1 Einleitung

Wie sollten Lehren und Lernen gestaltet sein, damit Unterricht zu möglichst positiven Wirkungen führen kann? Mit dem Ziel, diese Frage zu beantworten, wurden in der quantitativ-empirischen Unterrichtsforschung Angebots-Nutzungsmodelle von Unterricht entwickelt (z. B. Helmke 2010). Die auf die Arbeit von Fend (1981) zurückgehenden Konzeptionen setzen sich mit der Analyse und Darstellung von Voraussetzungen, Prozessen und Ergebnissen des Lehrens und Lernens auseinander und bilden das komplexe Zusammenspiel vieler Faktoren auf verschiedenen Ebenen beim Lehren und Lernen ab. Mittlerweile ist eine Vielzahl an Weiterentwicklungen formuliert worden (u. a. Klieme et al. 2006; Kunter und Trautwein 2013; Vieluf et al. 2020). Ein zentrales Element, welches sich in der Namensgebung wiederfindet und in neueren Modellen zunehmend ausdifferenziert wurde, ist die im Konstruktivismus verankerte Vorstellung, dass Lernende aktive (Ko‑)Konstrukteure ihres eigenen Lernerfolgs sind. Die Wirksamkeit von Unterricht hängt den Modellen nach nicht nur davon ab, welche Lerngelegenheiten in der Schule angeboten werden, sondern auch davon, wie diese von den einzelnen Lernenden in Abhängigkeit ihrer individuellen Vorerfahrungen und Merkmale wahrgenommen und genutzt werden (Vieluf et al. 2020). Beispielsweise kann eine Lehrkraft die Alltagsnähe von Mathematik aufzeigen, indem sie den Lernenden eine Modellierungsaufgabe stellt, in der diese bestimmte Flächen, Höhen und Strecken berechnen müssen, um einen Parcours für ein Springturnier zu entwerfen. Es ist anzunehmen, dass sich Lernende in Abhängigkeit ihrer Pferdebegeisterung und eigener Erfahrungen unterschiedlich stark von dieser Aufgabenstellung angesprochen fühlen. Je nachdem, wie stark die Aufgabe das Interesse der Lernenden weckt, werden sie sie vermutlich mit unterschiedlich großem Engagement, Durchhaltevermögen und Intensität bearbeiten, was wiederum zu unterschiedlich ausgeprägten Lernergebnissen führen dürfte. Lernergebnisse sind dabei stets multikriterial zu verstehen, d. h. sie umfassen nicht nur Kompetenzerwerb und Leistungsentwicklung, sondern auch die Ausbildung selbstbestimmter Motivation, positiver Emotionen, selbstregulierten Lernens und weiterer überfachlicher und sozio-emotionaler Merkmale (Lazarides et al. 2019). Eine weitere zentrale Annahme der genannten Angebots-Nutzungsmodelle ist, dass Merkmale der individuellen Akteur*innen (Lehrende und Lernende) sowie der verschiedenen Ebenen des Kontexts (z. B. Bildungssystem, Einzelschule, Schulklasse, aber auch Peergroup, Familie, Gesellschaft) die individuelle Nutzung und damit verbundene Erträge von Bildungsangeboten mitbestimmen. Klieme (2018) resümiert entsprechend als Kernmerkmal des Angebots-Nutzungsmodells: „Inwieweit Lernen erfolgreich ist, Kompetenzen erworben werden, Bildung stattfindet, entscheidet sich in der Wechselwirkung zwischen Lehrenden, Gruppe und den einzelnen Lernenden mit ihren je individuellen Voraussetzungen“ (S. 394).

Zahlreiche Studien in der quantitativ-empirischen Unterrichtsforschung folgen zwar theoretisch den Angebots-Nutzungsmodellen, basieren jedoch auf retrospektiv erhobenen Schüler*innenwahrnehmungen von Unterrichtsmerkmalen (häufig pro Klasse aggregiert) oder Beobachtungsdaten auf Klassenebene, die mit Lernerfolgskriterien korreliert wurden (z. B. Fauth et al. 2014; Klieme et al. 2009; Seidel et al. 2006). Obgleich die Befunde solcher Studien wichtige Erkenntnisse zu Zusammenhängen zwischen Unterrichtshandeln und multikriterial definiertem Lernerfolg liefern, bleibt ihr Beitrag zum Verständnis des komplexen Wechselspiels zwischen Unterrichtsangebot, individueller Nutzung und Lernerfolg der einzelnen Lernenden im Sinne der Angebots-Nutzungsmodelle begrenzt.

An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an und verfolgt zwei Ziele: Zum einen soll die Validität retrospektiv erfasster und aggregierter Urteile über Unterrichtswahrnehmung, Nutzung und Motivation durch die Lernenden überprüft werden, indem untersucht wird, ob die subjektive Wahrnehmung des Unterrichtsangebots, der individuellen Nutzung und der Motivation von Lernenden im Verlauf des Unterrichts stabil bleibt (und damit eine solide Basis für retrospektive Urteile bildet) oder so variiert, dass sie auch durch interne Mittelwertbildung nicht sinnvoll abgebildet werden kann. Dazu wird sowohl die Varianz der Urteile zwischen den Zeitpunkten, Personen und Klassen analysiert (Fragestellung 1) als auch untersucht, ob es charakteristische Verläufe der Urteile für alle Lernenden gibt, die mit dem zeitlichen Verlauf einer Doppelstunde zusammenhängen, unabhängig vom konkreten Unterrichtshandeln (Fragestellung 2). Zum anderen soll die Wirkungsweise von Unterricht aufgeschlüsselt werden, indem Zusammenhänge zwischen wahrgenommenen Unterrichtsmerkmalen und Motivation, die über Personen hinweg vielfach nachgewiesen wurden (interindividuelle Ebene, z. B. Fauth et al. 2014; Rakoczy et al. im Druck), auch innerhalb von Personen in Abhängigkeit der spezifischen Situation untersucht werden (intraindividuelle Ebene, Fragestellung 3). Dabei wird die Erfüllung der im Rahmen der Selbstbestimmungstheorie (Ryan und Deci 2002) postulierten Bedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie als Form der individuellen Nutzung des LernangebotsFootnote 1 einbezogen und im statistischen Sinne als Mediatorvariable betrachtet (vgl. Rakoczy 2008; Rakoczy et al. 2013).

Um die beiden Ziele zu verfolgen, wurden Lernende mittels Experience-Sampling-Methode (Mehl und Conner 2011) zu zehn Zeitpunkten während zweier Doppelstunden Kunstunterricht zu folgenden Aspekten befragt: a) ihrer subjektiven Wahrnehmung des Kunstunterrichts anhand ausgewählter Aspekte der Unterrichtsqualität, b) der Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach Autonomie und Kompetenz als Indikatoren der individuellen Nutzung des Lernangebots und c) zu ihrer selbstbestimmten Motivation als Indikator für Lernerfolg. Im Folgenden wird zunächst auf relevante Unterrichtsqualitätsdimensionen im Kunstunterricht eingegangen, bevor die Bedeutung und Unterstützung von Motivation im Kunstunterricht dargestellt wird und schließlich die Nutzung der Experience-Sampling Methode in der Unterrichtsforschung beschrieben wird.

2 Unterrichtsqualität im Fach Kunst

Lernen im Kunstunterricht kann verstanden werden als „ein leib-sinnliches, reflexives Lernen in einer rezeptiven, gestalterischen, bildnerischen oder gar künstlerischen Auseinandersetzung bezogen auf die Wahrnehmungs‑, Vorstellungs‑, Darstellungs- und Mitteilungsfähigkeit“ (Berner 2016, S. 2; vgl. auch Krautz 2015). Wie kann ein solch komplexer und vielschichtiger Lernprozess durch unterrichtliches Handeln angeregt werden? Mit dieser Frage hat sich die Kunstdidaktik intensiv beschäftigt. Allerdings ist die in Kernfächern etablierte Kompetenzorientierung und die empirische Untersuchung von Kunstunterricht anhand der in der allgemeinen Unterrichtsqualitätsforschung entwickelten Kriterien schwierig bzw. nach Ansicht einiger Fachdidaktiker*innen sogar unvereinbar mit den spezifischen Charakteristika des Faches (vgl. z. B. Parmentier 2011). Vor allem die implizite Widersprüchlichkeit des Faches, also die Tatsache, dass häufig nicht eindeutig und intersubjektiv festgelegt werden kann, was richtig und was falsch bzw. was gut und was schlecht ist, wird als Herausforderung benannt (Rakoczy et al. 2021). In der Fachdidaktik Kunst gilt als Konsens, dass neben den in Kernfächern angestrebten und selbstverständlich mehrdimensionalen Bildungswirkungen bei Lernenden (z. B. Vieluf et al. 2020) im Kunstunterricht vor allem ein Möglichkeitsraum für sinnlich-ästhetische Wahrnehmung, Erfahrung und Erleben entstehen soll (z. B. Schmidt 2016).

Zur Beantwortung der Frage, wie komplexe und vielschichtige Lernprozesse im Kunstunterricht gefördert werden können, erscheint es sinnvoll, Merkmale lernförderlichen Kunstunterrichts, wie sie in der Kunstdidaktik identifiziert wurden, mit Qualitätskriterien aus der allgemeinen Unterrichtsforschung zu verbinden und daraus eine fachspezifische Ausgestaltung der allgemeinen Qualitätskriterien abzuleiten. So haben z. B. Rakoczy et al. (2021) die Bezüge zweier zentraler (deutschsprachiger) kunstdidaktischer Quellen zu den sieben von Praetorius und Charalambous (2018) entwickelten Dimensionen allgemeiner Unterrichtsqualität herausgearbeitet. Zum einen wurde die Konzeption von Berner (2016) herangezogen, da sie acht für das Fach Kunst formulierte Qualitätsdimensionen beschreibt, die ihrerseits ausgehend von den drei allgemeinen Qualitätsdimensionen kognitive Aktivierung, Klassenführung und konstruktive Unterstützung (Klieme und Rakoczy 2008) unter Einbezug von in der einschlägigen Literatur genannten Unterrichtsmerkmalen (zusammenfassend Hattie 2009; Helmke 2015) entwickelt wurden. Zum anderen galten die von Kirchner und Kirschenmann (2015) beschriebenen Elemente didaktischen Handelns aufgrund ihrer weiten Verbreitung und breiten Akzeptanz innerhalb der Kunstdidaktik als zentrale Quelle. Die sieben von Praetorius und Charalambous (2018) entwickelten Dimensionen allgemeiner Unterrichtsqualität haben sich u. a. aus dem im deutschsprachigen Raum formulierten Modell der drei Basisdimensionen von Unterrichtsqualität – Klassenführung, kognitive Aktivierung und konstruktive Unterstützung (z. B. Klieme 2018; Praetorius et al. 2018) – entwickelt (siehe Praetorius et al. 2020).

In Tab. 1 werden die von Berner (2016) sowie Kirchner und Kirschenmann (2015) angenommenen fachdidaktischen Qualitätskriterien und die sieben Aspekte der allgemeinen Unterrichtsqualitätsforschung gegenübergestellt (vgl. Rakoczy et al. 2021). Neben vielen Gemeinsamkeiten zeigt sich beim Vergleich der beiden kunstdidaktischen Ansätze, dass die von Berner (2016) herausgestellte Bedeutung bewussten Übens von Kirchner und Kirschenmann (2015) beispielsweise nicht geteilt wird. Darüber hinaus wird auch deutlich, dass sozio-emotionale Unterstützung in der Konzeption von Kirchner und Kirschenmann (2015) nicht explizit mitgedacht ist.

Tab. 1 Gegenüberstellung zweier kunstdidaktischer Ansätze und dem Ansatz aus der allgemeinen Unterrichtsqualitätsforschung von Praetorius und Charalambous. (Tabelle aus Rakoczy et al. 2021)

Die Gegenüberstellung der aus kunstdidaktischer Sicht relevanten Unterrichtsmerkmale mit den sieben in der allgemeinen Unterrichtsqualitätsforschung entwickelten Dimensionen zeigt, dass die von Praetorius und Charalambous (2018) vorgenommenen Erweiterungen des im deutschsprachigen Raum häufig zugrunde gelegten Modells der drei Basisdimensionen (Praetorius et al. 2018) für den Kunstunterricht prinzipiell passend sind. Es werden jedoch auch Unterschiede sichtbar: Beispielsweise machen die beiden kunstdidaktischen Quellen deutlich, dass kognitive Aktivierung, wie sie für den Mathematikunterricht konzipiert wurde, dem Unterrichtsgegenstand im Fach Kunst nicht gerecht wird bzw. alleine nicht ausreicht, um eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand in diesem Fach zu erreichen. Die Ermöglichung von (ästhetischen) Erfahrungen und emotionalem Erleben spielt z. B. eine zentrale Rolle (vgl. z. B. Schmidt 2016). Generell wird die Notwendigkeit einer gezielten Schwerpunktsetzung und inhaltlichen Spezifizierung der Unterrichtsmerkmale für den Kunstunterricht deutlich (vgl. Rakoczy et al. 2021). Erste Versuche, die aus der allgemeinen Unterrichtsforschung bekannten Dimensionen der Unterrichtsqualität kunstdidaktisch zu spezifizieren und empirisch zu untersuchen, wurden auch von Rakoczy et al. (im Druck) vorgenommen. Die Ergebnisse sprechen ebenfalls für eine grundsätzliche Eignung der Qualitätsdimensionen, unterstreichen jedoch weiterhin die Notwendigkeit einer fachspezifischen Ausdifferenzierung der Dimensionen unter Berücksichtigung der Vielschichtigkeit und Komplexität des Lernprozesses in Kunst und der Besonderheiten des Lerngegenstands.

In der vorliegenden Studie konnten aus forschungspraktischen Gründen nur wenige Qualitätsdimensionen untersucht werden. Der Fokus wurde auf die drei grundlegenden Qualitätsbereiche der klassischen Basisdimensionen gelegt, die unter Bezug auf die kunstspezifisch geprägten Dimensionen des erweiterten Modells von Praetorius und Charalambous (2018) formuliert wurden: a) organisierte Durchführung des Unterrichts sowie klare und strukturierte Thematisierung von Inhalten (intendiertes Unterrichtshandeln), b) kognitive und emotionale Aktivierung, c) unterstützendes bzw. kreativitätsförderndes Klima.

3 Motivation im Kunstunterricht

Motivation und Interesse gelten neben fachlichen und überfachlichen Kompetenzen als eigenständige Ziele von Unterricht (Kunter 2005; Lazarides et al. 2019). Besonders erstrebenswert ist dabei die intrinsische oder selbstbestimmte Motivation, also eine positive und freudvolle Erlebensqualität während einer (Lern‑)Handlung (Ryan und Deci 2002). Bei selbstbestimmter Motivation liegen die angestrebten Zielzustände vor allem in der Tätigkeit selbst, der Wert der Handlung wurde internalisiert. Der Handlungsvollzug wird also als angenehm und positiv erlebt und ist kongruent zu den Zielen der Person. Selbstbestimmte Motivation bestimmt maßgeblich, ob eine Person eine (Lern‑)Handlung wieder initiiert und mit welcher Intensität und Persistenz sie diese ausführt (Vollmeyer und Rheinberg 2000). Sie ist für den Kunstunterricht besonders relevant, weil davon auszugehen ist, dass Lernende durch das Erleben von selbstbestimmter Motivation während des Kunstunterrichts auch außerhalb des Unterrichts eher künstlerisch aktiv sind und/oder kulturelle Bildungsangebote nutzen (Kröner und Dickhäuser 2009), was ihnen wiederum weitere ästhetische Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur ermöglicht und sie darüber zumindest potenziell in ihrer Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung stärkt (Stuckert et al. 2018).

Erkenntnisse darüber, wie stark das motivationale Erleben im Verlauf des Kunstunterrichts variiert, sind besonders relevant für die Unterrichtsforschung, weil bereits eine einzelne positive Ausprägung der Motivation im Sinne der catch-Komponente der situationalen Motivation nach Mitchell (1993) oder Hidi und Harackiewicz (2000) eine positive Motivationsentwicklung anstoßen kann. Catch beschreibt situationales Interesse, das durch externale Faktoren ausgelöst wird. Es kann in hold, also das über mehrere Phasen andauernde situationale Interesse, und schließlich in stabiles individuelles Interesse überführt werden, wenn die Lernhandlung mit positiven emotionalen Erfahrungen verbunden ist (Krapp 2002).

4 Erfüllung der Bedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie im Kunstunterricht

Die wahrgenommene Unterrichtsqualität hat sich auf interindividueller Ebene als wichtiger Prädiktor für die selbstbestimmte Motivation von Lernenden im Kunstunterricht erwiesen (Rakoczy et al. im Druck). Zur Erklärung der Wirkung von Unterrichtsmerkmalen auf die Motivation kann die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (z. B. Ryan und Deci 2002) herangezogen werden. Im Zentrum der Selbstbestimmungstheorie steht die Annahme, dass Menschen ein natürliches, angeborenes Bedürfnis haben, ihre Fähigkeiten und Interessen aktiv auszuprobieren und neue Erfahrungen zu machen (Deci und Ryan 1991; Ryan und Deci 2002). Gleichzeitig streben sie danach, ein kohärentes Selbst zu entwickeln, indem sie versuchen, die verschiedenen Aspekte des eigenen Selbst miteinander in Einklang zu bringen. Sie bemühen sich, neu gelernte Inhalte sinnvoll in ihre bereits vorhandenen Wissensstrukturen und Repräsentationen zu integrieren. Diese konstruktive Tendenz hin zu Wachstum und Selbstintegration wird als organismische Integration bezeichnet. Entwicklungs- und Lernkontexte unterscheiden sich darin, inwiefern sie diese angeborene Tendenz unterstützen oder untergraben. Der Theorie zufolge liefert insbesondere die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und sozialer Eingebundenheit die energetische Grundlage für die organismische Integration (z. B. Deci und Ryan 1993). Ein Lernkontext, in dem Lernende sich selbst als kompetent erleben, dabei autonome Entscheidungen treffen können und sich gleichzeitig sozial zugehörig fühlen, ermöglicht es dem Individuum, sich mit Inhalten und Zielen zu identifizieren und schließlich selbstbestimmte Formen der Handlungsregulation zu entwickeln. Umgekehrt ist der Theorie zufolge Bedürfnisfrustration mit Desinteresse, Abkehr von Inhalten, einer kontrollierenden Kausalitätsorientierung und externalen Zielen verbunden (Niemiec et al. 2010; Ketonen et al. 2017). Insbesondere die Bedeutung der Erfüllung der Bedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie für die Wirkung von Unterrichtsmerkmalen auf die Motivation von Lernenden konnte in anderen Fächern bereits empirisch nachgewiesen werden (z. B. Mouratidis et al. 2013; Rakoczy et al. 2013).

5 Die Experience-Sampling Methode in der Unterrichtsforschung

Um individuelle Einschätzungen in konkreten Situationen zu erfassen, haben sich in der psychologischen Forschung Verfahren des ambulanten Assessments, z. B. die Experience-Sampling Methode bewährt (Mehl und Conner 2011). Der Einsatz von Kurzbefragungen, die in der Regel über Smartphones oder Tablets zu mehreren Zeitpunkten in vorbestimmten Situationen administriert werden, minimiert aufgrund retrospektiver Erfassung entstandene Verzerrungen (Hektner et al. 2007). Mittlerweile findet diese Methode auch in der Unterrichtsforschung Anwendung und es wurden erste Studien zur Untersuchung kognitiver (z. B. Dirk und Schmiedek 2016), motivationaler (z. B. Martin et al. 2015; Malmberg et al. 2015) und emotionaler Prozesse (z. B. Götz et al. 2013a) vorgelegt. Erste Studien zeigen, wie die Erfüllung des Bedürfnisses nach Autonomie im Unterrichtsverlauf (Patall et al. 2018) oder die Erfüllung aller drei Grundbedürfnisse beim Musizieren als kultureller Praxis (Koehler und Neubauer 2020) erfasst und analysiert werden können.

Diese Studien liefern Hinweise darauf, wie stark die Einschätzungen von Lernenden zwischen verschiedenen Messzeitpunkten variieren. Wahrgenommene Unterrichtsmerkmale scheinen relativ stark zwischen den verschiedenen Messzeitpunkten innerhalb der Personen zu schwanken (Götz et al. 2013a), wobei sich in dieser Studie die verschiedenen Messzeitpunkte auch auf verschiedene Schulfächer beziehen. Patall et al. (2018) berichten, dass je nach betrachteter Verhaltensweise 39 bis 56 % der Varianz des wahrgenommenen autonomieunterstützenden Lehrkraftverhaltens zwischen verschiedenen Tagen liegen. Zwischen den Lernenden liegt noch einmal ungefähr der gleiche Varianzanteil, während die Varianz zwischen verschiedenen Klassen einen geringeren Anteil ausmacht (3–16 %). In Bezug auf die Motivation sind es 29 % der Varianz, die zwischen den Zeitpunkten liegen, 66 % zwischen den Lernenden und 15 % zwischen den Klassen. Die Autor*innen folgern aus diesen Ergebnissen, dass die Einschätzung des Lehrkraftverhaltens und der Motivation der Lernenden von Tag zu Tag über die Dauer einer Unterrichtseinheit substanziell variiert. Martin et al. (2015) kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Sie haben die Varianzkomponenten der Motivation auf vier Ebenen separiert: zwischen Zeitpunkten innerhalb von Tagen, zwischen Tagen, zwischen Wochen und Schüler*innen. Sie fanden substanzielle Unterschiede zwischen verschiedenen Zeitpunkten innerhalb eines Tages (23 %) und zwischen Lernenden (67 %). Zwischen Tagen (3 %) und zwischen Wochen (6 %) waren die Unterschiede weniger deutlich. Dabei konnten keine linearen oder non-linearen Entwicklungen über Tage oder Wochen identifiziert werden. Die Autor*innen schlussfolgern aus diesen Ergebnissen, dass zur optimalen Unterstützung und Aufrechterhaltung von Motivation und Engagement jeder Moment an jedem Tag und für jede*n Schüler*in zählt („every moment of every day for every student matters“, Martin et al. 2015, S. 26).

Hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen Unterrichtsmerkmalen und motivationalem und emotionalem Erleben zeigt sich, dass der Faktor supportive presentation style in der Studie von Götz et al. (2013a) auf intraindividueller Ebene positiv mit positivem emotionalem Erleben und negativ mit Langeweile der Lernenden verknüpft ist, während sich mit dem Faktor excessive lesson demands ein umgekehrtes Muster zeigt. Diese Zusammenhänge zeigten sich in sehr ähnlicher Weise über vier verschiedene Unterrichtsfächer. Auch bei Patall et al. (2018) wurden intraindividuelle Zusammenhänge zwischen autonomieunterstützendem Unterrichtshandeln und autonomer Motivation bzw. autonomiebedrohendem Verhalten und kontrollierter Motivation nachgewiesen. Koehler und Neubauer (2020) schließlich fanden neben interindividuellen Zusammenhängen auch intraindividuelle indirekte Effekte vom Musikmachen auf positiven Affekt, vermittelt über die Erfüllung der Bedürfnisse nach Autonomie und Kompetenz.

Studien, die Unterrichtsqualitätswahrnehmung, Erfüllung der Bedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie als Indikatoren für die individuelle Nutzung der Lerngelegenheit und Motivation nicht nur zu mehreren Zeitpunkten während einer Unterrichtseinheit, sondern im Verlauf einer Unterrichts(doppel)stunde erfassen und abbilden sowie entsprechende intraindividuelle Zusammenhänge untersuchen, stehen bisher noch aus. Solche Erkenntnisse würden helfen, das Wechselspiel zwischen wahrgenommenem Unterrichtsangebot, individueller Nutzung des Angebots und Motivation im Sinne der Angebots-Nutzungsmodelle aufzuschlüsseln. Dadurch dass sichtbar wird, wie das Unterrichtsangebot in unterschiedlicher Weise mit der Bedürfniserfüllung und Motivation verknüpft ist, werden Schlussfolgerungen darüber möglich, wie der Unterricht möglichst motivationsförderlich für unterschiedliche Lernende gestaltet werden kann.

6 Fragestellungen

Mit der vorliegenden Studie werden zwei Ziele verfolgt. Zunächst wird untersucht, ob und ggf. wie stark die Wahrnehmung der Qualität des Unterrichtsangebots, die individuelle Nutzung und die Motivation von Lernenden zwischen Zeitpunkten im Unterricht, Lernenden und Klassen variieren und ob es charakteristische Verläufe der Urteile über die Zeitpunkte für alle Lernenden gibt. Darüber hinaus wird untersucht, ob wahrgenommene Unterrichtsqualität nicht nur auf interindividueller, sondern auch auf intraindividueller Ebene mit selbstbestimmter Motivation als zentralem Zielkriterium von Unterricht einhergeht. Dabei wird auch untersucht, ob der Zusammenhang durch die Erfüllung der im Rahmen der Selbstbestimmungstheorie postulierten Bedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie als Form der individuellen Nutzung des Lernangebots erklärt werden kann.

Diese Ziele wurden durch Einsatz der Experience-Sampling Methode im Kunstunterricht verfolgt und die Daten wurden hinsichtlich folgender drei Fragestellungen analysiert:

  1. 1.

    Wie stark variiert die wahrgenommene Unterrichtsqualität (hinsichtlich der Bereiche intendiertes Unterrichtshandeln, kognitive und emotionale Aktivierung, unterstützendes bzw. kreativitätsförderndes Klima, vgl. Abschn. 2), die Erfüllung der Bedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie und die selbstbestimmte Motivation zwischen verschiedenen Zeitpunkten während des Kunstunterrichts, zwischen Lernenden und zwischen Klassen?

    Aufgrund der bereits vorliegenden Befunde zur intraindividuellen Variation von Unterrichtswahrnehmung, Bedürfniserfüllung und Motivation wird für alle drei Konstrukte erwartet, dass der größte Varianzanteil zwischen den Zeitpunkten innerhalb einer Person liegt, die geringste Varianz wird auf Klassenebene erwartet. Dabei wird angenommen, dass der Varianzanteil der Motivation zwischen den Personen etwas größer ist, d. h. die Motivation einer Person sollte etwas weniger stark zwischen den Zeitpunkten variieren als deren Unterrichtswahrnehmung und Bedürfniserfüllung.

  2. 2.

    Wie entwickeln sich Unterrichtswahrnehmung (hinsichtlich der Bereiche intendiertes Unterrichtshandeln, kognitive und emotionale Aktivierung, unterstützendes bzw. kreativitätsförderndes Klima), Bedürfniserfüllung und Motivation von Lernenden im Verlauf zweier Doppelstunden im Kunstunterricht? Gibt es charakteristische Verlaufsformen der jeweiligen Konstrukte in den Doppelstunden?

    In Bezug auf die Variation der Ausprägung der Konstrukte in den beiden Unterrichtsdoppelstunden werden keine spezifischen Hypothesen aufgestellt, sondern der Verlauf wird explorativ modelliert.

  3. 3.

    Zeigen sich auf intraindividueller Ebene die auf interindividueller Ebene bereits nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen Unterrichtswahrnehmung (hinsichtlich der Bereiche intendiertes Unterrichtshandeln, kognitive und emotionale Aktivierung, unterstützendes bzw. kreativitätsförderndes Klima), Bedürfniserfüllung und Motivation?

    Sowohl auf inter- als auch intraindividueller Ebene werden Zusammenhänge zwischen Unterrichtswahrnehmung und selbstbestimmter Motivation erwartet. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass die Erfüllung der Bedürfnisse nach Autonomie und Kompetenz diese Zusammenhänge vermittelt.

7 Methode

Die vorliegende Studie ist Teil des BMBF-geförderten Verbundprojekts Bildkompetenz in der Kulturellen Bildung (BKKB), welches vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und der HSD Hochschule Döpfer gemeinsam durchgeführt wurdeFootnote 2. Ein Überblick über die Anlage des Verbundprojekts findet sich bei Frick et al. (2020) oder Rakoczy et al. (2019).

7.1 Stichprobe

An der Studie nahmen 222 Schüler*innen aus neun Klassen der 9. und 10. Jahrgangsstufe in Hessen und Nordrhein-Westfalen teil. Schulen aller Schulformen wurden kontaktiert, um in die Stichprobe einbezogen zu werden. Die Teilnahme war für die Schulen freiwillig und es erklärten sich sieben Gymnasialklassen (N = 175) und zwei Klassen Integrierter Gesamtschulen (N = 47) bereit, an der Studie teilzunehmen. Von den Lernenden waren 41,9 % weiblich und das mittlere Alter betrug 15,15 Jahre (SD = 0,82).

7.2 Ablauf der Untersuchung

Die Datenerhebung erfolgte im Zeitraum von September 2018 bis März 2019. In allen Klassen führten die Lehrkräfte zwei Doppelstunden Kunstunterricht zum Thema Raumdarstellung/Zentralperspektive durch, für deren Gestaltung sie Bildmaterial sowie Beispiele für Teilaufgaben der im Unterricht anzusprechenden Teilkompetenzen erhielten (Beispiele siehe Rakoczy et al. 2019). Die Materialien sollten den Lehrkräften als Unterstützung zur Konzeption ihres Unterrichts dienen und gleichzeitig die Vergleichbarkeit der Unterrichtsinhalte erhöhen. Es bestand keine Verpflichtung, alle Materialien zu verwenden und die Lehrkräfte durften sie durch weitere eigene Materialien ergänzen. Wichtig war, dass die Lehrkräfte Teile aus dem Bildmaterial verwendeten und die beiden Grunddimensionen von Kunstunterricht – Rezeption und Produktion – in ihrem Unterricht behandelten. Die Lehrkräfte wurden gebeten, den Unterricht in der Klasse möglichst ähnlich abzuhalten wie in sonstigen Kunstunterrichtsstunden, damit ein möglichst repräsentatives Bild des Unterrichts erfasst werden konnte. Die Lernenden füllten zu fünf Zeitpunkten während jeder Doppelstunde via Tablet einen Kurzfragebogen zu ihrer Unterrichtswahrnehmung, ihrer Bedürfniserfüllung und ihrer Motivation aus. Die fünf Zeitpunkte pro Doppelstunde wurden so gewählt, dass die Unterrichtszeit von 80 min pro Doppelstunde (90 min abzüglich ca. 5 min Instruktion zu Beginn der ersten Doppelstunde und einer ca. 5-minütigen Testung am Ende der zweiten Doppelstunde, die hier nicht in die Analysen einbezogen wurde, plus jeweils 5 min Puffer, vgl. Frick et al. 2020) in fünf gleich lange Abschnitte aufgeteilt wurde (16 min), an deren Ende die Lernenden jeweils gleichzeitig den Kurzfragebogen ausgefüllt haben. Die mit dem Datenserver des Erhebungspersonals via lokales WLAN verbundenen Tablets (siehe Andrews et al. 2018) zeigten durch Blinken immer nach 15 min an, dass der eigens für diesen Zweck programmierte Kurzfragebogen (ca. 1 min Bearbeitungszeit) von allen ausgefüllt werden sollte. Jede*r Lernende*r musste alle Fragen beantworten, um den Fragebogen abschließen zu können. Diese Nutzerführung verhinderte einerseits einen Ausstieg aus dem Befragungsprogramm, andererseits wurde jeder Kurzfragebogen mit der Eingabebestätigung durch den/die Schüler*in unmittelbar an den lokalen Server des Erhebungspersonals übertragen.

Im Rahmen der Studie wurde darüber hinaus vor Beginn der ersten Doppelstunde eine umfangreiche Befragung zu sozio-demographischen und individuellen Voraussetzungen sowie zur allgemeinen Unterrichtswahrnehmung durchgeführt und am Ende der zweiten Doppelstunde wurde die Bildkompetenz der Lernenden als Leistungsindikator erfasst (vgl. Frick et al. 2020). Diese Erhebungen fließen jedoch nicht in die vorliegende Untersuchung ein.

7.3 Erhebungsinstrumente

Die zur Erfassung der Unterrichtswahrnehmung, Bedürfniserfüllung und Motivation eingesetzten Items und Skalen sind in Tab. 2 dargestellt. Dabei wird ersichtlich, dass manche Konstrukte durch Einzelitems erfasst wurden, andere durch Kurzskalen. So sollte sichergestellt werden, dass die Befragungsdauer möglichst kurz gehalten werden kann.

Tab. 2 Items und Kurzskalen zur Erfassung der Unterrichtswahrnehmung, Bedürfniserfüllung und Motivation

Zur Erfassung der Unterrichtswahrnehmung in den kunstspezifisch geprägten drei grundlegenden Qualitätsbereichen (intendiertes Unterrichtshandeln, kognitive und emotionale Aktivierung und unterstützendes bzw. kreativitätsförderndes Klima, vgl. Abschn. 2) wurden zwei Einzelitems und eine Kurzskala eingesetzt, die jeweils durch Auswahl und Adaptation von Items aus bestehenden Skalen entwickelt wurden: intendiertes Unterrichtshandeln wurde durch ein Einzelitem in Anlehnung an Berner (2016) erfasst, das Item zum prozessorientierten Umgang als Maß für die kognitive und emotionale Aktivierung geht auf die Skala von Rakoczy et al. (im Druck) zurück und die Kurzskala zur Gewährung von Spielräumen als Aspekt des konstruktiven bzw. kreativitätsfördernden Klimas ist angelehnt an Rakoczy (2008). Auch die Erfüllung der Grundbedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie wurden jeweils anhand von Kurzskalen erhoben, die durch Itemauswahl und -adaptation aus bestehenden Skalen entwickelt wurden (vgl. Bürgermeister et al. 2011; Rakoczy et al. 2005). Alle Items wurden anhand einer vierstufigen Antwortskala beantwortet: 1 = stimme gar nicht zu, 2 = stimme eher nicht zu, 3 = stimme eher zu, 4 = stimme voll und ganz zu. Wenn mehrere Items zum Einsatz kamen, wurde die interne Konsistenz der Kurzskalen geprüft (vgl. Tab. 2). In Tab. 2 wird sichtbar, dass die interne Konsistenz der Kurzskala Kompetenzerleben nicht zu allen Zeitpunkten zufriedenstellend ist. Aus diesem Grund konnte diese nicht in die weiteren Analysen aufgenommen werden. Auch bei der Skala selbstbestimmte Motivation weist die interne Konsistenz zu Zeitpunkt 9 mit 0,52 einen relativ schlechten Wert auf. Aufgrund der hohen internen Konsistenzen der Skala zu den übrigen Zeitpunkten wurde sie jedoch trotzdem in die weiteren Analysen aufgenommen.

7.4 Datenanalyse

Die Datenanalysen wurden mit Mplus (Version 8; Muthén und Muthén 1998–2017) durchgeführt. Zur Analyse von Fragestellung 1 wurde eine Varianzkomponentenzerlegung auf drei Ebenen vorgenommen. Es wurde ein Basismodell (Nullmodell, intercept-only-model) berechnet, um zu bestimmten, wieviel Varianz der Messungen auf die verschiedenen Messzeitpunkte (Ebene 1), die Lernenden (Ebene 2) und die Klassen (Ebene 3) zurückgeführt werden kann.

Zur Untersuchung von Fragestellung 2 wurden Mehrebenenregressionsanalysen durchgeführt, in denen die Zeitpunkte als Ebene 1 und Personen als Ebene 2 modelliert wurden. Darüber hinaus wurde auf Ebene 2 das Geschlecht der Schüler*innen als Prädiktor im Modell berücksichtigt, da es sich in der Vergangenheit z. T. als wichtige Voraussetzung für Unterrichtswahrnehmung und Motivation erwiesen hatte (vgl. z. B. Rakoczy et al. im Druck). Um den Verlauf der Konstrukte über die beiden Doppelstunden zu untersuchen, wurden folgende Prädiktorvariablen auf Ebene 1 in das Modell aufgenommen (sog. piecewise linear mixed model; Ryan und Porth 2007): Acht Prädiktoren bilden pro Doppelstunde die Kontraste des ersten Messzeitpunkts zu den vier weiteren Messzeitpunkten ab (Kontraste 2 bis 5 für Doppelstunde 1, Kontraste 7 bis 10 für Doppelstunde 2 in Tab. 4), ein weiterer Prädiktor („Stunde“ in Tab. 4) bildet einen möglichen Niveauunterschied zwischen Doppelstunde 1 und 2 ab. Die Messungen erfolgten in äquidistanten Zeitabständen (vgl. Abschn. 7.2) und wurden in Minuteneinheiten normiert. Die Koeffizienten für die Kontraste in Doppelstunde 1 bzw. 2 können somit als Zu- oder Abnahme der abhängigen Variablen pro Minute interpretiert werden. Der Koeffizient der Zugehörigkeit zur Doppelstunde gibt den mittleren Unterschied der abhängigen Variablen zwischen den beiden Doppelstunden an.

Um Fragestellung 3 zu untersuchen, wurde eine Mehrebenenmediationsanalyse durchgeführt, in die die Wahrnehmungen des Unterrichts (hinsichtlich intendiertem Unterrichtshandeln, Prozessorientierung und Gewährung von Spielräumen) als unabhängige Variablen, die selbstbestimmte Motivation als abhängige Variable und das Autonomieerleben als mediierende Variable einbezogen wurden. Die Zusammenhänge wurden sowohl auf intraindividueller (Ebene 1) als auch interindividueller Ebene (Ebene 2) berechnet. Der Schachtelung in Klassen (Ebene 3) wurde durch Standardfehlerkorrektur Rechnung getragen.

7.5 Umgang mit fehlenden Werten

Da fünf der insgesamt 222 Schüler*innen in den beiden untersuchten Doppelstunden abwesend waren, reduzierte sich die Stichprobe für die vorliegenden Auswertungen auf N = 217. Durch Abwesenheit einzelner Schüler*innen in einer der beiden Doppelstunden, vereinzeltes Zuspätkommen oder frühzeitiges Verlassen des Unterrichts bzw. Abbrechen des Fragebogens liegen pro Messzeitpunkt zwischen 4,6 und 15,8 % fehlende Werte vor. Die fehlenden Werte wurden anhand des in Mplus implementierten Maximum-Likelihood-Schätzers (FIML) geschätztFootnote 3. Damit werden alle Informationen der Kovarianzen genutzt, um die fehlenden Werte zu schätzen.

8 Ergebnisse

Die Ergebnisse des Varianzkomponentenmodells zur Zerlegung der Gesamtvarianz in die Anteile zwischen Zeitpunkten (Ebene 1), Lernenden (Ebene 2) und Klassen (Ebene 3) zur Beantwortung von Fragestellung 1 sind in Tab. 3 dargestellt. Darin sind jeweils unstandardisierte Parameter für die Varianzkomponenten und der Prozentsatz an der Gesamtvarianz dargestellt. Die Ergebnisse zeigen erwartungsgemäß, dass der (weitaus) größte Anteil der Varianz (45–72 %) zwischen den Messzeitpunkten liegt, gefolgt von der Varianz zwischen den Lernenden (26–51 %). Die Motivation erweist sich dabei erwartungsgemäß als etwas stabiler innerhalb der Personen (51 %) als die Unterrichtswahrnehmung (26–35 %) und das Autonomieerleben (35 %). Wie erwartet, liegt ein deutlich geringerer Anteil an Varianz zwischen den Klassen (2–4 %).

Tab. 3 Varianzkomponenten und prozentuale Anteile auf Ebene der Zeitpunkte (L1), Schüler*innen (L2) und Klassen (L3)

Die Ergebnisse der Mehrebenenregressionsanalysen zur Beantwortung von Fragestellung 2 sind in Tab. 4 dargestellt. Sie zeigen, dass die Wahrnehmung des intendierten Unterrichtshandelns, der Prozessorientierung und der Gewährung von Spielräumen signifikant vom Geschlecht abhängt. Das bedeutet, Jungen geben an, im Unterricht eher zu wissen, was von ihnen gefordert wird, erleben ein höheres Maß an Prozessorientierung und nehmen mehr Spielräume durch die Lehrkraft wahr. Im Autonomieerleben und der Motivation unterscheiden sich die beiden Geschlechter nicht. Die Koeffizienten auf Ebene 1 zeigen in Bezug auf Fragestellung 2 folgendes Bild: Die Wahrnehmung im Bereich des intendierten Unterrichtshandelns sinkt über alle Zeitabschnitte der beiden Unterrichtsstunden hinweg. D. h. den Lernenden ist vor allem zu Beginn der Doppelstunden klar, was von ihnen gefordert wird – über den Verlauf der Doppelstunden sinkt die Ausprägung. Ein Niveauunterschied zwischen den beiden Doppelstunden zeigt sich in diesem Wahrnehmungsbereich nicht. Die Wahrnehmung der Prozessorientierung zeigt keine systematische Variation im Zeitverlauf bis zum letzten Zeitabschnitt der zweiten Doppelstunde. Dort ist ein signifikanter Anstieg nachzuweisen, d. h. insbesondere am Ende der zweiten Doppelstunde haben die Lernenden das Gefühl, mit ihren Meinungen gehört zu werden. Ein Niveauunterschied zwischen den beiden Doppelstunden zeigt sich nicht.

Tab. 4 Regressionsgewichte (b), Standardfehler (S.E.) und p-Werte der Mehrebenenregressionsmodelle

Bezüglich der zur Verfügung gestellten Spielräume nehmen die Lernenden in Zeitabschnitt 4 und 5 der ersten Doppelstunde eine Zunahme war. In der zweiten Doppelstunde ist keine weitere Zunahme nachweisbar, allerdings liegt die Wahrnehmung von Spielräumen in der zweiten Doppelstunde insgesamt auf einem signifikant höheren Niveau als in der ersten. Das Autonomieerleben steigt aus Sicht der Lernenden nur im letzten Zeitabschnitt der ersten Doppelstunde signifikant, der Niveauunterschied zwischen beiden Doppelstunden verfehlt relativ knapp das Signifikanzniveau (p = 0,10). Die selbstbestimmte Motivation schließlich sinkt im Mittel im ersten Zeitabschnitt der ersten Doppelstunde. Darüber hinaus ist keine systematische Variation über die Zeit und kein Niveauunterschied zwischen den Doppelstunden nachweisbar.

Die Entwicklungen der Unterrichtswahrnehmungen, wahrgenommenen Autonomieunterstützung und der Motivation über die zehn Messzeitpunkte der beiden Doppelstunden hinweg sind in Abb. 1 dargestellt.

Abb. 1
figure 1

Gesamtmittelwerte der Unterrichtswahrnehmung, des Autonomieerlebens und der Motivation über die zehn Erhebungszeitpunkte hinweg

Die Ergebnisse der Mehrebenenmediationsanalyse zur Untersuchung von Fragestellung 3 sind in Abb. 2 (direkte Effekte auf Ebene 1 und 2) und Tab. 5 (indirekte und totale Effekte auf Ebene 1 und 2) dargestellt.

Abb. 2
figure 2

Direkte Effekte (standardisierte Koeffizienten) im Mehrebenenmediationsmodell. (* bedeutet, dass der p-Wert der standardisierten Koeffizienten < 0,05 ist)

Tab. 5 Indirekte und totale Effekte der Unterrichtswahrnehmungen auf selbstbestimmte Motivation mit Autonomieerleben als mediierender Variablen

Die Ergebnisse zeigen, dass die pro Zeitpunkt wahrgenommene Prozessorientierung und Gewährung von Spielräumen erwartungsgemäß einen signifikanten direkten Beitrag zur selbstbestimmten Motivation leisten und alle drei Aspekte der Unterrichtswahrnehmung über das Autonomieerleben vermittelte indirekte Effekte aufweisen (Level 1). Entsprechend weisen auch alle drei Wahrnehmungsbereiche des Unterrichts signifikante totale Effekte auf. Entgegen der Erwartungen steht das intendierte Unterrichtshandeln nicht in direkter Verbindung mit der Motivation. Auf Lernendenebene zeigt sich entgegen der Erwartungen ein negativer direkter Effekt des intendierten Unterrichtshandelns auf die Motivation. Nur für die Gewährung von Spielräumen zeigt sich der erwartete indirekte Effekte auf Lernendenebene, nicht jedoch für das intendierte Unterrichtshandeln und die kognitive und emotionale Aktivierung. Auch zeigt sich für keinen der drei Wahrnehmungsbereiche ein signifikanter totaler Effekt auf die Motivation auf Lernendenebene (Level 2).

9 Diskussion

9.1 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse

Zusammenfassend zeigen die Befunde, dass die Einschätzungen des Unterrichts, der Bedürfniserfüllung und der Motivation nicht nur von Person zu Person unterschiedlich sind, sondern zu einem noch stärkeren Ausmaß zwischen den Zeitpunkten pro Person variieren (Fragestellung 1). Lernende schwanken demnach erheblich in ihrem individuellen Urteil über die ausgewählten Aspekte der Unterrichtsqualität sowie in ihrem Autonomieerleben und ihrer selbstbestimmten Motivation über zwei Doppelstunden hinweg. Der weitaus größte Anteil der Varianz kommt mit 62 bis 72 % für die Unterrichtswahrnehmung und 63 % für das Autonomieerleben durch intraindividuelle Schwankungen zustande. Ihre Motivation scheinen die Schüler*innen mit 51 % der Varianz auf Personenebene gegenüber 45 % auf Ebene der Zeitpunkte etwas stabiler über die Zeit hinweg wahrzunehmen. Der besonders große Anteil an intraindividueller Varianz ist möglicherweise z. T. darauf zurückzuführen, dass die Zeitpunkte, zu denen die Befragungen durchgeführt wurden, sich auf zwei Doppelstunden an verschiedenen Tagen verteilten. Dadurch ist implizit auch die Varianz zwischen verschiedenen Tagen enthalten, was bei der Interpretation der Befunde zu berücksichtigen ist. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die retrospektive Einschätzung des Unterrichts die subjektive Wahrnehmung während des Unterrichts möglicherweise nicht ausreichend abzubilden scheint bzw. geklärt werden muss, wie sie zustande kommt. Entspricht sie dem Mittelwert aus verschiedenen Einschätzungen? Oder bildet sie eher die letzte Einschätzung ab? Eine Frage, die in der Unterrichtsforschung weiter erforscht werden sollte. Auf Klassenebene wurde der geringste Anteil an Varianz angenommen und die Befunde weisen auf eine so geringe Variabilität hin, dass diese in weiteren Analysen zu den Fragestellungen 2 und 3 nur kontrollierend einbezogen wurde, aber keine Effekte auf Klassenebene analysiert wurden. Für dieses Ergebnis ist vermutlich auch die niedrige Anzahl an Klassen (N = 9) verantwortlich, die eine Analyse auf Klassenebene zusätzlich erschwert hätte.

Im Hinblick auf Fragestellung 2 zeigen die Mehrebenenregressionsanalysen die stärkste Veränderung über die beiden Doppelstunden für die Wahrnehmung des intendierten Unterrichtshandelns. Hier ist ein Absinken der Ausprägung über alle Zeitabschnitte zu beobachten. Zu Beginn der Doppelstunde, also i. d. R. direkt nach einer Vorausschau auf die vor den Lernenden liegende Doppelstunde, scheinen die Schüler*innen am besten zu wissen, was von ihnen verlangt wird. Die hoch ausgeprägte Klarheit scheint sich jedoch im Unterrichtsverlauf zu reduzieren. Dagegen zeigt sich in den Wahrnehmungsbereichen der Gewährung von Spielräumen und des Autonomieerlebens eher eine Entwicklung zu positiverer Unterrichtsqualitätswahrnehmung, wenn auch deutlich schwächer ausgeprägt. Die Gewährung von Spielräumen und das Autonomieerleben werden gegen Ende der ersten Doppelstunde als höher ausgeprägt wahrgenommen und starten in der zweiten Doppelstunde auf höherem Niveau. Diese Entwicklung könnte dadurch erklärbar sein, dass erst nach einer gewissen Zeit die Einführungsphase in der ersten Doppelstunden, in der der Ablauf, die Ziele und die Intention des Unterrichts verdeutlicht werden, von einer stärker inhaltlich geprägten Phase abgelöst wird, in der die Lernenden eigenständiger arbeiten dürfen. Im Bereich der Prozessorientierung ist nur im letzten Zeitabschnitt der zweiten Doppelstunde ein signifikanter Anstieg zu sehen, der darauf hindeuten könnte, dass die Lernenden sich in einer häufig stattfindenden gemeinsamen Endreflexion mit ihren Meinungen und Ideen stärker gehört fühlen als während des restlichen Unterrichts. Die selbstbestimmte Motivation schließlich zeigt nur im ersten Zeitabschnitt der ersten Doppelstunde einen signifikanten Rückgang, darüber hinaus sind keine systematischen Veränderungen nachweisbar. Ob diese Reduktion mit dem Rückgang der wahrgenommenen Klarheit (s. intendiertes Unterrichtshandeln) zusammenhängt oder andere Aspekte eines typischen Unterrichtsverlaufs dafür verantwortlich sind, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Durch dieses Ergebnismuster wird jedoch deutlich, dass das Zustandekommen der Motivation in den beiden Doppelstunden nicht über alle Lernenden hinweg mit einem bestimmten Wahrnehmungsbereich zusammenhängt. In weiteren Studien wird zu prüfen sein, wodurch die mittleren Verläufe über die Zeit begründet sind, welche Faktoren jeweils individuelle Verläufe bestimmen und wie sowohl die mittleren als auch individuellen Verläufe möglichst positiv beeinflusst werden können.

In den Regressionsanalysen wird auch ein Geschlechtereffekt dahingehend sichtbar, dass Jungen ein höheres Ausmaß an intendiertem Unterrichtshandeln, Prozessorientierung und zur Verfügung gestellten Spielräumen wahrnehmen als Mädchen, während sie sich hinsichtlich des Autonomieerlebens und der selbstbestimmten Motivation nicht von den Mädchen der Stichprobe unterscheiden. Die Geschlechterunterschiede sind besonders interessant, da sich bei Betrachtung der retrospektiven Wahrnehmung der allgemeinen Unterrichtsqualität im Kunstunterricht ebenfalls in einem Wahrnehmungsbereich ein Geschlechterunterschied zeigt, nämlich hinsichtlich der inhaltlichen Relevanz der Inhalte des Kunstunterrichts (Rakoczy et al. im Druck). Mädchen nehmen den Unterrichtsinhalt als relevanter für ihr Leben und ihre Zukunft war, was indirekt mit einer höheren Motivation während des Unterrichts verbunden war. Es handelt sich zwar um unterschiedliche Wahrnehmungsbereiche (intendiertes Unterrichtshandeln, kognitive und emotionale Aktivierung, unterstützendes bzw. kreativitätsförderndes Klima vs. inhaltliche Relevanz), dennoch ist es interessant, dass die Unterschiede in gegenläufige Richtungen zeigen. Das könnte durch die Art der Befragung zu erklären sein: Im ambulanten Assessment durch die Experience-Sampling Methode wird eine unmittelbare Einschätzung in der spezifischen Situation erfragt, in klassischen Fragebogenverfahren fließen dagegen viel stärker auch allgemeine Überzeugungen in die Urteile der Lernenden mit ein. So fanden Götz et al. (2013b) z. B., dass Mädchen mittels klassischer Fragebogenerhebung ihre Angst in Mathematik höher einschätzten, obwohl sich kein Unterschied zwischen beiden Geschlechtern zeigte, wenn die Angst in konkreten Situationen ambulant erhoben wurde.

Die zur Beantwortung von Fragestellung 3 durchgeführte Mehrebenenmediationsanalyse zeigt generell deutlich stärkere Zusammenhänge auf intraindividueller als interindividueller Ebene. Mit der Untersuchung von Mediationseffekten auf zwei Ebenen simultan greift die Studie ein bei Götz et al. (2019) formuliertes Desiderat auf. Die empirisch ermittelten Zusammenhänge auf intraindividueller Ebene entsprechen in vorliegender Studie den Erwartungen, außer dass das intendierte Unterrichtshandeln keinen direkten, sondern nur einen indirekten Effekt aufweist. Die Ergebnisse sind so zu interpretieren, dass Lernende in einer bestimmten Unterrichtssituation umso motivierter sind, je stärker ihre eigene Meinung in den Kunstunterricht einbezogen wird (kognitive und emotionale Aktivierung) und je mehr sie im Unterricht mitentscheiden können (unterstützendes bzw. kreativitätsförderndes Klima). Beides ist – ebenso wie das Gefühl, zu wissen, was von einem im Unterricht verlangt wird (intendiertes Unterrichtshandeln) – darüber hinaus mit einem stärker ausgeprägten Autonomieerleben verbunden, d. h. mit der Erfüllung des Bedürfnisses nach Autonomie, und fördert darüber die selbstbestimmte Motivation. Die empirisch ermittelten Zusammenhänge auf interindividueller Ebene fallen generell geringer aus als erwartet. Für die individuelle Motivation scheint es also weniger bedeutsam zu sein, wie der Unterricht generell über die zehn Zeitpunkte hinweg wahrgenommen wird. Lediglich die Gewährung von Spielräumen als Indikator für ein unterstützendes bzw. kreativitätsförderndes Klima scheint indirekt über das Autonomieerleben entscheidend für die Motivation der jeweiligen Person zu sein. Intendiertes Unterrichtshandeln weist sogar einen negativen Zusammenhang mit selbstbestimmter Motivation auf. D. h. je höher die Wahrnehmung des intendierten Unterrichtshandelns, die ein*e Schüler*in über alle Messzeitpunkte hinweg angibt, umso geringer ausgeprägt ist deren bzw. dessen selbstbestimmte Motivation. Möglicherweise deutet dieser Zusammenhang darauf hin, dass einer offenen Aufgabenformulierung und freien, kreativitätsfördernden Atmosphäre im Kunstunterricht aufgrund der Lerninhalte und der Vielschichtigkeit der Lernprozesse im Fach Kunst eine besondere Bedeutung zukommt (Berner 2016).

9.2 Limitationen

Bei der Interpretation der Ergebnisse sollten folgende Spezifika der vorliegenden Studie berücksichtigt werden. Die Operationalisierung der Konstrukte mittels Einzelitems oder Kurzskalen deckt häufig nur einen Teil des Konstrukts ab. In dieser Studie konnte z. B. von der kognitiven und emotionalen Aktivierung lediglich der Aspekt des Einbezugs eigener Meinungen und Vorstellungen aufgegriffen werden. Dieser ist nur schwer vom Gewähren von Spielräumen als Indikator des unterstützenden und kreativitätsfördernden Klimas abzugrenzen. Dennoch wurden keine kompletten Skalen verwendet, um die Erhebungszeit zu reduzieren und die ohnehin große Belastung für die Lernenden beim Ausfüllen des gleichen Kurzfragebogens zu fünf Zeitpunkten innerhalb von 90 min, möglichst geringzuhalten (vgl. z. B. Götz et al. 2013a). Auch in diesem Setting ist mit Reaktivität der Lernenden zu rechnen (Bugl et al. 2015), allerdings in geringerem Ausmaß als beim Einsatz kompletter Skalen. Für die Interpretation der Ergebnisse der vorliegenden Studie ist darüber hinaus wichtig, dass die eingesetzten Items und Kurzskalen wahrgenommene Unterrichtsqualität durch Urteile des Verhaltens bzw. Erlebens der Schüler*innen erfassen (z. B. „In den letzten 15 min durften wir eigene Ideen umsetzen“). Für die Bereiche kognitive und emotionale Aktivierung sowie unterstützendes und kreativitätsförderndes Klima gilt das mögliche Verhalten bzw. Erleben aller Schüler*innen als Referenz. Beim intendierten Unterrichtshandeln bezog sich das Item jedoch nur auf das eigene Erleben. Nach Fauth et al. (2020) unterscheiden sich verschiedene Itemformulierungen zur Erfassung der Unterrichtsqualität darin, wieviel Informationen sie den Rater*innen (hier: den Lernenden) liefern und wie stark die individuelle emotionale Beteiligung (ego-involvement) der Lernenden ist. Beides dürfte beim Item zur Erfassung des intendierten Unterrichtshandelns („In den letzten 15 min war mir klar, was von mir gefordert wird“) stärker ausgeprägt gewesen sein als bei den anderen beiden Qualitätsaspekten, die sich auf die Haltung aller Lernenden bezogen. Die Items zur Erfassung der Bedürfniserfüllung und selbstbestimmten Motivation beziehen sich hingegen nur auf das individuelle Erleben und haben damit einen hohen Informationsgehalt für die einzelnen Lernenden und bringen eine hohe emotionale Beteiligung mit sich.

Generell ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen, dass die Frage nach der Qualität von Unterricht und ihrer Zusammenhänge immer abhängig davon ist, welche Zielkriterien angelegt werden (vgl. Zülsdorf-Kersting 2020). Die hier untersuchten Aspekte von Unterrichtsqualität sind zwar für den Kunstunterricht adaptiert worden, stammen aber aus der vorwiegend in schulischen Kernfächern entwickelten Unterrichtsforschung, die primär fachliche und überfachliche Kompetenzen als Ziele in den Blick nimmt. Ein noch stärkerer Fokus auf kunstspezifische Prozesse und Ergebnisse (z. B. Selbstentfaltung und Selbstwirksamkeitserfahrung als besonders relevante Ziele von Kunstunterricht, vgl. Kirchner und Kirschenmann 2015) würde möglicherweise andere Aspekte der Unterrichtsqualität in den Vordergrund stellen (z. B. Offenheit des Unterrichts) und andere Zusammenhangsmuster hervorbringen.

In Bezug auf die Datengrundlage der Studie ist zu beachten, dass die Messzeitpunkte nicht nur innerhalb von Personen, sondern auch innerhalb von zwei Doppelstunden geschachtelt sind. Dies musste in Kauf genommen werden, da im Schulunterricht ein Fach i. d. R. nicht länger als eine Doppelstunde am Stück unterrichtet wird. Abgesehen von einem sehr großen organisatorischen Aufwand, der die Beteiligungsbereitschaft der Schulen möglicherweise gefährdet hätte, wären solche Unterrichtsstunden auch weniger repräsentativ für den regulären Kunstunterricht gewesen. Auch die geringe Anzahl an teilnehmenden Klassen sollte bei der Interpretation der Ergebnisse kritisch reflektiert werden. Eine größere Stichprobe war jedoch auch trotz intensiver Bemühungen nicht realisierbar. Aufgrund der sehr geringen Varianz der Angaben zwischen den Klassen erscheint es jedoch gut vertretbar, die Analysen mit geringer Stichprobengröße auf Klassenebene durchzuführen und, wie in vorliegender Studie geschehen, die Klassenebene dabei statistisch zu kontrollieren.

9.3 Fazit und Ausblick

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass die Urteile von Lernenden über die ausgewählten Aspekte der Unterrichtsqualität, ihr Autonomieerleben und ihre selbstbestimmte Motivation sehr stark von Situation zu Situation innerhalb zweier Doppelstunden Kunstunterricht variieren und die Zusammenhänge auf intraindividueller Ebene deutlich stärker ausfallen als auf interindividueller. Dieser Befund stellt die Validität von retrospektiven Urteilen in diesen Bereichen in Frage und in weiteren Studien sollte untersucht werden, in welchem Ausmaß die Variabilität durch individuelle Wahrnehmungsprozesse oder unterschiedliche individuelle Angebotsstrukturen im Unterricht zustande kommt. Darüber hinaus zeigen sich für manche der untersuchten Wahrnehmungsbereiche charakteristische Verläufe über die Doppelstunden hinweg. Auch hier sind weitere Studien notwendig, die untersuchen, inwiefern diese Veränderungen durch typische Verläufe im Unterrichtshandeln zustande kommen und inwiefern Wahrnehmungsprozesse auf Lernendenseite hierfür verantwortlich sind.