1 Einleitung – Migration als Triebkraft religiöser Pluralisierung

Statistiken belegen, dass die Religion in Europa keineswegs auf dem Rückzug ist. Vielmehr verändert sich gegenwärtig die religiöse Landschaft in Europa. In die Zukunft projiziert wird sich das Christentum nach Berechnungen des Pew Research Center von 2015 zwar auch in Zukunft als die größte Religion in Gesamteuropa behaupten; jedoch wird die Zahl der Christ:innen zwischen 2015 und 2050 um rund 100 Mio. auf 454 Mio. sinken. Das entspricht einem Anteil von noch 65,2 % gegenüber 74,5 % im Jahr 2015. Im Gegenzug wird der Anteil der Muslim:innen an der europäischen Bevölkerung steigen, so eine Studie des Pew Research Centers aus dem Jahr 2017. Selbst ohne weitere Zuwanderung wird der Anteil von 4,9 % auf 7,4 % anwachsen. Auch die Zahl der Religionslosen wird deutlich zunehmen, und zwar von 18,8 % auf 23,3 %.Footnote 1

Hinter diesen Zahlen stehen rasante Transformationsprozesse. Zum einen entsteht zurzeit ein diverser Islam europäischer Prägung. Aber auch das Nachdenken über christliche Identität ist neu angestoßen worden, sowohl in den Kirchen als auch außerhalb. Und religionsferne Gruppen artikulieren sich immer stärker, und das keineswegs nur glaubenskritisch. So erleben alternative, popularisierte Glaubensformen derzeit eine Konjunktur. Und vieles spricht dafür, dass der Religionsbedarf nicht abnimmt, sondern mit der steigenden Komplexität und Krisenanfälligkeit der Gesellschaft eher zunimmt. Jedoch scheint sich die Form der Sinnsuche zu verändern, und religiöse Funktionen wandern aus den traditionellen Glaubensgemeinschaften mehr und mehr in andere Lebensbereiche ab.

Zum anderen beschleunigt die Migration die Pluralisierung der religiösen Landschaft in Europa. Und das betrifft keineswegs nur die Zuwanderung von Angehörigen verschiedener islamischer Glaubensrichtungen, die den Islam in Europa so divers macht. Viele außereuropäische Migrant:innen in die EU sind Christ:innen. In jeder europäischen Großstadt finden sich heute Diaspora-Gemeinden aller christlichen Konfessionen. Nicht zuletzt tragen Migrant:innen auch zur Ausbreitung evangelikaler und pfingstkirchlicher Gemeinschaften in Europa bei und geben dadurch dem europäischen Christentum ein neues Gesicht.

Das Thema der Religion hat durch diese Veränderungen eine neue gesellschaftliche und politische Relevanz gewonnen und macht es notwendig, die Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft neu zu verhandeln. Dies gilt vor allem in Reaktion auf die dargestellte religiöse Pluralisierung. Eine erfolgversprechende Verhandlung verlangt aber nach präziseren Kenntnissen der religiösen Landschaft Europas, als sie bislang zur Verfügung stehen.

Die Pluralisierung der religiösen Landschaft, die wir in Europa seit Jahrzehnten beobachten, ist dabei nicht allein ein empirischer Tatbestand. Religiöse Pluralität gehört zum europäischen Selbstverständnis und ist in Form der Religionsfreiheit als verbrieftes Menschenrecht fest in der Verfassung Europas verankert. In Artikel 10 der Charta der Grundrechte der EU zur Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit heißt es entsprechend: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.“

Dieser rechtliche Rahmen, den sich Europa gegeben hat, heißt aber nicht, dass die religiöse Pluralisierung ohne Konflikte verläuft. Wie die vielen emotional aufgeladenen Debatten der letzten Jahrzehnte beispielsweise um das Kopftuch, um religiöse Symbole im öffentlichen Raum oder Religionsunterricht an öffentlichen Schulen belegen, ist religiöse Pluralität ein Streitthema. In nahezu allen europäischen Ländern wird um einen zeitgemäßen und dem säkularen Selbstverständnis entsprechenden Umgang mit einer sich verändernden religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung – und den daraus erwachsenden Spannungen – gerungen. Ein Ausdruck dessen ist weit verbreitete Skepsis in Einwanderungsländern wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien gegenüber den muslimischen Minderheiten, die im Zuge von Integrationsprozessen auch zunehmend im öffentlichen Raum sichtbar geworden sind. Einschlägige Studien belegen, dass große Teile der europäischen Bevölkerung Muslime und ihre Religion ablehnen (Pickel 2019). Dies hängt teilweise mit einem verkürzten Verständnis von Religionsfreiheit zusammen, das Religion allein im Privaten verortet und deren öffentliche Erscheinungsformen nicht anerkennt (El-Menouar 2019). Das Maß an Religionsfreiheit in einem Land gilt nicht ohne Grund als Gradmesser für das friedliche Zusammenleben und den Zustand einer Demokratie. Denn es ist eine enorme und keineswegs selbstverständliche gesellschaftliche Leistung, wenn Menschen in der Lage sind, andere religiöse und weltanschauliche Wahrheiten anzuerkennen. Gerade in modernen Gesellschaften mit zunehmender religiös-weltanschaulicher Pluralisierung kommen sowohl dem Recht der freien Glaubenswahl und Religionsausübung (positive Religionsfreiheit) als auch dem Recht, keiner oder keiner bestimmten Religionsgemeinschaft anzugehören beziehungsweise diese verlassen zu können (negative Religionsfreiheit), große Bedeutung zu.

Gleichzeitig bringt die religiöse Pluralisierung auch fundamentalistische Facetten hervor, die mit antidemokratischen Haltungen verwoben sind und mit einem politischen Anspruch auftreten. So haben bspw. in Frankreich salafistische Lesarten des Islams vor allem unter jungen Erwachsenen an Attraktivität gewonnen (Roy 2006). Beispiele post-kommunistischer Länder Mittel- und Osteuropas zeigen zudem ein überdurchschnittliches religiöses Wachstum und eine Rückkehr der Kirchen auf die politische Bühne.

Aus diesen Ausführungen wird deutlich, Religion ist nach wie vor eine ambivalente soziale Kraft, die eine entscheidende Rolle für das Zusammenleben in europäischen Gesellschaften spielt. Ein gelingendes Zusammenleben von Menschen verschiedener Glaubenszugehörigkeit – und auch von Menschen ohne Glaubenszugehörigkeit – stellt daher eine besondere und dauerhafte Herausforderung liberaler Demokratien dar.

2 Der Religionsmonitor und die Special Section

Die Bertelsmann Stiftung liefert mit dem Religionsmonitor regelmäßig empirische Daten zu aktuellen Herausforderungen und Chancen, die mit Religion und religiöser Vielfalt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einhergehen. In der ersten Welle im Jahr 2009 widmete sich der Religionsmonitor der grundsätzlichen Fragen, welche Rolle Religion im Leben der Menschen einnimmt. Dazu wurden repräsentative Befragungen in über 21 Ländern weltweit durchgeführt (Bertelsmann Stiftung 2010). In der zweiten Welle lag der Fokus stärker auf der gesellschaftlichen Rolle von Religion und ihre Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt (Pollak und Müller 2013; Pickel 2013). Die Dritte Welle hat den Schwerpunkt auf religiöse Vielfalt gerichtet und hat in sechs westeuropäischen Ländern neben einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung auch religiöse Minderheiten repräsentativ befragt. Die Daten für Deutschland enthalten ein Oversample von über 1000 muslimischen Befragten aus den fünf wichtigsten Herkunftsländern. Die Daten für Österreich, die Schweiz, Frankreich und Großbritannien enthalten jeweils ein Oversample von rund 500 muslimischen Befragten aus den zwei bis drei wichtigsten Herkunftsländern. Zusätzlich stehen repräsentative Daten für die Bevölkerung der Türkei – und damit einem Land mit einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung zur Verfügung. Zusätzlich zu den muslimischen Oversamples enthält der deutsche Datensatz zudem Sonderstichproben für Christen mit Migrationshintergrund. Damit bietet der Religionsmonitor 2017 eine einzigartige Datengrundlage zur Analyse der Chancen und Herausforderungen religiöser Pluralisierung, die auch Schlüsse über zeitliche Entwicklungen erlaubt.

Die Auswertungen dieser Daten durch unterschiedliche Wissenschaftler ist auch die Grundlage für die vorliegende Special Section zum Religionsmonitor 2017. Dabei erfolgt eine gewisse Beschränkung auf die Analysen im deutschsprachigen Raum inklusive einer strikt ländervergleichenden Analyse.

Für Deutschland identifizieren Olaf Müller und Detlef Pollack (2022) das Fortbestehen einer Trennlinie innerhalb Deutschlands, die zwischen dem weitgehend säkularisierten Ostendeutschland und dem noch immer konfessionell-religiös geprägten Westdeutschland verläuft. So wie sich Differenzen in der Religiosität entlang dieser Trennlinie ergeben, finden sich auch Unterschiede zwischen den christlich geprägten Bevölkerungsteilen auf der einen und der muslimischen Minderheit auf der anderen Seite. Dies gilt auch mit Blick auf gesellschaftliche und politische Positionen. So lassen sich zwar in Bezug auf die grundsätzliche Zustimmung zur Demokratie (Legitimität) zwischen den Religionen keine Unterschiede ausmachen, allerdings durchaus zwischen verschiedenen Typen, bzw. Verständnissen von Religiosität. Anders sieht es bei Einstellungen zu Geschlechtsrollen und zur gleichgeschlechtlichen Ehe aus. Hier lassen sich bei Muslimen stärkere Vorbehalte gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ausmachen. Über die Generationen hinweg findet allerdings eine Annäherung der Einstellungen junger Muslime an die anderen Gruppen der Bevölkerung statt.

Differenzen zwischen Muslimen, Christen und Konfessionslosen sind auch in Österreich zu erkennen. Franz Höllinger (2022) stellt in seinem Beitrag zur religiösen Lage in Österreich eine unterschiedliche Entwicklung der Religiosität von nichtmuslimischen Österreichern und Muslimen fest. Bei den Christen geht die kirchlich-religiöse Praxis bei jüngeren Menschen im Vergleich zu älteren Menschen in erheblichem Ausmaß zurück, man könnte von einer Säkularisierung sprechen. Anders ist dies bei Muslimen. Sie vertreten viel häufiger die Ansicht, dass es nur eine wahre Religion gibt und sehen nur eine richtige Interpretation der religiösen Gebote. Dabei sind diese Haltungen teils zunehmend. Die dogmatischen Haltungen sind auch unter Christen vorhanden, nur in weitaus geringerem Ausmaß. Diese Differenz zwischen Muslimen und Christen, bzw. Konfessionslosen verstärkt in Teilen – so Höllinger – die bereits kulturell bestehende Ablehnungen gegenüber Muslimen unter Österreichern.

Antonius Liedhegener (2022) schlägt nach einem Blick auf die religiöse Vielfalt der auch sonst sehr vielschichtigen Schweizer Gesellschaft vor, die produktiven Potenziale der Schweizer Religionsgeschichte und insbesondere die Überwindung der langen konfessionellen Spaltung der Schweizer Gesellschaft als Lerngeschichte für ein neues Miteinander in religiöser Vielfalt stärker in den Blick zu nehmen. Von dieser Position aus identifiziert Liedhegener unter Nutzung systemtheoretischer Überlegungen die Manifestation der Schweiz als Wir-Nation mit starker Identität und einer Entkopplung von Religion von anderen Lebensbereichen. Das hemmt nicht ihre anhaltende Präsenz in der Gesellschaft. Dabei zeigt sich eine starke Beziehung zwischen einer starken sozialen Bindung einer Religion und der Religiosität. Auch existieren beachtliche Ängste vor dem Islam, die sich in entsprechenden Bedrohungseinschätzungen äußern, aber auch der Einschränkung eines Zuzugs im Sinne einer Wir-Nation mit sich bringen. Als Bearbeitungsmöglichkeit schlägt Liedhegener eine stärke Betonung zivilgesellschaftlicher Prozesse vor.

Gert Pickel (2022) fokussiert auf die Beobachtung, dass Religionszugehörigkeit und Religiosität gelegentlich in einem anderen Gewand wieder in das Licht der Öffentlichkeit zurückkehrt, als dies von vielen erwartet wird. So wird eben die Öffentlichkeit stark durch den Blick auf die Konflikthaftigkeit von Religion gerichtet. Diese Konflikte werden dabei oft mit Prozessen der religiösen Pluralisierung in Verbindung gebracht. Diese Einschätzungen beruhen zu großen Teilen auf Kategorisierungen und der Markierung kultureller Differenz. So brachten die 2015 mobilisierten Vorurteile gegenüber muslimischen Migranten einen bereits vorher existierenden antimuslimischen Rassismus an den Tag. Dieses Muster zeigen Ergebnisse des Bertelsmann Religionsmonitors 2017 in mehreren europäischen Ländern. Das Gefühl einer Bedrohung durch „den Islam“ erweist sich als verschärfend für diese Konstellation. Gleichzeitig erweist sich sowohl diese Mobilisierung als auch der bestehende antimuslimische Rassismus als teilweise toxische Mischung für eine demokratische politische Kultur. So wie diese Vorurteile für manche das Einstiegstor in rechtsradikale Haltungen sind, steht die mit dem antimuslimischen Rassismus verbundene Ablehnung von Pluralität in einem fundamentalen Gegensatz zur liberalen Demokratie. Dabei ist dieses Ergebnis länderübergreifend gültig, allerdings bestehen länderspezifische Variationen.

Insgesamt zeigt sich für die religiöse Lage in Europa anhand der Daten des Religionsmonitor 2017 ein vielschichtiges Bild. In diesem stechen zwei Prozesse hervor: Einerseits die Säkularisierung mit Blick auf christliche Religionen. Sie führt zu einer steigenden Zahl an Konfessionslosen oder Konfessionsfreien. Die Säkularisierung wird durch eine religiöse Pluralisierung im Sinne von mehr Menschen mit einer anderen als christlichen Religionszugehörigkeit, aber auch im Sinne unterschiedlicher Verständnisse von Religion begleitet. Religiöse Pluralisierung drückt sich in Europa vor allem durch eine Zunahme von muslimischen Menschen aus. Die Reaktion der Einwanderungsgesellschaften auf Muslime wird dabei zum zentralen Merkmal öffentlicher Diskussionen – und dies in allen Untersuchungsländern. Muslime werden nicht selten als Gefahr gesehen und entsprechende Ängste beherrschen nicht wenige Mitglieder in Deutschland, Österreich und der Schweiz – aber auch anderen europäischen Ländern. Dabei werden in der religiösen Landschaft sowohl Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz, als auch Facetten von Unterschieden erkennbar. Sie können in der Interpretation der religiösen Situation in den Ländern, aber auch darüber hinaus, weiterhelfen und zeigen den Nutzen vergleichender Forschung, wie sie der Religionsmonitor 2017 leistet.