Zusammenfassung
Die Covid-19-Pandemie rückt Verschwörungsmentalität in den Fokus des öffentlichen Interesses. Der Glauben an Verschwörungserzählungen reichte dabei weit über radikale Kreise hinaus. Die Covid-19-Pandemie fungierte (nicht nur) in Deutschland als „Booster“ für die Sichtbarkeit und Öffentlichkeit von Verschwörungsmentalität. Der vorliegende Artikel analysiert mit Daten von 2020 die Beziehungen zwischen Religiosität, Religionszugehörigkeit und Verschwörungsmentalität. Dies geschieht auf der Basis der Feststellung, dass eine Verschwörungsmentalität eine demokratische politische Kultur untergräbt. Überlegungen zum autoritären Charakter von Adorno bestätigend, scheinen Esoteriker und fundamentalistische Gläubige nur begrenzt offener für Verschwörungserzählungen. Wichtiger ist, dass religiöse Gruppen als zentrale Personifizierung für die dunklen Mächte hinter den ausgemachten Verschwörungen dienen. Neben antisemitischen Ressentiments ist auch antimuslimischer Rassismus in Verschwörungserzählungen präsent, wie nicht zuletzt die Verschwörungserzählung vom „Großen Bevölkerungsaustausch“ zeigt.
Abstract
The Covid 19 pandemic put conspiracy mentality in the public eye. The belief in conspiracy narratives extended far beyond radical circles. The Covid-19 pandemic acted as a ”booster“ for the visibility and publicity of conspiracy mentality (not only) in Germany. This article uses 2020 data to analyze the relationships between religiosity, religious affiliation, and conspiracy mentality. It does so on the basis of the finding that a conspiracy mentality undermines a democratic political culture. Confirming reflections on the authoritarian character of Adorno, esotericists and fundamentalist believers seem only limitedly more open to conspiracy narratives. More importantly, religious groups serve as the central personification for the dark forces behind the conspiracies made out. In addition to anti-Semitic resentment, anti-Muslim racism is also present in conspiracy narratives, as demonstrated not least by the ”Great Population Exchange“ conspiracy narrative.
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1 Einleitung – Corona-Krise: Verschwörungsnarrative, Esoterik und Religion?
Mit der Covid-19-Pandemie formierte sich eine vielstimmige Gruppe an Kritiker:innen aktueller Corona-Politik.Footnote 1 Neben Beschimpfungen von Politiker:innen und Wissenschaftler:innen, die für Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie verantwortlich waren oder entsprechende Maßnahmen forderten, wurden verschiedene Verschwörungserzählungen gepflegt. Sei es, dass Teile der Bundesregierung die Rechte der Bürger:innen beschränken wolle, Pharmakonzerne durch die Verbreitung des im Labor gezüchteten Virus Gewinn erwirtschaften wolle oder Bill Gates vorhabe Chips in Menschen einzubauen. Fast immer wurden Personen oder Personengruppen gefunden, die im Hintergrund, wenn nicht gar im Verborgenen, gegen die Belange der Bürger:innen arbeiten. Entweder nutzten sie die Covid-19-Pandemie für sich aus oder sie hatten sie sogar initiiert. Diese Vorstellungen entwickelten sich zum zentralen Antrieb von Protesten gegen Covid-19-Gegenmaßnahmen und lösten mit der Zeit die Artikulation konkreter Unzufriedenheiten mit dem Vorgehen der Bundesregierung ab. Nicht selten konnte man in diesen Demonstrationen antisemitische Untertöne und rassistischen Spurenelemente entdecken (Dilling und Celik 2023; Ehsan 2020; Polta 2023). Von Anfang an fanden sich unter den Teilnehmer:innen der Demonstrationen Esoteriker:innen sowie Gläubige oder Kirchenmitglieder. Gelegentlich wurden Verschwörungserzählungen quasi-religiöse Qualitäten in der Bewältigung der Covid-19-Pandemie zuerkannt (Franks et al. 2013, S. 10–12; siehe auch Frenken et al. 2023). Zeitgleich fanden in Kirchen Impfaktionen statt und man versuchte durch eine strikte Einhaltung von Hygienemaßnahmen die Schließung von Gottesdiensten zu vermeiden.
Vor dem Hintergrund der geschilderten widersprüchlichen Beobachtungen stellt sich die Frage: Steht Religion, Religiosität und Esoterik in einer Beziehung zu Verschwörungserzählungen, und wurden in der Covid-19-Pandemie der Glauben an Verschwörungserzählungen aktiviert?
Eine Verbindung zwischen Religiosität und Verschwörungserzählungen liegt nicht vollständig fern. Theoretisch und konzeptionell kann man mit dieser Fragestellung an Überlegungen von Theodor Adorno (1973) und Gordon Allport (1979) anschließen. Formulierte ersterer explizite Annahmen zur Offenheit für Verschwörungserzählungen (Verschwörungsmentalität), streift zweiter die Bedeutung von Religiosität für Vorurteile (Pickel et al 2020b.). Ihnen folgend, gehen wir davon aus, dass sich bestimmte religiöse Positionen Verschwörungserzählungen glauben und Einstellungen stärken oder gar hervorbringen, die für eine demokratische politische Kultur ungünstig sind. Im Anschluss an Allport (1979) erwarten wir, dass fundamentalistische Gläubige mit einem auf die eigene Gruppe verengten Verständnis von Religion offener für Verschwörungserzählungen sind als Gläubigen mit einem universalen Religionsverständnis. Auch für abergläubische Menschen oder Esoteriker:innen nehmen wir eine stärkere Offenheit für Verschwörungserzählungen an. Bei letzterem schließen wir an Studien zu einer Conspiruality an, in der Verschwörungsmentalität eng mit Spiritualität, Esoterik oder Aberglaube verbunden angesehen wird (Douglas 2019; Ward und Voas 2011).Footnote 2 Wir folgen der Vermutung, dass eine bereits existierende Verschwörungsmentalität im Zuge der Covid-19-Pandemie aktiviert und sichtbar wurde. Damit ist eine Verschwörungsmentalität vielleicht nicht ursächlich von der Pandemie und den Maßnahmen in ihrem Kontext ausgelöst worden, sie spielt aber eine aktivierende Rolle.Footnote 3
Diese Annahmen wollen wir empirisch überprüfen. Die vorgestellten Annahmen untersuchen wir quantitativ-empirisch mit Umfragedaten aus der ersten Periode der Covid-19-Pandemie zwischen März und Juni 2020 in Deutschland. Wir analysieren dazu repräsentativen Befragungsdaten der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 (Decker und Brähler 2020).Footnote 4 Der Datensatz enthält sowohl Aussagen zur Einschätzung der Folgen von Corona, als auch zur Einschätzung der Covid-19-Maßnahmen als einer Verschwörung. Ergänzend hierzu wird im Datensatz auch eine allgemeine Verschwörungsmentalität erfasst. Die Studie enthält zudem eine differenzierten Erfassung von Religiosität und Esoterik/Aberglauben. Somit ist es uns möglich mit bi- und multivariaten statistischen Methoden die Bezüge zwischen religiösen Orientierungen, einer Offenheit für Verschwörungserzählungen und Einschätzungen der Covid-19-Pandemie zu untersuchen. Aufgrund der teilweise rekursiven Prozesse zwischen den Untersuchungsvariablen ist es zwar grundsätzlich schwierig eindeutige kausale Beziehungen zu formulieren, gleichwohl scheint es uns aus Plausibilitätsgründen erlaubt an verschiedenen Stellen die Beziehungen kasual zu interpretieren.
2 Theoretisches und Konzeptionelles zu Religion und Verschwörung
2.1 Verschwörungserzählungen, Verschwörungstheorien und demokratische politische Kultur?
Verschwörungserzählungen und Verschwörungstheorien, wie man sie nun nennen möchte, sind kein neues Phänomen.Footnote 5 Bereits frühe Erzählungen über Jüd:innen können ihnen zugeordnet werden (siehe Polta 2023; Salzborn 2020). Gleichwohl hat sich das Interesse an Ihnen in den letzten Jahren merklich erhöht. Ein Grund hierfür dürfte die zunehmende Nutzung im politischen Raum sein. Speziell Parteien und Politiker:innen des rechten Spektrums haben Verschwörungserzählungen wiederbelebt und neue konstruiert (Baier und Manzon 2020). Dies reichte bis hin zu mit Verschwörungserzählungen verwobenen Wahlkampagnen von späteren Wahlsiegern, wie dem US-Präsidenten Donald Trump oder dem Ministerpräsidenten Ungarns Victor Orban, über dunkle Mächte und bekannte Personen (z. B. George Soros). Sie wurden als gegen die Interessen des Landes verstoßende Strippenzieher:innen beschuldigt. Gerade dieser Verweis auf dunkle und verborgene Mächte ist der Kern von Verschwörungserzählungen. Die im Verborgenen arbeitenden Strippenzieher:innen, versuchen Politik, Politiker:innen oder andere Akteur:innen des öffentlichen Lebens zu beeinflussen, wenn sie nicht sowieso zu ihnen gehören. Letztendlich kann jede soziale Gruppe in den Verdacht kommen eine Verschwörung zu inszenieren.
Nach Douglas et al. (2019, S. 4) sind Verschwörungserzählungen „attempts to explain the ultimate causes of significant social and political events and circumstances with claims of secret plots by two or more powerful actors“. Verschwörungserzählungen sind soziale Konstruktionen, die im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung auf verbotene Machenschaften einer oft unsichtbaren Elite gerichtet sind (Douglas und Sutton 2023, S. 280–287). Die Verschwörungserzählung „ist eine Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie ihre Ziele im Dunkeln lassen“ (Lamberty und Nocun 2022, S. 18). Getragen werden können die konkreten Verschwörungserzählungen von einem übergeordneten abstrakten Narrativ, dem Verschwörungsmythos (Lamberty und Nocun 2022, S. 22; Clarke 2002, S. 134; Giry und Tika 2020). Das beste Beispiel für letzteren ist eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung.
Welche Funktionen besitzen nun Verschwörungserzählungen? Zuerst zu nennen ist die Komplexitätsreduktion (Butter 2018, S. 106–111). Sie greift besonders in Krisen und Phasen der persönlichen und gesellschaftlichen Unsicherheit. Da manche Ereignisse für Menschen nicht verständlich sind, sucht man nach einfacheren Lösungen und Erklärungen (Van Prooijen und Van Wugt 2018). Die kann gerade in einer Kombination mit einer rechtspopulistischen, regierungsfeindlichen Haltung zu einer radikale Reduktion der Komplexität der Umwelt führen. Dieses vermeintliche Wissen eröffnet ein Gefühl von Macht und Wissen statt Ohnmacht. Genau genommen gibt es die Chance auf die Rückgewinnung von Kontrolle und im günstigsten Fall ein Gefühl intellektueller Überlegenheit. Man weiß mehr als die anderen und dies bestärkt das eigene Selbstwertgefühl. Dieser Prozess verfestigt sich, wenn es zur Ausbildung von In-Groups kommt, die sich in ihrem Erkennen der Verschwörung einig sind. Auf diese Weise hat eine Verschwörungserzählung auch eine gemeinschaftsstiftende Funktion (Butter 2018, S. 110–113). Die so gebildete Gemeinschaft steht in starker Vorsicht- und Ablehnungshaltung gegenüber ihrer Umwelt und dem politischen System.Footnote 6
Mit Blick auf die Fragestellung eines Verhältnisses zwischen subjektiver Religiosität und Verschwörungserzählungen interessiert, inwieweit Menschen z. B. an Verschwörungserzählungen glauben und sie verinnerlichen. Für diesen Zustand hat sich die Bezeichnung als Verschwörungsmentalität entwickelt. Verschwörungsmentalität bezeichnet die grundlegende Bereitschaft, hinter gesellschaftlichen und politischen Phänomenen ein intendiertes und geheimes Handeln kleiner, mächtiger Gruppen zu vermuten (Schließler et al. 2020, S. 287; nach Moscovici 1987). Man glaubt nicht nur an eine spezielle Verschwörungserzählung, sondern auch an andere (Wood et al. 2012; Douglas et al. 2019, S. 5). Häufig wird die Verschwörung, um einen klaren Ansprech- und Bezugspunkt zu haben, personalisiert oder auf eine Gruppen von Personen projiziert. Als Ausgangspunkt für eine Verschwörungsmentalität kommen psychische Prozesse, Aspekte der Persönlichkeit, Krisenerfahrungen und Deprivationserfahrungen in Frage (Imhoff und Decker 2013). Douglas et al. (2019) identifizieren in ihrer Durchsicht von Arbeiten zu Verschwörungserzählungen Unsicherheit als einen maßgeblichen Faktor (Van Prooijen und De Inocencio 2018), oder sehen Verschwörungserzählungen als erfolgreich, wenn Menschen andere Erklärungen für Ereignisse fehlen, bzw. Phänomene für das eigene Denken zu komplex werden (Vitriol und Marsh 2018). Als ein wichtiger Grund für Verschwörungsmentalität hat sich die Entfremdung vom politischen System etabliert (Bruder et al. 2013, S. 12), ein generelles Gefühl von Anomie (Goertzel 1994; Newheiser et al. 2011, S. 737), das Gefühl einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage (Parsons et al. 1999) oder eine situative Bedrohungslage bzw. Krisen (van Prooijen und Douglas 2017) und nicht zuletzt der Glauben in paranormale Phänomene (Bruder et al. 2013). Dem stehen Beobachtungen entgegen, die das Gefühl politisch etwas bewegen zu können und die Existenz von Sozialvertrauen als positive Faktoren ausmachen, die gegen den Glauben an Verschwörungserzählungen wirken (Goertzel 1994, S. 737). Immer wieder wird die Verbindung zwischen Verschwörungsmentalität und antidemokratischen Vorstellungen betont (Lamberty und Nocun 2022; Pickel et al. 2022, S. 200–204). Die Covid-19-Pandemie zeichnet sich durch eine große Unbestimmtheit hinsichtlich ihres Entstehens und gerade zum Untersuchungszeitraum dieser Studie, Anfang 2020 hinsichtlich ihrer Auswirkungen aus. Diese Unsicherheit und die Suche nach Umweltkontrolle müsste die Wahrscheinlichkeit einer größeren Verbreitung von Verschwörungsmentalität erhöhen und diese, wenn vorhanden, aktivieren (Sunstein und Vermeule 2008, S. 29; Douglas 2021, S. 271–272). Dies führt uns zu Hypothese 1: Die Covid-19-Pandemie spielt einen Inkubator für Verschwörungsmentalität – und ist für eine demokratische politische Kultur abträglich.
2.2 Religiosität und Offenheit für Verschwörungserzählungen
Unsere Fragestellung zielt auf den Bezug zwischen einer Verschwörungsmentalität und Aspekten der Religiosität. In Teilen existiert hierzu eine konzeptionelle Forschungslandschaft. Sie unterteilt die Erforschung des Zusammenhangs von Verschwörungserzählungen in welche, die Verschwörungstheorien selbst als Religion oder Religionsersatz ansehen (z. B. Franks et al. 2013; Frenken et al. 2023), solche die Verschwörungserzählungen in Religionen in den Blick nehmen (Metzenthin 2019, S. 11–17), solche, die Religion im Zusammenhang mit In- und Out-Group-Prozessen behandeln (Dyrendal 2020, S. 371–372) und Studien, die den Einfluss von Religiosität oder bestimmten Verständnissen von Religiosität (z. B. Fundamentalismus) auf die Offenheit von Menschen für Verschwörungserzählungen betrachten (z. B. Łowicki et al. 2022). Im vorliegenden Beitrag liegt der Schwerpunkt auf der dritten und der vierten Variante: Es gilt zu sehen, inwieweit Religiosität eine Bedeutung für die Offenheit von Menschen für eine Verschwörungsmentalität besitzt und es stellt sich die Frage, inwieweit religiöse Gruppen durch Verschwörungserzählungen zu Out-Groups werden.
Nun ist Religiosität kein eindimensionales Phänomen. Schließt man an Charles Glock an (1954) so unterteilt sie sich in religiöse Erfahrungen, religiöse Praktiken, religiöse Ideologie (Glaube), religiöses Wissen und religiöse Konsequenzen. Stefan Huber (2003) streicht die religiösen Konsequenzen, da sie eher Produkt als Kern von Religiosität sind und teilt die religiösen Praktiken in öffentliche (Gottesdienstbesuch) und private Praktiken (z. B. persönliches Gebet) auf. Gleichzeitig sieht Huber (2003, S. 151) alle diese Dimensionen der persönlichen Religiosität als miteinander verbunden an (Zentralität von Religiosität; Huber und Huber 2012). Die Beziehungen zu Verschwörungsmentalität müssten entsprechend für alle ähnlich sein (Łowicki et al. 2022, S. 3). Gleichzeitig kann es sein, dass Praktiken mit sozialem Kontakt etwas anders wirken als der persönliche Glaube. So zeigen internationale Studien zum Umgang von religiösen Menschen mit der Covid-19-Pandemie eine positiven Rolle der Religion (Thomas und Barbato 2020, S. 10). Diese Prozesse des religious coping könnten durchaus einer Verschwörungsmentalität entgegenwirken. Religiosität kann allerdings auch anders differenziert werden. Einerseits entlang der Motivationen, andererseits entlang des Verständnisses von Religiosität. Auf der Ebene der Motivationen findet sich die Differenzierung zwischen extrinsischer und intrinsischer Religiosität (Allport und Ross 1967; Huber 2003) sowie die einer zweifelnden, Quest-Religiosität (Batson 1976; Batson und Schoenrade 1991). Hinzu kommt die Beschäftigung mit einer fundamentalistischen Religiosität (Riesebrodt 2001).
Um diese Zugänge systematisch zu nutzen, hilft ein Umweg über Überlegungen des Bezuges zwischen Religiosität und autoritären Überzeugungen. Zwar ordnete Theodor Adorno in den 1950ern Religion für die von ihm untersuchte autoritäre Persönlichkeit als nur mäßig bedeutsam ein: „Religion ist im Denken der meisten Menschen nicht mehr die entscheidende Kraft wie einst; nur selten scheint sie noch soziale Anschauungen und Verhaltensweisen zu bestimmen“ (Adorno 1973, S. 280). Gleichzeitig gestand er ihr eine Rolle als Fokus von Gruppenbildungen mit dem Risiko der Beförderung einer autoritären Persönlichkeitsstruktur zu. Adorno (1973, S. 287) sah Religion als Mittel der Zielerreichung, weniger als Selbstzweck für die Entstehung von Vorurteilen an (Fulton et al. 1999; Schneider et al. 2021 ). „Ethnozentriker halten Religion oft für eine praktische Hilfe zur seelischen Hygiene“ (Adorno 1973, S. 288). Adorno betont eine gewisse Ambivalenz der Wirkung christlicher Religiosität (Adorno 1973, S. 280–284). Während die Idee der christlichen Humanitas eine gewisse Immunisierung gegenüber Vorurteilen verspricht, führt Instrumentalisierung und Überidentifikation mit der Eigengruppe zu einer größeren Empfänglichkeit für Vorurteile. Ein auf Erlösung und die Liebe Gottes ausgerichtetes Verständnis der eigenen Religiosität wirkt dem einer Verschwörungsmentalität entgegen, während andere religiöse Menschen in der Pandemie die Strafe Gottes zu erkennen glauben.
An dieser Stelle findet sich eine Verbindung zu den Studien von Gordon Allport (1979). Auch Allport bestimmt Religion als ambivalenten Faktor für die Entwicklung von Vorurteilen. „Religion bears no univocal relationship to prejudice. Its influence is important, but it works in contradictionary directions“ (Allport 1979, S. 455; Allport und Ross 1966, S. 462). Er macht wie Adorno die Unterscheidung zwischen einer funktionalen Nutzung von Religion, welche mit Ethnozentrismus und Vorurteilen gekoppelt ist, und einer Toleranz fördernden universalistischen Überzeugung (Nächstenliebe). „Some people seize upon the tribal investments of traditional religion for comfort and security; others take its universalistic teaching as authentic guide to conduct“ (Allport 1979, S. 455; zu Ergebnissen siehe auch Billiet et al. 1995). Es ist der christliche Bezugspunkt der Nächstenliebe, der Vorurteile hemmt. „This implies that those for whom their religiosity is salient (…) may be expected to live by the commandment of „love thy neighbor“ and consequently to be less prejudiced“ (Scheepers et al. 2002, S. 246). Umgekehrt führen dogmatisch-fundamentalistische Haltungen über Vorurteile hin zu Autoritarismus, speziell Right Wing Autoritarismus (Allport 1979; Johnson et al. 2011; Łowicki et al. 2022; Küpper und Zick 2010).
Allport und Ross (1967) führen eine weitere Unterscheidung von Religiosität ein, die zwischen intrinsischer und extrinsischer Religiosität. Während die intrinsische Religiosität eine Religiosität aus der Person heraus, z. B. über einen starken Gottesglauben oder religiöse Erfahrung, abbildete, verweist die extrinsische Religiosität auf die Motivation über seine Religiosität soziale Vorteile und Kontakte zu finden (Allport und Ross 1967; auch Allolio-Näcke und Demmrich 2022, S. 382).Footnote 7 Auch diese Differenzierung wurde mit dem Ziel erstellt besser Vorurteile erklären zu können. Die Annahme ist, dass Menschen mit extrinsischer Religiosität eher zu Vorurteilen neigen als Menschen mit intrinsischer Religiosität. Letzteres können wir im vorliegenden Aufsatz leider aufgrund des Fehlen dieser Items nicht testen.
Beziehung zwischen subjektiver Religiosität und Verschwörungsmentalität, sowie die zwischen einem fundamentalistisch-dogmatischen Religiositätsverständnis und Verschwörungsmentalität können wir dagegen schon empirisch untersuchen. Diese Verbindung könnte vor dem Hintergrund einer weltweiten Pandemie, die als göttliche Strafe angesehen werden kann, an Stärke gewinnen. Genauso könnte der Glauben an Verschwörungserzählungen in solchen Krisenzeiten zunehmen. So lautet dann dieser Argumentation folgend unsere Hypothese 2: Die Wirkung von Religion und Religiosität ist ambivalent, zwischen Verschwörungsmentalität sowie Covid-19-Verschwörungsmentalität und einer rigiden Glaubensauffassung finden sich positive Wechselbeziehungen.
2.3 Esoterik, Aberglaube, Verschwörung und das autoritäre Syndrom
Eine andere Möglichkeit den Bezug zwischen Religiosität und Verschwörungsnarrativen zu bestimmen liegt in einem genaueren Blick auf das autoritäre Syndrom verankert (Decker und Brähler 2018, 2020; Abb. 1). In an Theodor Adornos Grundüberlegungen zur autoritären Persönlichkeit anschließenden Zusammenstellungen zu einer autoritären Dynamik, dominieren die Oberdimensionen Sadomasochismus, die aus den drei Dimensionen der autoritären Dynamik gespeist wird (Konventionalismus, autoritäre Unterwerfung und autoritäre Aggression) und die Projektivität. Der von beiden Oberdimensionen gespeiste autoritäre Charakter ist zentrale Triebkraft für ethnozentrische, antipluralistische, demokratie- und fremdenfeindliche Einstellungen und für das antisemitische Ressentiment.
Das autoritäre Syndrom in seinen Bezügen. (Quelle: Zusammenstellung siehe: Abbildung entlang der Überlegungen von Theodor Adorno; siehe Schließler et al. 2020, S. 284–289)
Die Projektivität beschreibt eine „Verlagerung von Motiven, Wünschen und Effekten in die Außenwelt“ (Decker et al. 2020, S. 187–188). In ihr kommen Verschwörungsmentalität, Esoterik und Aberglaube als Förderer einer autoritären Dynamik in den Blick (Decker et al. 2020, S. 187; Graumann 1987, S. 245–246; Goertzel 1994, S. 735). Sie stellen eine Möglichkeit dar sich von der säkularen, aufgeklärten Welt zu distanzieren und die Undurchschaubarkeit der Gegenwart auf eine höhere Macht zu projizieren (Schließler et al. 2020, S. 284). In seinen „Thesen gegen den Okkultismus“ markiert Adorno (2020 [1951], S. 274) diese Entwicklung, als einen Abfall von Gott im Sinne von Aberglauben.Footnote 8 Sie steht im Zusammenhang mit Adornos frühen Annahmen, die „superstition“ mit Ethnozentrismus in Einklang sehen und einer gemeinschaftlichen, sozialen Religiosität gegenüberstellten (Huber und Yendell 2019, S. 68; Adorno 1973, S. 287–300). Esoterik oder Aberglaube hilft dabei die eigene Sterblichkeit zu überwinden und eine Zukunftsperspektive in unsicheren Zeiten entwickeln.
Doch was ist nun Esoterik? In der sozial- wie religionswissenschaftlichen Forschung ist man sich nicht einig, wie Esoterik genau definiert wird (Bergunder 2012, 2008, S. 477; Douglas et al. 2017; Schließler et al. 2020, S. 285). So umfasst der Begriff Esoterik eine ganze Reihe von religiösen und sozialen Bewegungen). Um sich nicht in diesen Diskussionen, die von New Age bis zur Anthroposopie reichen, zu verstricken, verwenden wir hier die weite Definition von Stuckrad (2005), Er versteht Esoterik als besonderes Wissen, mithilfe dessen eine übernatürliche Erkenntnis oder Erlösung aus der menschlich-materiellen Welt angestrebt wird (Schließler et al. 2020, S. 286; auch Bergunder 2008, S. 487–488; Hanegraaff 2012). In der autoritären Dynamik wird er mit dem Aberglauben, einem Glaube, der außerkirchlich und außerchristlich positioniert ist, teilweise gleichgesetzt.
Folgt man der autoritären Dynamik, dann stehen Aberglauben/Esoterik und Verschwörungsmentalität nebeneinander. Gleichzeitig herrscht zwischen ihnen über die Projektivität eine „Verwandtschaft“ (Abb. 1). In der Literatur der letzten Jahrzehnte wird oft eine enge Verbindung zwischen Esoterik/Aberglaube und Verschwörungsmentalität angenommen (Lamberty und Nocun 2022, S. 244–247). Dies drückt sich in dem Ausdruck conspirituality aus. Er beschreibt die Verschmelzung beider Überzeugungen. So verschmelzen die Annahme, dass eine kleine Gruppe versuche die Gesellschaft zu kontrollieren und die Vorstellung, dass die Welt auf dem Weg in ein neues Zeitalter mit höherem Bewusstsein ist (Schließler et al. 2020, S. 292; Asprem und Dyrendal 2015, S. 373–374; Ward und Voas 2011). In Zeiten der Unsicherheit und Krisen sowie unter Umständen der Säkularisierung, kann sich eine Conspiruality als Ersatzform für traditionelle Religion etablieren (Parmigiani 2021). Gerade unter Bedingungen von Covid-19 weisen Artikel auf eine höhere Sichtbarkeit und einen Bezug zwischen Esoterik/Aberglaube und Verschwörungsmentalität hin (Halafoff et al. 2022; Griera et al. 2022). Unsere Hypothese 3 lautet: Esoterik und Verschwörungsmentalität besitzen eine Wahlverwandtschaft und stehen in einer positiven Beziehung zueinander – dies gilt auch für Esoterik und eine Covid-19-Verschwörungsmentalität.
2.4 Verschwörungsmentalität und die Abwertung religiöser Gruppen
Greift man das sowohl bei Adorno als auch bei Allport auffindbare Argument der Funktionalität von Religion als Abgrenzungsmerkmal auf, dann bieten Ansätze der Sozialpsychologie zusätzlichen Erklärungswert. So geht z. B. die Social Identity Theory (Tajfel 1982; Tajfel und Turner 1986) davon aus, dass die subjektive, „gefühlte“ Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen nicht nur für das eigene Selbstwertgefühl bedeutsam ist, sondern auch über die Unterscheidung von In-Groups und Out-Groups. Damit wird es zu einem wichtiger Pushfaktor für gruppenbezogene Vorurteile. Das so gewonnene Selbstwertgefühl steigert sich bei einer höheren Position der Gruppe in der Gesellschaft. Eine Verbesserung dieser Position kann durch gemeinsame Leistung, aber auch durch die Abwertung von Referenzgruppen erreicht werden. Letzteres führt zu einer relationalen Erhöhung der eigenen Gruppe. Dazu benötigt wird eine imaginäre (Fremd‑)Gruppenkonstruktion und Kategorisierung, eine Stereotypisierung mit ungünstigen Eigenschaften sowie eine auf letzterem beruhende Abwertung der Referenzgruppe. Die zugeschriebenen (abwertenden) Vorurteile werden von den Mitgliedern der In-Group verinnerlicht – und Gruppenmitglieder, die dieser gemeinsamen Bewertung widersprechen, sanktioniert. Kategorisierungen können die abgelehnte Referenzgruppe als gefährlich erscheinen lassen, was die Ablehnung verstärkt und verschärft. Die Integrated Threat Theory postuliert Steigerung gruppenbezogener Vorurteile unter symbolischen und realistischen Bedrohungszuschreibungen (Stephan und Stephan 2000; Stephan und Renfro 2002, S. 203–204, 2016). Während symbolische Bedrohungen auf kulturelle Ablehnungen fokussieren, greifen realistische Bedrohungen konkrete Ereignisse und Bezüge als Grund für Distanz und Abwertung auf. Gerade als kulturell fremd wahrgenommene Gruppen eignen sich gut für entsprechende Zuschreibungen, womit Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder in den Blick kommen.
Was hat dies mit Verschwörungserzählungen zu tun? Ein wichtiger Faktor für diese auf Bedrohung beruhende Prozesse sind Narrative und Mythen über die Out-Group. Verschwörungserzählungen greifen nicht nur als Transportvehikel der Vorurteile und als Referenz für die Verbreitung von Vorurteilen, sie leistet auch eine Gemeinschaftsfunktion für die Verschwörungsgläubigen – mit einer In-Group-Bildung. Das Paradebeispiel für eine solche Entwicklung ist die enge Verbindung antisemitischer Ressentiments mit Verschwörungserzählungen über Jüd:innen (Fox und Topor 2021, S. 117–139). Teilweise werden Verschwörungserzählungen als eine Umwegkommunikation antisemitischer, rassistischer und antidemokratischer Haltungen angesehen (nach Schließler et al. 2020, Thorisdottir et al. 2020); Aber auch Erzählungen über die gefährlichen Muslim:innen reichern die Landschaft der Verschwörungserzählungen an und münden als Kulminationspunkt in der beide Gruppen diffamierenden Verschwörungserzählung vom jüdisch inszenierten großen Bevölkerungsaustausch durch die Immigration von Muslim:innen (Obaidi et al. 2021). Gruppenbezogene Vorurteile und Distanzen spielen bei Verschwörungserzählungen eine vermittelnde Rolle, bieten sie doch Bezugsgruppen auf die sich die Verschwörungserzählung richten kann (Dryendal 2020, S. 375). Sie konstruieren ein Bedrohungsszenario, welches die im Hintergrund arbeitenden Mächte sichtbar macht. Menschen mit Verschwörungsmentalität sehen in Minderheiten in der Regel Personen der Out-Group, zumindest solange sie sich nicht der In-Group der Anhänger:innen einer Verschwörungserzählung anschließen. These 4: Vorurteile (nicht nur) gegen religiöse Gruppen sind mit Verschwörungsmentalität verbunden, was sich auch in der Verbindung zu Bedrohungsängsten gegenüber diesen Gruppen widerspiegelt.
3 Die Messung von Religiosität, Verschwörungsmentalität und Corona-Folgen
Um Wechselwirkungen zwischen Verschwörungsmentalität, Covid-19-Verschwörungsmentalität, Religiosität und antidemokratischen Positionen herauszuarbeiten, bedarf es eines breiten Instrumentariums. Dies stand uns in der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 zur Verfügung. So wurden sowohl Erfahrungen und Einschätzungen der Covid-19-Pandemie als auch eine mit der Pandemie verbundene Verschwörungsmentalität abgefragt. Seit 2012 steht in der Studienreihe der Leipziger Autoritarismus-Studie (früher Leipziger Mitte Studie) eine Erfassung der allgemeinen Verschwörungsmentalität mit drei Items zur Verfügung (Tab. 1). Dabei handelt es sich um eine Kurzversion der Conspiracy Mentality Scale nach Imhoff und Bruder (2014, S. 42; auch Schließler et al. 2020, S. 287; Bruder et al. 2013, S. 5).
Der Bereich der politischen Kultur wurde entlang der Überlegungen eines breiten Modells der politischen Kulturforschung erfasst und deckt sowohl Aspekte der Legitimität der Demokratie, der Effektivität der Demokratie als auch des politischen Institutionenvertrauens ab (Tab. 2).
Dieser Messung in gewisser Hinsicht gegenüber steht die Erfassung von rechtsextremen Einstellungen entlang der Konsensdefinition mit 18 item in 6 Dimensionen (Decker et al. 2020, S. 35–36). Eine Ausnahme der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 stellt die breite Erfassung von Religiosität sowie von Aberglaube bzw. Esoterik dar. Diese wurde durch eine finanzielle Unterstützung der Evangelischen Kirche in Deutschland im Rahmen des Projektes „Kirchenmitgliedschaft und politische Kultur“ möglich (EKD 2022).Footnote 9 Esoterik bzw. Aberglaube greift auf eine aus vier Items bestehende Messung zurück, die vormalig in der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften verwendet wurde (Allbus 2008, 2018). Für die Messung von Religiosität wird auf das differenzierte Messinstrument von Stefan Huber (2003) zurückgegriffen. Es verspricht eine größere Stabilität der Messung von Religiosität (Tab. 3).
Weitere Indikatoren wie Zugehörigkeit zu einer Religion, Gottesdienstbesuch oder Gottesglaube wurden als Einzelitems erhoben. Daneben steht die Erfassung von literalistischem und exklusivistischem Fundamentalismus. Weitere Indikatoren, speziell zu Skalen im Anhang (zur Konstruktion der Vorurteilsskalen siehe EKD 2022, S. 46–54). Die Daten wurden zwischen März und Juni 2020, in der ersten Welle der Covid-19-Pandemie erhoben. Der Datensatz enthält 2503 Personen, die repräsentativ in Face-to-Face-Interviews unter Nutzung der Möglichkeit einer Selbstausfüllung befragt wurden. Durch diese Vorgehensweise konnte genauso eine hohe Ausschöpfung erreicht werden, wie eine bessere Quote von z. B. Wähler:innen der AfD. Die erhobenen Daten wurden mit bi- und multivariaten Verfahren im Statistikprogramm SPSS ausgewertet (Pickel und Pickel 2018).
4 Verschwörungsmentalität, Corona-Verschwörung und politische Kultur
4.1 Die Covid-19-Pandemie als Booster für die Verschwörungsmentalität?
Wenden wir uns den empirischen Befunden und unserer ersten These zu. Spielt nun die Covid-19-Pandemie einen Inkubator für Verschwörungsmentalität? Eine der zentralen Annahmen vieler Demonstrant:innen in Deutschland, aber auch weltweit, war, dass die Covid-19-Pandemie ein Instrument der Mächtigen sei, um sie zu unterdrücken. Es wurden verschiedene Personen ausgemacht, die daran ein Interesse hätten. Immer wieder wurde Bill Gates genannt. Im Laufe der Pandemie meinte man zudem Handlanger, wie den jetzigen deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach, identifiziert zu können. Das Antwortverhalten auf zwei Items zur Covid-19-Verschwörung zeigt eine nicht geringe Covid-19-Verschwörungsmentalität (Abb. 2).
Dabei nimmt das Misstrauen, dass die Hintergründe der Covid-19-Pandemie nie an das Licht der Öffentlichkeit kommen werden mit fast 50 % Befürwortung die Spitzenposition der Zustimmungen ein. Dieser Befund ist angesichts der immer noch bestehenden Kontroversen in der Wissenschaft über den Ausgangspunkt der Covid-19-Pandemie vielleicht mit Vorsicht zu betrachten. Allerdings liegen auch die Zustimmungen zum Item „Die Corona-Krise wurde so groß geredet, damit einige wenige davon profitieren können“ bei 30 % (Westdeutschland) oder gar 43 % (Ostdeutschland) an Zustimmung – und decken sich mit den Zustimmungswerten zur allgemeinen Verschwörungsmentalität. Entsprechend kann man der Aussage von Pia Lamberty und Rees (2021, S. 283) folgen, dass „der Glaube an Verschwörungserzählungen kein Phänomen am Rande der Gesellschaft ist, sondern weite Teile der Bevölkerung weltweit dafür empfänglich sind“.
Diese Offenheit für Verschwörungserzählungen in der Covid-19-Pandemie schließt an eine generelle Verschwörungsmentalität an, die nicht auf die Demonstrant:innen in den Demonstrationen gegen die Covid-19-Maßnahmen beschränkt ist. Denn, dies zeigen die Daten der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020, die generelle Verschwörungsmentalität in Deutschland erreicht beachtliche Zustimmung. Zwischen 30 und 40 % der Befragten äußern Zustimmung zu den drei Items, die Verschwörungsmentalität abbilden. Jenseits der leichten Variationen im Antwortverhalten zu den Einzelitems lassen sich in Deutschland ein Drittel der Bürger:innen als anfällig für Verschwörungserzählungen identifizieren. Die Verschwörungsmentalität ist in Ostdeutschland bei allen Items um die 10–15 Prozentpunkte höher als in Westdeutschland. Hier findet ein seit den 1990er-Jahren höheres Misstrauen gegenüber den Regierenden seinen Ausdruck (Pickel und Pickel 2022), aber auch stärkere Deprivationserfahrungen.Footnote 10 Dies besitzt seine Wirkung, richten sich doch die verwendeten Erhebungsitems stark auf eine politische Verschwörung. Dies hat seinen Ursprung in der Annahme von Verschwörungsmentalität als generalisierter politischer Einstellung bei Imhoff und Bruder (Imhoff und Bruder 2014, S. 26).
Zwischen einer generellen Verschwörungsmentalität und der Covid-19-Pandemie-Verschwörung besteht – erwartungsgemäß – eine enge Beziehung. Fast man die drei Items zur Skala generelle Verschwörungsmentalität und die zwei zur Skala Covid-19-Verschwörungsmentalität zusammen, dann korreliert die Skala Verschwörungsmentalität mit der Kurzskala zur Covid-19-Verschwörung in sehr hohem Maße (Pearsons r = .69). Geht man noch einen Schritt weiter und integriert alle fünf Items in eine Skala, so ergibt der Reliabilitätstest ein sehr gutes Alpha von .90. Dieses Ergebnis spricht gegen die gerade geäußerte Skepsis an dem Item zu den Hintergründen, die nie ans Licht kommen werden und seinem Beitrag zur Erhebung einer Covid-19-Verschwörungsmentalität. Allerdings würde das Weglassen dieses Items die Skala auch nicht verschlechtern, was aber nur begrenzt das positive Ergebnis des Reliabilitätstests einschränkt. Inhaltlich bedeutet das: Die Haltung die Covid-19-Pandemie in irgendeiner Weise als Verschwörung zu sehen, findet sich überwiegend bei Bürger:innen, die sowieso schon Verschwörungen in der Politik vermuten.
War aber nun die Covid-19-Pandemie ein Inkubator für die Ausbreitung eines Glaubens an Verschwörungserzählungen? Folgt man der Entwicklung der Daten über die Zeit, dann ist dies in begrenztem Ausmaß tatsächlich der Fall (Abb. 3). So ist die Zustimmung zu den Messitems 2020 gegenüber 2018 gestiegen. Zwar kann man aus dieser Beobachtung nicht direkt darauf schließen, dass diese Entwicklung mit der Covid-19-Pandemie zusammenhängt, aber der Verdacht liegt nahe. Allerdings muss man diese Kurzzeitentwicklung in frühere Befunde einordnen, die teils höhere Werte an genereller Verschwörungsmentalität erbrachten. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es in der Covid-19-Pandemie zu einer Belebung oder Aktivierung einer bereits bestehenden Verschwörungsmentalität kam. Bislang vollständig von solchen Vorstellungen freie Personen haben vermutlich nicht in großer Zahl eine Verschwörungsmentalität neu entwickelt. Was sich in Abb. 3 bestätigt ist die Konstanz der Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland (Pickel und Pickel 2020). Bei einem genauen Blick waren diese 2012 sogar noch höher als 2020.
Verschwörungsmentalität über die Zeit – Effekte der Covid-19-Pandemie?; n = 2503; Angaben in Prozent der Zustimmung (5–7, auf 7‑Punkte-Skala) (Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020)
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Verschwörungsmentalität in der Covid-19-Pandemie eine Art „Booster“ erhielt. Die Frage, die sich stellt, ist ob sich dies mit der eigenen Betroffenheit und eigenen Ängsten vor den Folgen der Pandemie – für sich selbst oder einem nahestehenden Personen – interpretieren lässt. Das solche Vorstellungen und Ängste vorhanden sind zeigt Abb. 4. Sowohl in West-, wie in Ostdeutschland sehen etwas mehr als 40 % der Befragten potenziell „schlimme Folgen“ für sich und Menschen in ihrer Umgebung. Immerhin die Hälfte sieht sogar ein neues Zeitalter aufziehen und fast 60 % erwarten einen grundlegenden Wandel in der eigenen Kultur. Diesen eher pessimistischen Sichten auf die Folgen der Covid-19-Pandemie steht ein hohes Vertrauen in das Gesundheitssystem gegenüber. Es scheint sich eher um allgemeine als um auf einen selbst bezogene Ängste und Sorgen zu handeln. Anders als bei der Covid-19-Verschwörungsmentalität finden sich kaum Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland.
Einschätzungen Covid-19-Pandemie und Krisenwahrnehmungen; n = 2503; Angaben in Prozent; Vertrauen in das Gesundheitssystem gemessen auf einer Skala mit vier Punkten, hier zustimmende Werte. (Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020)
Bestehen nun Beziehungen zwischen einer Covid-19-Verschwörungsmentalität und diesen Wahrnehmungen der Folgen der Covid-19-Pandemie? Die Beziehungen zwischen beiden Komplexen fallen statistisch übersichtlich aus. Sieht man eine Kulturveränderung (r = .16) oder erwartet man „schlimme Folgen“ (r = .11), so ist dies leicht positiv mit einer Verschwörungsmentalität verbunden. Bei den anderen Variablen ergeben sich keine signifikanten Zusammenhänge. Ein ausreichender Prädiktor für die Existenz einer Verschwörungsmentalität sind die Einschätzungen aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht. Hier muss man weitere Erklärungsfaktoren in die Analyse aufnehmen. Doch bevor wir dies tun, richten wir kurz unseren Blick auf die Folgen der Verschwörungsmentalität für die Gesellschaft und die politische Kultur.
4.2 Verschwörungsmentalität als Gefahr für die politische Kultur
Damit kommen wir zum zweiten Teil von Hypothese 1, der Unterfrage, wie wirkt sich eine Verschwörungsmentalität unter den Bürger:innen auf die demokratische politische Kultur aus? Die Annahme ist, dass eine Verschwörungsmentalität eine Gefahr für eine demokratische politische Kultur darstellt. Verschwörungsmentalität wird somit als eine politische Einstellung gesehen, die in Korrespondenz, aber auch Eigenständigkeit z. B. gegenüber sozialer Dominanzorientierung und Right-Wing Autoritarismus wirkt (Imhoff und Bruder 2014, S. 26). Eine Prüfmöglichkeit ist die der Nähe zwischen der Wahl einer rechtspopulistischen, rechtsradikalen Partei, wie der AfD (Abb. 5).
Verschwörungsmentalität nach Wahlverhalten. Abgebildet Antworten zur Verschwörungsmentalität in Prozent, n = 2503. (Quelle: Leipziger Autoritarismus-Studie 2020)
Betrachtet man die Verteilung der Verschwörungsmentalität über die verschiedenen Parteien des deutschen Bundestages, dann wird die Annahme einer besonderen Nähe der Wähler:innen der AfD zu einer Covid-19-Verschwörungsmentalität wie auch einer allgemeinen Verschwörungsmentalität sichtbar (Abb. 5). Ungefähr zwei Drittel der AfD-Wähler:innen sind offen für Verschwörungserzählungen, auch was die Covid-19-Pandemie betrifft (Pickel 2018; Pickel et al. 2023). Damit liegen sie weit in Front, auch wenn es unter den Wählerschaften der anderen Parteien durchaus auch Wähler:innen mit Verschwörungsmentalität gibt. FDP-Wähler:innen und Nichtwähler:innen kommen bei dem Bild einer Covid-19-Verschwörung den Wähler:innen der AfD am nächsten. Am geringsten ist die Verschwörungsmentalität unter Wähler:innen der CDU/CSU und der Grünen ausgeprägt. Wie bei Vorurteilen oder antidemokratischen Haltungen spannt sich hier eine Kontrastlinie zwischen den Wähler:innen der AfD und der Grünen auf.
Wichtiger noch als die Frage nach der Verschwörungsmentalität entlang von Parteigrenzen ist ihre Relevanz für die Demokratie und die demokratische politische Kultur (Lipset 1981; Pickel und Pickel 2006). Und dieses Ergebnis fällt deutlich aus: Eine generelle Verschwörungsmentalität wie eine Covid-19-Verschwörungsmentalität besitzen einen klaren antidemokratischen Fokus. Sie untergraben die Legitimität der Demokratie, wenden sich gegen die Demokratie, wie sie in der Verfassung verankert ist und schädigen die Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie im Land (Pickel et al. 2020c). Die Zusammenhänge sind so hoch, dass von einer massiven antidemokratischen Wirkung der Verschwörungsmentalität gesprochen werden muss (Tab. 4).
Und nicht nur das. Eine Verschwörungsmentalität erhöht auch die Wahrscheinlichkeit Gewalt zu einem legitimen Mittel des politischen Einsatzes zu machen. So steigert sich bei einer Verschwörungsmentalität die eigene Gewaltbereitschaft und noch etwas stärker die Gewaltakzeptanz. Legt man dies auf die aktuellen Anti-Covid-19-Massnahmen-Demonstrationen um, so wird einem nun verständlich, warum die Beteiligten dieser Demonstrationen kaum Schwierigkeiten hatten, dass dort gelegentlich rechtsextreme Kräfte Gewalt im Sinne der Gruppe ausübten (Pickel et al. 2023).Footnote 11 Nun können sich hinter bivariaten Korrelationen immer sogenannte Drittvariablen „verstecken“, die das Ergebnis beeinflussen, deren Wirkung aber der sichtbaren Variablen zugeschrieben wird. Kann es zum Beispiel nicht sein, dass eine autoritäre Einstellung einen Hang zu Verschwörungsmentalität mit sich bringt und deswegen eine demokratische politische Kultur unterhöhlt? Um die Wirkung von Verschwörungsmentalität herauszuarbeiten, ist es also sinnvoll verschiedene Konzepte in ein Erklärungsmodell mit einzubeziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die methodisch angesetzte Kausalität inhaltlich keineswegs zwingend ist. Im Gegenteil dürfte es sich in vielen Fällen um Interkorrelationen handeln. Gleichwohl scheint uns eine lineare Regressionen auf die Legitimität der Demokratie, wie in Tab. 5 ausgeführt, erkenntnissteigernd.
Wir haben dabei Regressionen für drei Indikatoren aus der politischen Kulturforschung verwendet: Die Legitimität der Demokratie (beste Staatsform), die Befürwortung der Demokratie als existierende Staatsform (wie in Verfassung steht) und die Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie sich aktuell gibt (Pickel und Pickel 2006, 2023). Als weitere Erklärungsfaktoren verwenden wir Indikatoren aus der Sozialstruktur, politische und soziale Indikatoren sowie sozialpsychologische Skalen.Footnote 12 Mit Blick auf die Demokratieforschung existiert die Erfahrung einer eher schwachen Erklärung von Legitimität der Demokratie, bei einer stark durch die wirtschaftliche und politische Effektivität geprägte Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie (Gabriel 2007; Pickel 2002; Pickel und Pickel 2006). Und in gewisser Hinsicht wird dies auch in den Berechnungen in Tab. 5 reproduziert. So ist es die wirtschaftliche Lage, aber auch die Einschätzung der politischen Effektivität, die stark auf die Demokratiezufriedenheit, aber nur gering bis gar nicht auf die Legitimität der Demokratie wirken. Dieser Effekt wird begleitet durch eine durchgehend negative Wirkung des Gefühls persönlicher Benachteiligung und eine positive Bedeutung des Gefühls der Responsivität, d. h. seitens der Politiker:innen wahrgenommen zu werden. Auch Sozialvertrauen schlägt sich günstig auf die Einstellungen zur Demokratie nieder.
Für uns interessant ist die Wirkung von Verschwörungsmentalität. Und diese ist auch bei Kontrolle der – teilweise wirkmächtigen Indikatoren – beachtlich. So reduziert eine Verschwörungsmentalität in fast gleich starker Weise sowohl die Legitimität der Demokratie, ihre Anerkennung in der Verfassung und die Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie. Dabei übertrifft sie andere sozialpsychologische Skalen deutlich, wie z. B. autoritäre Einstellungen oder soziale Dominanzorientierung (siehe z. B. Duckitt und Sibley 2007; Sidanius und Pratto 1999). Autoritäre Einstellungen beeinflussen die Legitimität der Demokratie sogar gar nicht. Gleiches trifft für die Beziehung zwischen der sozialen Dominanzorientierung und der Demokratiezufriedenheit zu.Footnote 13 Damit wird der bereits nach den bivariaten Untersuchen geäußerte Schluss noch einmal nachhaltig gestützt: Eine Verschwörungsmentalität stellt einen starken Prädiktor für antidemokratische Einstellungen dar – und gefährdet somit eine demokratische politische Kultur. Damit ist der zweite Teil von Hypothese 1 deutlich bestätigt. Es lohnt sich also die Beziehungen zwischen Religiosität, Religion und Verschwörungserzählungen als auch politisch relevant weiterzuverfolgen.
5 Religiosität und Verschwörungsmentalität – eine Wahlverwandtschaft?
Kommen wir zur zweiten und dritten These und stellen die Frage, welche Bedeutung Religiosität für eine Verschwörungsmentalität besitzt, oder wie diese miteinander in Verbindung stehen. These zwei zielt auf die Verbindung dogmatisch-fundamentalistischer Gläubiger, mit Verschwörungsmentalität. Um wie viele Leute handelt es sich aber dabei überhaupt?
Es gibt in Deutschland den Daten nach nur eine geringe Zahl an Personen, die man als fundamentalistisch einordnen kann (Abb. 6).Footnote 14 Ein Item, dass man als literalistischen Fundamentalismus interpretieren kann („Die heilige Schrift meiner Religion ist wortwörtlich zu verstehen“) fasst diese Gruppe recht gut. Die Antworten auf dieses Item korrespondieren stark mit Ergebnissen zu einer Frage danach, ob man die eigene Religion als wichtiger als die deutschen Gesetze einordnet, oder ob man nur seine Religion für wahr hält (Koopmans 2017, S. 174; Huber 2022, S. 40). Wie sich zeigt, sind in Deutschland sind fundamentalistisch denkende Menschen eine deutliche Minderheit. Sie machen etwa 6 bis 10 % der Deutschen, aber doch immerhin doch bis zu 15 % der Kirchenmitglieder aus.
Fundamentalismus und Religiosität; Abgebildet in Prozent (4–6, auf 6‑Punkte-Skala), n = 2503. (Quelle: Leipziger Autoritarismus-Studie 2020)
Sichtbar häufiger sind Zustimmungswerte von Indikatoren, die als Esoterik, Aber- oder Paraglaube interpretiert werden können (Abb. 7). Immerhin in der Regel um ein Drittel der Deutschen stimmen den einzelnen Aussagen in West- wie in Ostdeutschland zu. Am höchsten ist die Zustimmung zu der Aussage „Glücksbringer bringen manchmal Glück“. Am seltensten wird Wahrsager:innen eine Zukunftsprognostik zugetraut (20–23 %). Alle vier Items lassen sich gut zu einer Skala Esoterik oder Aberglaube verbinden (Alpha in der Reliabilitätsmessung = .84).
Esoterik und Aberglaube; Abgebildet in Prozent (5–7, auf 7‑Punkte-Skala), n = 2503. (Quelle: Leipziger Autoritarismus-Studie 2020)
Doch ist diese Zustimmung zu fundamentalistischer Religiosität oder Esoterik nun problematisch oder steht sie, wie im autoritären Syndrom anfangs vermutet, mit Verschwörungsmentalität in einer Beziehung? Hier helfen uns bivariate Korrelationsanalysen weiter. Bei Indikatoren für Religiosität sind die Beziehungen zur Verschwörungsmentalität, ob generell oder auf Covid-19 bezogen, gering, wenn sie überhaupt existent sind (Tab. 6). Dies entspricht den Vermutungen die wir eingangs zur Wirkung von Religiosität hatten. Alle Unterdimensionen der Religiosität sind eben stark untereinander verbunden (Huber 2003). Wenn es Zusammenhänge gibt, dann fallen sie in der Regel negativ aus. Die Zugehörigkeit zu einer Religion, der Gottesdienstbesuch und gerade auch Engagement im religiösen Sektor stehen einer Verschwörungsmentalität entgegen. Es sind die sozialen Aspekte der Religiosität, welche mit einer Verschwörungsmentalität nicht gut harmonieren.
Die Ergebnisse entsprechend ziemlich exakt Studien mit einem polnischen Sample (Łowicki et al. 2022, S. 3–4).Footnote 15 Diese hemmende Beziehung von sozialer Religiosität wandelt sich mit Bezug auf den literalistischen Fundamentalismus in eine positive Beziehung: Die „Bibel muss wortwörtlich verstanden werden“ und Verschwörungsmentalität befördern sich gegenseitig, während religiöse Praktiken (Gottesdienstbesuch, religiöses Engagement) sich als leicht Verschwörungsmentalität reduzierend erweisen. Es spricht viel dafür, dass sowohl Adorno als auch Allport mit ihrer Aufteilung in unterschiedliche Religionsverständnisse richtig liegen. Allein fundamentalistisch denkende Gläubige sind offener für Verschwörungserzählungen, womit Hypothese 2 gestützt wird. Der Verschwörungsmentalität befördernde Bezug zu einer dogmatisch-fundamentalistischen Deutung der eigenen Religiosität ist allerdings geringer als der Wechseleffekt der Verschwörungsmentalität zur Esoterik. Zwischen Verschwörungsmentalität und Esoterik besteht ein signifikanter und mittelhoher Zusammenhang. Menschen mit esoterischen Vorstellungen neigen häufiger als andere Deutsche zu einer Verschwörungsmentalität. Esoterikglauben und Verschwörungsmentalität treten also zusammen auf. Doch selbst wenn sie nicht zusammenhängen würde, wäre dies konzeptionell und theoretisch kein Problem gewesen, weist man Esoterik und Verschwörungsmentalität im autoritären Syndrom doch unterschiedliche Rollen zu. Vieles spricht also für die Gültigkeit von Hypothese 3. Nun stellt sich natürlich die Frage, inwieweit halten diese Wirkungen von dogmatisch-fundamentalistischer Religiosität und Esoterik, wenn man weitere Erklärungsfaktoren hinzunimmt (Middelton 1973).
Um dies zu prüfen wurden in einer linearen Regressionsanalyse die religiösen Indikatoren im Kontext weiterer Erklärungsfaktoren untersucht (Tab. 7). Wir verwenden als Kontrollfaktoren zentrale Variablen der Sozialstruktur und Indikatoren, die wirtschaftliche und politische Deprivation abbilden. Grund ist die Annahme, dass Erfahrungen von Deprivation Menschen für Verschwörungserzählungen anfälliger machen könnten. Gleiches gilt für das Gefühl persönlicher Benachteiligung, fehlendes Sozialvertrauen und das Gefühl einer fehlenden politischen Wirksamkeit. Auch ihnen wird gelegentlich eine Relevanz für Verschwörungsmentalität zugeschrieben (Imhoff und Bruder 2014; Douglas et al. 2019). Diese Items ergänzen wir durch wichtige sozialpsychologische Skalen (Autoritarismus, soziale Dominanzorientierung) und die Erfahrung der persönlichen Folgen der Covid-19-Pandemie. Autoritarismus setzen wir ein, um die weiteren Effekte der autoritären Dynamik zu berücksichtigen, soziale Dominanzorientierung zielt auf die Verteidigung gesellschaftlicher Hierarchien und eigene Machtpositionen. Bei der sozialen Dominanzorientierung sind es Ableitungen einer Bedrohung von denen man einen Bezug erwarten kann. Halten nun die religiösen Effekte bei Überprüfung dieser starken weiteren Erklärungsfaktoren?
Tab. 7 gibt hier wenig Hoffnung. Die religiösen Effekte verschwinden fast durchgängig. Selbst Esoterik und Paraglaube verlieren ihre Bedeutung bei Einbezug weiterer Bezugsfaktoren. Eine Covid-19-Verschwörungsmentalität basiert auf zwei größeren Säulen. Zum einen dem Gefühl einer fehlenden Anerkennung in der Gesellschaft und seitens der Politik und Deprivationserfahrungen. Teilweise unabhängig voneinander wirken sich das Gefühl einer persönlichen Benachteiligung, mangendes Sozialvertrauen, eine ungünstige Einschätzung der wirtschaftlichen Gesamtlage, ein geringeres Gefühl der Responsivität der Politiker:innen und der Eindruck, nichts in der Politik beeinflussen zu können für die Verschwörungsmentalität förderlich aus (Douglas et al. 2019, S. 8; auch Schließler et al. 2020, S. 290–291). Hier finden sich die bereits angesprochenen Deprivationserfahrungen wieder (Imhoff und Decker 2013). Man könnte sogar in der Zuspitzung von anomischen Zuständen sprechen (Goertzel 1994, S. 738). Neben dieser Deprivationseinschätzung bilden sozialpsychologische Faktoren eine zweite Säule der Erklärung der Covid-19-Verschwörungsmentalität. Der Hang zu autoritären Einstellungen sowie eine soziale Dominanzorientierung fördern die Ausprägung einer Verschwörungsmentalität. Anders ausgedrückt, man möchte nicht, dass sich viel an den hierarchisch organisierten Machtverhältnissen ändert. Damit wird auch eine Brücke zu Rassismus, Klassismus und Sexismus eröffnet, die ebenfalls als Ausdruck eines Erhalts hierarchischer Machtstrukturen in der Gesellschaft anzusehen sind.
Die Covid-19-Verschwörungsmentalität unterscheidet sich in ihrer Beziehungsstruktur nur marginal von der generellen Verschwörungsmentalität.Footnote 16 Als Gegenfaktoren kann man einen höheren Bildungsstand, der vermutlich einem kritisch-rationalistischen Denken stärker verbunden ist und ein höheres Alter feststellen. Ob letzteres aus der Generationendifferenz und den entsprechenden Erfahrungen in der Kindheit resultiert oder aber einer gewissen gesammelten Lebenserfahrung geschuldet ist, lässt sich hier nicht feststellen. Ein gewichtiger Faktor ist soziales Vertrauen. Wie bereits in kleineren Studien festgestellt, wirkt es als Blocker für die Entwicklung von Verschwörungsmentalität (Goertzel 1994, S. 737).
Wenden wir unseren Blick wieder auf das Verhältnis zwischen Religiosität und Verschwörungsmentalität. Nach den Ergebnissen der Regressionsanalyse muss die eingangs des Kapitels aufgestellte Bestätigung der Hypothesen 2 und 3 revidiert werden. Unter Berücksichtigung weiterer Erklärungsfaktoren wandert sowohl eine dogmatisch-fundamentalistische Religiosität als auch die Esoterik in den Hintergrund. Dort mag sie noch Relevanz besitzen, offensichtlich ist diese aber nicht mehr. Entsprechend muss man beide Hypothesen doch in Frage stellen.
6 Verschwörungsmentalität als Pushfaktor für die Ablehnung religiöser Gruppen?
Als vierte Annahme haben wir formuliert, dass Bedrohungsängste in einer förderlichen Beziehung zu Verschwörungsmentalität stehen. Diese Annahme wird in Tab. 8 bestätigt. Speziell das Gefühl einer Bedrohung durch Muslim:innen und Jüd:innen verbindet sich mit einer Verschwörungsmentalität (Pickel 2019, S. 80–84; Pickel et al. 2020a, 2020b; Hjerm 2007). Selbst die selten vorkommende Bedrohungswahrnehmung gegenüber Christ:innen ist für eine Verschwörungsmentalität förderlich.
Dem stehen etwas überraschende Bedrohungsängste gegenüber extremistischen Gruppen entgegen. Dieses Ergebnis verweist auf eine gewisse Überschneidung radikaler und extremistischer Positionen mit der Offenheit für Verschwörungserzählungen. Statistisch sind die Korrelationen für generelle Verschwörungsmentalität und Covid-19-Verschwörungsmentalität auch hier wieder fast deckungsgleich. Am stärksten ist die Beziehung zwischen Verschwörungsmentalität und dem Gefühl der Bedrohung durch Jüd:innen. Dies deutet in die Richtung einer Verbindung von Verschwörungsmentalität und antisemitischen Ressentiments, wie sie in der Literatur als historisch gewachsen angesehen wird (Simonsen 2020, S. 367; Wood et al. 2012, S. 771).Footnote 17 Diese Beziehung kann empirisch unterlegt werden (Tab. 9). So bestehen hohe Korrelationen zu allen Formen antisemitischer Ressentiments. Antisemitische Ressentiments scheinen einen beachtlichen Teil an Verschwörungsmentalität auszumachen und sind mit ihnen verwoben (Heilbronn et al. 2019; Lipstadt 2019; Marzouki et al. 2016; auch für Polen: Bilewicz et al. 2013). Interessant und mit Blick auf die Verschwörungserzählung des „Großen Austausches“ nicht unbedingt überraschend sind nur unwesentlich niedrigere, aber sehr hohe Beziehungen zwischen Verschwörungsmentalität, Covid-19-Verschwörungsmentalität und antimuslimischen Rassismus (Douglas et al. 2019, S. 18).Footnote 18
Die dabei ermittelten statistischen Beziehungen können als sehr stark angesehen werden und repräsentieren eine starke Verwobenheit von Verschwörungsmentalität und diesen Einstellungen (Newheiser et al. 2011). Sie dürfte auch ein Grund sein, warum die Vorurteile in der Regression auf Demokratieeinstellungen nur eine nachgeordnete Rolle spielen, ihre Erklärungskraft wird durch die Konstrukte soziale Dominanzorientierung, Autoritarismus und Verschwörungsmentalität teilweise aufgesaugt. Vergleichbares gilt für andere Vorurteile und Abwertungen, die alle in signifikanten Zusammenhängen zur Verschwörungsmentalität stehen. Speziell der Antifeminismus und der Antiziganismus sind einer Verschwörungsmentalität noch eng verbunden (Höcker et al. 2020; Pickel und Öztürk 2020). Oder anders gesagt, unter Menschen mit einer Verschwörungsmentalität steigt z. B. die Forderung „Sinti und Roma aus Innenstädten zu verbannen“ von 35 % in der Gesamtbevölkerung auf über 50 % Zustimmung an. Wollen in der Gesamtbevölkerung noch 25 %, dass Muslim:innen die Zuwanderung untersagt wird, steigt diese Zahl bei Menschen mit einer ausgeprägten Covid-19-Verschwörungsmentalität deutlich über 50 %.
Die Beziehungen zu der Einschätzung der Covid-19-Folgen fallen dagegen eher schwach aus. Gleichwohl finden sich leichte statistische Beziehungen, welche die Folgen für das eigene Leben und die Kultur gelegentlich mit sekundärem oder israelbezogenen Antisemitismus, Ablehnung von Geflüchteten, antimuslimischen Einstellungen und Antiziganismus zusammenzubringen. Deutlich wird: Die Covid-19-Verschwörungsmentalität bettet sich in ein Geflecht an Vorurteilen und Ressentiments und wird zu ihrer Triebkraft. Während über die Vorurteile Bezugsgruppen und Bedrohungsszenarien für Verschwörungen konstruiert werden, sorgt die Verschwörungsmentalität für eine Abschottung gegenüber kritischer oder hinterfragender Lektüre wie Diskussion.Footnote 19 Dies betrifft in besonderem Ausmaß nichtchristliche religiöse Gruppen. So wie antisemitische Ressentiments und Verschwörungsmentalität eng verzahnt sind, fallen auch die Korrelationen zwischen Verschwörungsmentalität und antimuslimischen Einstellungen sehr hoch aus. Damit kann Hypothese 4 bestätigt werden: Vorurteile (nicht nur) gegen religiöse Gruppen sind mit Verschwörungsmentalität verbunden, was sich auch in der Verbindung zu Bedrohungsängsten gegenüber diesen Gruppen widerspiegelt. Religionszugehörigkeit wird somit zu einem Bezugspunkt für Verschwörungserzählungen, Vorurteilen und Ablehnung.
7 Fazit: Covid-19-Pandemie, Verschwörungserzählungen und Religiosität – ein komplexes Verhältnis
Wie die Daten der Leipziger Autoritarismus-Studie zeigen, existiert in Deutschland eine beachtliche Verbreitung von Covid-19-Verschwörungsmentalität. Diese Abbildung der Offenheit für Verschwörungstheorien existiert weitgehend entkoppelt von der Einschätzung der Covid-19-Lage bzw. entsprechenden Befürchtungen und ist in Ostdeutschland prozentual häufiger als in Westdeutschland. Immerhin bis zu 40 % der Deutschen weisen eine Covid-19-Verschwörungsmentalität auf, eine vergleichbare Größe eine generelle Verschwörungsmentalität. Diese Grundlage einer bereits bestehenden Offenheit für Verschwörungserzählungen wurde anscheinend über die Covid-19-Pandemie aktiviert. So hat die Zahl der Deutschen mit einer Verschwörungsmentalität von 2018 auf 2020 zugenommen, was mit der Covid-19-Pandemie und der mit ihr verbundenen Diskursen zu tun haben kann. In diesem Fall erweist sich die COVID-19-Pandemie als Inkubator, stärkt sie doch die bereits existierende Verschwörungsmentalität und motiviert Menschen mit ihr zu einer verstärkten öffentlichen Präsenz. Eine solche Entwicklung ist für eine demokratische politische Kultur nicht ungefährlich. Die Verschwörungsmentalität ist – statistisch belegbar – einer der stärksten Faktoren der Beschädigung einer demokratischen politischen Kultur, demokratischer Einstellungen und damit der Demokratie. Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben geraten schneller und häufiger in einen Gegensatz zur Demokratie, verlieren ihr Vertrauen in deren Institutionen und lassen sich von demokratiefeindlichen Gruppen aktivieren und instrumentalisieren. Somit sind beide Teile der Hypothese 1 – wenn auch mit unterschiedlicher Stärke – bestätigt.
Für Religion und Religiosität gibt es ein Bündel an Ergebnissen.. Bei den Indikatoren traditionaler Religiosität wirkt Kirchenmitgliedschaft wie tradierte Religiosität ambivalent. Sie steigert weder die Offenheit für Verschwörungserzählungen, noch steht sie ihr entgegen. Immerhin werden Vermutungen, die Gläubige ganz generell als für Verschwörungserzählungen offen ansehen so erst einmal entkräftet. Das ändert sich bei einer Differenzierung von Religiosität. Eine stärker universalistische oder soziale Religion ist für Verschwörungsmentalität leicht hemmend, ein dogmatisch-fundamentalistisches Verständnis von Religiosität steht in einem fördernden Zusammenhang zu Verschwörungsmentalität. Während der erste Zusammenhang statistisch übersichtlich ausfällt, ist der zweite etwas stärker ausgeprägt und verweist für die allerdings mit um die 5–10 % nicht große Gruppe an religiösen Dogmatiker:innen für eine gewisse Anfälligkeit für Verschwörungserzählungen. Dieses Ergebnis hält allerdings einer Kontrolle mit wichtigen Erklärungsfaktoren der Verschwörungsmentalität nicht stand – die statistischen Effekte verschwinden in einer Regressionsanalyse. Entsprechend muss man Hypothese 2 – mit einer gewissen Vorsicht wegen der bivariaten Ergebnisse – eher verwerfen. Dogmatisch-fundamentalistische Religiosität steigert Verschwörungsmentalität nur, wenn man andere Faktoren unberücksichtigt lässt.
Ähnlich sieht es für die Beziehung zwischen Esoterik und Verschwörungsmentalität aus. Zuerst verbindet der gemeinsame Bezug auf die von Adorno markierte Projektivität Paraglaube oder Esoterik mit Verschwörungsmentalität. Doch auch dieser bivariate Befund hält einer Kontrolle mit anderen erklärungsvariablen nicht stand. Nun ist es konzeptionell nicht falsch davon auszugehen, dass beides eigenständige Bevölkerungspotentiale und Dynamiken besitzt. Erkennbar sind die gleichen Wirkungsrichtungen. Auch Paraglaube befördert Vorurteile und steht in einem negativen Zusammenhang zu Messindikatoren der demokratischen politischen Kultur. Gleichwohl ist die Wirkung geringer als die einer ausgebildeten Verschwörungsmentalität. Insgesamt muss man Hypothese 3 verwerfen, wenn sie auch nach der bivariaten Analyse noch Bestand hatte.
Religion kommt allerdings noch auf eine andere Weise ins Sichtfeld – als Bezugspunkt von Vorurteilen und Abwertung. Für die Beziehung zwischen Religion und Verschwörungserzählungen bedeutet dies: Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder dienen mit Blick auf antisemitische Ressentiments und derzeit beliebten Verschwörungserzählungen, wie dem „großen Austausch“, der auch antimuslimische Einstellungen einbezieht, als Träger des durch Strippenzieher:innen ausgelösten Unheils. Der empirische Beleg starker Korrelationen zwischen der Bedrohungsangst vor Jüd:innen und Muslim:innen und Verschwörungsmentalität wie auch die hohen Korrelationen der Verschwörungsmentalität zu antisemitischen Ressentiments und antimuslimischen Einstellungen schließen plausibel an die in Hypothese 4 formulierte Beobachtung an: Vorurteile gegenüber Religionsgemeinschaften und Verschwörungsmentalität, ob hinsichtlich Covid-19 oder generell, sind eng miteinander verzahnt. Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, besitzen auch häufiger Vorurteile und Ressentiments. Sie neigen eher zu rassistischen Vorstellungen (speziell gegenüber Muslim:innen) und in ganz besonderem Masse zu antisemitischen Ressentiments. Die oft diskutierte Anfälligkeit von Verschwörungsgläubigen für antisemitische Ressentiments, speziell in der Umwegkommunikation über einen sekundären oder israelbezogenen Antisemitismus, kann mit unseren Daten statistisch klar belegt werden.
Wenn man so will bleibt der Bezug zwischen Religion und Religiosität komplex. So wie der Einfluss eines bestimmten Verständnisses von Religiosität scheinbar in breitere Überzeugungen eingebettet ist und nicht so leicht isoliert werden kann, dienen andere Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder als zentraler Bezugspunkt für die Konstruktion von Verschwörungserzählungen. Angesichts der negativen Auswirkungen, die Verschwörungserzählungen auf eine demokratische politische Kultur besitzen sollte man diesen Bezügen mehr Aufmerksamkeit widmen. Die Covid-19-Pandemie hat erst einmal den Hang zur Verschwörungsmentalität leicht erhöht, oder einfach aktiviert und sichtbar gemacht. Vielleicht ist auch dies hilfreich, um doch mehr das Augenmerk darauf zu richten wie viele Menschen an Verschwörungen glauben und welchen Schaden dies für eine Gesellschaft ausrichten kann.
Notes
Für den vorliegenden Beitrag wurden alle Hinweise auf die Autor:innen entfernt, was an verschiedenen Stellen zu Lücken in der Zitation führt. Die bitten wir zu entschuldigen.
Der Begriff der Verschwörungsmentalität wird im nächsten Kapitel eingeführt. Hier nur in Kürze: Bei einer Verschwörungsmentalität handelt es sich um den Glauben an eine Verschwörungserzählung.
Diese Entwicklungen auf der religiösen Ebene zeitigen Folgen für die politische Kultur (Pickel und Pickel 2006).: Die sich in der Bevölkerung verfestigende Verschwörungsmentalität stärkt Vorurteile und antidemokratische Haltungen.
Die Daten der Leipziger Autoritarismus-Studie werden regelhaft vom Meinungsforschungsinstitut USUMA als Face-to-Face kombiniert mit Selbstausfüllererhebung durchgeführt. Dieses Vorgehen führt zu einer höheren Ausschöpfung der Stichproben und einem besseren Antwortverhalten auch regierungskritischer Personen, die in Telefonumfragen überdurchschnittlich häufig nicht antworten.
Den Vorschlag von Lamberty und Nocun (2021) aufnehmend wird im Text von Verschwörungserzählungen gesprochen. Sie erfüllen nicht den Anspruch an eine wissenschaftliche Theorie, weswegen die Bezeichnung als Verschwörungstheorie die Erzählungen zu sehr aufwertet. Gleichwohl dominiert in der angelsächsischen Forschung die Bezeichnung als conspiracy theories und bezeichnet gleiches (Douglas et al. 2019).
Gleichzeitig ist es das Fehlen anderer sozialer Bindungen, welches die Offenheit für Verschwörungserzählungen und eine Verschwörungsmentalität erhöht (Biddlestone et al. 2020).
Die aufgeführte Logik weist eine beachtliche Nähe zu aktuellen Debatten über Spiritualität als Ersatz für Religion und Religiosität auf (Heelas und Woodhead 2008).
Weitere Operationalisierungen werden an entsprechender Stelle explizit ausgewiesen.
Ergebnisse einer vorwiegend auf telefonischen Interviews basierenden Befragung brachten etwas niedrigere Werte. Allerdings bewegen sich auch dort die Zustimmungswerte zu den Items der Verschwörungsmentalität zwischen 25 und 33 % (Lamberty und Rees 2021, 290–291).
Ein Beispiel hierfür sind die Durchbrüche durch Polizeiketten, welche durch rechtsextreme Akteure erfolgte. Paradebeispiel war im Herbst 2021 die auf eine solche Weise erzwungene Umrundung des Leipziger Stadtrings, verbunden mit der Erzählung eines Anknüpfens an die Leipziger Proteste gegen das Regime der DDR von 1990.
Gerade bei den Vorurteilen sollten die Beziehungen eher Verbindungen als Kausalbeziehungen abbilden.
Dieses Ergebnis stütz die Annahme, dass die Messung sozialer Dominanzorientierung stark auf die grundsätzliche Dimension eines strukturellen Rassismus, mit dem Erhalt von Macht- und Hierarchiebeziehungen verkoppelt ist.
Der Anteil würde natürlich höher aussehen, würde man diese Gruppe nur auf Mitglieder von Religionsgemeinschaften beziehen würde. Gleichwohl ist es auch dort eine Minderheit.
Dort konnte mit zwei Studien der Bezug zwischen Fundamentalismus und einer Covid-19-Verschwörungsmentalität bestimmt werden, während subjektive Religiosität (fast gleiche Messung wie hier) keinen oder einen leicht negativen Bezug zur Covid-19-Verschwörungsmentalität aufwies (Łowicki et al. 2022, S. 3–4).
Dieses Ergebnis weicht etwas von früheren Befunden bei Imhoff und Bruder (2014 S. 30) ab, die für antimuslimischen Rassismus eine geringeren Bezug zu Verschwörungsmentalität als zu antisemitischen Ressentiments ausmachten und diesen durch die Einordung von Jüd:innen als höher gestellte Gruppe, die mit Neid zu beobachten ist, erklärten. Hier könnte durch die neue Erzählung des „Großen Austausches“ eine Veränderung stattgefunden haben (Obaidi et al. 2021).
Diese Ergebnisse bestätigen die Annahme von Douglas et al. (2019, S. 18) „Conspiracy beliefs might therefore appear to reinforce the „us“ versus „them“ dichotomy“. In diesem Fall legen sie auch eine Brücke zu einer rassistischen Ideologiekonstruktion, kann man sich doch gegen Widerspruch wappnen.
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Pickel, G., Schneider, V., Pickel, S. et al. Religiosität, Religion und Verschwörungsmentalität in der Covid-19-Pandemie. Z Religion Ges Polit 7, 553–587 (2023). https://doi.org/10.1007/s41682-023-00163-2
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