). Viel wichtiger als eine pauschale Bewertung solcher Aktivitäten ist die Frage, ob sie in ihrer konkreten Ausführung koloniale Muster reproduzieren oder transformative Bewegungen im Sinne von umfassender Dekolonisierung ermöglichen, bzw. auch materielle Veränderungen herbeigeführt werden (Stein et al. 2021, S. 16).

4.5 Radikale Hoffnung

Eine dekolonial informierte Friedensbildung bedarf insbesondere auch vor dem Hintergrund der planetaren Krise radikaler Hoffnung, um daran weiterzuarbeiten, ein über 500 Jahre gewachsenes System der Modernität/Kolonialität zu demontieren, das vermutlich den eigenen Lebenszyklus der Lernenden überdauern wird. Diese Hoffnung geht Hand in Hand mit Demut – dem Bewusstsein nämlich, dass es immer schon widerständige Praktiken gegeben hat, die wiederum einen Beitrag zum otherwise leisten, und dass eine solche Arbeit immer das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen ist. Sie erfordert es auch, das Bedürfnis nach Gewissheit darüber abzulegen, was raum-zeitlich nach Modernität/Kolonialität kommt und dennoch – im Sinne einer Immanenz von Frieden – Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam daran zu arbeiten.

5 Auf dem Weg zu einer Friedensbildung otherwise?

Auf Basis der unternommenen Analyse fassen wir nun unsere wesentlichen Erkenntnisse für eine theoretische Fundierung dekolonial informierter Friedensbildung zusammen, die sich am Horizont einer Friedensbildung otherwise ausrichtet. Wie beschrieben knüpft sie in vielerlei Hinsicht an Ansätze der Kritischen Friedensbildung an, die sich der Verringerung von personaler, struktureller und kultureller Gewalt widmen und damit umfassende Gesellschaftskritik leisten. Sie ergänzt diese, indem sie die onto-epistemische Natur der dem modern/kolonialen System eingeschriebenen Gewalt problematisiert. Ausgehend von einer grundlegenden Skepsis am modern-liberalen Friedensbegriff weisen dekoloniale Ansätze auf dessen historische Gewordenheit und Verstrickung in koloniale Praktiken und Gewaltverhältnisse hin. Sie beruhen also auf einer Anerkennung von Kolonialität als Unterseite der Moderne und werden von der radikalen Hoffnung angetrieben, andere Seinsweisen in den Mittelpunkt zu stellen, neue zu imaginieren und das modern/koloniale System im Kleinen oder Großen zu überwinden. Um das zu erreichen, strebt eine solche Friedensbildung nach Pluriversalisierung von Frieden, also der Sichtbarmachung ihrer gelebten Vielfalt bei gleichzeitiger Anerkennung bestehender Machtungleichgewichte, die zu einer Hierarchisierung von Friedensverständnissen geführt haben. Dekolonial informierte Friedensbildung setzt sich daher für eine Repolitisierung von Friedensverständnissen ein. Sie wendet sich auch von transzendentalen Ausrichtungen des Friedens ab und betont stattdessen immanente, alltägliche Enunziationen von Frieden, die nicht einfach nur den Menschen passiv widerfahren und die oft in einer utopischen Zukunft liegen, sondern die aktiv gestaltet werden und so in das Alltagsleben der Menschen eingebettet, spürbar und benennbar sind (Suffla et al. 2020, S. 344).

Das Weiterdenken und die Vertiefung der hier diskutierten Bildungsarbeit für Frieden mittels dekolonialer Theorien muss von einer ständigen kritischen Reflexion damit verbundener Gefahren wie der des ‚Hineinpressens‘ dekolonialer Bildungsarbeit in vorgefertigte eurozentrische Rahmungen (wie die der Friedensbildung) begleitet werden. Zudem darf die für dekoloniale Perspektiven grundlegende Verschränkung zwischen Theorie und Praxis nicht außer Acht gelassen werden – dekoloniale Theorie ohne Praxis reproduziert koloniale Kontinuitäten, weil sie ohne die zugrundeliegende Praxis beständiger antikolonialer Befreiungskämpfe und dekolonialer Arbeit nicht denkbar wäre und so inhärent politisch ist. Bildungsinstitutionen sind außerdem von vielfältigen Ausschlussmechanismen gekennzeichnet. Mutige Räume innerhalb des Systems stehen also nicht allen Menschen offen. Insbesondere für eine Friedensbildung otherwise gilt es also einerseits, an der Öffnung institutioneller Räume zu arbeiten und andererseits, Räume zu schaffen, die auch jenseits institutionalisierter Einrichtungen bestehen.

Vor dem Hintergrund der planetaren Krise stehen die beschriebenen Ansätze zudem massiven, grundsätzlichen Fragen gegenüber. Da die Bewohnbarkeit des Planeten selbst bedroht ist, läuft die Beschäftigung mit einer Friedensbildung otherwise Gefahr, von der eigentlichen Herausforderung abzulenken und damit die kolonialen Kontinuitäten der fehlenden Reaktion auf die menschengemachten Klima- und Biodiversitätskatastrophe zu reproduzieren. Eine Aufgabe für die Gegenwart und Zukunft liegt auch für die dekolonial informierte Friedensbildung darin, sich in ihrer weiteren Ausgestaltung vor allem bereits in dekolonialer Kritik angelegten Aspekten wie Klimagerechtigkeit, der Transformation kolonialer gesellschaftlicher Naturverhältnisse und den daraus resultierenden anthropozentrischen Friedensverständissen widmen. Solche und ähnliche weiterführende Diskussionen stellen die FuK, wie auch die Friedensbildung, weiterhin vor Herausforderungen, die – allen voran – gemeinsam weitergedacht werden müssen.