Unterrichtsinhalte lassen sich nicht direkt in die Köpfe von Schüler*innen übertragen. Dieser Erkenntnis dürften alle Forscher*innen und Praktiker*innen, die sich mit Unterricht beschäftigen, uneingeschränkt zustimmen. Unterricht kann vielmehr als Ko-Konstruktion von Lehrpersonen und Schüler*innen verstanden werden, der nur dann zu Lernerträgen (z. B. Wissens- und Kompetenzzuwachs, Motivationsentwicklung) auf Seiten der Schüler*innen führt, wenn diese die unterrichtlichen Inhalte entsprechend verarbeiten. Im deutschsprachigen Raum findet sich dieses Verständnis im Angebots-Nutzungs-Modell, das erstmals 1981 von Fend mit einem deutlich systemtheoretischen Bezug vorgestellt wurde (Fend 1981). In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wurden sowohl von Fend als auch von anderen Autor*innen (u. a. Helmke 2010; Kunter und Trautwein 2013; Lipowsky 2006; Reusser und Pauli 2003; Vieluf et al. 2020) verschiedene Versionen des Modells publiziert. Das Angebots-Nutzungs-Modell gilt mittlerweile als prominentestes Wirkmodell der deutschsprachigen Schul- und Unterrichtsforschung (Kohler und Wacker 2013), da es die Einordnung einer Vielzahl von bedeutsamen Faktoren ermöglicht, die für das Lehren und Lernen im Unterricht eine Rolle spielen.

Obwohl Angebot und Nutzung zentrale Kernelemente von Angebots-Nutzungs-Modellen darstellen und in Forschungsarbeiten entsprechend häufig auf diese verwiesen wird, ist das Verständnis von Angebot und Nutzung sowie deren Verhältnis sowohl theoretisch unterspezifiziert als auch empirisch bislang nur wenig erforscht: Betrachtet man die existierenden Angebots-Nutzungs-Modelle, wird schnell deutlich, dass sich diese in ihrer Konzeptualisierung von Angebot und Nutzung deutlich unterscheiden (für einen Überblick siehe Vieluf et al. 2020). So werden beispielsweise in einigen Modellversionen Unterricht und Angebot gleichgesetzt (z. B. Helmke 2010; Kunter und Trautwein 2013; Seidel 2014), während andere Versionen Unterricht als das Zusammenspiel von Angebot und Nutzung betrachten (z. B. Lipowsky 2015; Reusser und Pauli 2010). Auch die Frage, was Nutzung konkret beinhaltet, wird sehr divers beantwortet. Sie umfasst entweder eine ausschließliche Fokussierung auf kognitive Lernprozesse (z. B. Helmke 2010), oder aber auch eine zusätzliche Integration von Faktoren wie Motivation und Emotionen (z. B. Klieme et al. 2006) oder äußeren Aktivitäten wie beispielsweise „sozialer Austausch“ (z. B. Kunter und Trautwein 2013). Basierend auf einer systematischen Sichtung der verschiedenen Angebots-Nutzungs-Modelle haben Vieluf et al. (2020) ein integratives Modell vorgeschlagen (siehe Abb. 1). In diesem wird Unterricht als Ko-Konstruktion des Handelns von Lehrpersonen und Schüler*innen bezogen auf einen Unterrichtsgegenstand verstanden. Die Beziehung zwischen Angebot und Nutzung ist reziprok konzeptualisiert. Nutzung wird als komplexes Zusammenspiel von Kognitionen, Emotionen und Motivation in konkreten Unterrichtssituationen verstanden.

Abb. 1
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Integriertes Angebots-Nutzungs-Modell der Wirkweise des Unterrichts. (Aus Vieluf et al. 2020, S. 76)

Nicht nur konzeptuell, sondern auch methodisch unterscheiden sich existierende Publikationen deutlich darin, wie sie Nutzungsaspekte sowie deren Verhältnis zum unterrichtlichen Angebot in den Blick nehmen, angefangen bei beobachtungsbasierten Ansätzen (z. B. zur Erfassung von behavioral engagement bei Dotterer und Lowe 2011) bis hin zu Selbstberichten (z. B. zur Erfassung kognitiver Aktivität bei Merk et al. 2021).

Das Ziel des vorliegenden Thementeils besteht darin, sich dem Verhältnis von Angebot und Nutzung über verschiedene inhaltliche und methodische Zugänge konzeptuell und empirisch weiter zu nähern. Die einzelnen Beiträge stammen von Mitgliedern des Leibniz-Netzwerks Unterrichtsforschung (https://unterrichtsforschung.dipf.de), das zentrale Unterrichtsforscher*innen des deutschsprachigen Raums vereint und es sich zum Ziel gesetzt hat, bedeutsame Fragen der empirischen Forschung zu Unterrichtsqualität gemeinsam zu bearbeiten. Wichtig war uns, dass wir keine lose Sammlung von Beiträgen zum Thema zusammenstellen, sondern durch einen gemeinsamen Bezugspunkt zu versuchen, Diskussionen über Konsens und Dissens und notwendige Weiterentwicklungen des Feldes besser abbilden und aufeinander beziehen zu können. Dazu wurden die Autor*innen gebeten, sich auf den Übersichtsbeitrag von Vieluf et al. (2020) zu beziehen und sich mit der dort gewählten Konzeptualisierung und den damit verbundenen Implikationen auseinanderzusetzen. Wir haben diesen Beitrag ausgewählt, da er eine aktuelle Übersicht und Integration verschiedener Ansätze zu der Thematik darstellt und unseres Wissens die systematischste Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Versionen des Angebots-Nutzungs-Modells beinhaltet.

Im Mittelpunkt des ersten Beitrags des Thementeils (Jansen et al. 2022) steht die Nutzung von Lerngelegenheiten im Mathematikunterricht der Sekundarstufe I. Die Nutzung wurde über Angaben der Schüler*innen zu ihrer kognitiven Aktiviertheit und aktiven Lernzeit und zu ihrem Selbstbestimmungserleben erfasst. Untersucht werden die Zusammenhänge zwischen individuellen Lernvoraussetzungen (soziodemographische Merkmale, Vorwissen, Selbstkonzept und Interesse) und der Nutzung sowie zwischen individueller Unterrichtsbeteiligung (Videoanalyse) und der Nutzung. Außerdem wird analysiert, welche Bedeutung die Unterrichtsbeteiligung über die individuellen Lernvoraussetzungen hinaus für die Nutzung unterrichtlicher Angebote hat.

Im zweiten Beitrag (Hess et al. 2022) wird ebenfalls die Unterrichtsbeteiligung der Schüler*innen analysiert, hier jedoch als Teil der Nutzung von Lerngelegenheiten verstanden. Im Zentrum der Studie, die im Kunstunterricht der Grundschule durchgeführt wurde, steht die Frage, inwiefern die Häufigkeit und die Art der verbalen Beteiligung von Lernenden im Unterricht (Nutzung) mit individuellen Lernvoraussetzungen (Lernpotenzial) und den drei Basisdimensionen der Unterrichtsqualität (Angebot) in Beziehung stehen. Im Hinblick auf die Art der Beteiligung wird betrachtet, ob Beiträge der Schüler*innen neu, sinnhaft und/oder elaboriert sind. Als individuelle Lernvoraussetzungen werden Geschlecht, Intelligenz, Kreativität und Selbstkonzept berücksichtigt.

Für den dritten Beitrag (Rakoczy et al. 2022) wurden Schüler*innen im Kunstunterricht der Sekundarstufe zehnmal innerhalb einer Doppelstunde zu Aspekten der wahrgenommenen Unterrichtsqualität (Angebot), der Nutzung und der Motivation (als Zielkriterium von Unterricht) befragt. Anhand dieser Experience-Sampling-Daten untersuchen die Autor*innen, wie stark die Schülerwahrnehmung der Qualität des Unterrichtsangebots, die individuelle Nutzung und die Motivation von Lernenden zwischen Zeitpunkten im Unterricht, Lernenden und Klassen variieren, und ob es charakteristische Verläufe der Urteile über die Zeitpunkte für alle Lernenden gibt. Außerdem analysieren sie, ob wahrgenommene Unterrichtsqualität nicht nur auf interindividueller, sondern auch auf intraindividueller Ebene mit selbstbestimmter Motivation einhergeht.

Im vierten Beitrag (Troll et al. 2022) werden anhand einer Netzwerkanalyse die ko-konstruktiven Interaktionsprozesse in einer Gruppenarbeitsphase im Deutschunterricht einer dritten Klasse in den Blick genommen. Dabei analysieren die Autor*innen, in welchem Umfang sich die einzelnen Schüler*innen aktiv am Interaktionsprozess beteiligen (als Indikator der Nutzung sowie eines potenziellen Lernangebots für Mitschüler*innen) und ein Lernangebot (potenziell empfangene Redebeiträge) erhalten. Auch wird betrachtet, inwiefern die Schüler*innen aufeinander Bezug nehmen und wie sich der Interaktionsprozess über die betrachtete Unterrichtsphase entwickelt. Schließlich wird im Rahmen der Netzwerkanalysen untersucht, inwiefern bestimmte Schüler*innen eine zentrale (vs. periphere) Rolle in der Interaktion einnehmen.

Tab. 1 gibt einen Überblick über die in den Beiträgen adressierten Konstrukte auf der Angebots- und der Nutzungsseite sowie die jeweils verwendeten Methoden zur Erfassung der Konstrukte.

Tab. 1 Konstrukte und Erfassungsmethoden auf Angebots- und Nutzungsseite nach Beitrag

Die Übersicht in Tab. 1 macht deutlich, dass die Definitionen von Angebot und Nutzung zwischen den Beiträgen variieren. So verstehen Jansen et al. die mittels Videoanalyse kodierte Unterrichtsbeteiligung der Schüler*innen als Aspekt der Angebotsseite, während Hess et al. diese als Indikator für die Nutzung der Lernangebote verstehen. In der Studie von Troll et al. wiederum werden die Redebeiträge der Schüler*innen als Indikatoren der Nutzung und in Abhängigkeit des Inhalts der Äußerung auch als Indikatoren des Lernangebots für andere Schüler*innen konzeptualisiert. Sowohl bei Jansen et al. als auch bei Rakoczy et al. dienen Selbstberichtsdaten der Schüler*innen zur Erfassung der mentalen Nutzungsprozesse wie bspw. die kognitive Aktiviertheit oder das Autonomieerleben (Vieluf et al. 2020).

Implikationen sowie Vor- und Nachteile dieser unterschiedlichen Konzeptualisierungen arbeitet Svenja Vieluf in ihrem Diskussionsbeitrag heraus. Sie geht dabei drei Leitfragen nach: (1.) Was ist Nutzung?, (2.) Wie lassen sich Nutzungsprozesse zuverlässig empirisch erfassen? und (3.) Wovon hängt es ab, ob Schüler*innen Lerngelegenheiten im Unterricht nutzen? Die Überlegungen von Svenja Vieluf machen deutlich, wie limitiert das aktuelle Verständnis der komplexen unterrichtlichen Angebots- und Nutzungsprozesse ist. Wir hoffen, dass die von Svenja Vieluf aufgezeigten Forschungsperspektiven und Analysestrategien möglichst viele Unterrichtsforscher*innen dazu anregen, diese Forschungslücken in Zukunft zu adressieren. Denn wir sind davon überzeugt, dass ein besseres Verständnis von Angebot und Nutzung einen wichtigen und notwendigen Schritt darstellt, um Unterricht angemessen empirisch untersuchen und Unterrichtsqualität weiterentwickeln zu können.