1 Einleitung

Seit dem Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den nachfolgenden militärischen Reaktionen Israels im Gazastreifen mit zahlreichen zivilen Todesopfern auf beiden Seiten kam es in Deutschland an vielen Orten zu umfangreichen Protesten. Diese Entwicklungen wurden von umfassenden, stark polarisierenden gesellschaftlichen und politischen Debatten begleitet. Deren Akteur:innen lassen sich grob in proisraelische sowie propalästinensische Lager unterteilen. Dabei ging es immer wieder um Fragen der Legitimität einer Kritik an der israelischen Regierung und ihrer Politik sowie die Abgrenzung und Unterscheidung einer solchen politischen Kritik von antisemitischen und israelfeindlichen Ressentiments (sehr deutlich etwa in der Kontroverse um die Bewertung von Statements zum Abschluss der Berlinale im Februar 2024; vgl. Tagesschau 2024).

Besonderes Aufsehen erzeugten öffentliche Reaktionen unmittelbar nach dem Bekanntwerden dieses Angriffs der Hamas auf Israel, die etwa in Berlin zu beobachten waren, wo es zu Sympathiebekundungen und zustimmenden Bewertungen dieser grausamen Gewalttaten kam (TAZ 2023). Ähnlich starke Resonanz und Kritik erzeugte eine islamistische Demonstration in Essen, auf der das Existenzrecht Israels grundlegend infrage gestellt wurde (SZ 2023). Seit der erneuten Eskalation des Konflikts zwischen Israel und der Hamas im Oktober wurden auch vermehrt antisemitische Straftaten und Übergriffe auf Jüd:innen und jüdische Einrichtungen registriert (Tagesschau 2023). Daneben sehen sich vor allem Menschen aus dem arabischen Sprachraum sowie Personen, die in der Öffentlichkeit als Muslim:innen wahrgenommen werden, in Deutschland aktuell in erhöhtem Maße mit muslimfeindlichen Ressentiments konfrontiert (BR 2023; s. a. zu früheren Entwicklungen dieser Art Brettfeld und Wetzels 2022). In Reaktion auf die erkennbaren Polarisierungen und angesichts erwartbarer Vorfälle und Eskalationen kam es in einigen Bundesländern präventiv zu Verboten propalästinensischer Demonstrationen (NDR 2023).

Diese und weitere anekdotische Evidenzen deuten darauf hin, dass die Eskalation eines internationalen Konflikts, wie aktuell im Nahen Osten, auf die nationale Ebene in Deutschland ausstrahlen und in relevantem Maße zu gesellschaftlicher Polarisierung und Radikalisierungsprozessen beitragen kann. Ähnliche Erkenntnisse wurden bereits im Kontext des Ukraine-Kriegs dokumentiert, u. a. zum Zusammenhang zwischen Kriegsangst und einer gesteigerten Autokratieakzeptanz (Kleinschnittger et al. 2023). Des Weiteren konnte empirisch gezeigt werden, dass Berichte über terroristische Anschläge in Deutschland politische Debatten in Richtung rechtsextremer Narrative verschieben können (Völker 2023). Experimentell konnte weiter nachgewiesen werden, dass die Konfrontation mit Menschenrechtsverletzungen durch Institutionen des islamischen Staates Iran im Kontext der Proteste gegen die Tötung von Mahsa Amini im Polizeigewahrsam unter bestimmten Randbedingungen eine signifikante Steigerung muslimfeindlicher Einstellungen bei Menschen in Deutschland bewirkt (Wetzels und Brettfeld 2023b). Mit Blick auf Antisemitismus ließ sich ferner quasiexperimentell nachweisen, dass die Eskalation des Konflikts zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 zu einer Steigerung antisemitischer Vorurteile in Deutschland und einem sprunghaften Anstieg antisemitischer Delikte führte (Richter et al. 2022). Insoweit steht der demokratische Rechtsstaat in Deutschland erheblichen Herausforderungen gegenüber, Ausstrahlungswirkungen von Konflikten mit internationalen Bezügen in einer zunehmend heterogen geprägten Migrationsgesellschaft zu verhandeln, um den sozialen Zusammenhalt auf Basis der freiheitlich demokratischen Verfassung weiterhin zu gewährleisten.

Der Umgang mit solchen Debatten zum Thema Antisemitismus wird zum einen durch den historischen Kontext Deutschlands und zum anderen durch die unterschiedlichen Erscheinungsformen, Hintergründe, Funktionen und ungleiche soziale Verteilung antisemitischer Einstellungen erschwert. Im Bereich der politischen Radikalisierung nimmt der Antisemitismus eine Sonderstellung ein. Unter anderem fungiert er als ein politisches „Brückennarrativ“, das Anknüpfungspunkte für verschiedenste extremismusaffine Ideologien und Gruppierungen bietet (Meiering et al. 2018). U. a. trifft dies auf völkisch-nationalistische, israelfeindlich-antizionistische oder islamistisch-antijudäisch geprägte Bewegungen zu (Staetsky 2017; Rabinovici und Sznaider 2019; Mendel 2023). Zudem wird der Vorwurf des Antisemitismus in Teilen von entsprechenden Bewegungen instrumentalisiert; etwa wenn rechtsextreme Akteur:innen versuchen „den Islam“ pauschal für Antisemitismus in Deutschland verantwortlich zu machen, um bestehende Probleme als einen „Antisemitismus der Anderen“ zu externalisieren (Arnold 2019, S. 128–133).

Vor dem Hintergrund des durch die Hamas begangenen größten Massenmordes an Jüd:innen seit der Shoah im Oktober des letzten Jahres einerseits sowie den hohen Opferzahlen in der palästinensischen Zivilbevölkerung im danach einsetzenden Gaza-Krieg andererseits ist angesichts der Ausstrahlungswirkung, die dies auf Deutschland haben kann, eine datengestützte Differenzierung der Debatten über und um Antisemitismus notwendig – sowohl um der gesellschaftlichen Polarisierung entgegenzuwirken als auch, um zielgerichtete Präventionsmaßnahmen auf den Weg zu bringen, die Intoleranz und Hass eindämmen und vorbeugen.

Im vorliegenden Beitrag werden dazu Erkenntnisse zur Verbreitung und Entwicklung antisemitischer Einstellungen in der erwachsenen Wohnbevölkerung auf Basis von Daten der bundesweit repräsentativen Trendstudie „Menschen in Deutschland“ (MiD) für den Zeitraum der Jahre 2021–2023 vorgestellt (Brettfeld 2023; Brettfeld et al. 2023; Wetzels et al. 2023a).Footnote 1 Eine Besonderheit gegenüber den ansonsten zu dieser Thematik verfügbaren Studien ist, dass das Design von MiD es gestattet, Analysen für verschiedene gesellschaftliche Teilgruppen, die nach Migrationshintergrund und/oder Religionszugehörigkeit differenziert werden, mit hinreichend großen repräsentativen Teilstichproben durchzuführen.

Anknüpfend an die Beschreibung der jüngeren Trends wird auf Basis der aktuellen Welle der MiD-Studie aus dem Jahr 2023 ferner in multivariaten Analysen der Frage nachgegangen, welche Rolle Migrationserfahrungen, Religionszugehörigkeit und unterschiedliche Aspekte der individuellen Religiosität für die Verbreitung antisemitischer Einstellungen spielen. Ein besonderes Augenmerk liegt diesbezüglich auf der Gruppe der in Deutschland lebenden Muslim:innen. Ziel ist es, Binnendifferenzierungen in dieser gesellschaftlichen Teilgruppe zu identifizieren. Dies erscheint erforderlich, um pauschalen Etikettierungen von Muslim:innen als judenfeindlich und antisemitisch empirisch fundiert entgegentreten zu können. Ferner sind Erkenntnisse über spezifische Hintergründe antisemitischer Einstellungen bei Muslim:innen für eine evidenzbasierte Konzeption und Zielgruppenbestimmung von Präventionsmaßnahmen im Bereich Antisemitismus in diesem Teilsegment der deutschen Gesellschaft relevant. Gleichartige multivariate Analysen werden ebenso mit den in der MiD-Studie befragten Christ:innen durchgeführt, um Ähnlichkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Zusammenhänge von Migrationserfahrungen, Religionszugehörigkeit und verschiedenen Aspekten der Religiosität mit Antisemitismus identifizieren zu können.

2 Theoretisch-empirischer Hintergrund

Mit dem Begriff des Antisemitismus werden feindselige, pauschalisierend abwertende Einstellungen und Handlungen gegen Jüd:innen, ihren Lebensraum, ihre Gemeinden und Institutionen sowie religiösen Einrichtungen bezeichnet (IHRA 2016). Es handelt sich um eine spezifische Form von Intoleranz. Diese stellt eine Facette des übergreifenden Syndroms der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit dar (Mokros und Zick 2023, S. 157).

Der Antisemitismus nimmt allerdings eine Sonderstellung unter den Formen der Intoleranz sowie innerhalb des Syndroms der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ein. Während andere Formen der Intoleranz wie Fremdenfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit oder die pauschale Ablehnung von Asylsuchenden und anderen sozialen Minderheiten sich vornehmlich durch Ungleichwertigkeitsideologien im Sinne einer Abwertung der jeweils in den Blick gerückten Gruppen auszeichnen, wohnen dem Antisemitismus neben derartigen abwertenden Komponenten auch Annahmen und Vorstellungen inne, die Jüd:innen mit übermäßigen Machtzuschreibungen versehen (Imhoff 2020, S. 98–99; Mudde 2019, S. 26). Solche Mythen komplettieren das spezifische Stereotyp „der Juden“, wonach sie – trotz einer vermeintlichen Unterlegenheit und Minderwertigkeit – großen politischen und ökonomischen Einfluss besitzen, den sie nutzen, um die Weltpolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dies macht einen wesentlichen Aspekt des subjektiven Bedrohungsszenarios aus, welches den Antisemitismus mit speist. Hier schließt sich der Kreis zwischen Formen des tradierten Antisemitismus und Verschwörungsmythen, die ihre Narrative wechselseitig aufgreifen und reproduzieren (Damm 2023, S. 98–99; Pickel et al. 2023, S. 562–563; Salzborn 2021). Entsprechende, antisemitisch getränkte, westliche Verschwörungsmythen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch islamistische Vordenker aufgegriffen und in Kombination mit pauschalisierenden Auslegungen antijudäischer Koranpassagen zum Topos einer ‚ewigen Feindschaft‘ zwischen dem Islam und dem Judentum überhöht (Jikeli 2019, S. 71; Becker 2020, S. 78ff.).

Antisemitismus stellt sich somit als ein vielschichtiges, wandelbares Phänomen mit unterschiedlichen Erscheinungsformen dar, das nicht nur in den klassischen, direkt auf Personen abzielenden Vorurteilen, sondern auch in indirekten oder uneindeutigen Formen in Erscheinung treten kann (Arnold 2019, S. 138; Bernstein 2021, S. 20–27). So richtet sich der israelbezogene Antisemitismus gegen den Staat Israel, der von Antisemit:innen als eine gefährliche Manifestation jüdischen Lebens, Glaubens und Kultur wahrgenommen wird (Öztürk und Pickel 2023, S. 353f.). Antisemit:innen nutzen eine solche Kritik am Staat Israel oder seiner Politik u. a. als Deckmantel, um antijüdische Ressentiments zu verbreiten, ohne soziale Sanktionen fürchten zu müssen (Brumlik 2020, S. 72–75; Öztürk und Pickel 2022, S. 4–5). Dies bedeutet indessen nicht, dass jegliche Kritik an der israelischen Regierung oder ihrer Politik antisemitisch motiviert wäre. Insoweit ist es erforderlich, sachbezogene Auseinandersetzungen in Bezug auf politische Streitfragen klar von pauschalisierenden Haltungen zu differenzieren, die die Legitimation und das Existenzrecht eines jüdischen Staates grundsätzlich infrage stellen oder eine solche Kritik mit generalisierenden Ausgrenzungen oder Abwertungen von Jüd:innen oder dem Judentum verbinden (Mendel 2023). Letzteres kann z. B. auch über nicht sofort durchschaubare Argumentationsfiguren oder Symbole geschehen, die aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen und nun auf den heutigen Staat Israel angewendet bzw. verallgemeinernd auf dessen Bürger:innen bezogen werden (Bernstein 2021, S. 47).

Eine weitere Form antisemitischer Haltungen stellt der sogenannte Schuldabwehrantisemitismus dar, dem eine Täter-Opfer-Umkehr zugrunde liegt (Benz 2016, S. 221–227; Salzborn 2020). Er unterstellt Jüd:innen eine Mitschuld an der Shoah oder wirft ihnen vor, die Erinnerungskultur an die NS-Zeit im Eigeninteresse zu instrumentalisieren (Öztürk und Pickel 2022, S. 4).

2.1 Verbreitung antisemitischer Einstellungen: Entwicklungen in Deutschland

In Deutschland werden bereits seit längerer Zeit verschiedene Spielarten des Antisemitismus auf der Einstellungsebene untersucht, um ihre Verbreitung in der Gesellschaft und ihre Hintergründe genauer analysieren zu können. Bevölkerungsrepräsentative Studien kamen dabei in den vergangenen Jahren zu teilweise unterschiedlichen Befunden.

Die Leipziger Autoritarismus-Studie (Decker et al. 2022, S. 48–49) stellte im Jahr 2022 fest, dass die Prävalenzrate für die manifeste, d. h. klar ausgeprägte Zustimmung zu tradiertem Antisemitismus mit 3,3 % im Vergleich zu früheren Erhebungen in der Tendenz rückläufig war. Bei den vorangehenden Studien waren 2018 und 2020 mit 4,4 % und 3,6 % höhere Raten gefunden worden, die jedoch deutlich unter dem 2004 gemessenen Höchstwert von 9,9 % lagen. Im Kontrast dazu wurde in der jüngsten Veröffentlichung der Bielefelder Mitte-Studie unter Verwendung gleichartiger Items ein erheblicher Anstieg ausgeprägter antisemitischer Einstellungen von 1,7 % (2020/21) auf 5,7 % (2022/23) festgestellt – was einen neuen Höchststand in dieser Studienreihe markiert (Zick und Mokros 2023, S. 69–70).

Trotz dieser gegenläufigen Feststellungen zu Trends liegen die Schätzungen für die Prävalenz von manifestem tradiertem Antisemitismus in den vorgestellten Studien letztlich auf einem ähnlichen Niveau. Im Vergleich zu anderen Formen von Vorurteilen gegenüber Fremdgruppen wie Muslim- oder Ausländerfeindlichkeit, die deutlich zweistellige Prävalenzraten aufweisen, fällt die Verbreitung antisemitischer Einstellungsmuster allerdings deutlich niedriger aus (Fischer und Wetzels 2023, S. 349).

In jüngster Zeit fanden sich aber auch deutliche Anstiege der polizeilich registrierten antisemitischen Straftaten, sowohl während der Corona-Pandemie (BMI 2022) als auch insbesondere zuletzt seit dem Überfall der Hamas auf Israel im vergangenen Jahr (Tagesschau 2023; SZ 2024). Aus Sicht der Einstellungs- und Umfrageforschung sind solche erkennbaren Diskrepanzen der Beschreibung von Entwicklungen und Trends einerseits auf mögliche Effekte sozialer Erwünschtheit mit Blick auf Selbstberichte und darüber erfolgende Aufklärung eines Dunkelfeldes zum einen sowie veränderte Kontrollintensitäten und Schwerpunkte mit Blick auf das Hellfeld zum anderen zurückzuführen; andererseits deuten sie auf einen möglichen Wandel der in Deutschland vorherrschenden Spielarten des Antisemitismus sowie seiner Träger:innen hin. So erhalten Aussagen zu israelbezogenem Antisemitismus oder zum Schuldabwehrantisemitismus studienübergreifend in der Gesamtbevölkerung deutlich höhere Zustimmungsraten als dies bei tradiertem Antisemitismus der Fall ist (Decker et al. 2022, S. 67–69; Fischer und Wetzels 2023, S. 359–361; El-Menouar und Vopel 2023, S. 3; Mokros und Zick 2023, S. 164). Gerade der Schuldabwehrantisemitismus scheint tief in die deutsche Mehrheitsgesellschaft hineinzureichen – wobei er vor allem im rechten Spektrum verankert ist (Decker et al. 2022, S. 70; Öztürk und Pickel 2023, S. 372–374). Formen eines israelbezogenen Antisemitismus sind ferner Phänomene, die im Kontext von Protesten als Varianten politisch motivierter Kriminalität häufiger auftreten und leicht erkennbar sind, weshalb diese gut registriert werden können, wie z. B. der Ausruf „Tod Israel“ oder das Verbrennen der israelischen Staatsflagge bei Demonstrationen. Dies kann ggfs. zumindest teilweise Diskrepanzen der Trends zwischen Daten der Polizeistatistik zu politisch motivierter Kriminalität (PMK) und Einstellungsbefragungen erklären.

2.2 Antisemitismus unter Muslim:innen

Spätestens seit dem Israel-Gaza-Konflikt 2021 steht Antisemitismus unter in Deutschland lebenden Muslim:innen vermehrt im Fokus öffentlicher Debatten und ist vielfach Anlass für Spekulationen. Empirisch deuten verschiedene Studien darauf hin, dass die Verbreitung von tradiertem sowie von israelbezogenem Antisemitismus unter Muslim:innen höher ist als in den meisten anderen gesellschaftlichen Teilgruppen (Koopmans 2014; Öztürk und Pickel 2022, S. 19–20; El-Menouar und Vopel 2023, S. 5; Fischer und Wetzels 2023).

In der zweiten Welle der MiD-Studien aus dem Jahr 2022 wurde beispielsweise das Item „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“ von 13,7 % der Gesamtstichprobe zustimmend beantwortet; unter Muslim:innen war die entsprechende Rate mit 34,4 % hingegen erheblich erhöht (Fischer und Wetzels 2023, S. 359). Gerade in Zeiten der weiter eskalierenden Konflikte in Nahost scheint hier ein nicht zu vernachlässigendes Potenzial antisemitischer Ressentiments zu existieren.

Speziell im Vergleich zu anderen Religionsgruppen findet sich bei in Deutschland lebenden Muslim:innen ein höheres Ausmaß von tradiertem und israelbezogenem Antisemitismus (Öztürk und Pickel 2023, S. 375–378). Das Phänomen eines erhöhten Antisemitismus bei Muslim:innen zeigt sich in ähnlicher Form in anderen europäischen Ländern gleichfalls (Jikeli 2018, S. 120–126; Öztürk und Pickel 2022, S. 15–16).

Hintergründe und Ursachen des erhöhten Aufkommens antisemitischer Einstellungen unter Muslim:innen in Deutschland sind jedoch, abseits plausibler Überlegungen und anekdotischer Evidenzen, bislang nicht hinreichend wissenschaftlich geklärt. Insbesondere die Frage, ob es religionsgruppenspezifische Einflussfaktoren gibt, die im Hinblick auf die Konzeption von Prävention von Antisemitismus in Bezug auf die Zielgruppe der Muslim:innen zu beachten wären, ist weitestgehend ungeklärt.

Erste Befunde der Forschung machen deutlich, dass Muslim:innen in Deutschland keineswegs als homogene Gruppe mit generellen antisemitischen Tendenzen verstanden werden sollten – wie es rechtsextreme Akteur:innen zu Zwecken antimuslimischer und fremdenfeindlicher Mobilisierung häufiger darstellen. Es spricht vielmehr Vieles dafür, dass der Antisemitismus unter Muslim:innen nur eine Teilgruppe betrifft und vielschichtige Ursachen hat, die teils Überschneidungen mit dem Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft, teils aber auch Differenzen zu ihr aufweisen. So speist sich der tradierte Antisemitismus unter Muslim:innen nach vorliegenden Befunden in relevantem Maße aus religionsbezogenen, antijudäischen sowie herkunftsbezogenen, antizionistischen Haltungen (Öztürk und Pickel 2022; El-Menouar und Vopel 2023; Fischer und Wetzels 2023). Insbesondere fundamentale und rigide religiöse Orientierungsmuster weisen diesbezüglich einen relevanten Zusammenhang mit dem Ausmaß antisemitischer Einstellungen bei Muslim:innen auf (Koopmans 2014; Öztürk und Pickel 2022, S. 26–27; Fischer und Wetzels 2023, S. 369–372).

Zur Relevanz der Religiosität und ihrer unterschiedlichen Teilaspekte (z. B. Häufigkeit der individuellen oder kollektiven Religionspraxis sowie Intensität des Glaubens und der Bedeutung der Religion im Alltag) für die Erklärung von Antisemitismus liegen indessen widersprüchliche Befunde vor (Friedrichs und Storz 2022, S. 39–41; Öztürk und Pickel 2022, S. 26–27; El-Menouar und Vopel 2023, S. 6–7).

Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass der Herkunftskontext bei säkularen Muslim:innen ein Prädiktor für antisemitische Einstellungen darstellen könnte. So weisen nicht oder nur gering religiöse Muslim:innen aus arabischen Ländern eher antisemitische Einstellungen auf als solche aus der Türkei oder anderen nicht-arabischen Ländern (Storz und Friedrichs 2023).

Überdies gilt die Neigung zu Verschwörungserzählungen als ein besonders wichtiger Einflussfaktor für antisemitische Einstellungen unter Muslim:innen. Entsprechende Zusammenhänge sind allerdings auch in anderen gesellschaftlichen Teilgruppen zu registrieren (Fischer und Wetzels 2023, S. 370–371; Pickel et al. 2023, S. 562).

Schließlich sind individuelle Diskriminierungserfahrungen und kollektive Marginalisierungswahrnehmungen zentrale soziale Belastungsfaktoren für Migrant:innen in Deutschland, wobei Muslim:innen von diesen in Form antimuslimischer Ressentiments besonders häufig betroffen sind (Endtricht 2023; Öztürk et al. 2023; Wetzels und Brettfeld 2023b). Auch diese Phänomene können zur Entwicklung von Bedrohungswahrnehmungen und darüber vermittelt zu Vorurteilen und Intoleranz gegenüber Fremdgruppen beitragen, die sich – gepaart mit Verschwörungsnarrativen – auch in Formen des Antisemitismus niederschlagen.

3 Forschungsleitende Fragestellungen und Analysestrategie

Anknüpfend an die im einschlägigen Forschungsstand vorliegenden Befunde zu Verbreitung und Trends eines tradierten Antisemitismus in Deutschland werden im Folgenden die Daten der bundesweit repräsentativen und jährlich wiederholten Trendstudie „Menschen in Deutschland“ (MiD) aus den Jahren 2021 bis 2023 hinsichtlich der dort erkennbaren diesbezüglichen Entwicklungen in jüngerer Zeit analysiert. Neben Umfang und Veränderungen der Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der erwachsenen deutschen Wohnbevölkerung insgesamt werden auch die zeitlichen Veränderungen in verschiedenen gesellschaftlichen Teilgruppen kontrastiert. Verglichen werden insofern Personen ohne Migrationshintergrund, nichtmuslimische Personen mit Migrationshintergrund sowie Muslim:innen mit Migrationshintergrund.

Weiter wird, anknüpfend an frühere Befunde auf Grundlage von Daten aus dem Jahr 2022 (Fischer und Wetzels 2023), unter Verwendung aktueller Daten des Jahres 2023 die Frage verfolgt, welche Einflussfaktoren für die Verbreitung antisemitischer Einstellungen speziell unter Muslim:innen in Deutschland zu identifizieren sind. Es wird zum einen geprüft, inwieweit multivariat, auch nach statistischer Kontrolle aus der Forschung bekannter Prädiktoren, eine höhere Ausprägung antisemitischer Vorurteile unter Muslim:innen im Vergleich zu den Angehörigen christlicher Religionen sowie zu Personen ohne eine Religionszugehörigkeit (Konfessionslose) nachweisbar ist.

Darüber hinaus wird das Ziel verfolgt, neben der relativen Bedeutung der Religionszugehörigkeit auch Zusammenhänge der Intensität der individuellen religiösen Bindungen und unterschiedlicher Aspekte des individuellen Religionsverständnisses mit Antisemitismus genauer zu bestimmen. Für Muslim:innen wird zu diesem Zweck geprüft, inwieweit neben sozialen Kontextfaktoren, soziodemografischen Merkmalen und ansonsten für intolerante Einstellungen bekannten Faktoren zusätzlich auch Aspekte der individuellen Religiosität und des spezifischen Religionsverständnisses in Zusammenhang mit der Ausprägung antisemitischer Einstellungen stehen. Die neben den religionsbezogenen Faktoren verwendeten Prädiktoren betreffen aus der Forschung bekannte Einflussfaktoren für intolerante Einstellungen wie kollektive Marginalisierungswahrnehmungen, antizipierte ökonomische Belastungen sowie eine Verschwörungsmentalität (Fischer et al. 2022; Endtricht 2023; Papaioannou et al. 2023; Wetzels und Brettfeld 2022; Brettfeld 2023).

Gleichartige multivariate Analysen werden auch in Bezug auf die in der Stichprobe enthaltenen Christ:innen durchgeführt, um im Wege der Kontrastierung mögliche Spezifika der Faktoren zu identifizieren, die Einfluss auf Zusammenhänge muslimischer Religiosität mit Antisemitismus haben.

Diese Analysen verfolgen das Ziel, Hintergründe antisemitischer Ressentiments bei Muslim:innen differenzierter zu bestimmen und den relativen Stellenwert von Religion und Religiosität für die Erklärung von Antisemitismus herauszuarbeiten. Damit verbunden ist weiter eine anwendungsorientierte Zielsetzung: Auf diesem Wege sollen für Akteur:innen aus Politik und Praxis Erkenntnisse gewonnen werden, die dazu beitragen können, evidenzbasiert die Konzeption von Maßnahmen der Prävention mit Blick auf Antisemitismus in Bezug auf in Deutschland lebende Muslim:innen genauer auf spezifische Teilgruppen und dort relevante Faktoren ausrichten und optimieren zu können.

Nicht zuletzt soll damit zu einer datengestützten Versachlichung einer kontrovers geführten gesellschaftlichen Debatte beigetragen werden. Schließlich tragen weder verallgemeinernde Antisemitismusvorwürfe gegen Muslim:innen noch die schlichte Leugnung oder Ignoranz vorliegender empirischer Befunde zu erhöhten Raten antisemitischer Einstellungen bei Muslim:innen konstruktiv zur Lösung der bestehenden gesellschaftlichen Probleme in diesem Feld bei. Im Gegenteil, beide Haltungen stehen eher in der Gefahr, den historischen Bezugspunkt der deutschen Antisemitismusdebatte ganz im Sinne rechtsextremer Bemühungen vom Nationalsozialismus zum Nahostkonflikt zu verschieben (Arnold 2019; Brumlik 2020, S. 78–81).

4 Datengrundlage und Methode

Die dargelegten Forschungsfragen werden auf Basis der im Trenddesign konzipierten repräsentativen Umfrage „Menschen in Deutschland“ (MiD) untersucht (Brettfeld et al. 2021). Verwendet werden dazu Daten der ersten drei Erhebungswellen aus den Jahren 2021 bis 2023 (Endtricht et al. 2022; Fischer et al. 2023; Wetzels et al. 2023a). Vertiefende multivariate Analysen erfolgen beschränkt auf die Daten der aktuellsten dritten Welle dieser Studie aus dem Jahr 2023.

Die MiD-Studien werden innerhalb des Forschungsverbundes „Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung“ (MOTRA) durch das Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg durchgeführt.Footnote 2 Zentrales Anliegen der Studie ist es, Ausmaß und Entwicklung politisch-extremismusaffiner sowie intoleranter Einstellungen (wie z. B. Antisemitismus oder Muslimfeindlichkeit) in Deutschland fortlaufend zu beobachten und darüber im Kontext des multimethodalen Ansatzes des Gesamtforschungsverbundes MOTRA zu einem kontinuierlichen Monitoring beizutragen (Brettfeld et al. 2023). Des Weiteren sollen relevante Einflussfaktoren für extremismusaffine Einstellungen und Formen der Intoleranz analysiert werden, die Ansatzpunkte für Prävention bieten können.

Eine Besonderheit der MiD-Studien ist, dass in allen Wellen, neben repräsentativen Stichproben der erwachsenen Wohnbevölkerung ab 18 Jahren insgesamt, auch repräsentative Zusatzstichproben (Oversamplings) für die Teilpopulationen der in Deutschland lebenden erwachsenen Menschen mit Migrationshintergrund sowie der in Deutschland lebenden erwachsenen Muslim:innen enthalten sind. Die Teilnehmenden wurden anhand von Zufallsstichproben aus den Registern der Einwohnermeldeämter gezogen. Die Befragungen erfolgten im Mixed-Mode-Design, d. h. die Befragten konnten den in der Erhebung verwendeten standardisierten Fragebogen je nach Vorliebe schriftlich (PAPI) oder online (CAWI) beantworten. Für die Befragten aus den Oversamplings – und im Speziellen die Muslim:innen – standen die Fragebögen im CAWI-Format neben Deutsch auch in den Sprachen Türkisch, Arabisch, Farsi und Englisch zur Verfügung.Footnote 3

4.1 Stichprobenbeschreibung

Alle bislang durchgeführten Wellen der MiD-Studien befanden sich von März bis Juni des jeweiligen Erhebungsjahres im Feld. Im Jahr 2021 konnten insgesamt N = 4483, im Jahr 2022 N = 4319 und im Jahr 2023 N = 4253 Teilnehmende gewonnen werden. Die Rücklaufquoten für die einzelnen Jahre belaufen sich, unter Einschluss aller Teilstichproben, auf 23,6 %, 20,6 % und 19,7 %. Durch die im Stichprobendesign vorgesehenen Oversamplings sind Personen mit Migrationshintergrund und Muslim:innen in der erreichten Gesamtstichprobe jeweils überrepräsentiert. Daraus resultierende Verzerrungen in der Gesamtstichprobe wurden anhand von Design- und Nonresponsegewichtungen ausgeglichen (vgl. dazu ausführlich Endtricht et al. 2022, S. 14–18; Fischer et al. 2023, S. 13–16; Wetzels et al. 2023a, S. 13–16).

Entsprechende Gewichtungen wurden gleichermaßen für die definierten Teilstichproben – Personen ohne Migrationshintergrund, Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund sowie Muslim:innen mit Migrationshintergrund – durchgeführt, sodass diese sowohl isoliert als auch in Kombination die Verhältnisse in der jeweiligen Grundgesamtheit adäquat abbilden. Für die Betrachtung antisemitischer Einstellungen im Zeitverlauf werden im Folgenden neben der Gesamtstichprobe auch die Verteilungen in den genannten Teilgruppen separat analysiert. Entsprechende Aufteilungen liegen auch den vertiefenden Analysen zugrunde, die anhand der Daten der 3. Welle aus dem Jahr 2023 angestellt werden. Eine Übersicht der soziodemografischen Merkmale der gewichteten Gesamtstichproben und der gewichteten Teilstichproben der drei verwendeten Wellen findet sich in Tab. 1.

Tab. 1 Verteilung soziodemografischer Merkmale in den Gesamtstichproben sowie den Teilstichproben in den Erhebungen der Jahre 2021 bis 2023

Diese Eckdaten zeigen für alle drei Wellen jeweils gute Übereinstimmungen der Stichproben mit den Referenzdaten des Statistischen Bundesamtes für die erwachsene Wohnbevölkerung ab 18 Jahren in den jeweiligen Jahren (für Details siehe Endtricht et al. 2022; Fischer et al. 2023; Wetzels et al. 2023a). Einschränkend ist allerdings zu beachten, dass amtliche Daten zu den Anteilen und der sozialen Verteilung von Menschen mit muslimischer Religionszugehörigkeit nicht zur Verfügung stehen. Insofern war es notwendig, für die Gewichtung wie auch die Einschätzung der Qualität der erreichten Stichproben u. a. auf Schätzungen größerer Studien zu diesen Zielgruppen aus jüngerer Zeit zurückzugreifen (z. B. Pfündel et al. 2021).

Für die gewichteten Teilstichproben finden sich über die Jahre hinweg recht konstante Muster. So sind Personen ohne Migrationshintergrund im Schnitt deutlich älter (53,5 bis 54,2 Jahre) als die Personen aus den beiden Teilstichproben mit Migrationshintergrund. Ferner sind die Stichproben der Muslim:innen im Schnitt jünger (37,5 bis 40,3 Jahre) und enthalten höhere Anteile männlicher Befragter (52,4 bis 56,3 %) als die beiden anderen Teilstichproben. Zudem ist der Anteil Befragter mit Hoch- bzw. Fachhochschulreife bei ihnen geringer (zwischen 28,1 und 30,1 %).

Alle im Folgenden dargestellten uni-, bi- und multivariaten Analysen wurden mit Stata/MP 17 unter Verwendung gewichteter Daten berechnet. Für hierarchische OLS-Regressionsmodelle wurden robuste Standardfehler berechnet, um die Schiefe einiger der hier verwendeten Variablen zu kompensieren. In allen multivariaten Analysen wird in den Modellen einheitlich für Geschlecht, Bildung und Alter kontrolliert.

4.2 Operationalisierungen und Messinstrumente

Die zentrale abhängige Variable in den folgenden Analysen sind antisemitische Einstellungen. Deren Messung erfolgt über zwei Items, die Formen eines tradierten Antisemitismus erfassen und auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 „stimme gar nicht zu“ bis 4 „stimme völlig zu“) beantwortet werden.

Unter den unabhängigen Variablen, die zur Kontrolle sozialer Einflussfaktoren eingesetzt werden, werden die kollektive Marginalisierung und die Verschwörungsmentalität anhand von Mittelwertskalen abgebildet. Diesen Skalen liegen sieben beziehungsweise fünf Items zugrunde, die jeweils auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 „stimme gar nicht zu“ bis 4 „stimme völlig zu“) beantwortet werden können.

Als kollektive Marginalisierung wird die subjektive Einschätzung der Befragten verstanden, wie sie das Ausmaß der gesellschaftlichen Benachteiligung und Ausgrenzung ihrer Eigengruppe einschätzen. Damit wird abseits persönlicher Diskriminierungserfahrungen vor allem die stellvertretend erlebte Diskriminierung von Mitgliedern der Eigengruppe erfasst.

Unter Verschwörungsmentalität, einer weiteren der als Prädiktor untersuchten unabhängigen Variablen, wird die Neigung verstanden, gesellschaftliche und politische Vorgänge als Machenschaften geheimer Mächte und konspirativer Organisationen zu deuten. Sie bildet eine generelle Tendenz ab, hinter einer Vielzahl von Geschehnissen und Vorgängen böswillige konspirative Vorgänge zu vermuten (Lamberty 2019; Imhoff 2020; Imhoff et al. 2022b; Pickel et al. 2023).

Die subjektive Wahrnehmung drohender ökonomischer Einschränkungen fungiert als eine weitere unabhängige Variable zur Kontrolle sozialer Einflussfaktoren. Diese wurden über die subjektiv eingeschätzten Wahrscheinlichkeiten erfasst, mit der die Befragten in den nächsten 6 Monaten persönlich bei sich krisenbedingte Einschränkungen im Bereich der Befriedigung von Grundbedürfnissen (Arbeit, Wohnen, Energieversorgung, Grundnahrungsmittel, Freizeit, Kredite) erwarten. Diese Variable wird als Summenindex aus den Angaben zu sechs Items gebildet, die auf einer vierstufigen Likert-Skala (1 „sehr unwahrscheinlich“ bis 4 „sehr wahrscheinlich“) beantwortet werden. Diese Angaben werden am absoluten Skalenmittelpunkt dichotomisiert und anschließend zu einem zwischen 0 und 6 variierenden Indikator additiv zusammengefasst (vergleichbar auch Brettfeld et al. 2023).

Bei den vergleichenden multivariaten Analysen für Christ:innen und Muslim:innen wird ferner die Ausprägung von religiösem Fundamentalismus als weiterer Prädiktor in die Modelle einbezogen. Dieser wird als eine dogmatische Haltung im Sinne einer besonderen Rigidität in Bezug auf das Verständnis der eigenen Religion. Dies äußert sich in einem absoluten Richtigkeits- und Wahrheitsanspruch, der gegenüber anderen Gläubigen und Nichtgläubigen durchgesetzt werden soll. Ferner werden alternative Interpretationen religiöser Texte sowie Modernisierungsbestrebungen strikt abgelehnt (Wetzels und Brettfeld 2023a, S. 378; s. a. Fischer und Wetzels 2023). Die Messung erfolgt über vier Items, die auf einer vierstufigen Likertskala (1 „stimme gar nicht zu“ bis 4 „stimme völlig zu“) beantwortet werden.

Die individuelle Religiosität der befragten Christ:innen und Muslim:innen wird darüber hinaus, in Anlehnung an das mehrdimensionale Modell der Religiosität von Huber (2003, 2004), anhand von fünf Items erfasst, die über unterschiedlich skalierte Likert-Skalen beantwortet werden können (siehe dazu auch Wetzels und Brettfeld 2023a, S. 372–373). Einbezogen werden dazu die Dimensionen der spirituellen Religiosität (1 „nicht gläubig“ bis 5 „sehr stark gläubig“), der individuellen Religionspraxis (Gebet alleine von 1 „nie“ bis 8 „mehrmals täglich“) und der kollektiven Religionspraxis (Gotteshausbesuch von 1 „nie“ bis 8 „mehrmals täglich“). Die Dimension der Zentralität der Religion wird anhand von zwei weiteren Items erfasst (Bedeutung der Religion im Alltag und Wichtigkeit der Religion), die auf einer vierstufigen Likert-Skalen beantwortet werden können.

5 Befunde zu Antisemitismus in Deutschland

Analysen der Verbreitung antisemitischer Einstellungen im Zeitverlauf von 2021 bis 2023 werden sowohl für die bevölkerungsrepräsentativen Gesamtstichprobe als ganze als auch separat für die darin enthaltenen drei Teilstichproben (1) der Personen ohne Migrationshintergrund, (2) der Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund und (3) der Muslim:innen mit Migrationshintergrund durchgeführt.

In allen drei MiD-Wellen wurde tradierter Antisemitismus gleichartig anhand von zwei Items erfasst (Tab. 2). Das Item „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“ enthält eine im tradierten Antisemitismus typische überhöhte Machtzuschreibung in Bezug auf Jüd:innen. Bei der Aussage „Juden kann man nicht trauen“ handelt es sich hingegen um eine vorwiegend die interpersonellen Kontakte betreffende negativ-abwertende Haltung gegenüber Jüd:innen.

Tab. 2 Tradierte antisemitische Einstellungen in Deutschland 2023: Einzelitems und Gesamtindikator (Daten der Welle 3 der MiD-Studie aus dem Jahr 2023; gültige n = 4205)

Für die folgenden Beschreibungen des Trends antisemitischer Einstellungen werden sowohl die Ausprägungen der Einzelitems als auch ein zusammenfassender dichotomer Indikator verwendet. Zur Bildung des dichotomen Indikators werden die Einzelitems zunächst zu einem Mittelwertindikator (MW = 1,37, SD = 0,61) zusammengefasst, der anschließend bei Skalenwerten über 2,8 dichotomisiert wird, um die Anteile ausgeprägter antisemitischer Einstellungsmuster zu identifizieren (für Details zur Auswahl des Cut-Off-Werts siehe Wetzels et al. 2022, S. 84; Fischer und Wetzels 2023, S. 360).

5.1 Entwicklung der Verbreitung tradierter Formen antisemitischer Einstellungen in Deutschland seit 2021

Die Entwicklung der Zustimmungsraten (3 „stimme eher zu“ und 4 „stimme völlig zu“) zu den beiden antisemitischen Einzelitems wird in Abb. 1 dargestellt. In Bezug auf die drei bevölkerungsrepräsentativen Gesamtstichproben erweisen sich die Zustimmungsraten zum Item „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“ als relativ konstant. Signifikante Differenzen im Zeitverlauf liegen nicht vor. Dem Item „Juden kann man nicht trauen“ stimmen über alle Erhebungszeitpunkte hinweg weniger Personen aus der Gesamtbevölkerung zu. Die Raten schwanken zwischen 4,3 und 4,6 %; signifikante Unterschiede zwischen den Erhebungswellen liegen auch hier nicht vor.

Abb. 1
figure 1

Zustimmungsraten zu antisemitischen Einzelitems in der Gesamtbevölkerung sowie in relevanten Teilgruppen im Zeitverlauf von 2021 bis 2023 mit 95 % Konfidenzintervall

Bei der isolierten Betrachtung von Personen ohne Migrationshintergrund ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Zustimmungsraten zu der Ansicht, Juden hätten in Deutschland zu viel Einfluss, sind ebenfalls über die Zeit nahezu konstant. Sie waren 2023 (6,3 %) nur geringfügig niedriger im Vergleich zu 2021 (6,7 %) und 2022 (6,8 %). Diese Differenzen sind jedoch klein und statistisch nicht signifikant. Auch die Zustimmungsraten zu der Aussage „Juden kann man nicht trauen“ sind mit 3,3 %, 3,0 % und 3,1 % im Zeitverlauf gleichfalls nahezu unverändert geblieben.

In der Gruppe der Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund liegen die Zustimmungsraten zu der Aussage „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“ in den Jahren 2021 (9,8 %) und 2022 (11,2 %) deutlich über den Werten der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Im Jahr 2023 war diesbezüglich jedoch ein Rückgang auf 7,5 % zu verzeichnen, der sich im Vergleich zum Vorjahr als signifikant erweist (χ2 = 11,64, df = 2, p < 0,01). Damit liegt die Rate nun auf einem Niveau, wie es sich auch bei Personen ohne Migrationshintergrund finden lässt.

Beim Item „Juden kann man nicht trauen“ belaufen sich die Raten bei den nichtmuslimischen Migrant:innen im Jahr 2021 auf 4,5 %, im Jahr 2022 auf 5,7 % und 2023 auf 4,4 %. Die Differenzen zwischen den Jahren sind statistisch nicht signifikant.

Die befragten Muslim:innen weisen bei beiden verwendeten Items in allen Erhebungsjahren im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen statistisch signifikante, ganz deutlich erhöhte Zustimmungsraten auf. Der Meinung, dass Juden in Deutschland zu viel Einfluss haben, sind je nach Erhebungszeitpunkt 27,7 %, 29,6 % und 29,0 % der befragten Muslim:innen. Diese Raten unterscheiden sich untereinander nicht signifikant, d. h. sie sind im Zeitverlauf konstant geblieben.

Bei dem Item zum generalisierten Misstrauen gegenüber Juden, das klar eine interpersonelle Ausprägung antisemitischer Einstellungen abbildet, zeigt sich indessen für Muslim:innen ein signifikanter Trend steigender Raten von 12,6 % im Jahr 2021 über 17,4 % im Jahr 2022 auf 18,7 % im Jahr 2023 (χ2 = 18,72, df = 2, p < 0,001).

Bei Verwendung des dichotomisierten Mittelwertindikators für antisemitische Einstellungen zeigen sich in Abb. 2 im Hinblick auf die Niveaus und die zeitlichen Verläufe gleichartige Befunde. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung findet sich zwar in der Stichprobe ein leichter Aufwärtstrend von 3,5 % auf 4,0 % und danach auf 4,1 %. Diese Differenzen sind aber statistisch nicht signifikant. Die zeitlichen Trends sind bei Personen ohne Migrationshintergrund und Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund ähnlich. Demgegenüber finden sich für muslimische Befragte im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen zum einen deutlich erhöhte Prävalenzraten sowie zum anderen im Zeitverlauf eine statistisch signifikante, klar steigende Tendenz. Auch wenn diese Befunde auf ein vergleichsweise hohes und signifikant gestiegenes Ausmaß manifester antisemitischer Einstellungen unter Muslim:innen in Deutschland verweisen, ist zu beachten, dass derartige Vorurteile auch Muslim:innen nur von einer Minderheit geteilt werden. Mehr als 80 % erweisen sich auch 2023 als nicht manifest antisemitisch.

Abb. 2
figure 2

Prävalenz antisemitischer Einstellungsmuster (Werte > 2,8) in der Gesamtbevölkerung sowie in relevanten Teilgruppen im Zeitverlauf von 2021 bis 2023 mit 95 % Konfidenzintervall

Die Frage, warum antisemitische Einstellungen unter Muslim:innen in den Erhebungszeiträumen von 2021 (12,5 %) bis 2023 (17,5 %) zugenommen haben (χ2 = 12,22, df = 2, p < 0,01), während sie in den anderen Teilstichproben weitgehend konstant geblieben sind (nur bei Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund verzeichnete sich von 2021 (2,8 %) auf 2022 (4,9 %) ein signifikanter Anstieg auf einem allerdings deutlich niedrigeren Niveau; χ2 = 972, df = 2, p < 0,01), lässt sich an dieser Stelle nicht abschließend klären. Es ist jedoch zu vermuten, dass der Israel-Gaza-Konflikt vom Mai 2021 – der sich im Anschluss durch zahlreiche Vorfälle in Gaza und im Westjordanland fortsetzte und weiter schwelte, insbesondere Muslim:innen empfänglich für antisemitisches Gedankengut gemacht hat. Für diese These sprechen Befunde aus einem natürlichen Experiment, das mit Daten von MiD 2021 durchgeführt wurde und die Eskalation der Konflikte zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 als einen Faktor identifizierte, der kurzfristige Anstiege antisemitischer Einstellungen in Deutschland zur Folge hatte (Brettfeld et al. 2022; Richter et al. 2022). Dementsprechend ist damit zu rechnen, dass es auch in Folge der aktuellen Entwicklungen in Gaza und im Westjordanland zu Zunahmen antisemitischer Einstellungen in Deutschland kommt.

Weiterhin ist festzuhalten, dass auf Ebene der Einzelitems und des Gesamtindikators die Gruppe der Personen ohne Migrationshintergrund die niedrigste Rate für antisemitische Einstellungen aufweist. Die auch gegenüber den Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund deutlich erhöhten Werte der Muslim:innen sprechen ferner dafür, dass bei letzteren weniger der Migrationshintergrund, sondern eher mit der Religion und/oder Religiosität in Zusammenhang stehende Faktoren zur Entstehung und Verbreitung antisemitischer Einstellungen beitragen (so auch Öztürk und Pickel 2022; Fischer und Wetzels 2023).

5.2 Multivariaten Analysen: Migration, Religionszugehörigkeit, individuelle Religiosität und Antisemitismus

Im Folgenden wird anhand multivariater Analysen der aktuellen Daten der Erhebung MiD 2023 diese Frage möglicher Zusammenhänge zwischen Antisemitismus und Religionszugehörigkeit sowie der individuellen Religiosität der Befragten verfolgt. In diese Analysen werden theoretisch relevante, empirisch bereits mehrfach untersuchte nicht-religionsbezogene Prädiktoren für Intoleranz und antisemitische Einstellungen einbezogen, darunter u. a. kollektive Marginalisierung, ökonomische Einschränkungen und die Ausprägung von Verschwörungsmentalität (Fischer et al. 2022; Brettfeld 2023; Fischer und Wetzels 2023; Hirndorf 2022; Pickel et al. 2023; Öztürk und Pickel 2023), um die relative Bedeutung von Religion und Religiosität zur Erklärung von Antisemitismus einschätzen zu können.

5.2.1 Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund

Um den Zusammenhang eines Migrationshintergrundes und der Zugehörigkeit zu einer spezifischen Religionsgemeinschaft (bzw. der Nichtzugehörigkeit zu einer Religion) mit Antisemitismus statistisch kontrollieren und einzeln differenzieren zu können, werden im Folgenden die Teilgruppen der Personen ohne Migrationshintergrund und der Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund in Christ:innen und Konfessionslose unterteilt. Personen, die sich anderen religiösen Bekenntnissen zuordnen, werden aufgrund der niedrigen Fallzahlen bei diesen Analysen nicht berücksichtigt. Von den Personen ohne Migrationshintergrund gaben 61,4 % an, einer christlichen Religion anzugehören, während 38,6 % sich als Konfessionslose identifiziert haben. Unter den Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund fällt die Verteilung mit 66,7 % Christ:innen und 33,3 % Konfessionslosen ähnlich aus.

In Abb. 3 werden die Zustimmungsraten zu den antisemitischen Einzelitems aufgeteilt in die fünf Gruppen der Christ:innen und Konfessionslosen mit und ohne Migrationshintergrund sowie der Muslim:innen mit Migrationshintergrund dargestellt. Die Muslim:innen weisen mit 29,0 % weiterhin statistisch signifikant erhöhte Werte im Vergleich zu den anderen Gruppen auf (χ2 = 350,09, df = 4, p < 0,001) und 18,7 % (χ2 = 243,85, df = 4, p < 0,001), während zwischen den übrigen Gruppen keine signifikanten Unterschiede zu erkennen sind.

Abb. 3
figure 3

Zustimmung zu den Einzelitems der Antisemitismusskala in fünf Teilgruppen: Christ:innen und Konfessionslose jeweils mit und ohne Migrationshintergrund sowie Muslim:innen mit Migrationshintergrund im Jahr 2023; Prozentraten für Werte > 2 und 95 % Konfidenzintervalle

5.2.2 Skalen für die multivariaten Analysen

Die Einzelitems „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“ und „Juden kann man nicht trauen“ wurden für die weiteren Analysen zu einem kontinuierlichen Mittelwertindikator Antisemitismus zusammengefasst (MW = 1,37, SD = 0,61), der die zentrale abhängige Variable darstellt.

Die subjektive Wahrnehmung einer kollektiven Marginalisierung der Eigengruppe wird anhand einer aus sieben Items gebildeten Mittelwertskala (MW = 2,09, SD = 0,71) gemessen, die bereits seit der ersten Welle der MiD-Studien zum Einsatz kommt (Fischer et al. 2022). Der Eigengruppenbezug wird durch den Einleitungssatz „Hier bei uns werden Menschen wie ich …“ hergestellt. Die Einzelitems thematisieren verschiedene Formen wahrgenommener Anerkennungs- und Teilhabedefizite (z. B. „… von anderen geringgeschätzt“ oder „… von Politikern nicht ernst genommen“). Alle sieben Items laden auf einen gemeinsamen Faktor. Die über diese Items gebildete Mittelwertskala weist eine gute Reliabilität auf (ω = 0,88).

Ökonomische Einschränkungen werden in Form eines Summenindex abgebildet. Anhand von sechs Items wird dazu abfragt, für wie wahrscheinlich die Befragten es halten, dass Sie in den nächsten sechs Monaten mit verschiedenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert werden (z. B. „… ihre Miete nicht mehr bezahlen können?“ oder „… sich beim Einkauf von Grundnahrungsmitteln einschränken müssen?“). Zur Bildung des Summenindikators werden alle sechs Items dichotomisiert, und die Anzahl der für wahrscheinlich erachteten Einschränkung wird summiert. Der Indikator kann damit Ausprägungen von null bis sechs annehmen (vgl. dazu auch Wetzels et al. 2023b).

Zur Erfassung der Ausprägung der individuellen generellen Neigung zur Akzeptanz von Verschwörungsnarrativen (Verschwörungsmentalität) als einem für die Entwicklung von sozialen Vorurteilen relevanten Risikofaktor auf der Persönlichkeitsebene, wurde eine Mittelwertskala (MW = 2,04, SD = 0,78) aus fünf Items eingesetzt. Diese Skala wurde in ähnlicher Form bereits in MiD 2022 eingesetzt (Fischer und Wetzels 2023). Sie enthält sowohl Items, die eine allgemeine Neigung zum Verschwörungsdenken thematisieren als auch Items, die die Zustimmung zu konkreten benannten Verschwörungsnarrativen in den Blick nehmen. Befragte werden hier gebeten anzugeben, in welchem Maße sie den Aussagen „Es gibt geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben“, „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“, „Medien und Politik stecken unter einer Decke“, „Studien, die einen Klimawandel belegen, sind meist gefälscht“ und „Der wahre Ursprung des Corona-Virus wird von unserer Regierung mit Absicht geheim gehalten“ zustimmen. Aufgrund dessen, dass diese fünf Items eine hinreichend breite Spanne unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade aufweisen und mit einer Varianzaufklärung von 65 % auf einen gemeinsamen Faktor laden, erscheint es berechtigt, diese teils spezifisch und teils unspezifisch-generalisiert ausgerichteten Items zu einer Mittelwertskala zusammenzuführen (zum Problem der Skalenbildung in solchen Fällen vgl. Imhoff et al. 2022a; Imhoff 2024). Die Reliabilität der so gebildeten Mittelwertskala erwies sich zudem als gut (ω = 0,87), was die Entscheidung für eine solche Skalenbildung weiter unterstützt.

Für die Analysen in den Teilstichproben der befragten Christ:innen und Muslim:innen kommt ferner eine Mittelwertskala zur Messung von religiösem Fundamentalismus zum Einsatz. Die vier hier zur Erfassung verwendeten Items thematisieren u. a. inwieweit die Befragten Aussagen wie „Menschen, die [den Islam/die christliche Lehre] modernisieren, zerstören die wahre Lehre“ oder „Es gibt nur eine richtige Interpretation [des Koran/der Bibel], an die sich alle [Muslime/Christen] halten sollten“ zustimmen. Das Ausmaß fundamentaler religiöser Einstellungen erweist sich bei Muslim:innen (MW = 2,27, SD = 0,84) als deutlich ausgeprägter im Vergleich zu Christ:innen (MW = 1,57, SD = 0,64); (tWelch = 615,7; df = 1; p < 0,001).

Die individuelle Religiosität der Befragten wird im Sinne einer persönlichen religiösen Bindung in vier Dimensionen erfasst, die in die folgenden Analysen einbezogen werden (siehe dazu auch Wetzels und Brettfeld 2023a). So werden die Befragten zur Erfassung der individuellen Religionspraxis gebeten anzugeben, wie häufig sie beten (1 „nie“ bis 8 „mehrmals täglich“). Muslim:innen (MW = 5,30, SD = 2,68) gaben an, häufiger zu beten als Christ:innen (MW = 3,50, SD = 2,40) (tWelch = 362,2; df = 1; p < 0,001). Auf ähnliche Weise wird die kollektive Religionspraxis erfasst. Dazu konnten die Befragten angeben, wie häufig sie ein Gebets- oder Gotteshaus aufsuchen (1 „nie“ bis 8 „mehrmals täglich“). Ähnlich wie schon bei der individuellen Religionspraxis ist die kollektive Religionspraxis bei Muslim:innen (MW = 2,94, SD = 1,87) deutlich stärker ausgeprägt als bei den Christ:innen (MW = 2,19, SD = 1,25); (tWelch = 155,6; df = 1; p < 0,001).Footnote 4

Die Dimension der spirituellen Religiosität wird über die Frage abgebildet, wie stark gläubig die Befragten sich selbst einschätzen (1 „nicht gläubig“ bis 5 „sehr stark gläubig“). Christ:innen (MW = 3,01, SD = 1,10) weisen in dieser Dimension zwar einen leicht über dem numerischen Skalenmittelpunkt liegenden Mittelwert auf, die Gläubigkeit ist bei Muslim:innen (MW = 3,70, SD = 0,93) im Schnitt aber deutlich stärker ausgeprägt (tWelch = 350,0; df = 1; p < 0,001). Schließlich wird die Zentralität der Religion anhand eines auf zwei Items basierenden Mittelwertindikators abgebildet. Erstens werden die Befragten gebeten anzugeben, wie wichtig die Religion für sie persönlich ist (1 „völlig unwichtig“ bis 4 „sehr wichtig“) und zweitens wird ihre Zustimmung zu der Aussage „Mein Glaube ist Richtschnur für alle meine Entscheidungen im Alltag“ erfragt (1 „stimme gar nicht zu“ bis 4 „stimme völlig zu“). Erneut zeigt sich, dass diese Dimension der individuellen Religiosität bei Muslim:innen (MW = 2,96, SD = 0,84) im Durchschnitt stärker ausgeprägt ist als bei Christ:innen (MW = 2,26, SD = 0,86; tWelch = 493,1; df = 1; p < 0,001).

5.2.3 Ergebnisse der multivariaten Analysen

In Tab. 3 werden die Ergebnisse für mehrere Modelle dargestellt, in welchen die Zusammenhänge der verschiedenen unabhängigen Variablen mit antisemitischen Einstellungen für die fünf Teilgruppen der Christ:innen und Konfessionslosen mit und ohne Migrationshintergrund sowie den Muslim:innen mit Migrationshintergrund kontrastiert werden.

Tab. 3 Hierarchische OLS-Regression von Antisemitismus (kont.) auf Religionszugehörigkeit, Migrationshintergrund, kollektive Marginalisierung, ökonomische Sorgen sowie Verschwörungsmentalität

In Modell I ist festzustellen, dass weder Alter noch Geschlecht Zusammenhänge mit antisemitischen Einstellungen aufweisen; lediglich für eine hohe Bildung zeigt sich ein negativer Zusammenhang im Sinne eines Schutzfaktors (β = −0,193***). Erwartungsgemäß fällt die Varianzaufklärung in diesem Eingangsmodell mit R2 = 3,7 % nur gering aus.

Modell II prüft neben den soziodemografischen Kontrollvariablen auch den Zusammenhang von Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund mit Antisemitismus. Die Zugehörigkeit zu den Gruppen der Konfessionslosen mit Migrationshintergrund (β = 0,052*) und der Christ:innen mit Migrationshintergrund (β = 0,058*) weist hier einen signifikanten Zusammenhang mit Antisemitismus auf, der allerdings nur auf dem 5 %-Niveau signifikant ist.

Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslim:innen (β = 0,369***) zeigt eine deutlich stärkere, signifikante positive Assoziation mit dem Ausmaß von Antisemitismus. Die Varianzaufklärung des Modells II (R2 = 13,8 %) ist im Vergleich zum Eingangsmodell bereits deutlich erhöht.

Wird in Modell III die kollektive Marginalisierung (β = 0,179***) zusätzlich einbezogen, die multivariat einen signifikanten positiven Zusammenhang mit Antisemitismus aufweist, steigt die Varianzaufklärung (R2 = 16,7 %) des Modells etwas. Die zuvor festgestellten Zusammenhänge des Migrationshintergrundes mit Antisemitismus bestehen aber weiterhin; auch die Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslim:innen ist weiter mit statistisch signifikant erhöhten antisemitischen Einstellungen verbunden (β = 0,350***).

In Modell IV wird neben der kollektiven Marginalisierung (β = 0,135***) zusätzlich auch der Einfluss erwarteter ökonomischer Einschränkungen im Modell berücksichtigt. Diese stehen ebenfalls in einem statistisch signifikanten Zusammenhang mit Antisemitismus (β = 0,150***). Für die Gruppen der Konfessionslosen mit Migrationshintergrund (β = 0,046) und Christ:innen mit Migrationshintergrund (β = 0,043) finden sich keine signifikante Assoziation mehr mit antisemitischen Einstellungen. Für Muslim:innen zeigt sich aber sehr wohl immer noch ein signifikanter deutlicher Zusammenhang mit einem erhöhten Antisemitismus im Vergleich zur Referenzgruppe (β = 0,307***).

Im abschließenden Modell V werden zusätzlich die Zusammenhänge des Antisemitismus mit der Verschwörungsmentalität (β = 0,356***) in das Gesamtmodell einbezogen. Die Varianzaufklärung steigt dadurch deutlich auf R2 = 27,6 %. Auch nach dieser umfangreichen multivariaten Kontrolle ist die Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslim:innen mit einer signifikant erhöhten Ausprägung von Antisemitismus verbunden (β = 0,238***).

Insgesamt zeigt sich damit, dass die deutlich erhöhten antisemitischen Einstellungen von Muslim:innen nicht allein mit Verweis auf einen Migrationshintergrund, kollektive Marginalisierungswahrnehmungen und vermehrte ökonomische Einschränkungen zu erklären sind. Selbst nach zusätzlicher Kontrolle der Zusammenhänge mit Verschwörungsmentalität ist ein statistisch relevanter Zusammenhang der muslimischen Religionszugehörigkeit mit erhöhtem Antisemitismus nachweisbar.Footnote 5

Um diesen Befunden weiter auf den Grund zu gehen und die Relevanz von religionsbezogenen Aspekten für die Erklärung von Antisemitismus genauer herauszuarbeiten, wurden weitere multivariate Analysen getrennt für die Gruppen der Christ:innen und Muslim:innen durchgeführt. In diesen hierarchischen Regressionsmodellen werden sowohl die vier Dimensionen der individuellen Religiosität als auch fundamentale religiöse Einstellungen – d. h. die Rigidität des Umgangs mit religiösen Ge- und Verboten und den eigenen religiösen Überzeugungen – als Prädiktoren einbezogen. Über eine Kontrastierung der Ergebnisse dieser Analysen soll die Frage weiter geklärt werden, inwieweit verschiedene Aspekte der eigenen Religiosität sowie der persönlichen Religionsauslegung in Bezug auf die Erklärung antisemitischer Einstellungen bei christlichen und muslimischen Befragten eine unterschiedliche Bedeutung haben und insofern Differenzierungen erforderlich sind.

Tab. 4 zeigt die Ergebnisse für die Regressionsmodelle bezogen auf Christ:innen. In Modell I ist erneut zu erkennen, dass die soziodemografischen Variablen nur eine geringe Erklärungskraft besitzen. Lediglich eine hohe Bildung (β = −0,177***) stellt einen Schutzfaktor dar. Das Alter (β = 0,090*) sowie der Migrationshintergrund (β = 0,078*) weisen ebenfalls einen signifikanten Zusammenhang mit Antisemitismus auf. Es deutet sich hier an, dass tradierte Formen des Antisemitismus bei Christ:innen mit höherem Alter steigen.

Tab. 4 Hierarchische OLS-Regression von Antisemitismus (kont.) bei Christ:innen auf kollektive Marginalisierung, ökonomische Sorgen, Verschwörungsmentalität, Dimensionen der individuellen Religiosität sowie religiösen Fundamentalismus

In Modell II werden die Zusammenhänge des Antisemitismus mit kollektiver Marginalisierung (β = 0,024), ökonomischen Einschränkungen (β = 0,079) und Verschwörungsmentalität (β = 0,365***) einbezogen. Die Verschwörungsmentalität zeigt hier den stärksten Zusammenhang mit dem Ausmaß antisemitischer Einstellungen. Die Varianzaufklärung steigt durch die Hinzunahme dieser drei unabhängigen Variablen deutlich (R2 = 20,3 %).

In Modell III werden zusätzlich vier Indikatoren der individuellen religiösen Bindung in das Regressionsmodell aufgenommen (Spiritualität., Zentralität sowie individuelle und kollektive Religionspraxis). Diesbezüglich finden sich in diesem Modell für Christ:innen jedoch keine signifikanten Zusammenhänge mit der abhängigen Variable.

Über diese vier Indikatoren der individuellen religiösen Bindungen hinaus wurde in Modell IV die Ausprägung von religiös fundamentalen Einstellungen einbezogen. Hier findet sich für Christ:innen ein deutlicher signifikanter Zusammenhang (β = 0,164**). Am stärksten sind in diesem Modell bei Christ:innen daneben die Zusammenhänge des Antisemitismus mit Verschwörungsmentalität (β = 0,331***). Weiter findet sich auch hier der deutliche positive Zusammenhang mit dem Alter (β = 0,122**).

Abseits des signifikanten Zusammenhangs fundamentaler religiöser Überzeugungen mit Antisemitismus spielen bei den Christ:innen demnach andere religiöse Faktoren keine relevante Rolle für die Erklärung antisemitischer Einstellungen. Zentral sind bei ihnen vorrangig die Verschwörungsmentalität und religiöser Fundamentalismus, die auch multivariat mit deutlich erhöhten antisemitischen Einstellungen einhergehen.

In Tab. 5 werden die Ergebnisse gleichartiger multivariater Analysen für die Gruppe der Muslim:innen dargestellt. Im Modell I ist zu erkennen, dass hohe Bildung (β = −0,100*) einen signifikanten, aber nicht stark ausgeprägten negativen Zusammenhang mit Antisemitismus hat.

Tab. 5 Hierarchische OLS-Regression von Antisemitismus (kont.) unter Muslim:innen auf kollektive Marginalisierung, ökonomische Sorgen, Verschwörungsmentalität, die Dimensionen der individuellen Religiosität sowie Fundamentalismus

In Modell II steigert die Einbeziehung kollektiver Marginalisierung (β = 0,073 ns), ökonomischer Einschränkungen (β = 0,045 ns) und vor allem der Verschwörungsmentalität (β = 0,379***) die Varianzaufklärung des Modells erheblich (R2 = 18,8 %). Wie bei den Christ:innen ist demnach auch bei Muslim:innen eine Verschwörungsmentalität in besonderem Maße mit antisemitischen Einstellungen assoziiert.

Deutliche Differenzen zu den Christ:innen ergeben sich in Modell III. Die Einbeziehung der vier Dimensionen der individuellen Religiosität erhöht die Varianzaufklärung des Modells recht deutlich auf R2 = 27,9 %. Dies ist vor allem auf die kollektive Religionspraxis (β = 0,253***) zurückzuführen, die bei den Muslim:innen neben der Verschwörungsmentalität (β = 0,334***) den deutlichsten Zusammenhang mit antisemitischen Einstellungen aufweist. Alle weiteren Aspekte der individuellen Religiosität weisen hingegen keine relevanten Zusammenhänge mit Antisemitismus auf.

Wird in Modell IV zusätzlich religiöser Fundamentalismus einbezogen (β = 0,234***) verändern sich die Befunde aus Modell III kaum. Sowohl Verschwörungsmentalität (β = 0,326***) als auch die kollektive Religionspraxis (β = 0,221***) stellen neben dem religiösen Fundamentalismus weiterhin wichtige Faktoren der Erklärung des Ausmaßes antisemitischer Einstellungen unter Muslim:innen dar. Alle weiteren Aspekte der individuellen Religiosität spielen für die Erklärung des Ausmaßes tradierter Formen antisemitischer Einstellungen bei Muslim:innen keine relevante Rolle.

Bei einer vergleichenden Betrachtung zeigt sich damit: Sowohl die Verschwörungsmentalität als auch religiös-fundamentale Einstellungen weisen bei Christ:innen und Muslim:innen ähnliche Zusammenhänge mit antisemitischen Einstellungen auf. Dabei sind die Effekte der Verschwörungsmentalität bei Christ:innen und Muslim:innen etwa gleich stark. Die Effekte für religiösen Fundamentalismus sind auch bei beiden Gruppen klar signifikant, bei Muslim:innen indessen deutlich stärker ausgeprägt.

Eine wichtige Differenz findet sich jedoch mit Blick auf die kollektive Religionspraxis, also die Häufigkeit, mit der Befragte ein Gebets- oder Gotteshaus besuchen. Bei Christ:innen spielt dieser Aspekt multivariat keine Rolle für das Maß ihres Antisemitismus, während er bei Muslim:innen eng mit dem Ausmaß von Antisemitismus assoziiert ist – und zwar auch nach multivariater statistischer Kontrolle der vier Indikatoren persönlicher Religiosität und der religiös-fundamentalen Einstellungen sowie der Ausprägung von Verschwörungsmentalität.Footnote 6

Zur deskriptiven Veranschaulichung der Bedeutung dieses Befundes wird in Abb. 4 die Prävalenz antisemitischer Einstellungsmuster (Skalenwerte > 2,8) eingeschränkt auf die Gruppe der gläubigen und sehr gläubigen Muslim:innen dargestellt, differenziert nach der Häufigkeit, mit der Moscheen (Gebets- und Gotteshäuser) besucht werden. Der Zusammenhang zwischen einer hoch ausgeprägten kollektiven Religionspraxis (häufiger Moscheebesuch; mindestens mehrmals im Monat) mit der Verbreitung manifest antisemitischer Einstellungen wird hier gut erkennbar. Gläubige Muslim:innen, die höchstens einmal im Monat eine Moschee aufsuchen, weisen lediglich zu 9,6 % entsprechende antisemitische Einstellungen auf. In gleichem Ausmaß gläubige Muslim:innen, die demgegenüber regelmäßig Gebets- oder Gotteshäuser besuchen – also mindestens mehrmals im Monat – sind mit einer Rate von 35,6 % deutlich häufiger antisemitisch eingestellt.

Abb. 4
figure 4

Prävalenz manifest antisemitischer Einstellungen (Skalenwerte > 2,8) bei stark gläubigen Muslim:innen (4 „gläubig“ und 5 „sehr gläubig“) nach Häufigkeit der Besuchs einer Moschee (Prozentraten und 95 % Konfidenzintervall)

Es ist insofern also nicht der spirituelle Aspekt der individuellen Religiosität von Muslim:innen, der den entscheidenden Risikofaktor für antisemitische Einstellungen gläubiger Muslim:innen darstellt, sondern relevant ist vor allem der gehäufte regelmäßige Besuch von Gemeinden und Moscheen.

Vergleichbares lässt sich bei Einbeziehung fundamental religiöser Einstellungen illustrieren (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Prävalenz manifest antisemitischer Einstellungen (Werte > 2,8) bei fundamentalen (Werte > 2,5) und nicht fundamentalen Muslim:innen nach Häufigkeit der Besuche von Gebets- und Gotteshäusern

Insgesamt sind fundamental eingestellte Muslim:innen deutlich häufiger antisemitisch eingestellt als nicht fundamental Orientierte, wie sich hier bivariat im Einklang mit den multivariaten Analysen nochmals zeigt. Innerhalb der fundamental orientierten Muslim:innen ist aber die Rate des Antisemitismus mit 43,8 % im Falle von gehäuften Moscheebesuchen im Vergleich zu 14,3 % bei seltenerem Moscheebesuch erheblich und statistisch signifikant höher.

6 Zusammenfassung und Diskussion

Auf Basis der Auswertung von drei bundesweit repräsentativen Studien wurde gezeigt, dass die Prävalenzraten manifester tradierter Formen antisemitischer Einstellungen in der erwachsenen deutschen Wohnbevölkerung zwischen 2021 und 2023 nur leichte Schwankungen zeigen, die statistisch nicht signifikant sind. Die gemessenen Zustimmungsraten zu manifest antisemitischen Einstellungsmustern lagen mit 4,1 % in der MiD Studie im Jahr 2023 auf einem ähnlichen Niveau wie es auch in der Leipziger Autoritarismus-Studie (3,3 %) und der Bielefelder Mitte-Studie (5,7 %) festgestellt wurde. Insofern sind die vorliegend getroffenen Feststellungen zur Größenordnung der Prävalenz tradierter Formen antisemitischer Einstellungen zum derzeitigen Zeitpunkt mit anderen Studien aus Deutschland gut in Einklang zu bringen.

Es lassen sich allerdings deutliche Binnendifferenzen für Teilgruppen erkennen, die in den ansonsten vorliegenden Studien so bislang nicht in dieser Differenziertheit in den Blick genommen werden konnten. Zum einen sind die Raten antisemitischer Einstellungen bei in Deutschland lebenden Muslim:innen im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen mit und ohne Migrationshintergrund deutlich erhöht. Das wurde auch in anderen Studien bereits gefunden, allerdings auf einer etwas schmaleren Datenbasis (vgl. Öztürk und Pickel 2022, S. 19–20, 2023, S. 375–378; El-Menouar und Vopel 2023, S. 5; Jikeli 2018, S. 120–126). Auch in dieser Hinsicht stimmen die Befunde mit anderen Studien überein.

Über den Stand der bisherigen Forschung hinaus konnte weiter hier erstmals für Deutschland gezeigt werden, dass bei Muslim:innen seit 2021 ein linearer Trend des Anstiegs manifester antisemitischer Einstellungen stattgefunden hat, der 2023 mit einer Rate von 17 % einen vorläufigen Höchststand erreicht hat. Gleichzeitig zeigt sich damit allerdings auch, dass manifeste antisemitische Einstellungen unter der Gesamtgruppe der Muslim:innen in Deutschland auch gegenwärtig nur bei einer Minderheit anzutreffen sind.

Die Entwicklung antisemitischer Einstellungen im Zeitverlauf, wie sie sich auf Ebene der Einzelitems darstellt, ist ebenfalls aufschlussreich. Insbesondere die Aussage, die ein generelles Misstrauen gegenüber Jüd:innen abfragt, findet unter Muslim:innen im Laufe der Jahre wachsende Zustimmung. Hier zeichnet sich ein linearer Aufwärtstrend ab, der 2023 vorerst in 18,7 % Zustimmung gipfelt. Die Zustimmungsraten zu der Aussage, die unterstellt, Juden hätten in Deutschland zu viel Einfluss, waren bereits 2021 auf einem deutlich höheren Niveau. Im Zeitverlauf blieben sie aber relativ konstant mit Werten von 27,4 bis 29,6 %.

Es ist anzunehmen, dass diese Zunahmen der Verbreitung tradierter Formen antisemitischer Einstellungen unter Muslim:innen auch mit dem seit 2021 eskalierenden israelisch-palästinensischen Konflikt zusammenhängen (Brettfeld et al. 2022; Richter et al. 2022). Aktuell ist insoweit seit dem 7. Oktober 2023 mit einer weiterhin dynamischen Entwicklung des antisemitischen Radikalisierungsgeschehens zu rechnen. Dies gilt vermutlich insbesondere für israelbezogene Formen des Antisemitismus. Die Ergebnisse der polizeilich registrierten politischen Kriminalität weisen jedenfalls in diese Richtung. Insoweit ist ein über die hier vorliegende Studie hinausgehendes kontinuierliches und differenziertes Monitoring dringend geboten.

Multivariate Analysen der jüngsten Daten aus dem Jahr 2023 zeigen daneben auch einen deutlichen Zusammenhang von Verschwörungsmentalität mit Antisemitismus. Ferner zeigen die multivariaten Befunde auch, dass die Zugehörigkeit zu einer muslimischen Religionsgemeinschaft selbst nach statistischer Kontrolle der Verschwörungsmentalität mit einer erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit antisemitischer Einstellungen im Vergleich zu anderen Religionsgruppen einhergeht (so für 2022 bereits auch Fischer und Wetzels 2023).

Hinweise auf eine erhöhte Neigung zu antisemitischen Einstellungen bei Konfessionslosen mit Migrationshintergrund oder Christen mit Migrationshintergrunds finden sich hingegen nicht. Der ohnehin nur schwache Erklärungsbeitrag eines Migrationshintergrund für Antisemitismus schwindet zudem völlig, wenn in den Modellen für diese Gruppen kollektive Marginalisierungswahrnehmungen und antizipierte ökonomische Einschränkungen berücksichtigt und statistisch kontrolliert werden. Anders gewendet: Indikatoren der sozialen Lage sowie von Diskriminierungs- oder Marginalisierungserfahrungen stehen zwar mit antisemitischen Einstellungen in Zusammenhang. Während diese Erklärung bei Konfessionslosen und Christ:innen greift, vermögen diese Faktoren die erhöhten Raten des Antisemitismus bei Muslim:innen in Deutschland im Vergleich zu anderen Gruppen aber nicht hinreichend zu erklären.

Separate multivariate Analysen für Christ:innen einerseits und Muslim:innen andererseits, die weitere religionsbezogene Prädiktoren – zu nennen sind hier verschiedene Dimensionen der individuellen Religiosität und fundamentale religiöse Einstellungen – berücksichtigen, ergaben für Christ:innen ein durchaus vertrautes Ergebnis: den stärksten Zusammenhang mit dem Ausmaß antisemitischer Einstellungen weist die Ausprägung von Verschwörungsmentalität aus. Religiöse Bindungen im Sinne von Gläubigkeit, Zentralität sowie individuelle und kollektive Religionspraxis spielen hingegen keine Rolle, wohl aber das Ausmaß religiös-fundamentaler Haltungen. In diesem Sinne zeigen religiös rigide Christ:innen in erhöhtem Maße antisemitische Einstellungen. Der Zusammenhang einer solchen Auslegung der eigenen Religion mit Antisemitismus ist also keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal von Muslim:innen. Allerdings ist die Stärke dieses Zusammenhangs bei Christ:innen deutlich geringer als bei Muslim:innen.

Die Ergebnisse der entsprechenden gleichartigen multivariaten Analysen für die Muslim:innen weisen sowohl Überschneidungen als auch auffällige Differenzen im Vergleich zu den Resultaten für Christ:innen auf. So steht das Ausmaß des Antisemitismus bei beiden Gruppen am stärksten in einem Zusammenhang mit Grad der Verschwörungsmentalität. Des Weiteren findet sich auch bei Muslim:innen ein Zusammenhang zwischen einer fundamentalen religiösen Orientierung und antisemitischen Einstellungen. Im Gegensatz zu den Christ:innen, bei denen insbesondere ältere Befragte entsprechende antisemitische Einstellungen zeigten, spielt das Alter der befragten Muslim:innen für das Ausmaß antisemitischer Einstellungen jedoch keine Rolle.

Die deutlichste Differenz der Muslim:innen zu den Christ:innen ergibt sich in Bezug auf die Relevanz von Faktoren der individuellen Religiosität. Es besteht bei Muslim:innen ein ausgeprägter Zusammenhang zwischen dem Ausmaß antisemitischer Einstellungen und der Frequenz der kollektiven Religionspraxis – also der Häufigkeit des Besuchs von Moscheen (Gebets- und Gotteshäusern). Gleichzeitig gibt es, wie auch bei Christ:innen, keine Hinweise auf Zusammenhänge der spirituellen Religiosität, der Zentralität der Religion oder der individuellen Religionspraxis mit Antisemitismus. Somit erweisen sich diese Aspekte der Religiosität in dieser Hinsicht als unbedenklich.

Ein Blick auf die Prävalenz manifester antisemitischer Einstellungen bei stark gläubigen Muslim:innen zeigt diese Binnendifferenzen noch mal eindeutig auf. Besuchen diese eher selten Moscheen oder Gebetshäuser, liegt der Anteil der manifest antisemitisch Eingestellten bei 9,6 %, während er bei den regelmäßigen Moscheebesucher:innen bei 35,6 % liegt – was einer Erhöhung um mehr als den Faktor drei entspricht. Ähnliches gilt innerhalb der Gruppe der religiös fundamental eingestellten Muslim:innen. Auch hier ist der Antisemitismus bei regelmäßigen Moscheegänger:innen erheblich stärker ausgeprägt als im Falle seltenerer Moscheebesuche. Auch hier findet sich eine Steigerung um etwa den Faktor 3.

Diese Ergebnisse haben eine Reihe praktisch-politischer Implikationen, die an bereits seit längerer Zeit geführte Debatten über den Einfluss islamistischer Gruppierungen und ausländischer Regierungen auf muslimische Organisationen, Vereine und Moscheegemeinden in Deutschland anknüpfen. So formulierte Jikeli (2019, S. 70) vor wenigen Jahren bereits, es sei nicht verwunderlich, in „Moscheen Prediger, Texte und Filme [zu] finden, die Judenhass offen propagieren“, wenn diese von islamistischen Organisationen wie Millî Görüş geführt oder durch andere islamistische Akteur:innen wie Abspaltungen der Muslimbruderschaft oder dem iranischen Regime beeinflusst werden. Auch der Einfluss der türkischen Regierungspartei AKP auf den größten deutschen Islamverband DITIB, der der türkischen Religionsbehörde Diyanet unterstellt ist, wäre kritisch zu reflektieren.

In diesem Kontext liegt in Bezug auf die vorgelegten Befunde die Annahme nahe, dass Moscheen in Deutschland in nicht unerheblichem Maße auch zur Verbreitung antisemitischer Ressentiments genutzt werden. Während die eher individuell gelebten Aspekte der Religiosität Muslim:innen als spirituelle Anknüpfungspunkte dienen, die zu Moscheebesuchen veranlassen können, kann eine solche Ausübung der kollektiven Religionspraxis über Predigten und vermehrte unmittelbare Interaktionen mit Vertretern eher traditioneller muslimischer Milieus ein potenzielles Einfallstor für die Verbreitung islamistischer und/oder antisemitischer Narrative sein. Die vorliegenden Daten deuten jedenfalls darauf hin, dass eine politische Instrumentalisierung der kollektiven Religionsausübung von Muslim:innen in Deutschland ein reales Risiko darstellt.

Es ist allerdings einschränkend zu beachten und hervorzuheben, dass die vorliegenden multivariaten Analysen auf querschnittlichen Daten beruhen. Von daher ist die Deutung der vorgestellten Befunde dahin gehend, dass in den Moscheen bzw. bei kollektiven religiösen Zusammenkünften Prozesse stattfinden, welche die Etablierung antisemitischer Einstellungen verursachen oder begünstigen, nicht eindeutig möglich. Was aber im Einklang mit diesen Befunden klar festgestellt werden kann ist, dass antisemitisch eingestellte Muslim:innen gehäuft in Moscheen oder Gotteshäusern anzutreffen sein werden. Das heißt auch, dass eine wichtige Zielgruppe für Antisemitismusprävention dort in relevantem Maße zu verorten ist.

Weiter zeigen die Befunde aber auch, dass selbst in der Hochrisikogruppe der Muslim:innen mit hohen religiösen Bindungen und/oder fundamentalen Orientierungen Binnendifferenzen existieren. Antisemitisch eingestellte Personen machen dort eine zwar durchaus beachtliche, aber gleichwohl noch als Minderheit zu bezeichnende Gruppe aus. Selbst unter den fundamental orientierten Muslim:innen, die regelmäßig eine Moschee aufsuchen, sind etwa zwei Drittel (66,2 %) nicht manifest antisemitisch eingestellt.

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie die zweifellos bestehenden ausgeprägten religiösen Bindungen und Bedürfnisse der in Deutschland lebenden Muslim:innen adäquat aufgegriffen und ihre Versorgung sichergestellt werden kann, ohne dass es zu einer gehäuften Entwicklung oder Förderung antisemitischer Einstellungen kommt. Hier scheinen Reformen erforderlich (so auch bereits Fischer und Wetzels 2023, S. 377). Die Bundesregierung hat in dieser Hinsicht bereits Reformen der Ausbildung deutscher Imame sowie die mittelfristige Beendigung der Praxis verkündet, dass Imame aus der Türkei entsendet werden (FAZ 2023; ZDF 2023).

Mit Blick auf die Prävention von Antisemitismus wäre es allerdings wichtig, dass Akteur:innen aus der Praxis nicht nur dazu befähigt werden, mit theologisch-islamischen Argumentationsmustern umzugehen, sondern auch räumlich gerade dort aktiv zu sein, wo die Teilgruppe der Muslim:innen mit einem erhöhten Ausmaß antisemitischer Einstellungen vornehmlich anzutreffen ist – also an Orten der kollektiven Religionspraxis, d. h. in den Moscheegemeinden. Weiter ist nicht nur ein kritischer Blick auf bestehende institutionelle Strukturen und ihre Verbindungen ins islamistische Spektrum erforderlich, sondern auch ein verstärktes Bemühen, Muslim:innen alternative Angebote zur Befriedigung ihrer religiösen Bedürfnisse zu unterbreiten, um sie von politisch-islamistischer Einflussnahme auf diesem Wege abzuschirmen. Naheliegenderweise ist in diesem Sinne u. a. daran zu denken, insbesondere liberale Reformbewegungen innerhalb der muslimischen Gemeinde verstärkt zu fördern, um ihnen eine breitere öffentliche Sichtbarkeit und Diskursteilhabe zu ermöglichen (Koopmans 2020, S. 253). Insoweit ist nochmals in Erinnerung zu rufen, dass eine Mehrheit der Muslim:innen mit ausgeprägten individuellen religiösen Bindungen und Bedürfnissen weder antisemitische noch islamismusaffine Einstellungen teilt (vgl. Brettfeld et al. 2023).

In diesem Sinne ist auch der Staat gefordert, Verantwortung für die Versorgung der religiösen Grundbedürfnisse seiner muslimischen Bürger:innen zu übernehmen und diese vor politischem Missbrauch ihrer Religion und der Ausnutzung religiöser Bedürfnisse zu schützen. Ein solches Vorhaben sollte in Kooperation mit verlässlichen Partner:innen aus muslimischen Gemeinden geschehen und nicht über ihre Köpfe hinweg. Die aktuelle Lage im Nahostkonflikt und die damit einhergehenden Polarisierungen in Deutschland sowie auf internationaler Ebene erleichtern solche Reformansätze sicherlich nicht, machen sie aber umso dringlicher.