Der Begriff der Nutzung wurde in seiner Differenzierung vom Angebot durch Fend (1981, 1982) in den Kontext der empirischen Unterrichtsforschung eingebracht. Die Idee, dass eine Nutzung notwendig sei, damit ein Angebot lernwirksam werden könne, bedeutete eine Abkehr von der vielfach als vereinfachend und mechanistisch kritisierten Annahme, dass Lehrhandlungen direkt und unmittelbar Lernergebnisse bei den Schüler*innen hervorrufen könnten, die der damals populären Prozess-Produkt-Forschung noch zugrunde gelegen hatte. Im Konzept der Nutzung manifestierte sich eine Hinwendung zu kognitiven und konstruktivistischen Lerntheorien, die das Lernen einerseits als individuellen, selbstgesteuerten und emotional beeinflussten, andererseits aber auch als sozialen (ko-)konstruktiven Prozess konzeptualisieren (vgl. auch Seidel 2020). Aus dieser Perspektive kommt es nicht bloß auf die Lehrpersonen an. Unterricht muss vielmehr als ein komplexer und mit vielen Unsicherheiten behafteter interaktiver Prozess verstanden werden, den Lehrpersonen und Schüler*innen gemeinsam gestalten. Lehrpersonen verantworten den Verlauf dieses Prozesses qua Auftrag, gleichzeitig sind ihre Möglichkeiten einer direkten Einwirkung auf Schüler*innen jedoch begrenzt. Um zu erforschen, wie – in Anbetracht dieses sog. „Technologiedefizits“ – effektives Lernen aller Schüler*innen ermöglicht und unterstützt werden kann, muss deshalb ein zentraler Fokus auch der Eigenaktivität von Schüler*innen und ihren Bedingungen und Voraussetzungen gelten. Dies gilt insbesondere auch in Anbetracht aktueller Tendenzen zur Individualisierung und Differenzierung von Unterricht (z. B. Lipowsky und Lotz 2015). Doch auch fünf Jahrzehnte nach dem Aufkommen des kognitiven Mediationsparadigmas (Borich 1986; Doyle 1977; Winne 1987), aus dem die Idee der Trennung von Angebot und Nutzung erwachsen ist (vgl. Fend 1981, 1982; aber auch Helmke und Weinert 1997 sowie Helmke 2003), ist – wie Praetorius und Kleickmann (2022, in diesem Heft) bereits ausgeführt haben – noch immer relativ wenig bekannt über das Lernen während des Unterrichts und vor allem darüber, welche Unterrichtsereignisse, Materialien, Methoden und Interaktionsverläufe bei welchen Schüler*innen wann und wie und unter welchen Bedingungen warum welche Lernprozesse ermöglichen oder verhindern können. Die vier Beiträge zum Thementeil nehmen sich dieses wichtigen Themas an und untersuchen quantitativ-empirisch, wie Nutzung im Unterricht aussehen kann und unter welchen Bedingungen Lernangebote von welchen Schüler*innen wann genutzt werden. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die vier Studien vor der theoretischen Folie von Angebots-Nutzungs-Modellen zu diskutieren und dabei Antworten auf drei Fragen zu suchen, die bislang nicht abschließend beantwortet sind: 1. Was ist Nutzung? 2. Wie lassen sich Nutzungsprozesse empirisch erfassen? 3. Wovon hängt es ab, ob Schüler*innen Lerngelegenheiten im Unterricht nutzen? Der Beitrag endet mit einem Fazit (4.).

1 Was ist Nutzung?

Der Begriff der Nutzung von Lerngelegenheiten wird v. a. im Kontext der sog. Angebots-Nutzungs-Modelle der Wirksamkeit von Unterricht verwendet, bleibt jedoch – auch in verschiedenen Angebots-Nutzungs-Modellen – unscharf (vgl. Vieluf et al. 2020). Einigkeit herrscht darin, dass Nutzung all jene Eigenaktivitäten von Schüler*innen bezeichnet, die dazu beitragen, dass diese im Unterricht etwas lernen. Im Kern der Nutzung stehen insofern selbstgesteuerte Veränderungen von kognitiven Strukturen, Wissensnetzwerken und Weltverständnissen, aber auch von Haltungen, Überzeugungen und Einstellungen. Nutzung findet statt, wenn Wissen mit bestehenden Vorkenntnissen in Verbindung gebracht, verknüpft und erweitert wird und wenn diese Erweiterungen erneut strukturiert und organisiert werden. Sie umfasst also vor allem kognitive Prozesse der Informationsverarbeitung und Wissenskonstruktion (vgl. Helmke 2010; Klieme et al. 2006; Kunter und Trautwein 2013; Seidel 2014). Seidel (2014) subsumiert jedoch zusätzlich meta-kognitive Prozesse – also Gedanken über die eigenen Gedanken, d. h. eine interne Steuerung, Planung und Kontrolle der Lernprozesse – unter dem Begriff der Nutzung. Die kognitiven und metakognitiven Prozesse werden weiterhin auch durch motivational-affektive Prozesse gesteuert und reguliert, die in enger Wechselwirkung miteinander stehen, aber auch selber von den kognitiven und metakognitiven Prozessen beeinflusst werden, und deshalb ebenfalls oft als Teil des komplexen Nutzungsprozesses aufgefasst werden (vgl. Klieme et al. 2006; Seidel 2014; Vieluf et al. 2020). Entsprechend verstehen auch Rakoczy et al. (2022, in diesem Heft) sowie Jansen et al. (2022, in diesem Heft) in ihren Beiträgen zum Thementeil motivationale Prozesse als Nutzung.

Neben den inneren Lernaktivitäten sind in der Vergangenheit aber auch äußere – also von Anderen beobachtbare – Lernaktivitäten der Nutzung zugerechnet worden, etwa der soziale Austausch (Kunter und Trautwein 2013) oder die Beteiligung an fachbezogenen Unterrichtsgesprächen (Seidel 2014). Ebenso ließe sich argumentieren, dass das Schreiben, das Vorlesen, das Bedienen eines Taschenrechners oder Computers, der Umgang mit Geräten oder Substanzen, das Zeichnen, das Malen, das Schneiden, das Kleben, die körperliche Betätigung, etc., alle auf ihre Weise zu Lernprozessen im Unterricht beitragen (vgl. auch Chi und Wylie 2014). Analoge Argumente finden sich auch für das verwandte Konstrukt des student engagement. Hier wird oft zwischen kognitivem, emotionalem sowie behavioralem (und teilweise auch „agentischem“) Engagement unterschieden – wobei auch Motivation und Selbstregulation als Teil dieser Prozesse angesehen werden (z. B. Sinatra et al. 2015).

Die Zuordnung äußerer beobachtbarer Aktivitäten zur Nutzungsseite ist allerdings umstritten (vgl. Seidel 2020; Vieluf et al. 2020). Dies wird auch im vorliegenden Thementeil deutlich: Drei der vier empirischen Beiträge beschäftigen sich mit verbalen Schüler*innen-Beiträgen zum Unterricht, d. h. einer spezifischen beobachtbaren Aktivität von Schüler*innen. Einer dieser drei Beiträge ordnet sie der Nutzungsseite zu (Hess et al. 2022, in diesem Heft), einer der Angebotsseite (Jansen et al. 2022, in diesem Heft). Troll et al. (2022, in diesem Heft) argumentieren hingegen: „Die verbale Beteiligung der Schüler*innen an der Interaktion im Unterricht kann dabei als Indikator der Nutzung von Lernangeboten, aber gleichzeitig auch als potenzielles Lernangebot für andere an der Interaktion beteiligte Schüler*innen interpretiert werden.“. So stellt sich die Frage, weshalb sich selbst Expert*innen uneins sind und welche der Interpretationen die überzeugendste ist?

Als Argument für eine Zuordnung verbaler Schüler*innen-Beiträge zur Nutzungsseite lässt sich anführen, dass die Verbalisierung eigener Gedanken das Verständnis des Lerngegenstands verändern und vertiefen kann. Das Darlegen von eigenen Ideen und Verständnissen kann Schüler*innen auf Unsicherheiten, Lücken und Widersprüche in den eigenen Konzepten hinweisen und so zu einer Modifikation anregen. Während des Darüber-Sprechens können auch neue Gedanken entstehen bzw. bestehende Konzepte weiterentwickelt werden. Insofern können inhaltsbezogene verbale Äußerungen an sich konstruktiv sein (vgl. Chi und Wylie 2014). Legen in einem längeren reziproken Austausch mehrere Schüler*innen ihre jeweiligen Gedanken über einen Gegenstand dar und diskutieren diese, so kann dies auch als „Ko-Konstruktion“ von Wissen gefasst werden, die laut Chi und Wylie (ebd.) eine besonders tiefe Verarbeitung der Lerninhalte impliziert. Allerdings ist bei weitem nicht jeder verbale Schüler*innen-Beitrag im Unterricht Teil eines ko-konstruktiven Prozesses. Es sind nicht mal unbedingt alle Beiträge konstruktiv. Oft werden im Unterricht bloß Inhalte reproduziert (vgl. z. B. Prenzel et al. 2002). Insofern wäre zu diskutieren, ob wirklich alle verbalen Beiträge von Schüler*innen als Element eines komplexen Lernprozesses verstanden werden können, oder ob dies nur für solche Beiträge gilt, die konstruktiv oder ko-konstruktiv sind. Entsprechend unterschied auch Nuthall (2005) explizit zwischen Schüler*innen-Aktivität im Unterricht und Lernen. Dies bedeutet nicht, dass verbale Schüler*innen-Beiträge und andere Schüler*innen-Aktivitäten im Unterricht nicht über zuvor stattgefundene innere Nutzungsprozesse informieren können – dies wird in Abschn. 2 separat diskutiert. Die Frage ist vielmehr, ob alle Schüler*innen-Aktivitäten wirklich als Element der Nutzung, also als Teil eines komplexen Lernprozesses aufgefasst werden können.

Darüber hinaus lassen sich auch Argumente dafür finden, dass Schüler*innen-Aktivitäten Mitschüler*innen Lernangebote eröffnen können und insofern der Angebotsseite zuzurechnen sind (vgl. auch Vieluf et al. 2020 sowie Troll et al. 2022, in diesem Heft). Formuliert beispielsweise eine Schülerin eine Erklärung für ein Phänomen oder stellt sie die Konzepte einer anderen Schülerin mit verständlichen Argumenten in Frage, so kann dies sowohl der adressierten als auch weiteren zuhörenden Schüler*innen helfen, ihr eigenes Verständnis des Gegenstands weiterzuentwickeln. Sind im Unterricht alle oder fast alle Schüler*innen in einer Klasse wenig bereit, ihre Überlegungen und Ideen verbal darzulegen und zu begründen, antworten sie nicht auf Fragen oder stören sie eher als über den Lerngegenstand zu sprechen, dann kann das Unterrichtsgespräch nur kurz und oberflächlich werden. Analog ergeben sich während einer Gruppenarbeit für alle Gruppenmitglieder wenig Lerngelegenheiten, wenn die Gruppe oft vom Thema abschweift oder nur oberflächlich diskutiert. Die Lehrperson kann dann eingreifen und die Schüler*innen eventuell motivieren (vgl. Beitrag von Troll et al. 2022, in diesem Heft). Gelingt dies nicht, dann ergeben sich jedoch für alle wenig Gelegenheiten zur Ko-Konstruktion. Wenn dagegen in einer Gesprächsphase während des Unterrichts (im Plenum oder auch im Rahmen einer Gruppenarbeit) relativ zur Gesamtdauer dieser Phase viele aufgabenbezogene ergebnisorientierte Beiträge (vgl. Kodierung von Troll et al. 2022, in diesem Heft), die auch noch zu einem hohen Anteil neu und elaboriert sind (vgl. Kodierung von Hess et al. 2022, in diesem Heft), von den Schüler*innen geäußert werden, dann ergeben sich für alle mehr Gelegenheiten, neues Wissen zu konstruieren und zu ko-konstruieren. Zudem ergeben sich für die Lehrperson auch mehr Anlässe für kognitiv anregende Rückfragen. Insofern lässt sich also durchaus auch argumentieren, dass verbale Schüler*innen-Beiträge die Angebots-Seite mitprägen (vgl. auch Troll et al. 2022, in diesem Heft).

Tatsächlich werden auch bei der Kodierung von Unterrichtsqualitätsdimensionen häufig Aktivitäten von Schüler*innen im Unterricht berücksichtigt. Beispielsweise floss in das Rating der Qualität der Klassenführung im Rahmen der PERLE-Studie (welches auch dem Beitrag von Hess et al. 2022, in diesem Heft, zugrunde liegt) mit ein, ob Schüler*innen im Unterricht Unsinn gemacht haben wie z. B. Gegenständen umherzuwerfen, sich gegenseitig anzurempeln oder Grimassen hinter dem Rücken der Lehrperson zu machen (vgl. Gabriel 2014, S. 302). Für das Rating der Qualität des Klassenklimas wurde berücksichtigt, ob Schüler*innen gelacht haben (vgl. ebd., S. 307) und ob sie sich gegenseitig geholfen haben (vgl. ebd., S. 310). Dies ist insofern plausibel als sich die relative Lernzeit für alle reduziert, wenn Schüler*innen viel Unsinn während des Unterrichts machen und weil Angst vor Beschämung auch durch Mitschüler*innen hervorgerufen werden kann, nicht nur durch Reaktionen der Lehrperson. Sind folglich Aktivitäten von Schüler*innen grundsätzlich (auch) der Angebotsseite zuzurechnen? Dagegen spricht wiederum, dass nicht alle Aktivitäten von Schüler*innen während des Unterrichts Lernangebote eröffnen oder verhindern können. So argumentieren auch Troll et al., dass vor allem aufgabenbezogene ergebnisorientierte Beiträge Lernangebote für Andere eröffnen. Darüber hinaus können möglicherweise auch Lernangebote im Bereich der Metakognition durch prozessorientierte Beiträge anderer Schüler*innen entstehen. Umgekehrt können Redebeiträge, die nicht lerngegenstandsbezogen sind, das Lernen Anderer stören. Allerdings gilt dies vor allem für Unterrichtsphasen, in denen Gruppenarbeiten oder klassenöffentliche Gespräche stattfinden. Und selbst in diesen Phasen erscheinen manch andere Aktivitäten, wie etwa das Herummalen auf dem Heft oder auch sogar das Melden an sich, für das Lernen der Mitschüler*innen weitgehend irrelevant (wobei auch nicht immer alle Aktivitäten von Lehrpersonen relevant sind für das Lernen der Schüler*innen; hier müsste also evtl. ebenfalls differenziert werden).

Da also manche sichtbaren Aktivitäten von Schüler*innen im Unterricht Teil eines Lernprozesses sind, aber nicht unbedingt alle, und gerade verbale Schüler*innenbeiträge zudem auch gleichzeitig Lerngelegenheiten für Zuhörende eröffnen können, sollte von einer globalen Zuordnung beobachtbarer Schüler*innen-Aktivitäten im Unterricht zur einen oder anderen Seite wohl abgesehen und je spezifisch für jedes einzelne Verhalten im Kontext einer konkreten Fragestellung entschieden werden, ob es als Nutzung, Angebot oder beides konzeptualisiert werden sollte. Und, gerade weil beobachtbare Verhaltensweisen von Schüler*innen beides zugleich sein können (Nutzung und Angebot), können sie einen zentralen Ansatzpunkt für Analysen des Zusammenspiels von Angebot und Nutzung darstellen.

Nutzung kann folglich verstanden werden als ein Zusammenspiel kognitiver, metakognitiver, emotionaler, motivationaler und auch behavioraler Prozesse – allerdings mit der Einschränkung, dass nicht jedes Verhalten von Schüler*innen als Nutzung verstanden werden kann, und manches Verhalten während des Unterrichts auch gleichzeitig den Verlauf der Unterrichtsinteraktion, also das Angebot, mitgestaltet. Die Effekte der unterschiedlichen Nutzungsprozesse aufeinander sind vermutlich reziprok (z. B. Cleary und Zimmerman 2012; Pekrun und Linnenbrink-Garcia 2012; Reeve 2012). Wie genau das Zusammenspiel – insgesamt und unter Berücksichtigung aller Prozesse – aussieht, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt (siehe z. B. auch Eccles und Wang 2015).

2 Wie lassen sich Nutzungsprozesse empirisch erfassen?

Zu dieser Frage ist zunächst zu konstatieren, dass dies stark von der Art des avisierten Nutzungsprozesses abhängt. Äußere Aktivitäten von Schüler*innen sind beobachtbar und können mit Hilfe verschiedener Methoden der videographischen Unterrichtsanalyse kategorisiert, interpretiert und bewertet werden (z. B. Appel und Rauin 2016). Dabei unterliegen Kodier- und Ratingmethoden verschiedenen Einschränkungen und sind stets auch in gewissem Maße fehlerbehaftet (z. B. Clausen 2002; Praetorius et al. 2012). Eine zentrale Herausforderung bei der Erhebung innerer mentaler Prozesse ist, dass sie nicht beobachtbar sind (vgl. z. B. Anderson 1980/1988). Zwar sind mittlerweile multiple methodische Zugänge zum Denken und Fühlen von Menschen entwickelt worden (vgl. Azevedo 2015). Dazu gehören etwa „Think-Aloud-Protokolle“, also das Aussprechen aller Überlegungen während der Bearbeitung einer Aufgabe (z. B. Greene und Azevedo 2007), und die kontinuierliche Beobachtung aller unterrichtlichen Erfahrungen und Äußerungen einzelner Schüler*innen mit Hilfe mehrerer Kameras und Mikrofone über einen längeren Zeitraum hinweg („mikrogenetische Methode“, Nuthall und Alton-Lee 1993), die Analyse von Unterrichtsartefakten (Goldsmith und Seago 2013), aber auch das Eye-Tracking, welches Rückschlüsse über Aufmerksamkeitsprozesse erlaubt (z. B. Miller 2015; Praetorius et al. 2017) und bildgebende Verfahren, welche Hinweise darauf liefern, welche Hirnareale in welchen Unterrichtssituationen bei wem wie aktiviert werden (z. B. Borst und Anderson 2017). Doch abgesehen davon, dass auch diese Methoden bloß eine Annäherung darstellen und nicht im engeren Sinne messen können, was Schüler*innen denken, ergibt sich bei ihrer Anwendung im Unterrichtskontext, dass Problem, dass dort 15 bis 30 Schüler*innen miteinander und mit der Lehrperson interagieren und die Messung diese Interaktion nicht stören darf, da schließlich gerade deren Bedeutung für das Lernen im Kern des Forschungsinteresses liegt. Die beiden Beiträge zu diesem Thementeil, die explizit innere Nutzungsprozesse analysieren, nutzen entsprechend eine Erhebungsmethode, die wenig in die relevanten Unterrichtsprozesse eingreift und in der Unterrichtsforschung häufig zum Einsatz kommt, nämlich schriftliche Befragungen der Schüler*innen zu ihrem Erleben und Denken während des Unterrichts.

Für den Beitrag von Jansen et al. (2022, in diesem Heft) wurden retrospektive Antworten von Schüler*innen auf Fragen nach ihrer Aufmerksamkeit („on-task“/„off-task“) und der Tiefe ihrer kognitiven Verarbeitung sowie nach ihrem Selbstbestimmungserleben während dreier zuvor stattgefundener Unterrichtseinheiten analysiert. Schüler*innen wurden etwa nach ihrer Zustimmung zu Fragen wie „Ich hörte im Unterricht zu“, „Ich dachte intensiv über die mathematischen Themen nach“ und „Ich hatte das Gefühl, Dinge selbst entscheiden zu können“ gefragt. Dies geschah einige Wochen nach ihrer Teilnahme an den drei Unterrichtsstunden und sie sollten selber retrospektiv eine Art Mittelwert über die Stunden bilden. Eine solche Befragung hat den Vorteil, dass sie den Unterricht nicht stört. Sie kann allerdings in mehrerlei Hinsicht verzerrt sein. Vor allem in Anbetracht des relativ großen zeitlichen Abstands zwischen dem Unterricht und der Befragung können Erinnerungsschwierigkeiten auftreten (vgl. z. B. Loftus 1980; Skowronski et al. 1991). Darüber hinaus stellen individuelle Unterschiede in Antworttendenzen sowie in der Tendenz zu sozial erwünschtem Antworten generell ein Problem bei der Verwendung von Fragebögen dar und können die Validität der Aussagen ebenfalls verringern (vgl. King und Bruner 2000; Krosnick 1991; Van Vaerenbergh und Thomas 2013).

Rakoczy et al. (2022, in diesem Heft) untersuchten motivationale Nutzungsprozesse ebenfalls mit Hilfe einer schriftlichen Befragung, allerdings im Rahmen einer ambulanten Erhebung zu fünf Zeitpunkten während einer Unterrichtsdoppelstunde (zu dieser Methode siehe auch Csikszentmihalyi et al. 2006). Die Schüler*innen wurden zu diesen Zeitpunkten mit Hilfe eines Kurzfragebogens nach ihrem Kompetenzerleben, ihrem Autonomieerleben und nach ihrer Lernmotivation innerhalb der jeweils vorangehenden 15 min befragt. Zwar mussten auch hier die Schüler*innen retrospektiv über ihr eigenes Erleben berichten, mit ähnlichen Fragen, wie sie für den Beitrag von Jansen et al. eingesetzt worden waren, aber der Zeitraum, den sie dabei berücksichtigen mussten, war deutlich kürzer und sie wurden zudem direkt im Anschluss an die interessierende Zeiteinheit befragt, sodass Erinnerungseffekte zumindest ein etwas geringeres Problem darstellen sollten. Zudem lassen sich durch die wiederholte Befragung während des Unterrichts auch individuelle Veränderungen im Verlaufe der Unterrichtsstunde abbilden. Diese sind vermutlich weniger anfällig für Verzerrungen durch Antworttendenzen und soziale Erwünschtheit (Billiet und Davidov 2008; Weijters et al. 2010; zu einem anderen Schluss kommen allerdings Hui und Triandis 1985). Die Ergebnisse der Studie von Rakoczy et al. (2022, in diesem Heft) zeigen zudem, dass der größte Anteil der Varianz im motivationalen Erleben zwischen den Messzeitpunkten liegt, weniger zwischen Individuen und noch weniger zwischen Klassen. Das Autonomieerleben schwankte zudem noch stärker intraindividuell als das Erleben selbstbestimmter Motivation. Diese Schwankungen implizieren, dass Schüler*innen selber einen Mittelwert über sehr unterschiedliche Zustände bilden müssen, wenn sie bezogen auf eine gesamte Stunde (oder gar drei verschiedene) antworten sollen. Auch dies könnte zu einer gewissen Fehleranfälligkeit von Urteilen beitragen, die sich auf größere Zeiträume beziehen. Schließlich lassen sich Bedingungen, die Nutzung begünstigen oder hemmen, eher identifizieren, wenn Veränderungen betrachtet werden, als wenn querschnittliche Zusammenhänge analysiert werden (vgl. auch Ryu und Lombardi 2015). Befragt man Schüler*innen bezogen auf jeden einzelnen Moment im Unterricht, würde dies andererseits den Unterrichtsprozess massiv stören. Eine Zeiteinheit von 10 bis 15 min könnte insofern einen guten Kompromiss darstellen. Es spricht also vieles dafür, künftig vermehrt auf ambulante Befragungen zurückzugreifen – selbst wenn auch diese selbstverständlich der Einschränkung unterliegen, dass lediglich Prozesse thematisiert werden können, die dem Bewusstsein zugänglich sind, und dass es individuelle Unterschiede im Ausmaß der Bewusstheit und überhaupt in Bezug auf die Validität von Fragebogenantworten gibt.

Einen weiteren Zugang zu bewussten, aber auch unbewussten inneren Prozessen kann die Analyse beobachtbaren Verhaltens ermöglichen, wie sie etwa in den drei Beiträgen zum Thementeil von Hess et al., Jansen et al. und Troll et al. umgesetzt worden sind. So lässt sich argumentieren, dass ganz grundsätzlich verbale gegenstandsbezogene Aktivität – auch reproduzierende – zumindest darauf hindeutet, dass Schüler*innen während der vorangegangenen Unterrichtsphase in gewissem Maße aufmerksam und lernmotiviert – also „on task“ – gewesen sein müssen, da sie sich selten melden, ohne zumindest eine Idee zu haben, was sie antworten wollen (vgl. auch Jansen et al. 2022, in diesem Heft). Manchmal melden sich Schüler*innen auch mit nicht-inhaltsbezogenen Anliegen. Ganz fehlerfrei ist eine solche Deutung also nicht, aber in den meisten Fällen sollte das Melden doch ein Indikator für eine gewisse innere Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand sein. Entsprechend fanden Jansen et al. (2022, in diesem Heft) signifikante positive Zusammenhänge der selbstgesteuerten Beteiligung am Unterrichtsgespräch mit der selbstberichteten Aufmerksamkeit auf der Individualebene. Sie fanden sogar auch Korrelationen mit der selbstberichteten kognitiven Aktivierung sowie dem Selbstbestimmungserleben (auf der Individualebene). Allerdings waren diese Korrelationen schwach. Zudem kann die Beteiligung an sich nichts aussagen über die Art und Weise, wie die Schüler*innen über den Gegenstand nachgedacht haben. Eine aktive Beteiligung am Unterricht muss keineswegs bedeuten, dass Schüler*innen sich tief mit den Inhalten auseinandersetzen, dass sie lernen im Sinne einer Konstruktion neuer Ideen und Wissensinhalte (siehe auch Nuthall 2005) bzw. im Sinne einer sich entwickelnden aktiven Beteiligung an relevanten disziplinären Praktiken (z. B. Ryu und Lombardi 2015). Von den vier Beiträgen ermöglichen einzig die Analysen von Hess et al. (2022, in diesem Heft) Schlüsse über die Art der kognitiven Aktivität bzw. inneren Nutzung von Lerngelegenheiten, da sie auch die Qualität der Schüler*innenbeiträge – konkreter deren Sinnhaftigkeit, Elaboriertheit und Neuheit – kodiert haben. Doch selbst diese Kodierung ist abstrakt und erlaubt noch keine Schlüsse darüber, an welchen konkreten Praktiken des Analysierens von und Sprechens über Kunst die Schüler*innen während des Unterrichts beteiligt waren und welche Rollen sie dabei übernommen haben.

Beim Rückgriff auf verbale Beiträge zur Gewinnung von Informationen über innere mentale Nutzungsprozesse ergibt sich weiterhin folgende Herausforderung: Dass sich ein*e Schüler*in nicht verbal am Unterricht beteiligt hat, bedeutet nicht unbedingt, dass er*sie nicht aufgepasst oder sich nur oberflächlich mit dem Lerninhalt auseinandergesetzt hat (vgl. auch Inagaki et al. 1998; O’Connor et al. 2017; Renkl 2011; aber auch Troll et al. 2022, in diesem Heft). Beispielsweise kann Misserfolgsangst davon abhalten, im Unterricht etwas zu sagen (z. B. Cox et al. 2011), evtl. aber auch die frühere Erfahrung von der jeweiligen Lehrperson nur selten drangenommen zu werden. Die inneren Prozesse all jener Schüler*innen, die sich nicht beteiligt haben, bleiben bei der Analyse der verbalen Beteiligung eine „Blackbox“. Entsprechend fanden Pauli und Lipowsky (2007) auch beispielsweise keine Beziehung zwischen der verbalen Beteiligung der Schüler*innen am Unterricht und ihren Lernzuwächsen. Analysen der verbalen Aktivität können für Fallstudien, die sich intensiv mit den Denkprozessen einzelner Schüler*innen in verschiedenen Situationen beschäftigen, sehr informativ sein. Da sie nicht über die kognitive Aktivität aller Schüler*innen informieren können, erscheinen sie aber nur begrenzt geeignet für korrelative Analysen. Dies könnte auch ein Grund sein, warum in dem Beitrag von Jansen et al. die Zusammenhänge zwischen der selbstgesteuerten Unterrichtsbeteiligung und verschiedenen Maßen innerer Nutzung auf der Individualebene zwar signifikant, aber nur sehr schwach ausgeprägt waren (der Anteil erklärter Varianz lag in jedem Falle unter 4 %) und sie auf der Klassenebene gar keine Zusammenhänge beobachten konnten (die sie allerdings auch tatsächlich gar nicht erwartet hatten).

Es zeigt sich also insgesamt, wie herausfordernd die Messung von Nutzung bleibt. Alle im Thementeil realisierten Zugänge sind „state of the art“, resultieren aber trotzdem in gewissen Unschärfen, die letztlich unvermeidbar scheinen. Eine Lösung könnte sein, künftig systematisch unterschiedliche Formen der Datenerhebung zu kombinieren, damit jeweils die Leerstellen der Anderen gegenseitig ausgeglichen werden und ein valideres Gesamtbild entsteht – auch wenn dies sehr aufwendig wäre. Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch Arbeiten, die sich mit der Messung des verwandten Konstrukts student engagement auseinandergesetzt haben (Fredricks und McColskey 2012; Azevedo 2015).

3 Wovon hängt es ab, ob Lerngelegenheiten genutzt werden oder nicht?

Ein zentraler Gedanke des Angebots-Nutzungs-Modells ist, dass der Unterricht Lernen nicht determinieren kann, sondern nur ein Angebot zur Selbstentwicklung darstellt. Dies impliziert keineswegs, dass das Angebot irrelevant für die Nutzung sei; schließlich werden erst durch das Angebot Lernmöglichkeiten eröffnet. Zusätzlich spielen aber weitere Faktoren eine Rolle. Besonders sind hier die individuellen Vorerfahrungen und Vorkenntnisse der Schüler*innenFootnote 1, ihre Bedürfnisse, Präferenzen und Lerndispositionen zu nennen – denn Nutzung ist auch individuell, aktiv und selbstgesteuert. Entsprechend wurden auch in den Beiträgen zum Thementeil sowohl individuelle Unterschiede in der Nutzung untersucht als auch die Bedeutung des Angebotes für die Nutzung analysiert. Beides werde ich im Folgenden zunächst getrennt diskutieren.

3.1 Individuelle Unterschiede in der Nutzung

Übereinstimmend mit der in Angebots-Nutzungs-Modellen formulierten Annahme, dass derselbe Unterricht in einer Schulklasse keine universelle Qualität hat, sondern diese stets von der Anschlussfähigkeit der Lerngelegenheiten an die kognitiven Strukturen und Bedürfnisse der individuellen Schüler*innen abhängt (vgl. z. B. Fend 2008), zeigen die Beiträge zu diesem Thementeil, dass sich Schüler*innen derselben Klasse unterschiedlich stark und auf unterschiedliche Art und Weise am Unterricht verbal beteiligen (Jansen et al. 2022; Hess et al. 2022; Troll et al. 2022, alle in diesem Heft), dass sie unterschiedlich aufmerksam (Jansen et al. 2022, in diesem Heft) und auch unterschiedlich motiviert sind (Jansen et al. 2022 und Rakoczy et al. 2022, beide in diesem Heft), und dass ihre Motivation sogar auf unterschiedliche Art und Weise während des Unterrichts schwankt (Rakoczy et al. 2022, in diesem Heft). Es deutet sich zudem an, dass frühere Lernerfahrungen und Zuschreibungen von Leistungsfähigkeit in diesem Kontext eine bedeutsame Rolle spielen. So beteiligten sich am klassenöffentlichen Gespräch im Kunstunterricht der Grundschule Kinder, deren Werte in einem Kreativitätstest höher waren, etwas häufiger selbstinitiiert als ihre Mitschüler*innen (Hess et al. 2022, in diesem Heft). Ähnlich tätigten Kinder, die von der Lehrperson als leistungsfähiger eingeschätzt worden waren, während einer Gruppendiskussion im Fach Deutsch (ebenfalls Grundschule) mehr aufgabenbezogene ergebnisorientierte Beiträge als ihre Mitschüler*innen (Troll et al. 2022, in diesem Heft). Und auch in der Studie von Jansen et al. (2022, in diesem Heft) zeigten sich – für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe – Zusammenhänge des Vorwissens sowie des Selbstkonzeptes der Schüler*innen mit ihrer selbstgesteuerten verbalen Beteiligung am Unterricht. Diese Befunde decken sich mit den Ergebnissen früherer Studien (z. B. Good et al. 1980; Jeter und Davis 1982). Ein Grund mag sein, dass sich Schüler*innen, denen bewusst ist, dass ihnen weniger zugetraut wird, oder die in der Vergangenheit negatives Feedback durch die Lehrperson erhalten haben, aus Angst vor Beschämung nicht trauen sich zu melden, selbst wenn sie aktiv mitdenken (z. B. Florin 2021). Doch die Schüler*innen melden sich nicht nur weniger, sie werden teilweise auch weniger drangenommen (dies zeigte sich in der Studie von Jansen et al. 2022, in diesem Heft; in der Studie von Hess et al. 2022, in diesem Heft, wurde zwar eine ähnliche Tendenz berichtet, die jedoch nicht mehr signifikant war, wenn die Zahl der Meldungen kontrolliert wurde). Angst der Lehrpersonen vor einem Kontrollverlust in der gegenstandsbezogenen Interaktion mit Kindern, für welche die Lehrpersonen eine geringe Leistungserwartung haben, kann hierfür ein Grund sein (vgl. Cooper 1979). Auch die Mitschüler*innen regten Schüler*innen, denen von der Lehrperson eine geringere Leistungsstärke zugeschrieben worden war, während einer Gruppenarbeit seltener durch direkte Ansprache zu einer aktiven Beteiligung an. Sie erwarteten möglicherweise nicht, dass diese zur Lösung der Gruppenaufgabe einen konstruktiven Beitrag erbringen können. Wer weniger angesprochen wird, zieht sich oftmals noch stärker zurück, sodass das seltenere Beteiligtwerden durch Andere auch eine Erklärung für die seltenere selbstgesteuerte Beteiligung sein könnte. Unterschiede gibt es weiterhin nicht nur in der äußeren beobachtbaren Beteiligung, sondern auch die innere mentale Nutzung von Lerngelegenheiten scheint bei motivierten Schüler*innen mit positivem Selbstkonzept und viel Vorwissen intensiver zu sein (Jansen et al. 2022, in diesem Heft).

Dieses Muster impliziert, dass jene Schüler*innen, die ohnehin schon über mehr Vorwissen verfügen oder denen eine höhere Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird, zusätzlich intensivere Lerngelegenheiten im Unterricht erhalten als ihre Mitschüler*innen. In jedem Falle haben diese Schüler*innen mehr Gelegenheiten ihre Leistungsfähigkeit (potenziell auch notenrelevant) unter Beweis zu stellen. Dies dürfte zu einer Stabilisierung hierarchisierter Leistungsdifferenzen im Klassenverband beitragen (vgl. auch Decristan et al. 2020). Aus verschiedenen gerechtigkeitstheoretischen Perspektiven kann eine solche Tendenz problematisiert werden (siehe z. B. Stojanov 2013). Interessant wäre es deshalb künftig, intensiver der Frage nachzugehen, welche Rolle der Unterricht selbst im Kontext der Entstehung von Differenzen bezüglich der beobachtbaren und inneren Beteiligung am Unterricht (Nutzung) spielt. Etwa ob die Beteiligung größer ist, wenn eine hohe individuelle Passung zwischen dem Unterrichtsangebot und individuellen Erfahrungen, Kenntnissen und Bedürfnissen hergestellt werden kann. Allgemeiner könnte aber auch gewinnbringend sein, verschiedene Prozesse des „doing difference“ während des Unterrichts, wie sie in qualitativen (z. B. Budde und Rißler 2017; Eckermann und Heinzel 2013; Rabenstein et al. 2013) und quantitativen Studien (z. B. Babad 1992; Brophy 1983; Jussim et al. 1996) bereits beschrieben worden sind, eingehender daraufhin zu analysieren, welche Konsequenzen sie für die Nutzung von Lerngelengenheiten im Unterricht haben und wie sie dabei miteinander zusammenspielen.

3.2 Die Bedeutung des Unterrichts für die Nutzung von Lerngelegenheiten

Neben Zusammenhängen der Nutzung mit individuellen Merkmalen wurden in allen Beiträgen zum Thementeil auch Zusammenhänge der Nutzung mit Merkmalen des Unterrichts untersucht – allerdings je nach Beitrag unterschiedliche.

  • In der Studie von Rakoczy et al. (2022, in diesem Heft) zeigte sich, dass sowohl das Wissen, was von einem im Unterricht verlangt wird, als auch das Gefühl, dass die eigene Meinung einbezogen wird und dass man im Unterricht mitenscheiden kann – vermittelt über das Erleben von Autonomie – mit kurzfristigen positiven Veränderungen der intrinsischen Motivation der Schüler*innen zusammenhängen. Bereits frühere Studien hatten entsprechende Zusammenhänge auf der Klassen- und Individualebene nahe gelegt (z. B. Assor et al. 2002; Reeve et al. 2004). Rakoczy et al. zeigten, dass sich auch und vor allem situationale intra-individuelle Schwankungen in der intrinsischen Motivation so erklären lassen.

  • Die Analysen von Hess et al. (2022, in diesem Heft) legen nahe, dass Schüler*innen sich während eines klassenöffentlichen Gespräches seltener meldeten je besser und erfolgreicher die KlassenführungFootnote 2 durch die Lehrkraft in dieser Stunde war. Die Qualität der Beiträge im Sinne der Neuheit und Originalität war dagegen in Klassen mit besserer und erfolgreicher Klassenführung höher. Überraschenderweise zeigte sich weder ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der kognitiven Aktivierung während des Unterrichts und der Qualität der Schüler*innen-Beiträge noch zwischen dem Sozialklima und der Häufigkeit von Meldungen.

  • Im Beitrag von Troll et al. (2022, in diesem Heft) zeigte sich, dass Lehrpersonen durch Intervention während einer Gruppenarbeit dazu beitragen können, dass die Gruppe „on task“ bleibt, aber auch wie unterschiedlich die Lernangebote sind, die in verschiedenen Gruppen von den Schüler*innen selber jeweils ko-konstruiert werden, und wie stark die Qualität der gemeinsamen Ausgestaltung des Lernangebotes über die Zeit hinweg in allen Gruppen schwankte.

  • In der Studie von Jansen et al. (2022, in diesem Heft) zeigte sich, dass jene Schüler*innen, die während eines klassenöffentlichen Gesprächs von ihrer Lehrperson häufiger drangenommen worden waren, im Fragebogen eher berichteten, dass sie sich während der drei Stunden selbstbestimmt gefühlt hatten. Ihre Selbstberichte zur kognitiven Aktiviertheit und zur „time on task“ unterschieden sich dagegen nicht systematisch in Abhängigkeit von der lehrergesteuerten Beteiligung.

Diese Ergebnisse zeigen, auf wie vielfältige Arten und Weisen das Angebot eine Rolle für die Nutzung spielen kann, aber auch wie das Angebot durch Nutzung mitgeprägt wird. Besonders interessant erscheint dabei die Berücksichtigung einer zeitlichen Dimension in den Beiträgen von Rakoczy et al. (2022) und Troll et al. (2022, beide in diesem Heft). Beide kamen zu dem Schluss, dass sich die Nutzung nicht nur zwischen Individuen unterscheidet, sondern auch über die Zeit hinweg schwankt und dass diese Schwankung individuell unterschiedlich ist (ähnliches fanden auch z. B. Martin et al. 2015 oder Patall et al. 2018). Die Untersuchung möglicher Ursachen für solche Schwankungen dürfte künftig einen wichtigen Ansatz zur Vertiefung der Kentnisse über das Zusammenspiel von Angebot und Nutzung im Unterricht darstellen. Zumal sich vielfältige Erweiterungen denken lassen: So könnte etwa die Analyse von Rakoczy et al. (2022, in diesem Heft) vertieft werden, wenn untersucht würde, mit welchen konkreten Unterrichtsereignissen bei wem eine Veränderung der individuellen Unterrichtsbewertung sowie ein Absinken oder Ansteigen des Autonomieerlebens und der intrinsischen Motivation während des Unterrichts zeitlich einhergehen (bspw. in Anlehnung an den Ansatz von Renninger und Bachrach 2015). Es wäre zudem interessant, aufbauend auf der Studie von Troll et al. (2022, in diesem Heft), Nutzungsverläufe zwischen Gruppen mit systematisch variierten Aufgaben und/oder Aufgabeninstruktionen zu vergleichen.

Auffällig ist allerdings, dass sich alle vier Beiträge mit eher traditionellem Unterricht beschäftigen. So werden in zwei Beiträgen klassenöffentliche Gespräche untersucht und in einem eine Gruppenarbeitsphase. In jenem von Rakoczy et al. wird nicht weiter spezifiziert, welche Organisationsformen des Unterrichts beobachtet worden sind. Es ist zu erwarten, dass auch künftig diese traditionellen Formen des Unterrichtens weiter bestehen bleiben. Trotzdem wäre interessant, auch Unterschiede im Zusammenspiel zwischen Angebot und Nutzung zwischen traditionellem und einem stärker geöffneten, individualisierten, differenzierten Unterricht theoretisch zu reflektieren sowie empirisch zu untersuchen.

In der Zusammenschau der vier Beiträge wird weiterhin deutlich, dass einige theoretische Überlegungen aus den Angebots-Nutzungs-Modellen bislang in der quantitativen Forschung wenig aufgegriffen worden sind, nämlich vor allem jene, welche a) Interaktionen zwischen Angebot und individuellen Vorerfahrungen, Kenntnissen und Bedürfnissen, b) die Reziprozität der Effekte im Modell und c) das Schaffen von Möglichkeitsräumen statt direkter kausaler Beeinflussung betreffen.

3.2.1 Interaktionen zwischen Angebot und individuellen Vorerfahrungen, Kenntnissen und Bedürfnissen

Theoretisch wird angenommen (siehe u. a. Fend 2008, S. 128), dass dasselbe Lernangebot verschiedenen Schüler*innen unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten bietet und insofern keine universelle Qualität hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Angebot und individuelle Merkmale miteinander in dem Sinne interagieren, dass eine Nutzung des Angebotes dann wahrscheinlicher wird, wenn eine hohe Passung zwischen dem Angebot und den individuellen Erfahrungen, Kenntnissen und Bedürfnissen der Schüler*innen hergestellt wurde (für empirische Befunde, die diese Annahme stützen, siehe u. a. Nuthall und Alton-Lee 1993). Dies wurde allerdings in keinem der Beiträge zum Thementeil berücksichtigt. Dabei wäre ganz konkret denkbar, dass – bezogen auf den Beitrag von Rakoczy et al. – das Ausmaß an Autonomieunterstützung im Unterricht für Schüler*innen mit stärkerem Bedürfnis nach Autonomie („autonomous causality orientation“, siehe Vansteenkiste et al. 2010) eine größere Relevanz für ihre Motivation hat als bei Mitschüler*innen, deren Bedürfnis nach Autonomie weniger stark ausgeprägt ist („controlled causality orientation“, ebd.).

Umgekehrt wäre auch denkbar, dass die Bedeutung individueller Merkmale für die Nutzung von Unterrichtsmerkmalen moderiert wird. Bezogen auf den Beitrag von Hess et al. könnte etwa angenommen werden, dass der Zusammenhang zwischen dem Selbstkonzept und der verbalen Beteiligung am Unterricht stärker ist, wenn in einer Klasse eine starke Wettbewerbsorientierung und eine schlechte Fehlerkultur prävalent sind. Bezogen auf den Beitrag von Jansen et al., könnte das Ausmaß, in dem das Vorwissen mit der kognitiven Aktiviertheit während des Unterrichts zusammenhängt, auch davon moderiert werden, wie anspruchsvoll der Unterricht in fachlicher Hinsicht ist und welche Arten von Fragen die Lehrperson jeweils stellt.

Vertiefende Analysen dieser Art können künftig das Verständnis individueller Unterschiede in der Nutzung voranbringen (s. oben). Allerdings spielen möglicherweise multiple Passungskonstellationen simultan eine Rolle, wodurch die Analysen schnell sehr komplex werden können.

3.2.2 Reziprozität der Effekte im Modell

Die Bedeutung des Angebotes für die Nutzung kann nicht nur durch individuelle Merkmale moderiert werden, vielmehr prägt die Nutzung auch das Angebot mit. Unterricht ist Interaktion und deshalb grundsätzlich komplex und mit vielen Unsicherheiten behaftet (vgl. z. B. auch Fend 2008). In der sozialen Interaktion im Unterricht müssen nicht nur mehrere Individuen jeweils einen Anschluss aneinander finden, sondern es findet dabei auch ein ständiger Wechsel aus Lernangeboten, Nutzung, neuen Angeboten, usw. statt (Ackermann 2011). Die Art und Weise, wie Schüler*innen Lernangebote nutzen, manifestiert sich während der Interaktion in ihren Aktivitäten, z. B. in ihren verbalen Beiträgen zum Unterricht, aber auch in ihrer Mimik und Gestik. Die Aktivitäten der Schüler*innen können gleichzeitig auch anderen Schüler*innen Lernmöglichkeiten eröffnen (v. a. gegenstandsbezogene verbale Beiträge) oder ebensolche verhindern (v. a. Störungen). In jedem Falle bieten die Aktivitäten von Schüler*innen – verbale wie nonverbale – unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten für Lehrpersonen und Mitschüler*innen und beeinflussen dadurch auch (nicht deterministisch, sondern im Sinne eines Eröffnens und Verschließens von Möglichkeiten) den weiteren Verlauf der Unterrichtsinteraktion (vgl. Abschn. 1; aber auch Klieme 2019; Reusser 2020; Vieluf und Klieme im Druck). Zudem reagieren Schüler*innen im Unterricht nicht nur auf Andere, sondern suchen sich selber auch aktiv Lerngelegenheiten, machen Vorschläge und versuchen ihre Lernumwelt den eigenen Interessen und Bedürfnissen anzupassen und gestalten sie auch dadurch mit (vgl. Reeve 2012).

In drei der vier Beiträge wird – entgegen diesen theoretischen Annahmen – von einseitig gerichteten Effekten ausgegangen und es kommen entsprechend Regressions- oder Pfadanalysen zur Anwendung. Dabei wäre ganz konkret denkbar, dass nicht nur die Unterrichtswahrnehmung die Motivation beeinflussen kann (vgl. Beitrag von Rakoczy et al. 2022, in diesem Heft), sondern auch der motivationale Zustand die Wahrnehmung des Unterrichts einfärbt und die eigenen Erfahrungsmöglichkeiten im Unterricht mitprägt. Ebenfalls kann zwar angenommen werden, dass es in einem Unterricht, der vergleichsweise störungsfrei ist, mehr Gelegenheiten gibt, sich am Unterrichtsgespräch zu beteiligen und dabei neue Ideen zu entwickeln als wenn viel Zeit „off-task“ verloren geht (vgl. Beitrag von Hess et al. 2022, in diesem Heft), es lässt sich aber genauso gut umgekehrt argumentieren, dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass Schüler*innen stören, wenn es gelingt, viele Schüler*innen zur aktiven Beteiligung anzuregen, und dass es für die Lehrperson leichter wird, entstehende Unruhe frühzeitig zu erkennen und zu intervenieren, wenn sie nicht multiple Störungsquellen gleichzeitig im Blick haben muss. Das verbale Ausformulieren eigener Gedanken vor Publikum während des Unterrichts kann schließlich zwar potenziell zu deren Elaboration anregen (vgl. Beitrag von Jansen et al. 2022, in diesem Heft), aber kreative Ideen zu haben, kann auch dazu motivieren, sich überhaupt erst zu beteiligen. Um zu verstehen, wie bestimmte Muster der Unterrichtsqualität entstehen, wäre es deshalb hilfreich, auch reziproke Effekte zu modellieren. Analyseansätze dafür existieren bereits (z. B. Selig und Little 2012; Usami et al. 2015). Allerdings erfordern sie eine relativ komplexe Datenbasis: Mindestens zwei Variablen müssen zu mindestens zwei Messzeitpunkten reliabel und valide erfasst werden und eine Herausforderung besteht darin, den optimalen Abstand zwischen den Messungen vorab zu bestimmen (siehe ebd.). Jansen et al. (2022, in diesem Heft) konnten aufgrund dieser Anforderungen keine entsprechenden Analysen für ihren Beitrag realisieren, wie sie selber schreiben. Es erscheint aber zumindest ratsam in diesem Falle in der Interpretation die Richtung der Effekte offen zu lassen.

Explizit entwickelt der Beitrag von Troll et al. (2022, in diesem Heft) einen Ansatz, um Reziprozität in der Unterrichtsinteraktion sichtbar zu machen und differenzielle Beteiligung an ko-konstruktiven Interaktionsprozessen im Zeitverlauf zu erforschen. Die Analysen sind nur exemplarisch und es wären verschiedentliche Erweiterungen wünschenswert, aber es wird ein hohes Potenzial des Ansatzes deutlich. Beispielsweise weisen die Ergebnisse darauf hin, dass aktive individuelle Beteiligung auch durch Mitschüler*innen angeregt wird. Interessant wäre, künftig noch detaillierter die Qualität der Ko-Konstruktion in der Gruppenarbeit in den Blick zu nehmen. Also nicht nur zu analysieren, ob die Gruppengespräche aufgabenbezogen bleiben, sondern auch welche Ideen dabei entstehen, verworfen werden, sich durchsetzen und wer dabei was dazu lernt. Troll et al. (ebd.) entwickeln hierzu selber einige Ideen. Hilfreich könnte auch eine Verknüpfung der Netzwerkanalyse mit einer Diskursanalyse sein, wie es bereits Ryu und Lombardi (2015) realisiert haben. Außerdem sollte berücksichtigt werden, dass zuhörende Schüler*innen durchaus lernen können. Es wäre deshalb interessant zu untersuchen, in welche mentalen Praktiken all jene Schüler*innen involviert sind, die sich während der Gruppenarbeit nicht oder kaum verbal beteiligen: Ob sie in ihrem Kopf Ideen formulieren (und bloß nicht gruppenöffentlich aussprechen), oder ob sie über Anderes nachdenken, wie sie sich dabei fühlen und welche Bedeutung dies für ihre Lernmotivation und ihr Selbstkonzept hat.

3.2.3 Das Schaffen von Möglichkeitsräumen statt direkter kausaler Beeinflussung

Eine weitere theoretische Überlegung, die den Angebots-Nutzungs-Modellen zugrunde liegt, wurde in den Beiträgen gar nicht aufgegriffen, nämlich die bereits seit den 1960er-Jahren intensiv diskutierte Frage nach der theoretischen Konzeption der Art der Beziehung zwischen Angebot und Nutzung. Vorstellungen einer Determination (wenn A, dann immer B) gelten lange als überholt. Die für die Beiträge des Thementeils – aber auch sonst für die meisten quantitativen Unterrichtsanalysen genutzten – statistischen Modelle basieren auf einer Annahme linearer Kausalität, die probabilistisch ist (wenn A, dann steigt die Wahrscheinlichkeit für B). Fend (2008) argumentierte, der Wirkungsbegriff könne nicht auf Kausalitäten im strengen naturwissenschaftlichen Sinne aufbauen. Unterricht würde nur „Gelegenheitsstrukturen“ für Lern- und Entwicklungsprozesse bereitstellen (S. 132). An anderer Stelle spricht er auch von „Möglichkeitsräumen“ (S. 158). Diese Annahme steht aber nicht unbedingt im Widerspruch zu probabilistischen Zusammenhängen, denn wenn durch spezifische Unterrichtskonstellationen Gelegenheitsstrukturen für bestimmte Reaktionen entstehen, so wäre ja durchaus anzunehmen, dass beides überzufällig häufig miteinander einhergeht. Allerdings fokussieren die korrelativen Analysen auf typische Sequenzen bzw. häufige Reaktionen. Es könnte deshalb interessant sein, darüber hinaus den gesamten Raum der Reaktionsmöglichkeiten, der durch bestimmte Unterrichtsereignisse (z. B. durch spezifische Formen der Nachfrage oder des Feedbacks) eröffnet wird, zu explorieren, und also auch zu erforschen, wie unterschiedlich Schüler*innen auf dasselbe Unterrichtsereignis reagieren. Dies könnte auch verhindern, dass in der Praxis falsche Hoffnungen geweckt werden (etwa, dass man immer alle Schüler*innen kognitiv aktiviert, wenn man bestimmte Arten von Fragen stellt), ohne andererseits zu suggerieren, Didaktik sei nutz- und wirkungslos (denn oft können entsprechende Fragen ja wirklich tiefe Denkprozesse anregen, nur eben nicht ausnahmslos in jeder Situation und bei allen). So argumentierte auch Reusser (2020), den Lehrpersonen falle durch die Eigendynamik der Nutzungsseite letztlich „eine doppelte Verantwortung zu, da sie nicht mehr allein nur für die methodische und lehrstoffbezogene Angebotsgestaltung verantwortlich sind, sondern auch dafür, dass durch die Unterrichtsgestaltung stets auch die Nutzungsfähigkeiten, vor allem von schwächeren Lernenden gestärkt werden“ (S. 246). Dieser Veranwortung gerecht zu werden ist vermutlich leichter, wenn man um die Begrenztheit der eigenen Einflussmöglichkeiten weiß. Analysen von Reaktionsmöglichkeitsräumen könnten dazu beitragen. Diese könnten deskriptiv sein, aber es könnten auch z. B. latente Klassenanalysen zum Einsatz kommen, um verschiedene Reaktionstypen zu identifizieren und zu systematisieren. Zudem könnten qualitative Analysemethoden (z. B. Herrle und Dinkelaker 2016) helfen, die Möglichkeitsräume detaillerter zu beschreiben.

4 Fazit

Der vorliegende Thementeil widmet sich der Nutzung von Lerngelegenheiten im Unterricht. Diese wird oft verstanden als ein komplexer Prozess, der ein Zusammenspiel von kognitiven, metakognitiven, motivationalen und emotionalen, aber auch von äußeren beobachtbaren Aktivitäten – wie die verbale Darlegung der eigenen Gedanken oder den Umgang mit Materialien – umfasst. Ich schließe mich im vorliegenden Beitrag diesem Verständnis an, argumentiere aber, dass nicht alle äußeren sichtbaren Aktivitäten Teil von Nutzungsprozessen sind, und dass außerdem manche von ihnen zugleich auch (oder sogar ausschließlich) der Angebotsseite zuzurechnen sind. Die gemeinsame Diskussion der vier im Thementeil nebeneinandergestellten empirischen Untersuchungen von Nutzung unterstreicht zudem die theoretische Annahme, dass es sich bei der Nutzung nicht um einen gleichförmigen stabilen Prozess handelt, der einfach herbeigeführt werden kann, wenn bloß richtig unterrichtet wird. Vielmehr nutzen Schüler*innen dieselben Lernangebote im Unterricht ganz unterschiedlich und zudem schwankt die Nutzung auch über die Zeit hinweg mit individuell je unterschiedlichen Verläufen. Zwei Erklärungen für individuelle Unterschiede und Schwankungen sind unterschiedliche individuelle Voraussetzungen sowie verschiedene Qualitäten (in diesem Fall deskriptiv gemeint) des Unterrichts – das zeigen die multiplen in den Beiträgen zum Thementeil beobachteten Korrelationen. Doch insgesamt bleibt ein beträchtlicher Anteil der Varianz in der Nutzung unaufgeklärt. Ein Grund hierfür liegt in der begrenzten Reliabilität und Validität der Messungen des Angebotes, der individuellen Vorerfahrungen, Kenntnisse und Bedürfnisse sowie der Nutzung selbst (vgl. Praetorius et al. 2012). Möglicherweise spielt aber auch eine Rolle, dass die Beziehungen zwischen den untersuchten Variablen oft komplexer, reziproker, moderierter und weniger kausal sein dürften als sie modelliert werden. Während nämlich in quantitativen Unterrichtsstudien oft lineare Regressions- oder Pfadmodelle zum Einsatz kommen, argumentierte unter anderem Fend (2008), dass Unterrichtsereignisse bloß Möglichkeitsräume für Reaktionen eröffnen – und dazu noch ganz unterschiedliche je nach Vorerfahrungen, Vorwissen und individuellen Bedürfnissen der Schüler*innen. Zudem eröffnen nicht nur Unterrichtsereignisse Möglichkeitsräume für Schüler*innen, sondern die Reaktionen der Schüler*innen eröffnen und verschließen auch wieder Möglichkeitsräume für das Unterrichten sowie für das Lernen ihrer Mitschüler*innen.

Basierend auf diesen Überlegungen habe ich drei denkbare Entwicklungsrichtungen einer Forschung zu Nutzungsprozessen herausgearbeitet: (1) Ein zentrales Forschungsdesiderat ist die Suche nach Ursachen für individuelle Unterschiede in der Nutzung, die in allen vier Beiträgen zum Thementeil identifiziert und beschrieben sowie in Angebots-Nutzungs-Modellen theoretisch postuliert worden sind, und die auch im Kontext von Fragen nach Bildungsgerechtigkeit von hoher Relevanz sind. (2) Neben der Erforschung individueller Unterschiede dürfte künftig auch die Suche nach Ursachen für (individuelle wie kollektive) Schwankungen in der Nutzung über die Zeit hinweg zentral sein, um das Verständnis des Zusammenspiels zwischen individuellen Vorerfahrungen, Kenntnissen sowie Bedürfnissen, dem Unterrichtsangebot und der Nutzung emergierender Lerngelegenheiten voranzubringen. (3) Weiterhin wäre es gewinnbringend, wenn künftig in Studiendesigns und Analysemethoden die theoretisch anzunehmende Reziprozität der Beziehungen zwischen Angebot und Nutzung stärker berücksichtigt würde. (4) Schließlich könnte es aufschlussreich sein, nicht bloß typische Reaktionen auf bestimmte Unterrichtssituationen zu erforschen, sondern die gesamten Möglichkeitsräume, die in spezifischen Situationen entstehen, zu explorieren. Auf einer forschungspraktischen Ebene erscheint es ratsam, künftig stärker auf Multi-Method Designs zurückzugreifen, da vor allem die innere Nutzung schwer zu messen ist. Dabei haben sich – u. a. in diesem Thementeil – ambulante Befragungen und Netzwerkanalysen als vielversprechende Erhebungs- bzw. Analysemethoden erwiesen. Interessant wäre, beide miteinander und mit Analysen von Unterrichtsereignissen und weiteren methodischen Zugängen zu kombinieren und die entstehenden Daten quantitativ wie qualitativ zu analysieren. Allerdings ist die Unterrichtsforschung ohnehin schon zeit- und kostenintensiv. Möglicherweise erfordern Studien, die der Komplexität des Gegenstands wirklich gerecht werden können, noch größere Projektgruppen und eine noch langfristigere Form der Studienfinanzierung, aber auch noch engere Kooperationen zwischen Universitäten und Schulen als dies (zumindest im deutschsprachigen Raum) bislang üblich ist.