1 Einleitung: Religion in der multipluralen Schweiz

Historisch betrachtet erscheint die Schweiz als eine staunenswerte Ausnahme europäischer Staatenbildung. Anders als im Rest Europas gelang es der Eidgenossenschaft über Jahrhunderte, einen mehrfachen Pluralismus von sprachlichen, regionalen, religiösen, wirtschaftlichen und zum Teil ethnischen Interessen in einem einzigen, sich freilich wandelnden politischen System zu integrieren. Der moderne Schweizer Staat von 1848 wird als Inbegriff einer demokratischen Willensnation gesehen, deren Zusammenhalt in Vielfalt vom politischen Willen aller getragen ist (Linder 2005, S. 22). Die große Bedeutung der lokalen Selbstbestimmung, die starke Stellung der Kantone, der dezentrale Föderalismus, die Mehrsprachigkeit der politischen Institutionen, die Volksentscheide als Ausdruck der direkten Demokratie sowie das außenpolitische Denken in den Kategorien von Autonomie, Neutralität und internationaler Hilfe sind wesentliche Momente des historischen Erfolgs der Schweiz als Willensnation. Gegenwärtig sieht sich die Schweiz gleich doppelt herausgefordert, ihr Modell einer vorrangig politischen Integration fortzuschreiben. So ist die Individualisierung in der Schweiz weit vorangeschritten; nicht nur in religiöser Hinsicht stellt sie eine „Ich-Gesellschaft“ dar, in der den Wünschen und Interessen des Individuums mehr Gewicht beigemessen wird als den Belangen von Gruppen und Kollektivgütern (Stolz et al. 2014). Zugleich aber zeigt sich auch in der Schweiz ein neues Verlangen nach einer starken kollektiven Identität, die dem einzelnen wie der politischen Gemeinschaft in den Umbrüchen der Globalisierung durch ein gemeinsames ‚Wir‘ Halt vermitteln soll (Delitz 2018). Religion und religiöse Zugehörigkeiten spielen in den Auseinandersetzungen um das Selbstverständnis der Schweiz als einer ‚Wir-Nation‘ eine prominente Rolle. ‚Das Christentum‘ und ‚der Islam‘ sind zu religiösen Identitätsmarkern im Diskurs um nationale Werte und muslimisches Anderssein geworden.

Das wiederkehrende Problem der gesellschaftspolitischen Gestaltung religiöser Vielfalt hat die moderne Schweiz von Anfang an einerseits durch die Gewährleistung der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit als Grundrecht und die ausschließliche Regulierung des Staat-Kirche- bzw. Religionenverhältnisses auf der Kantonsebene andererseits zu lösen versucht (Art. 15 und Art. 72 Schweizer Bundesverfassung). Diese bis heute gültige Dezentralisierung der Religionspolitik ist historisch begründet. Die meisten Kantone waren bis weit in das 20. Jahrhundert hinein konfessionell einheitliche Gebiete. Gleichwohl erwies sich die Lösung der Dezentralisierung und regionalen religiösen Homogenisierung schon im ausgehenden 19. Jahrhundert als abträglich für die Belange der kleineren Religionsgemeinschaften (Vatter 2011). Angesichts der religiös-weltanschaulichen Pluralisierung und der binnenschweizerischen wie globalen Migration ist diese Lösung herausgefordert, wenn nicht gar in Frage gestellt. Dies zeigt sich gegenwärtig vor allem an den muslimischen Minderheiten der Schweiz.

Religion in der heutigen Schweiz zu analysieren, heißt daher, deren komplexe, sich wandelnde geschichtliche und gesellschaftliche Verortung in den Blick zu nehmen. Die folgende Darstellung zielt darauf, die komplexe Vielschichtigkeit von „Religion“ in der Schweiz sichtbar zu machen und so ein vertieftes Verständnis der Gegenwart zu ermöglichen. Ausgehend von einem systemtheoretischen Ansatz und mit Hilfe eines empirischen Zugriffs wird für die Schweiz die Frage beantwortet, wo sich welche religiösen Bezüge im Alltagsleben und im öffentlichen und politischen Miteinander ausmachen lassen, wie stark diese sind und welche Qualität sie haben. Auf der Basis der Daten des Religionsmonitors 2017 der Bertelsmann Stiftung werden dazu die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Konfessionen und religiösen Traditionen und ihren Mitgliedern sowie jenen, die sich selbst keiner Religionsgemeinschaft zuordnen, in religiöser wie sozio-politischer Hinsicht dargestellt (4. und 5.). Erstmals werden insbesondere die religionspolitischen Einstellungen der Bevölkerung zur aktuellen religiösen Vielfalt und deren politische Implikationen herausgearbeitet. Zur besseren Einordnung der aktuellen Befunde wird eine knappe religionshistorische Verortung und eine Skizze zu den Besonderheiten der institutionellen Verfasstheit von Religion in der Schweiz vorangestellt (2. und 3.).

Theoretischer Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse der Religionsmonitordaten Schweiz ist eine spezielle, vor allem aus politikwissenschaftlichen Überlegungen heraus entwickelte Modellvorstellung der Zuordnung von Religion und Gesellschaft. Dieses Modell verknüpft die gesamtgesellschaftliche System- bzw. Makro-Ebene, die intermediäre, gesellschaftliche Zusammenhänge herstellende Meso-Ebene der Gruppen und Organisationen und die Mikro-Ebene, d. h. die Einstellungen und Verhaltensweisen des Einzelnen, unter dem Einfluss der längerfristigen Wirkungen von Geschichte, Kultur und kollektiven Identitäten (Liedhegener 2011, 2016a; Liedhegener und Odermatt 2018, bes. S. 12–21; Pollack und Rosta 2015, S. 40–47). Im Anschluss an Talcott Parsons (2000 [1972]) wird davon ausgegangen, dass für eine erfolgreiche Integration moderner Gesellschaften sehr unterschiedliche Faktoren und Prozesse ineinandergreifen müssen: Neben der funktionalen Leistungsfähigkeit der zentralen Teilsysteme, also insbesondere Wirtschaft, Politik, Kultur und Privatsphäre, kommt der sozialen Integration von Einzelnen und kleineren Gruppen in übergeordnete Zusammenhänge und hier insbesondere in die „politische Gemeinschaft“ – die „societal community“ bei Parsons – ein zentraler Stellenwert zu (Easton 1979; Pickel und Pickel 2016; Schimank 1999). Diese politische Gemeinschaft trägt das Gemeinwesen. Sie ist teils institutionell normiert (Staatsbürgerschaft, Steuern, Sozialstaat), teils kulturell im Bewusstsein der verschiedenen sozialen Gruppen und Akteure verankert (nationale Symbole und Narrative, kollektives Gedächtnis, Zugehörigkeiten und emotionale Identifikation). Ein wesentlicher Indikator für den Zustand dieser „politischen Gemeinschaft“ ist der Umgang einer Gesellschaft mit den verschiedenen sozialen Identitäten ihrer Mitglieder. Darin zeigt sich, ob Gesellschaften und ihr politisches System stärker inkludierend oder eher ausgrenzend angelegt sind. Historisch wie aktuell besitzen gerade Religion und religiöse Zugehörigkeit einen hohen Stellenwert als Marker für soziale Zugehörigkeit, Anerkennung und Teilhabe (Delitz 2018; Charim 2018).

2 Von der bi-konfessionellen Schweiz zur religiös pluralen Migrationsgesellschaft

Die Geschichte der Schweiz ist von der Reformation bis weit in das 20. Jahrhundert hinein vom Gegensatz der beiden großen Konfessionen geprägt. Mit dem Erfolg der Reformatoren Jean Calvin in Genf und Huldrych Zwingli in Zürich war die Zugehörigkeit von Kantonen und ihrer Bevölkerung zu einer der neuen reformierten Landeskirchen oder zur römisch-katholischen Kirche zu einer zentralen gesellschaftlichen und politischen Frage geworden. Obschon es der Eidgenossenschaft gelang, sich aus dem 30-jährigen Krieg herauszuhalten, barg das Thema ‚Konfession‘ auch hier Sprengstoff. Die binnenschweizerischen Bürgerkriege der frühen Neuzeit, die Kappeler Kriege 1529 und 1531 und die Villmerger Kriege 1656 und 1712, sowie der Sonderbundskrieg von 1847 sind der sichtbarste Ausdruck dafür. Letzterer stand an der Wiege der modernen Schweiz. Erfolglos stemmten sich in diesem kurzen und relativ unblutigen Bürgerkrieg die katholisch-konservativen Kreise und die katholischen Kantone gegen ihre Majorisierung durch die reformierten liberal-bürgerlichen Kantone. Am heftigsten wurden die konfessionellen Spannungen des 19. Jahrhunderts in den gemischt-konfessionellen Kantonen ausgetragen. St. Gallen, Aargau, Thurgau, Solothurn, die heutigen Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft sowie Genf gelten als Kulturkampfkantone (Altermatt 2012, S. 38–39). Die kantonalen Kulturkämpfe bestimmten auch die Bundesebene. Die revidierte Bundesverfassung von 1874 enthielt mehrere Ausnahmevorschriften, die eine Ausbreitung der als ultramontan bekämpften katholischen Kirche verhindern sollten. Erst nach der Mitte des 20. Jahrhunderts verschwanden diese Ausnahmegesetze wieder aus der Schweizer Verfassung.

Vor diesem Hintergrund erscheint es wie eine Ironie der Geschichte, dass das seit dem Volksentscheid von 2009 landesweit geltende religionspolitische Verbot, neue Minarette zu errichten, in der Verfassung an genau jener Stelle steht (Art. 72 Abs. 3 BV), an der bis 2001 das kulturkämpferische Verbot der Gründung neuer katholischer Bistümer stand. Die Rolle der ‚gefährlichen‘ religiösen Minderheit scheint von der alten katholischen auf die neue muslimische übergegangen zu sein. Das in Bezug auf die Praxis muslimischer Frauen in der Schweiz nahezu gegenstandslose Verbot der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit (Tunger-Zanetti 2021), das per nationalem Volksentscheid 2021 geschaffen wurde (Art. 10a BV), liegt auf der gleichen religionspolitischen Linie. Die Sichtbarkeit einer bestimmten, marginalen muslimischen Praxis wird rechtlich eingeschränkt, womit aber vor allem die soziale Akzeptanz des Islams zurückgedrängt werden soll. Historisch muss freilich gleich hinzugefügt werden, dass die Minderheit mit den stärksten Nachteilen in der Schweizer Gesellschaft über lange Zeit die Juden waren (Vischer et al. 1994, S. 251–253). Auch die meist im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Freikirchen und religiösen Bewegungen erfuhren Benachteiligung und Diskriminierung seitens der Mehrheitsbevölkerung. Aktuell aber steht die muslimische Minderheit im Zentrum. Ihr Bevölkerungsanteil beträgt rund 5 %. Sie ist in der Folge von Zuwanderung stark gewachsen. Die meisten Muslime stammen aus den Balkanstaaten (37 %), der Türkei (12 %), Nordafrika (4 %) und aus dem Mittleren Osten und dem asiatischen Raum (jeweils 3 %; alle Daten für 2017 nach Bundesamt für Statistik 2019). Die gegenwärtigen Vorbehalte und Widerstände gegen die muslimischen Mitbürger sind beachtlich (Gianni 2013; Liedhegener und Lots 2021; Vatter et al. 2011). Insbesondere die öffentlichen Debatten sind in Zeiten des weltweit anzutreffenden islamistischen Terrors von Ängsten und Vorurteilen geprägt, die politisch vor allem von der nationalkonservativen bis rechtspopulistischen SVP und in jüngerer Zeit auch der ehemaligen christdemokratischen CVP (seit Herbst 2020 firmiert sie nach Fusion mit der kleineren BDP neu als die „Die Mitte“) bewirtschaftet werden (Mazzoleni 2016).

Wichtig für die Einordnung der heutigen Religionslandschaft sind einige Besonderheiten der Schweizer Konfessionsgeschichte. Das 19. Jahrhundert verlief für die katholische Kirche und die reformierten Landeskirchen sehr ungleichzeitig, und das nicht nur aus den genannten politischen Gründen. Beide Traditionsstränge des Christentums reagierten auf die entstehende moderne Gesellschaft auch religiös sehr unterschiedlich. Die reformierte Theologie und mit ihr die landeskirchlichen Eliten suchten oftmals einen theologischen Zugang zur Moderne. Die dogmatischen Grundlagen des reformierten Bekenntnisses traten in den Hintergrund (Vischer et al. 1994, S. 240). In der Masse der reformierten Bevölkerung verloren die Landeskirchen mit der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon stark an Bedeutung (Vischer et al. 1994, S. 240). Im Kontrast dazu erfuhr die katholische Kirche, gezeichnet vom Konflikt mit (Wirtschafts‑)Liberalismus und Schweizer Zentralstaat, einen Schulterschluss von geistlichen Eliten, dem konservativen Teil des katholischen Bürgertums und dem breiten Kirchenvolk. Wie in Deutschland oder den Niederlanden entstand eine katholische Sub- oder Sondergesellschaft, die scharfe soziale Grenzen zu ihrer Umwelt zog. Das katholische Milieu mit seinen reich ausgestalteten Gottesdiensten und überaus zahlreichen Vereinen und Organisationen blieb bis in die 1960er-Jahre hinein die sozialhistorisch bestimmende Gestalt des Katholischen in der Schweiz (Altermatt 1989; zu internen Konflikten zwischen konservativen und liberalen Katholiken vgl. Lang und Meier 2016). Starke konfessionelle Vorurteile bestanden auf beiden Seiten und prägten die Schweizer Gesellschaft.

Diese Ungleichzeitigkeit der Konfessionen und deren soziale und politische Konfrontation endete erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Umbruchszeit der 1960er und frühen 1970er-Jahre brachen sich ähnlich wie in den Nachbarländern auch in der Schweiz neue Wertvorstellungen und Lebensstile Bahn (Stolz et al. 2014, S. 172–196). Die soziale Mobilität durch Bildung und Beruf, die größere räumliche Mobilität durch den aufkommenden Individualverkehr, kommerzielle Freizeitangebote und das Fernsehen öffneten die getrennten konfessionellen Welten und synchronisierten die religiös-soziale Entwicklung in der Schweiz. Die Zahl der Kontakte über die Milieugrenzen hinweg erhöhte sich. Zudem gab ein neu erwachtes Interesse an der christlichen Ökumene den Veränderungen auch innerkirchlichen Schwung, insbesondere im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Milieugrenzen wurden allenthalben durchlässiger und die Einbindung der Menschen in die Kirchen ließ nach. Eine breite Entkirchlichung erfasste die Schweiz.

Trotz Säkularisierung und Milieuauflösung trifft man in der Gegenwart recht schnell auf Reste des alten konfessionellen Gegensatzes. Dies gilt vor allem für die Religionszugehörigkeit und die institutionelle Verfasstheit von Religion (siehe 3.). Die aktuell besten Daten vom Bundesamt für Statistik belegen für die traditionell kleinräumige Schweiz trotz aller Veränderungen die konfessionelle Grundierung vieler Regionen (Abb. 1). Häufig zeigt sich sogar noch eine Dominanz der historisch bestimmenden Konfession. Ein Überwiegen des wachsenden Bevölkerungsteils ohne Religionszugehörigkeit ist bis heute eine rare, eher städtische Ausnahme.

Abb. 1
figure 1

Karte. („Dargestellt wird die jeweils dominierende Religionszugehörigkeit in den Kantonen und deren Ausprägung. Die dominierende Konfession ermittelt sich aus den Angaben der Befragten zur Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft. Starke Dominanz: der Anteil der häufigsten zur zweithäufigsten Religionszugehörigkeit ist um mindestens 20 % höher. Mittlere Dominanz: der Anteil der häufigsten zur zweithäufigsten Religionszugehörigkeit ist um 10 bis 19 % höher. Schwache Dominanz: der Anteil der häufigsten zur zweithäufigsten Religionszugehörigkeit ist um 5 bis 9 % höher. Ko-Dominanz: der Mehranteil der häufigsten zur zweithäufigsten Religionszugehörigkeit beträgt weniger als 5 %. Die Grundgesamtheit der Strukturerhebung enthält alle Personen der ständigen Wohnbevölkerung ab vollendetem 15. Altersjahr, die in Privathaushalten leben. Aus der Grundgesamtheit ausgeschlossen wurden neben den Personen, die in Kollektivhaushalten leben, auch Diplomatinnen und Diplomaten, internationale Funktionäre und deren Angehörige.“ (Beleg siehe Quelle). Quelle: https://www.atlas.bfs.admin.ch/maps/13/map/mapIdOnly/22609_de.html, abgerufen am 09.05.2019)

3 Die institutionelle Verfasstheit von Religion in der Schweiz

Die heutigen institutionellen Strukturen von Religion sind in der Schweiz in mehreren historischen Schüben entstanden. Die Anfänge des Christentums reichen bis in die Zeit des römischen Reichs zurück. Die heutigen sechs katholischen Bistümer und die zwei Gebietsabteien St. Maurice und Einsiedeln gehen darauf zurück. Die 24 reformierten Landes- bzw. Kantonalkirchen sind Kinder der Reformation. Beide Kirchen sind analog zu den politischen Strukturen der Schweiz stark lokal organisiert. Zudem ist die demokratische Selbstverwaltung der katholischen Kirchenstrukturen durch ihre Kirchenmitglieder weltkirchlich eine Besonderheit. Eine wichtige Veränderung im Verhältnis der Konfessionen war die nach 1950 Schritt für Schritt vollzogene wechselseitige rechtliche Anerkennung beider Konfessionen in katholischen bzw. reformierten Kantonen. Abgesehen von den sogenannten „Trennungskantonen“ Genf und Neuenburg, die sich in stark gemäßigter, weil staatskirchliche Reste bewahrender Form am französischen Laizismus orientieren, sind die beiden Kirchen heute in aller Regel öffentlich-rechtlich anerkannt (Liedhegener 2022). Dies erlaubt ihnen etwa, Kirchensteuern zu erheben, zum Teil einen eigenen schulischen Religionsunterricht zu erteilen sowie staatliche Förderungen zu beziehen, etwa für seelsorgliche Spezialaufgaben in der für das Schweizer Selbstverständnis so wichtigen Armee, in Krankenhäusern, Gefängnissen und im Bildungs- und Sozialwesen (Pahud de Mortanges 2012).

Jüdische Gemeinschaften bestehen vor allem in Zürich und Genf, aber auch in Basel, Lausanne, Bern, Baden, St. Gallen und Luzern (Baumann und Stolz 2007, S. 188; Lange 2012). Die öffentlich-rechtliche Anerkennung jüdischer Gemeinden ist bislang auf die Kantone Bern, Freiburg, Basel-Stadt und St. Gallen beschränkt geblieben. Sie erfolgte oft erst nach 1990. In Zürich sind zwei jüdische Dachverbände den Landeskirchen gleichgestellt. Freikirchen und andere dem Christentum zuzuordnende kleinere Religionsgemeinschaften haben ihren Ursprung überwiegend im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Abgesehen von den durch die Liberalen nach 1871 politisch geförderten Christkatholiken, die damals – obschon zahlenmäßig recht klein – als Konkurrenz zur römisch-katholischen Kirche in rund einem Drittel der Kantone umgehend öffentlich-rechtlich anerkannt wurden, besitzen die übrigen kleineren Religionsgemeinschaften keinen besonderen Rechtsstatus. Sie sind nach dem zivilen Vereinsrecht organisiert. Religionsgemeinschaften mit außereuropäischen Ursprüngen sind erst seit jüngerer Zeit in der Schweiz (Stolz et al. 2011, S. 19).

Obschon sich mittlerweile mehr als 5 % der Bevölkerung einer islamischen Glaubensgemeinschaft zuzählen, gibt es bislang in keinem Kanton eine Kooperationsverhältnis, das auf dem Institut der öffentlich-rechtlichen Anerkennung aufbaut (Loretan et al. 2014; Liedhegener 2022). Lediglich die Aleviten, deren Zugehörigkeit zum Islam strittig ist, haben im Kanton Basel-Stadt 2012 die neu geschaffene „öffentliche“ bzw. „kleine Anerkennung“ erlangt. Der Wert dieser neuen Rechtsform wird ambivalent bewertet. Generell wird debattiert, ob eine öffentlich-rechtliche Anerkennung das Resultat eines erfolgreichen sozialen Integrationsprozesses ist, oder ob sie nicht ein geeignetes politisches Instrument ist, um die Integration des Islam staatlich zu fördern. Die Mehrheit der innenpolitischen Akteure neigt der ersten Position zu (Pahud de Mortanges 2012, S. 152 und 171), wohl auch, um Konflikte mit ihren Stimmbürgern zu vermeiden (siehe unten 5.).

Die älteren Religionsgemeinschaften sind personell und materiell nach wie vor gut ausgestattet und öffentlich sichtbar. Die mit der Zuwanderung entstandenen kleineren Religionsgemeinschaften befinden sich hingegen meist in einer deutlich schwierigeren Lage (Stolz et al. 2011, S. 19). So finden etwa Gottesdienste und religiöse Feiern meist in Gebäuden statt, die für einen anderen Zweck erbaut wurden, etwa Lagerhallen, Supermärkte oder Privathäuser (Stolz et al. 2011, S. 19). Umso mehr stechen einige neue Sakralbauten wie der hinduistische Tempel in Trimbach (Kanton SO), der buddhistische Tempel in Gretzenbach (SO) oder die syrisch-orthodoxe Kirche in Belp (BE) hervor. Sie zeugen vom Willen ihrer Erbauer, ihren Glauben im öffentlichen Raum der Schweiz sichtbar zu machen. Um an Gottesdiensten teilnehmen zu können, nehmen die Mitglieder vielfach weite Wege in Kauf (Baumann und Tunger-Zanetti 2014, 2017). Während es unter den evangelikalen Christen eine größere, seit dem 19. Jahrhundert gewachsene Infrastruktur für Schulung und Leitung gibt, sind kleinere nicht-christliche Gemeinschaften oftmals auf ihre Herkunftsländer verwiesen. Insbesondere im Fall der muslimischen Gemeinschaften führt dies zu kontroversen Diskussionen über die Rekrutierung von Imamen und Vorbetern sowie die Finanzierung der Moscheegemeinden durch ausländische Akteure.

Seit Beginn unseres Jahrhunderts hat sich der interreligiöse Dialog in der Schweiz auf allen Ebenen deutlich verstärkt (Baumann 2012, S. 53–54). Gegründet im Vorfeld der Anti-Minarett-Initiative von 2009, stellt der Schweizerische Rat der Religionen die wichtigste gemeinsame Plattform von jüdischen, christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften der Schweiz dar. In einer Reihe von Kantonen finden sich zudem Einrichtungen, die teils dem interreligiösen Dialog gewidmet sind, teils als religionspolitisches Instrument der Kantone fungieren. Schweizweite Bedeutung kommen dem Verein IRAS COTIS und dem Haus der Religionen in Bern zu. Diese Aktivitäten prägen aber nicht das Meinungsbild der Öffentlichkeit. Die Medienlandschaft transportiert seit geraumer Zeit Stereotype zum Islam, die ihn als nicht in den Schweizer Wertekosmos integrierbar erscheinen lassen (Imhof und Ettinger 2007; Koch 2012; abgeschwächt Lindemann und Stolz 2014).

4 Religionszugehörigkeit in der Schweiz – empirisch

4.1 Der Religionsmonitor 2017 für die Schweiz: Datengrundlage

Wie ist es um Religion und Religiosität und deren Rolle in der Schweizer Gesellschaft heute bestellt? Die Daten des Religionsmonitors 2017 erlauben eine differenzierte Beschreibung von Religion und Religiosität in ihren gesellschaftlichen Bezügen. Insbesondere die Verhältnisse zwischen ‚der Mehrheitsbevölkerung‘ und ‚der muslimischen Minderheit‘ lassen sich ausleuchten, wobei im Folgenden beide Größen noch zu differenzieren sind. Der Religionsmonitor kombiniert nämlich eine Repräsentativbefragung (N = 1000) mit einer Sonderbefragung muslimischer Einwohnerinnen und Einwohner (N = 501). Deren gemeinsame Auswertung ist datentechnisch anspruchsvoll. Um zusammenfassende Aussagen über die Schweizer Gesellschaft und, mit gewissen Vorbehalten, auch über die Rolle der muslimischen Bevölkerungsteile zu gelangen, wurde ein konsolidierter, gewichteter Datensatz erstellt.Footnote 1 Insbesondere, wenn es in den Auswertungen um Fragen des sozialen Miteinanders und die Beziehungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheit geht, sollte man aber im Hinterkopf behalten, dass zwar die Mehrheitsgesellschaft sicher repräsentativ erfasst worden ist, die Antworten der muslimischen Befragten aber eher die Sicht der besser Integrierten widerspiegeln.

4.2 Formen von Religionszugehörigkeit und Religionslosigkeit in der Schweiz der Gegenwart

Jede Befragung zu Religion steht vor der Herausforderung, die Zugehörigkeit der Befragten zu einer religiösen Tradition zu erfassen. Der Religionsmonitor basiert auf der theoretischen Annahme, dass der Einzelne seine Zugehörigkeit zur Religion zuerst über die großen religiösen Traditionen dieser Welt, also Buddhismus, Christentum, Hinduismus Islam, Judentum u. a., herstellt oder dies verneint. Erst danach werden die unterschiedlichen Konfessionen und Glaubensrichtungen innerhalb der Glaubenstraditionen erfragt. Die Befragung erfolgt also zweistufig. Religions- und sozialhistorisch gesehen (siehe oben 2.) ist dieses Befragungskonzept für Christen wie Muslime deutlich von ihrer Selbstwahrnehmung entfernt. Bei der Zugehörigkeit ist die Konfession bzw. jeweilige Gemeinschaft in der Schweiz zentral. Nach wie vor ordnet sich fast jeder Christ einer Konfession zu. Nur eine extrem kleine Minderheit von 1 % hat sich für die Antwortoption „christlich ohne Konfession“ entschieden. Etwas anders sieht dies unter den muslimischen Befragten aus. Von den 512 muslimischen Befragten zählen sich etwas mehr als die Hälfte den Sunniten zu. Rund jeder Fünfte nutzte aber die Antwortvorgabe „Islam ohne Glaubensrichtung“, und ungefähr jeder Zehnte antwortet mit „weiß nicht“. Erst dann folgen Aleviten (6 %) und Schiiten (5 %). Für die jüdischen Gemeinden und andere kleine Glaubensgemeinschaften sind die Zahlen entweder zu klein oder die Nachfrage nach speziellen Strömungen oder religiösen Schulen wurde ihnen überhaupt nicht gestellt.

Aufschlussreich ist eine weitere Unterscheidung, die für alle größeren Religionsgruppen erfragt wurde. Der Religionsmonitor erfragte zusätzlich, ob man auch formal Mitglied seiner entsprechenden Religionsgemeinschaft ist. Im Falle derjenigen ohne Religionszugehörigkeit lautet die entsprechende Frage, ob man früher schon einmal Mitglied war. Mit diesen Unterscheidungen gehen deutliche Differenzen in anderen Fragen einher. Daher wird hier zunächst eine entsprechende Kombinatorik vorgestellt und die statistische Verteilung der Schweizer Bevölkerung auf die so gebildeten Sub-Gruppen gezeigt (Tab. 1).

Tab. 1 Religionszugehörigkeit Schweiz

6,7 % der Schweizer haben noch nie einer Religionsgemeinschaft angehört. Sie sind also „Säkulare“ in der zweiten Generation. 19 % zählen sich keiner Religionsgemeinschaft zu, waren aber früher einmal Mitglied. Jeder fünfte Schweizer gehört also zu den Säkularen in erster Generation. Auch in den Konfessionen lassen sich hinsichtlich der Mitgliedschaft Unterschiede ausmachen: 21,1 % der Schweizer bezeichnen sich als formal einer reformierten Landeskirche zugehörig. Diese Form der Zugehörigkeit wird im Folgenden als „strukturell“ bezeichnet. 3,9 % sind Mitglied der reformierten Kirchen, verneinen hingegen eine formale Zugehörigkeit, was im Folgenden als „kulturelle Zugehörigkeit“ bezeichnet wird. 26,8 % der Befragten sind strukturelle Mitglieder der katholischen Kirche. Analog zu den reformierten Verhältnissen sind 10,5 % „kulturell“ zugehörig. Noch markanter ist die Differenz unter den muslimischen Befragten. 1,1 % aller Befragten geben eine formale Mitgliedschaft in einer „islamischen Gemeinde“ oder einem religiösen „islamischen Verein“ an (Zitate aus dem Fragebogen). Dagegen sind 4 % „kulturelle“ Muslime, d. h. sie besitzen keine formale Mitgliedschaft. Die übrigen Gruppen sind statistisch zu klein, um entlang dieser Einteilung sinnvoll weiter differenziert zu werden: 2,9 % gehören einer evangelischen Freikirche an. 2,7 % sind „sonstig christlich“, d. h. gehören in der Regel einer Ostkirche an. Die Kategorie „andere Religion“ fasst schließlich die wenigen Befragten zusammen, die im Religionsmonitor 2017 dem Judentum, Hinduismus, Buddhismus oder einer anderen kleinen Religionsgemeinschaft angehören.

Die eingeführte Unterscheidung der „strukturellen“ und „kulturellen“ Einbindung bedarf der Erläuterung, denn befragungstechnisch ist nicht sofort offenkundig, was die Frage nach der formalen Mitgliedschaft, eigentlich genau meint bzw. misst, und wie sie sich zur Religionszugehörigkeit verhält. Der Religionsmonitor selbst ging davon aus, dass die Befragten Schwierigkeiten haben könnten, den Sinn von „formal“ richtig zu verstehen. Die Interviewer sollten laut Anweisung im Fragebogen auf Nachfragen etwa bei christlichen Befragten erklären: „Beispielsweise muss man als formales Mitglied einer Kirche die Kirchensteuer zahlen.“ Diese Erläuterung, falls sie den von den Befragten in Anspruch genommen wurde, passt sachlich vor allem auf das Staat-Kirchen-Verhältnis in der Deutschschweiz, hingegen schon weniger für die Westschweiz, die großenteils keine Kirchensteuer kennt (siehe oben 3.). Zugleich erfasst die Unterscheidung ‚formale Zugehörigkeit ja-nein‘ in der Schweiz wohl mehr als nur das formale bzw. rechtliche Mitgliedschaftsverhältnis an sich. Die Unterscheidung ist in der Schweiz eher ein Indikator für die allgemeine Dichte der strukturellen Einbindung der Befragten in eine Konfession bzw. Religion. Aus Forschungen zur Religionszugehörigkeit in Europa ist bekannt, dass gerade in Gesellschaften mit stark fortgeschrittener Säkularisierung wie Großbritannien, Frankreich, Belgien oder die Niederlande die eigene Zugehörigkeit bzw. Bindung zu einer Religionsgemeinschaft von den Befragten recht differenziert und je nach Land unterschiedlich verstanden wird (Liedhegener und Odermatt 2018). Je nach Formulierung der Fragestellung variiert der Anteil derjenigen, die sich der katholischen oder einer evangelischen Kirche zuzählen oder nicht, erheblich. Zudem gibt es erst seit jüngerer Zeit eine Gruppe von Befragten, die sich zwar dem Christentum bzw. einer christlichen Tradition zuzählen, ohne sich aber in einer formalen Mitgliedschaftsrolle oder gar engeren Bindung zur Institution Kirche zu sehen. Für sie sind „Religion“ und „Kirche“ vor allem kulturelle Traditionen. ‚Christlich‘, ‚katholisch‘ oder ‚evangelisch‘ werden dann zu religiös-inhaltlich kaum gefüllten sozialen Markern, die sich in den Debatten um den Islam abwehrend und ausgrenzend in Stellung bringen lassen (Liedhegener et al. 2019). Da der Religionsmonitor mit seiner Einstiegsfrage „Darf ich fragen, welcher der folgenden Religionsgemeinschaften Sie angehören bzw. sich zugehörig fühlen?“ sehr breit fragt und dabei die Dimension der objektiven Mitgliedschaft und die des subjektiven Zugehörigkeitsgefühls (Liedhegener und Odermatt 2018) vermengt, sind folglich auch die Antworten nicht ganz so leicht zu interpretieren. Insofern klärt die Anschlussfrage nach der formalen Mitgliedschaft den Unterschied in der Qualität der Mitgliedschaft zwar nicht ganz genau. Sie liefert aber eine wertvolle Information zur Art der Einbindung. Dieser unterschiedliche Grad der Einbindung in eine verfasste Religionsgemeinschaft wird im Folgenden mit dem Adjektivpaar „strukturell“ und „kulturell“ benannt.

Um diese vergleichsweise differenzierte Kategorisierung der Religionszugehörigkeit für weitere Analysen benutzen zu können, müssen vorab mögliche statistische Zusammenhänge mit anderen sozio-demographischen Variablen geprüft werden. Die so oft wichtige Unterscheidung zwischen Frauen und Männern spielt für die Religionszugehörigkeit keine Rolle (oben Tab. 1). Dasselbe gilt auch für eine ganze Reihe anderer gängiger Kontrollvariablen. Nachweisbar ist aber der Einfluss der Regionen (Tab. 2). Die (Sprach‑)Regionen der Schweiz unterscheiden sich im Blick auf die Zusammensetzung ihrer Bevölkerung nach den genannten Religionsgruppen beachtlich.Footnote 2 Im Wesentlichen zeigt die regionale Verteilung der Religionszugehörigkeit einen Unterschied zwischen der Deutschschweiz auf der einen und der Romandie und dem Tessin auf der anderen Seite. In der Romandie haben rund 15 % noch nie einer Religionsgemeinschaft angehört, d. h. sie hatten schon in ihrer Kindheit keine strukturelle oder kulturelle Einbindung in eine der Kirchen oder eine andere Religionsgemeinschaft. Weitere 15 % waren zuvor Mitglied einer Religionsgemeinschaft, sind es aber heute nicht mehr. Der größere Teil der Katholiken gehört in der Romandie in die Gruppe der „kulturellen Katholiken“ (22,6 %). Nur 19 % sind hier katholisch im strukturellen Sinn. Anders gesagt: die strukturell eingebundenen Kirchenmitglieder stellen hier weniger als die Hälfte aller Katholiken. Ähnlich ist das Bild im Tessin. Am stärksten ist die Differenz ‚kulturell-strukturell‘ in den muslimischen Gemeinden der Romandie. Nur ein kleiner Teil der muslimischen Bevölkerung ist hier strukturell Mitglied einer Moscheegemeinde oder eines islamischen Vereins.Footnote 3

Tab. 2 Religionszugehörigkeit Schweiz nach Region

In der Deutschschweiz dominiert unter den Befragten die strukturelle Einbindung. Dies entspricht der Tradition der Staat-Kirchen-Beziehung in diesen Kantonen (siehe 3.). Zugleich ist erkennbar, dass sich die strukturelle Einbindung auch hier lockert, und zwar sowohl in der katholischen wie reformierten Bevölkerung. Das Phänomen der nur kulturellen Zugehörigkeit ist im Vergleich zur Romandie bzw. zum Tessin zwar deutlich seltener, aber es existiert. Zudem gibt es auch zwischen den Regionen der Deutschschweiz ein Gefälle. Die meisten Befragten ohne Religionszugehörigkeit finden sich in den traditionell reformierten Gebieten des West-Mittellands (35 %). Es folgt das ebenfalls traditionell eher reformierte Ost-Mittelland (23 %). Den niedrigsten Wert (16 %) weist die Region Alpen/Voralpen auf, die in der Mehrzahl traditionell katholische Gebiete umfasst.

Untersucht man weitere soziodemographische Merkmale so sind vor allem Zusammenhänge mit dem Alter relevant. Diejenigen, die nie einer Religionsgemeinschaft angehört haben, sind (erwartungsgemäß) überdurchschnittlich jung: 64 % dieser Gruppe sind jünger als 40 Jahre (Bevölkerungsdurchschnitt 35 %, im Folgenden BD). Dagegen sind die reformiert-strukturellen Christen stark überaltert. 20 % dieser Gruppe sind über 70 Jahre alt (BD 12 %). Deutlich unterrepräsentiert sind hier die 25 bis 55-Jährigen, d. h. die ökonomisch und politisch besonders aktiven Jahrgänge. Das deckt sich mit anderen Studien (Stolz und Ballif 2010). Unter den Katholiken sind die Altersverhältnisse unauffälliger, was der katholischen Zuwanderung geschuldet ist. Bei den kleineren Religionsgemeinschaften gibt es eine Tendenz zu den jüngeren Jahrgängen, was ebenfalls mit deren Migrationsgeschichte zusammenhängt. Höchst bemerkenswert sind die Verhältnisse unter den Muslimen. Entsprechend der Bedeutung der Zuwanderung unter ihnen (und vielleicht auch der Sprachkenntnisse, s. oben Anm. 1) gibt es in der Sonderstichprobe der Muslime so gut wie niemanden, der über 70 Jahre alt ist (2,5 % zu 12 % BD). Auch die Altersränge von 55 bis 69 Jahren sind schwächer besetzt (11,4 % zu 23,1 % BD). Schaut man speziell auf die Gruppe der strukturell-muslimischen Befragten, so dominiert hier in einem erstaunlichen Maße die Gruppe der 25- bis 39-Jährigen. Sie stellt fast 50 % der als muslimisch-strukturell Bezeichneten (BD 22 %). Das bedeutet: Die 25- bis 39-jährigen Muslime sind heute diejenigen, welche die Moscheegemeinden und religiösen Vereine im Wesentlichen tragen.

5 Religiosität, Alltagsbeziehungen, öffentliche Identitäten und Religionspolitik in der Schweiz

5.1 Zentral bis peripher: Varianten der Religiosität in der Ich-Gesellschaft

Auf der Mikro-Ebene von Religion ist die anhaltende Deinstitutionalisierung von Religion in der Schweiz ein gut untersuchter Vorgang (Bünker und Wäckerlig 2022; Dubach und Bovay 1993; Dubach und Fuchs 2005; Stolz 2012). Gemeint ist damit der Bedeutungsverlust verfasster Religiosität im Leben des Einzelnen. Insbesondere weisen die einzelnen immer häufiger die mehr oder weniger traditionellen Erwartungen und Ansprüche religiöser Institutionen und ihrer Vertreter zurück und erheben einen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben (Stolz 2012, S. 83–84). Diese Deinstitutionalisierung bleibt aber nicht auf den Bereich der Religion beschränkt. Sie findet sich z. B. auch in den Bereichen Bildung, Sozial- und Gesundheitswesen, Zivilgesellschaft oder Politik (Chandler 2015, S. 128). Die individuelle Wahl wird zum Markenzeichen gewünschter wie gesellschaftlich akzeptierter Entscheidungen der Einzelnen. Die starke Abstützung der gesellschaftlichen Ordnung der Moderne auf die Autonomie des Individuums fördert die Pluralisierung von Einstellungen und Verhaltensweisen. Auf der Individualebene entspricht dem eine zunehmende Optionalität von Lebensentwürfen und Lebensverläufen (Joas 2012), die in der Schweiz wie in anderen westeuropäischen Ländern vor der Religion nicht Halt macht. Das ist gemeint, wenn von der Schweiz als „Ich-Gesellschaft“ gesprochen wird (Stolz et al. 2014).

Prozesse der Deinstitutionalisierung von Religion treten in der Schweiz in nahezu allen religiösen Traditionen auf (Stolz 2012, S. 85). Vor dem konfessionellen Hintergrund der Schweizer Geschichte und Gesellschaft muss man hinsichtlich ihrer Tragweite vor allem die Veränderungen im Christentum hervorheben (Liedhegener 2016b; Voll 2006; Zulehner 2009). Sichtbarster Ausdruck der Deinstitutionalisierung ist der anhaltende, starke Rückgang der Mitgliedschaftsquoten sowohl in der katholischen Kirche wie vor allem in den reformierten Landeskirchen. Während die katholische Kirche in absoluten Zahlen von der anhaltenden Zuwanderung in die Schweiz profitiert und seit 1990 bei rund 2,5 Mio. Mitgliedern stagniert, haben die reformierten Landeskirchen von 1990 bis 2017 rund eine halbe Millionen Mitglieder verloren. Heute beträgt der Bevölkerungsanteil für Katholiken und Reformierte noch rund 36 bzw. 24 %. Gemäß den Daten des Bundesamts für Statistik (BfS) gehört mittlerweile fast jeder Vierte keiner Religionsgemeinschaft mehr an (Bundesamt für Statistik 2019). Diese Tendenz hält seit geraumer Zeit an und trennt die heutige Schweiz markant von der Situation der 1960er-Jahre. Damals gehörte die Schweizer Bevölkerung noch nahezu geschlossen einer der beiden christlichen Konfessionen an (Liedhegener 2015, S. 156). Insofern ist es richtig, diese Deinstitutionalisierung im Religiösen auch für die Schweiz präziser als eine Entkirchlichung zu charakterisieren. Diese Entkirchlichung deckt sich durchaus mit klassischen Vorstellungen einer durch die allgemeine Modernisierung der Gesellschaft vorangetriebenen Säkularisierung (zur Charakterisierung der Prozesse: Bruce 2009, S. 145–158; Pickel 2012). Dieser soziale Bedeutungsverlust von Religion verläuft unter der Schweizer Bevölkerung langfristig, anhaltend, nahezu stetig und hat sich – bislang zumindest – als unumkehrbar erwiesen. Den vermuteten lebensweltlichen Effekt der Säkularisierung auf der Ebene der Individuen hat Niklas Luhmann pointiert adressiert: „Man kann geboren werden, leben und sterben, ohne an Religion teilzunehmen; und auch wenn die Religion sagen wird, daß dies alles in Gottes Welt geschieht, kann der Einzelne dies schadlos ignorieren“ (Luhmann 1993, S. 349). Diese Möglichkeit zur generellen Ablösung von der Religion schließt potenziell auch die Moralität des Individuums wie der Gesellschaft mit ein. Eine ganz andere Frage ist freilich, ob das „gute Leben“, also die Erfüllung des Einzelnen, der Gemeinsinn und das Gemeinwohl der Gesellschaft, mit oder ohne Religion bzw. Religionen besser gelingen kann.

Trifft das Diktum Luhmanns empirisch? In wieweit kann die Bevölkerung der Schweiz als säkular oder religiös beschrieben werden? Das im Religionsmonitor eingesetzte Messinstrument misst auf einer Skala von 1 bis 5 die Bedeutung von Religiosität für das Persönlichkeitssystem der Befragten (Huber 2003; Huber und Huber 2012). Die Zentralitätsskala wird als Mittelwertindex über fünf Dimensionen von Religion berechnet und berücksichtigt die Verschiedenheit religiöser Überzeugungen und Praktiken, d. h. die Ergebnisse sind über unterschiedliche Kulturen und Religionen hinweg gut vergleichbar. Je höher der Zentralitätswert (Z), desto wichtiger oder zentraler ist Religion beim Einzelnen. Im Mittel beträgt der Zentralitätswert in der Schweizer Bevölkerung ziemlich genau 3, was im Schnitt der Bevölkerung einer mittleren Bedeutung der Religiosität im Persönlichkeitssystem entspricht.

Vergleicht man die oben vorgestellten elf Kategorien bzw. Gruppen nach Religionszugehörigkeit (Tab. 2) anhand dieser Z‑Skala, so zeigt sich, dass diese Gruppen eine unterschiedliche Stärke bzw. Bedeutung der Religiosität aufweisen. Man würde sicher erwarten, dass Menschen ohne Religionszugehörigkeit sich in dieser Frage von Menschen mit einer Einbindung in eine Religionsgemeinschaft unterscheiden. Es dürfte aber überraschen, wie deutlich sich auch andere Kategorien der Religionszugehörigkeit hinsichtlich der Zentralität von Religiosität voneinander unterscheiden (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Persönliche Religiosität nach Religionszugehörigkeit (Mittelwertvergleich der Z‑Skala). Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung nach Daten Religionsmonitor 2017

Jene ohne vorherige Religionszugehörigkeit und jene, die sich zu den Freikirchen bekennen, trennen im Schnitt nicht weniger als 2,2 Punkte auf der Religiositätsskala. Recht ähnlich sieht dieser Unterschied zwischen jenen Religionslosen aus, die zuvor einmal einer Religionsgemeinschaft angehörten, und jenen, die zu einer muslimischen Gemeinde zählen. Diese beachtlichen Unterschiede im Niveau der Religiosität bestehen nicht nur unter den Befragten, sondern sind gemäß den Ergebnissen einer einfaktoriellen Varianzanalyse mit hoher Wahrscheinlichkeit so in der Bevölkerung insgesamt vorhanden. Beachtenswert ist die Reihenfolge im Mittelfeld. Ob bei den Reformierten, den Muslimen oder den Katholiken: Der Mittelwerte der Religiosität liegt bei den Befragten für die Gruppe der „Kulturellen“ stets tiefer als für diejenigen, die auch strukturell als Mitglieder eingebunden sind. Nicht alle diese Unterschiede sind untereinander signifikant, was zum guten Teil den vergleichsweise kleinen Gruppengrößen geschuldet ist. Mit großer Sicherheit unterscheidet sich aber auch in der Bevölkerung die Religiosität der beiden katholischen Kategorien untereinander, die der strukturell eingebundenen Katholiken von der der kulturellen Reformierten sowie die der strukturellen Muslime von den kulturellen Reformierten bzw. den Mitgliedern anderer Religionen. Beachtenswert ist schließlich die Tatsache, dass für jene ohne Religionszugehörigkeit Religiosität in ihrer Persönlichkeitsstruktur nicht komplett verschwunden ist. Sie wirkt sich in ihrer Lebensführung aber höchstens peripher aus.

Einen beachtenswerten Unterschied gibt es in der Dynamik des Wandels zwischen der Religionszugehörigkeit und der individuellen Religiosität im Sinne der Zentralitätsskala. Während die Mitgliedschaftsquoten der beiden großen Kirchen, wie gezeigt, anhaltend stark gefallen sind, scheint auf der Ebene der individuellen Religiosität in den letzten zehn Jahren eine gewisse Stabilität zu bestehen (Tab. 3).Footnote 4 Grob gesprochen weisen recht konstant 20 % der Bevölkerung eine geringe, 60 % eine mittlere und 20 % eine hohe Religiosität auf (vgl. mit anderer Methodik ähnlich Stolz et al. 2014, S. 67).

Tab. 3 Religiosität in der Schweiz 2007 und 2017 (gruppierte Z‑Skala)

Ein erheblicher Zusammenhang besteht nach wie vor zwischen der Religiosität und der religiösen Erziehung in der Kindheit (Tab. 4). 54 % der heutigen Bevölkerung der Schweiz sagt, sie wurde religiös erzogen. Bei weiteren 24 % spielte Religion in der Kindheit zumindest teilweise eine Rolle. 23 % erfuhren keine religiöse Erziehung. Beachtlich sind hier wieder die Unterschiede zwischen den elf Gruppen nach Religionszugehörigkeit. Insbesondere zwischen den Enden der nach ihren Religiositätswerten sortierten Gruppen sind die Differenzen sehr markant. Von denen, die selbst nie einer Religionsgemeinschaft angehörten, haben 58 % keine religiöse Erziehung erhalten. Nahezu spiegelbildlich verhält es sich bei den Mitgliedern der Freikirchen. Sie wurden zu fast 75 % religiös erzogen. Bei den Freikirchen gehen eine religiöse Sozialisation und eine hohe individuelle Religiosität somit zumeist Hand in Hand.

Tab. 4 Religiöse Erziehung im Elternhaus und aktuelle Religiosität in der Schweiz

Ansonsten weisen viele der übrigen Kategorien bemerkenswerte Eigenheiten auf, die mit der oben skizzierten Religionsgeschichte der Schweiz in Verbindung stehen. So fällt auf, wie häufig in beiden (!) Kategorien der katholischen Kirchenmitglieder eine religiöse Sozialisation vorgeherrscht hat (jeweils über 70 %). Dies ist ein Nachklang der stark standardisierten Sozialisation im wirkmächtigen katholischen Milieu und speziell auch Folge eines stark konfessionell beeinflussten Schulsystems, in dem je nach Kanton der Religionsunterricht einen festen Platz hatte – und zum Teil noch hat. Etwas paradox muten auf den ersten Blick hingegen die Verhältnisse unter den Reformierten an: Mit einer religiösen Sozialisation steigen hier die Chancen, nicht mehr institutionell zur Kirche zu gehören, während diejenigen, die heute Mitglieder der reformierten Kirchgemeinden sind, oftmals aus Elternhäusern stammen, die nicht allzu intensiv auf die religiöse Erziehung geachtet haben. Dies passt aber durchaus zur zunehmenden Optionalität von Biographien. Dass Religion heute eine individuelle Option bzw. ein Wahlakt ist, zeigt sich nämlich auch daran, dass alle Religionsgemeinschaften heute kulturelle wie strukturelle Mitglieder kennen, die ohne eine eigene religiöse Sozialisation in der Kindheit zu ihnen gefunden haben. In der katholischen Kirche ist dies aber nur bei sehr wenigen der Fall. Ein eigenes Muster zeigt sich unter den Muslimen. Sie haben in ihrer Kindheit – und das heißt für viele in ihrem Herkunftsland – keine oder eine nur schwache religiöse Erziehung erfahren. Dies ist bei 70 % derjenigen Muslime, die keiner Moscheegemeinde angehören, und bei 58 % der Mitglieder von Moscheegemeinden der Fall. In den Religionsmonitordaten zeigt sich damit wahrscheinlich eine von der Forschung schon wiederholt festgestellte Verstärkung der Religiosität von Muslimen im Zuge von Migrationserfahrung und ihren Diasporabedingungen im Aufnahmeland (Baumann 2012; Baumann et al. 2017). Im Gegensatz dazu erklärt sich die geringere Religiosität derjenigen, die einer anderen Religion wie Hinduismus, Buddhismus oder kleineren nichtchristlichen Gemeinschaften angehören, vermutlich vor allem aus der oben skizzierten geringen Organisationsdichte dieser Gruppen. Sie erschwert ein gemeinschaftliches Glaubensleben erheblich. Die kleineren christlichen Gemeinschaften, d. h. vor allem die alt- und ostkirchlichen Gemeinden, scheinen hingegen von der Unterstützung durch die Landeskirchen und insbesondere die katholischen Gemeinden zu profitieren.

5.2 Gelebtes Miteinander: Religionszugehörigkeiten in den Alltagsbeziehungen

Die Alltagswirklichkeit der meisten Menschen ist stark von ihrem Nahumfeld und den entsprechenden Beziehungen geprägt. Auch der Kontakt zwischen Menschen verschiedener Religionen spielt sich weithin im Alltagsleben, und das heißt für die meisten im Nahumfeld, ab. Im Alltag erlebt man den anderen als Nachbarn und Freund – oder auch als Fremden. Die meisten Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich in ihrem Wohnumfeld wohl: 97 % antworten mit „sehr wohl“ oder „eher wohl“. Diese positive Einschätzung ist insgesamt unabhängig von der Frage, wie sich die Nachbarschaft nach regionaler Herkunft zusammensetzt. Nur in ganz wenigen Quartieren scheint es Probleme zu geben, die mit einer wahrgenommenen Überfremdung in Zusammenhang gebracht werden.

Gleichwohl ist Nachbar nicht gleich Nachbar. Es gibt eine gewisse Rangordnung der Beliebtheit. Der Religionsmonitor hat mehr oder weniger stark stereotypisierte Gruppenbezeichnungen mit entsprechenden Kollektivbegriffen abgefragt. „Flüchtlinge“ sind die am wenigsten gern gesehenen Nachbarn (17 %). Es folgen „Muslime“ (15,8 %). „Leute, die viele Kinder haben“, hätte fast jeder zehnte nicht gern als Nachbarn (9 %). „Juden“ und „Homosexuelle“ werden ähnlich oft genannt (je 7 %). Ungefähr jeder zwanzigste zeigt sich reserviert gegenüber „Ausländern/Gastarbeitern“, Menschen „anderer Sprache“ und „Menschen anderer Hautfarbe“ (je um 5 %). „Atheisten“ erfahren kaum Ablehnung (3 %). Und gegen „Christen“ hat niemand etwas (unter 1 %). Obwohl die Abstände zwischen diesen Kategorisierungen deutlich sind, darf nicht übersehen werden, dass selbst für die als sehr kritisch betrachteten Gruppenidentitäten mehr als 80 % keine Einwände hinsichtlich einer Nachbarschaft erheben.

In der Nachbarschaftsfrage wurden „Muslime“ vergleichsweise häufig genannt. Fragt man weiter, wie stark die Befragten „Muslimen“ vertrauen, bekunden rund zwei Drittel, ihnen eher oder völlig zu vertrauen bzw. dass es auf Religion nicht ankomme (63 %). Dieses Vertrauen steigt mit der Häufigkeit der Alltagskontakte „zu Menschen anderer Religionen“ (Zitat Fragebogen). Dieser Kontakteffekt, der auch aus anderen Umfragen bekannt ist, zeigt sich aber nur schwach. Darüber hinaus unterscheidet sich das Alltagsvertrauen in Muslime auch zwischen den differenzierten Religionskategorien. Statistisch verallgemeinerbar sind drei Zusammenhänge. Erstens vertrauen muslimische Schweizer ihren muslimischen Mitbürgern in einem sehr hohen Maße (78 %). Dieser hohe Wert spricht für eine gewisse Gruppensolidarität. Zweitens sind diejenigen, die sich nur kulturell der reformierten oder katholischen Kirche zuzählen, gegenüber Muslimen am kritischsten. Sie vertrauen Muslimen deutlich seltener (49 % bzw. 42 %). Ähnlich niedrig, aber statistisch wegen der geringen Fallzahl nicht gleichermaßen belastbar, ist das Vertrauen zu Muslimen unter den Mitgliedern der Freikirchen (51 %). Die übrigen religiös-weltanschaulichen Gruppen weichen nicht systematisch vom Mittelwert ab.

Insgesamt gelangt man zu der Einschätzung, dass es im Alltagsleben beim Miteinander der unterschiedlichen religiösen Gruppen zwar Problemzonen gibt und dass diese obschon nicht ausschließlich, so doch eher Muslime betreffen. In der breiten Masse der Bevölkerung herrscht aber insgesamt ein friedliches und wohlwollendes Neben- und vielfach auch Miteinander vor. Im Alltagsleben der Schweiz ist das Zusammenleben der Religionen und damit auch die religiöse Vielfalt ein überschaubares Problem. Von einem wirklich gefährdeten gesellschaftlichen Zusammenhalt durch Spannungen zwischen den Religionen und Konfessionen kann nicht die Rede sein. Die Sorge der Schweizer Öffentlichkeit um einen besseren Zusammenhalt ist zwar nicht ganz unbegründet, sie setzt aber auf einem erkennbar hohen Niveau eines gelingenden Miteinanders der Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit im Alltag an.

5.3 Zwischen akzeptierter religiöser Vielfalt und religiöser Diskriminierung: Religionen in der öffentlichen Meinung

Die vielfach beobachtete neue Virulenz von Religion in öffentlichen Auseinandersetzungen und Konflikten in Europa ist auch in der Schweiz zu beobachten. Kontroversen um Religion, Minarette, Handschlag und islamische Schleier kontrastieren auffällig mit der im Durchschnitt nur mäßigen Bedeutung von Religion beim Individuum sowie ihrer förderlichen bis unauffälligen Rolle im Alltagsleben der Schweiz. Die von Forschenden und Medien wiederholt ausgerufene „Rückkehr der Religion“ ist in der Schweiz wie andernorts ein öffentliches und schlussendlich politisches Phänomen. Zentrales Element in den oft sehr kontroversen öffentlichen Debatten und Entscheidungen zu Religion und Islam ist die Verwendung und Bedeutung kategorialer Identitätszuschreibungen für die Gesprächspartner bzw. Religionsgemeinschaften. Insbesondere für Muslime ist im öffentlichen Diskurs deren Festlegung auf die Zugehörigkeit zu einer ‚anderen‘, ‚fremden‘ Religion und ggfs. dann auch als ‚bedrohlich‘ oder gar generell ‚feindselig‘ qualifizierten Religion weit verbreitet (Ettinger 2018; Halm und Sauer 2017; Pickel und Pickel 2019; Pollack et al. 2014; Zick et al. 2016). Dieses öffentliche „Othering“ dient – folgt man der Theorie sozialer Identitäten (Tajfel 1982; Zick 2002) – der gefühlsmäßigen Besserstellung der Mitglieder der In-group, hier also der Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft. Durch solche stereotypen Unterscheidungen und Vorurteile werden kollektive Identitäten erzeugt und verfestigt. Die ausgrenzende Wirkung schematischer, exklusiver und exkludierender sozialer Identitäten ist im öffentlichen Diskurs für Betroffene und wohlmeinende Dritte kaum oder gar nicht zu überwinden. Auf Dauer gestellt, kann und wird ein anhaltender diskriminierender öffentlicher Umgang mit religiösen sozialen Identitäten auch das Zusammenleben im Alltag nicht unbelastet lassen. Im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts lohnt es sich, hier genauer hinzuschauen.

In der Forschung hat sich die Frage nach der Art der wechselseitigen Wahrnehmung der unterschiedlichen Religionsgruppen als ein Gradmesser für die Intensität wechselseitiger Abgrenzungen in der Gesellschaft bewährt (Pickel 2015, 2019; Pollack et al. 2014; Yendell und Huber 2020). Der Religionsmonitor fragt danach, als wie bedrohlich die verschiedenen Religionen sowie die religiöse Vielfalt allgemein wahrgenommen werden (siehe auch Pickel 2019, S. 80–90). Die Bedrohungswahrnehmung variiert deutlich nach Religionen. Die geringste Bedrohung wird dem Buddhismus (6 %), dem Hinduismus (9 %) und dem Christentum (10 %) zugeschrieben. Als deutlich bedrohlicher wird der Atheismus bewertet (20 %). Die religiöse Vielfalt allgemein stufen immerhin 38 % als bedrohlich ein. Die größte Bedrohung aber wird – erwartungsgemäß – dem Islam zugeschrieben. Die Hälfte der Schweizer Bevölkerung nimmt den Islam als bedrohlich wahr (49 %). Damit liegt die Schweiz mit Deutschland und Österreich gleich auf (Pickel 2019, S. 82). Stellt man die Mehrheitsbevölkerung (definiert als Befragte ohne Zugehörigkeit zum Islam) gegen die muslimische Minderheit, steigt die Bedrohungswahrnehmung einerseits noch einmal leicht an, während andererseits die allermeisten Muslime (84 %) den Islam als nicht bedrohlich einstufen. Allerdings sehen immerhin 16 % der muslimischen Befragten ihre eigene Religion als Bedrohung an, was auf innermuslimische Konflikte um den Stellenwert ihrer Religion im Alltag und speziell den Umgang mit den Ansprüchen fundamentalistischer Minderheiten im Namen des Islam hinweisen dürfte (Saal 2021).

Vielschichtiger wird das Bild, wenn man die Bedrohungswahrnehmung nach den unterschiedlichen Religionskategorien differenziert und für jede Kategorie die wahrgenommenen Bedrohungen der verschiedenen Religionen, des Atheismus und der religiösen Vielfalt als solcher addiert darstellt (Abb. 3).Footnote 5 Es zeigen sich erneut markante Unterschiede. Freikirchliche Befragte und Sonstige Christen erkennen in nahezu jeder anderen Religion etwas Bedrohliches. Muslime und Menschen, die nie einer Religion angehörten, nehmen Religionen dagegen weit unterdurchschnittlich als Bedrohung war. Für die Bedrohungswahrnehmung speziell des Islam zeigen sich ähnliche Unterschiede. Mitglieder der Freikirchen sind großmehrheitlich der Ansicht, der Islam sei bedrohlich (79 %). Personen, die nie einer Religion angehörten, stufen den Islam hingegen deutlich seltener als bedrohlich ein (30 %). Bei den übrigen Religionsgruppen sind die Werte eher durchschnittlich. Es gibt zudem eine leichte Tendenz, dass Menschen, die strukturell Mitglieder einer der beiden großen Kirchen sind, den Islam stärker als Bedrohung wahrnehmen, als ihre jeweiligen Konfessionsgenossen, die keine strukturelle Einbindung in die Kirche besitzen. Hier dürfte freilich auch der oben gezeigte Alterseffekt mitspielen, denn ältere Befragte neigen allgemein stärker zu Bedrohungswahrnehmungen.

Abb. 3
figure 3

Bedrohungswahrnehmungen nach Religionsgemeinschaften differenziert nach religiös-weltanschaulichen Subgruppen (Balken repräsentieren die aufaddierten Anteile der Bedrohungswahrnehmung der einzelnen Gruppen). Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung nach Religionsmonitor 2017

Einen gewissen dämpfenden Effekt auf die Wahrnehmung des Islam als bedrohlich haben häufige Kontakte mit anderen Religionen im Alltag. Unter denjenigen, die häufig Kontakt zu anderen Religionen haben, sieht nur jeder Dritte (34 %) den Islam als bedrohlich an. Dieser Befund entspricht der in der empirischen Forschung schon wiederholt bewährten Kontakt-Hypothese (Allport 1954; Pickel 2013, S. 30). Laut dieser besteht eine positive Wirkung von persönlichen Begegnungen auf die Reduktion von Vorurteilen. Allerdings sollte man diesen Effekt zumindest im vorliegenden Fall nicht überschätzen. Denn selbst wo solche Alltagskontakte zu Muslimen vorhanden sind, wird ‚der Islam‘ immerhin von rund einem Drittel ebenfalls als bedrohlich eingestuft.

Die abschließende Bewertung solcher Antworten zur Bedrohungswahrnehmung fällt nicht leicht. Die Einschätzungen in der Bevölkerung, dass eine Religion bedrohlich sei, könnten ja auf reale Anhaltspunkte zurückgehen. So ist religiöser Extremismus ein Phänomen, dass es seit geraumer Zeit weltweit im Islam, aber auch in jeder anderen großen Religionstradition gibt (Almond et al. 2003; Neumann 2016). Hinzu kommt, dass Einschätzungen einer Bedrohung auch von den Kenntnissen der Befragten zu den Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Religion abhängen. So traut sich eine ganze Reihe von Befragten kein Urteil über den Buddhismus oder den Hinduismus zu, und speziell beim Judentum wird die Antwort oft verweigert. Beim Islam allerdings sind sich die Schweizer sicher, diesen einschätzen zu können, was auch ein Reflex auf die anhaltende und in der Botschaft kritische Medienberichterstattung sein dürfte (siehe oben 2.).

Geht man davon aus, dass extremistische Einstellungen und Aktivitäten egal welcher Herkunft reale Bedrohungen für demokratische Gesellschaften und ihren Zusammenhalt darstellen (Pickel et al. 2020; Pickel und Yendell 2016; Quent 2019; Rebenstorf 2018; Zick et al. 2011), dann muss man der Frage nachgehen, wie verbreitet Extremismus in der Gesellschaft ist. Mit Meinungsumfragen das tatsächliche Potenzial extremistischer Einstellungen zu erfassen, hat sich als problematisch erwiesen. Die Messungen von Anteilen und damit des Potentials extremistischer Kräfte schwanken je nach Art der Stichprobe, verwendeter Definition und Formulierung der Fragestellung beachtlich. Unter Extremismus soll hier jede bewusste Absage an eine pluralistisch verfasste Gesellschaft verstanden werden (Fraenkel 1991; Schmidt 2010, S. 210–221). Eine solche Absage liegt dann vor, wenn bestimmte Gruppen andere Gruppen kategorisch ausgrenzen und die eigenen Gruppenwerte gegenüber anderen rigoros durchgesetzt werden (sollen). Im Folgenden werden die Ablehnung der individuellen Religionsfreiheit, die Befürwortung eines Zuwanderungsverbots für Muslime und die Befürwortung eines Kopftuchzwangs für Muslima als Indikatoren herangezogen, mit denen näherungsweise versucht wird, solche extremistischen Einstellungen in der Schweiz abzuschätzen. Die Ergebnisse für die Schweiz sind recht deutlich. Die Aussage „Jeder sollte die Freiheit haben, seinen Glauben zu wechseln, wenn er dies möchte“ lehnen nur 3 % der Befragten ab. Und nur 1,5 % tun dies ohne jede Einschränkung. Die Achtung der individuellen Religionsfreiheit ist unabhängig von der eigenen Religionszugehörigkeit also breitester Konsens.

Die Forderung „Muslimen sollte die Zuwanderung untersagt werden“ wurde im Religionsmonitor nur den Befragten der Repräsentativumfrage vorgelegt, d. h. es wird weithin nur die ‚Mehrheitsbevölkerung‘ abgebildet (vgl. oben 4.1). Ein Verbot muslimischer Zuwanderung findet in der Mehrheitsbevölkerung immerhin bei 15,5 % Zustimmung. Vorbehaltlos bejahen diese Forderung 5 %. Real dürfte die Zustimmung in der Bevölkerung noch etwas höher sein, denn es gab bei der Frage des Zuwanderungsverbots auffallend viele Antwortausfälle (8 %), was auf Effekte sozialer Erwünschtheit, d. h. hier die Erwartung, man dürfe sich nicht gegen eine muslimische Zuwanderung aussprechen, hindeutet. Unter den muslimischen Befragten schließlich findet die nur in der Sondererhebung enthaltene Aussage „Nur eine Frau, die ein Kopftuch trägt, kann eine gute Muslimin sein“ bei rund 8 % Zustimmung. 2,6 % stimmen dieser Forderung vorbehaltlos zu. Auf Unterschiede zwischen kulturellen und strukturellen Muslimen deutet nichts hin. Der Anteil extremer Meinungen dürfte auch hier insgesamt etwas höher liegen, denn die in der Teilbefragung erfassten Muslime sind bereits länger in der Schweiz, sprachlich gewandter und damit in der Regel wohl auch besser integriert.

In der Summe deuten alle drei Indikatoren also auf eine stabile demokratische Gesellschaft hin, die bei zentralen Fragen einer offenen, pluralistischen Gesellschaft durch eine entsprechende öffentliche Meinung getragen und gestützt wird. In der Schweiz gibt es einen breiten Grundkonsens über ein Miteinander, das den Spielregeln einer pluralistischen Gesellschaft und ihrer liberalen Demokratie folgt. Dieser Grundkonsens besteht in der Schweiz religionsübergreifend. Die befragten Muslime sind in ihrer übergroßen Mehrheit integraler Bestandteil dieses Grundkonsenses. Auffällig ist schon eher die Bereitschaft von immerhin 15 % der übrigen Bevölkerung, ein generelles Zuwanderungsverbot für Muslime zu befürworten. Dieser Wert ist – je nach Betrachtung bzw. politischer Einschätzung – vielleicht doch ein wenig zu hoch, um sich nicht kontraproduktiv in öffentlichen Debatten um die Stellung des Islam in Politik und Gesellschaft auswirken zu können.

5.4 Grundkonsens und religionspolitische Konfliktfelder: Einstellungen zu Religion und Islam in der Schweizer Religionspolitik

Durch das Minarettbauverbot von 2009 und die Abstimmung zur Gesichtsverhüllung 2021 hat die Schweizer Religionspolitik internationale Beachtung gefunden. Beide Verbot wurden per Volksabstimmung mit klarer Mehrheit angenommen und erhielten auf diesem Weg Eingang in die Bundesverfassung (siehe oben 3.). Gegenwärtig sind religionspolitische Konflikte wie etwa die Frage der öffentlich-rechtlichen Anerkennung muslimischer Religionsgemeinschaften ein wichtiges Thema. Solche religionspolitischen Streitfragen stehen nicht nur für politische Sachthemen. Sie eröffnen vor allem im rechten politischen Spektrum auch eine Möglichkeit zur politischen Dauermobilisierung. De facto sind die tatsächlich getroffenen religionspolitischen Entscheidungen in der Schweiz überschaubar und zumeist langwierig (Liedhegener 2019; Liedhegener und Lots 2021). Wechselseitige Blockaden der politischen Parteien und Akteure erzeugen in der Schweiz nicht selten Pattsituationen, die Nicht-Entscheidungen provozieren. Viele Schweizer Politikerinnen und Politiker, die in Regierungen und Parlamenten Entscheidungsverantwortung tragen, lassen bei religionspolitischen Themen zudem eher Vorsicht walten. Sie scheuen es, diese Art der Auseinandersetzung um Religion und Islam öffentlich zu führen. Vielleicht fehlt es der Schweizer Politik jenseits von Minarett- und Verhüllungsverboten nicht nur am Willen, sondern vielfach auch an Ideen, welche religionspolitischen Schritte eine qualitative Verbesserung der bestehenden Lage bringen könnten. Darüber hinaus könnten auch die religionspolitischen Vorstellungen und Ziele unter den Stimmbürgern so different sein, dass Mehrheitsbildungen in der Religionspolitik kompliziert werden. Für letztere Vermutung werden im Folgenden anhand des Religionsmonitors erstmals empirische Belege beigebracht. Die Fragen des Religionsmonitors zur Religionspolitik richteten sich allerdings ausschließlich an die Teilnehmenden der Repräsentativbefragung, d. h. die Schweizer ‚Mehrheitsbevölkerung‘. In den folgenden Zahlen ist daher die religionspolitische Sicht der muslimischen Minderheit nicht enthalten. Die Daten geben aber ansonsten einen recht zuverlässigen Einblick in die Verhältnisse in der Bevölkerung. Gefragt wurde einerseits nach den Vorstellungen zur staatlichen Begrenzung der Aktivitäten von Religionsgemeinschaften und andererseits nach der Zustimmung zur staatlichen Förderung von Religion.

Ein großer Teil der Schweizer Bevölkerung möchte Religion durch staatliches Handeln überhaupt nicht eingeschränkt sehen (42 %). Gut ein Drittel wäre hingegen durchaus dafür, einige Religionsgemeinschaften einzuschränken (31 %). Und ein weiteres Viertel möchte alle Religionsgemeinschaften durch staatliches Handeln eingeschränkt wissen (27 %). Fragt man etwas spezieller, dann zeigen sich deutliche Unterschiede nach Themen bzw. Regelungsmaterie. Die Verbreitung von religiösen Schriften und das öffentliche Tragen von religiösen Symbolen will eine deutliche Mehrheit nicht einschränken (je 69 %). Bezüglich einer generellen staatlichen Überwachung von Religion ist die Meinung gespalten. Viele könnten sich eine flächige Überwachung vorstellen (53 %). Eine deutliche Mehrheit findet sich zudem für die Forderung, speziell die politischen Aktivitäten von Religionsgemeinschaften einzuschränken (65 %).

Bei der Frage nach einer staatlichen Förderung von Religionsgemeinschaften überwiegt ganz leicht die Ansicht, es solle überhaupt keine Religion staatlich gefördert werden (41 %). Die Meinung, es sollte (nur) die Hauptreligion des Landes vom Staat gefördert werden, folgt knapp (38 %). Vermutlich haben die meisten der Befragten dabei an die beiden christlichen Konfessionen bzw. Landeskirchen gedacht. Beide Positionen haben also keine absolute Mehrheit. Und nur jeder Fünfte möchte stattdessen alle Religionen gleichermaßen gefördert wissen (21 %). Eine starke Zustimmung zu dieser Position wäre aber die Voraussetzung etwa für eine öffentlich-rechtliche Anerkennung muslimischer Gemeinschaften (siehe oben 3.).

Aufschlussreich ist zudem, dass sich bei den aufgeführten Fragen zu konkreten staatlichen Förderungsmöglichkeiten von Religion zumeist keine Mehrheiten finden. Abgelehnt werden die staatliche Durchsetzung von Ladenschließungen an religiösen Feiertagen (contra 65 %), der Steuereinzug für Religionsgemeinschaften durch den Staat (contra 65 %), die finanzielle Unterstützung im Sozial‑, Pflege- und Gesundheitsbereich (contra 57 %) und der Religionsunterricht (contra 56 %). Allein ein Gesetz, dass Religionen vor Beleidigung schützen soll, würde eine demokratische Mehrheit finden (pro 62 %).

Insgesamt stehen diese Ergebnisse für eine Situation, in der zwischen privater bzw. persönlicher Religionsausübung und einer öffentlichen Rolle von Religionsgemeinschaften sehr deutlich unterschieden wird. Aspekte, die sich der individuellen Religionsfreiheit zuordnen lassen, haben einen substantiellen Rückhalt in der Bevölkerung. Wo Religion eine öffentliche Rolle einnimmt bzw. einnehmen könnte, fehlt die Unterstützung durch Mehrheiten. Dieser Befund steht offenkundig in Spannung mit den kirchenpolitischen Realitäten in den meisten Kantonen (siehe oben 3.). Auf die ganze Schweiz gesehen überwiegen jene Stimmen leicht, die generell keine staatlichen Aktivitäten gegenüber Religionsgemeinschaften – sei es positiv oder negativ – befürworten. Es gibt aber ein fast gleich großes Lager, das speziell das Christentum staatlich gefördert und zugleich andere Religionsgemeinschaften staatliche eingeschränkt sehen will. Nur eine nennenswerte Minderheit tritt dagegen für eine allgemeine, nichtdiskriminierende Förderung von Religion ein.

Eine Kontingenztabellenanalyse zum Zusammenhang zwischen den Aussagen zur staatlichen Förderung und zur staatlichen Kontrolle weist einen mittleren Effekt auf und zeigt damit, dass die Einstellungen keineswegs zufällig verteilt, sondern ein Muster aufweisen. Dieses ist aber über alle Antworten hinweg nicht sonderlich konsistent (Tab. 5; Cramers V = 0,283***). Dies dürfte inhaltlich vor allem daran liegen, dass sehr unterschiedliche religionspolitische Grundeinstellungen zu differenten Kombinationen von „Fördern“ und „Überwachen“ führen. Eine konsistent säkularistische Position, d. h. eine Religion nicht fördernde und zugleich überwachende und damit zurückdrängende Position, vertreten 13 %. Eine libertäre oder marktwirtschaftliche religionspolitische Position, die keine Religion fördert, aber auch keine einschränkt, vertreten 20 %. Für die Bevorzugung der Hauptreligion, d. h. der christlichen Großkirchen, bei gleichzeitiger staatlicher Einschränkung der übrigen Religionsgemeinschaften treten 21 % ein. Dies entspräche religionspolitisch der Forderung, das Modell der privilegierten Landeskirchen beizubehalten, weitergehende rechtliche Anpassungen an die religiöse Vielfalt der Schweiz aber zurückzuweisen. Für eine gleichberechtigte Förderung als auch gleichmäßige Einschränkung aller Religionen treten 8 % ein, für eine gleichberechtigte Förderung ohne staatliche Beschränkung oder Kontrolle optieren 11 %. Beide Optionen stimmen letztlich mit einem religionspolitischen Modell überein, dass auf die staatliche Neutralität gegenüber Religionen (aber nicht notwendig allen Weltanschauungen) und eine förderliche kooperative Trennung setzt. In diesen Zahlen zeigt sich der lange Schatten des gewachsenen Schweizer Staat-Kirchenverhältnisses mit seiner Bevorzugung der Landeskirchen beider Konfessionen in fast allen Kantonen sowie die dahinter liegenden historischen Konflikte zwischen den Konfessionen einerseits sowie säkularistischen und religions- bzw. christentumsförderlichen Kräften andererseits (siehe oben 2.). Diese konfessionelle und politische Geschichte macht es schwer, andere, als neu oder fremd bewertete Religionen als gleichberechtigte Akteure und Gruppen in der Schweizer Zivilgesellschaft und Politik zu sehen. Unter diesen Umständen dürfte die Mehrheitsbildung in religionspolitischen Fragen in der Schweiz also auf absehbare Zeit im Einzelfall schwankend und insgesamt schwierig bleiben. Eine sich abzeichnende politische Mehrheit, geschweige denn ein gesellschaftspolitischer Konsens über die als richtig angesehene Ausgestaltung des Staat-Religionen-Verhältnisses und damit ggfs. seiner Weiterentwicklung z. B. im Sinne einer an der korporativen Religionsfreiheit ausgerichteten Gleichbehandlung aller Religionen sähe im Zahlenbild anders aus.

Tab. 5 Religionspolitische Präferenz in der Schweizer Bevölkerung

6 Fazit: Zur sozialen Lagerung von Religion zwischen Ich-Gesellschaft und Wir-Nation

Eine bestimmte Tradition der Religionssoziologie, die mit Max Weber und Émile Durkheim den Religionsbegriff differenzierungstheoretisch einbettet, erwartet, dass Religion in der Moderne zu einem gänzlich eigenständigen Subsystem mit einem spezifischen Auftrag und einer eigenen Handlungslogik wird. In gewisser Hinsicht trifft dies empirisch auch zu. Die funktionale Trennung von Politik und Religion oder Wirtschaft und Religion ist in die heutigen verfassungsstaatlichen Demokratien tief eingeschrieben. Für die Schweiz haben wir gesehen, dass auf der Meso-Ebene die verschiedenen Religionsgemeinschaften in der Tat gesellschaftlich klar abgrenzbare Organisationsstrukturen besitzen, die sich freilich je nach Historie der jeweiligen Religionsgemeinschaft voneinander deutlich unterscheiden. Bezogen auf die soziale Mächtigkeit nach Mitgliederzahl, Finanzkraft und personeller wie administrativer Ausstattung ragen die Landeskirchen nach wie vor hervor. Andere Religionsgemeinschaften haben es schwerer, sich als eigenständige Größen zu etablieren.

Auf der Mikro-Ebene zeigt sich in der Schweiz ebenfalls eine deutliche Tendenz zur Entkoppelung von Religion von anderen Lebensbereichen bzw. Alltagsvollzügen. Die älteren Zusammenhänge in den konfessionellen Milieus haben sich in der stark individualisierten Ich-Gesellschaft vielfach aufgelöst. Der Umfang der Entkopplung auf der Mikroebene variiert heute sehr deutlich mit der jeweiligen strukturellen Einbindung der Menschen in religiöse Gemeinschaften und Organisationen. Eine strukturelle Vergemeinschaftung von Religion stützt und schützt die Religiosität des Einzelnen und ihrer Bedeutung in dessen Leben. Da der Zusammenhang von religiösen Strukturen und Individuen aber insgesamt variabler geworden ist, wird Religiosität in der Ich-Gesellschaft als Teil einer allgemeinen Optionalität von Sinn, Lebensentwürfen und Lebensvollzügen wahrgenommen und gelebt (Joas 2012). Ganz verschwunden ist Religiosität im Leben des Einzelnen nur sehr selten, bestimmend auf die Lebensführung wirkt sie sich aber nur bei einer Minderheit aus. Diese Minderheit ist mit rund 20 % aber gar nicht so klein, wie es im öffentlichen Diskurs oft den Anschein hat. Zudem spielt Religiosität für die große Mehrheit eine gewisse Rolle in der eigenen Persönlichkeit. Religiosität ist bei Ihnen zumindest punktuell wichtig.

Auf der Makroebene zeigt sich, dass Religion trotz aller Säkularisierung und Entkirchlichung in sehr unterschiedlicher Art und Weise gesellschaftlich präsent ist. Dies reicht von der Religionszugehörigkeit und öffentlichen bzw. gemeinschaftlichen religiösen Praxis in Kirchen, Synagoge, Moscheegemeinden und anderen gottesdienstlichen Orten, über Religion in den Alltagsbeziehungen im Nahumfeld, ihre Relevanz für Fragen der sozialen Identität bis hin zu den innenpolitischen und speziell den religionspolitischen Konflikten der Schweizer Gesellschaft. Religionszugehörigkeit in der Schweiz ist heute in der Summe vielschichtiger, als es die klassischen kollektiven Kategorien wie katholisch, reformiert, muslimisch oder ohne Religionszugehörigkeit vorgeben. Für die beiden großen landeskirchlichen Traditionen macht es wie gesehen einen Unterschied, ob die Mitglieder sich strukturell als Kirchenmitglieder sehen oder ob sie sich nur kulturell zugehörig fühlen. Die strukturelle Einbindung geht in der Regel mit einer höheren Religiosität einher. Ganz ähnlich verhält sich dies bei den muslimischen Befragten. Im Segment derjenigen ohne Religionszugehörigkeit zeigen sich graduelle Unterschiede zwischen denjenigen, die aus einer Religionsgemeinschaft ausgetreten sind, und jenen, die seit ihrer Kindheit keiner Religionsgemeinschaft angehört haben. Letztere wissen in ihrem Leben mit Religion am wenigsten anzufangen.

Im alltäglichen Miteinander sind zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften in der Schweiz durchaus soziale Grenzen markiert. Gleichwohl gestaltet sich das Alltagsleben für die große Mehrheit der Bevölkerung im Umgang mit der größeren religiös-weltanschaulichen Diversität der Gegenwart recht unaufgeregt. Fast alle sind mit ihrem persönlichen Umfeld und ihrem Leben zufrieden. Alltagskontakte zwischen Menschen verschiedener Religion sind weit verbreitet. Gewisse Ressentiments und Vorurteile betreffen verschiedene soziale Gruppen, insbesondere aber „Flüchtlinge“ und „Muslime“. Insgesamt halten sich die Vorurteile aber auch gegenüber diesen in Grenzen. Die große Mehrheit der Schweizer Einwohnerschaft hält wenig von einer Stereotypisierung ihrer Nachbarn entlang pauschaler Gruppenkategorien.

Deutlich profilierter fällt hingegen die Einschätzung der Rolle unterschiedlicher Religionen in der Öffentlichkeit aus. Fragt man nach der Bedrohungswahrnehmung in der Bevölkerung zu unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, zeigt sich eine ausgeprägte Rangfolge. Der Islam ist mit Abstand diejenige Religion, die in der Schweizer Öffentlichkeit als besonders bedrohlich eingestuft wird. Die in der Öffentlichkeit gängige, aber schlichte Unterscheidung von Mehrheitsbevölkerung und muslimischer Minderheit greift freilich zu kurz, wenn man das Phänomen verstehen möchte. Die Bedrohungswahrnehmungen sind nämlich zwischen den für die Schweiz anhand der Religionsmonitordaten gebildeten religiös-weltanschaulichen Kategorien unterschiedlich stark ausgeprägt. Besonders stark ausgeprägt ist die Bedrohungswahrnehmung unter den Mitgliedern der Freikirchen, am wenigsten verbreitet ist sie unter jenen, die noch nie einer Religionsgemeinschaft angehört haben. Die Differenz zwischen der Nachbarschaftsfrage und der Frage zur Bedrohungswahrnehmung verdeutlicht, dass die Bedrohung wohl eher von einem allgemeinen, insbesondere durch die Medien vermittelten negativen Stereotyp von „dem Islam“ (Ettinger 2018, S. 28–29) als aus der Schweizer Alltagswelt bzw. den konkreten Erfahrungen der Bevölkerung herrührt. Dem entspricht, dass extremistische Tendenzen in den verschiedenen muslimischen Communities Ausnahmephänomene sind. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass im Datensatz vor allem die besser integrierten Muslime erfasst sind, ist der Prozentsatz derjenigen Muslime, die starke religiöse Vorstellungen – hier gemessen durch den religiös begründeten Zwang zum Kopftuchtragen für Muslima – durchsetzen wollen, wohl sehr gering. Der Anteil derjenigen Schweizer, die eine anti-pluralistische Vorstellung von einer Schweiz ohne Muslime – im Religionsmonitor erfasst durch die Frage nach der Befürwortung eines generellen Verbots des Zuzugs für Muslime – durchgesetzt sehen wollen, lag erkennbar höher. Hier zeigt die Idee der Wir-Nation Wirkung.

Wie könnte man auf die geschilderte Situation politisch und zivilgesellschaftlich reagieren? Vielfach diskutiert werden religionspolitische Maßnahmen und insbesondere die Frage nach der öffentlich-rechtlichen Anerkennung muslimischer Glaubensgemeinschaften. Nach den vorlegten Befunden muss allerdings fraglich bleiben, ob religionspolitische Vorschläge oder Maßnahmen derzeit in der Lage sein könnten, die zugrundeliegenden Probleme in der öffentlichen Wahrnehmung zu bearbeiten und abzubauen. Denn faktisch zeigt die hier erstmals vorgelegte Auswertung von Daten zur in der Bevölkerung präferierten Religionspolitik, dass Mehrheiten für eine konstruktive Religionspolitik in der Bevölkerung nicht in Sicht sind. Die aktuelle religionspolitische Unentschiedenheit der Schweiz und damit auch die geringe Anpassungsgeschwindigkeit an die neue religiöse Diversität (Liedhegener 2019) haben eine wichtige Ursache in der gleich mehrfach antagonistischen Verteilung der religionspolitischen Präferenzen in der Wählerschaft. Gesellschaftspolitisch sollte daher zunächst ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, dass die Zunahme der religiösen Vielfalt in der Schweiz von einer deutlichen Mehrheit so kritisch gesehen wird (vgl. auch Halm und Sauer 2017, S. 9). Vielleicht könnte es helfen, die Schweizer Geschichte als eine Geschichte ehemaliger religiös-konfessioneller Konflikte und deren Überwindung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch ein neues zivilgesellschaftliches Miteinander stärker ins kollektive Bewusstsein zu heben. Es könnte eine historisch erfolgreiche Lerngeschichte als Modell für die vielfältige Schweiz des 21. Jahrhunderts vor Augen gestellt werden. Das würde freilich bedeuten, dass man sich der Geschichte der konfessionellen Trennung und ihrer Überwindung selbst erst noch einmal in einem gesellschaftlichen Reflexionsprozess annehmen müsste. Für eine dauerhafte Stärkung der gesellschaftlichen Toleranz und der Akzeptanz nicht nur von religiös-weltanschaulicher Vielfalt scheint dies im Interesse des zukünftigen gesellschaftlichen Zusammenhalts aber lohnenswert.

Darüber hinaus bleibt angesichts der vorgestellten Daten die nicht ganz unbegründete Hoffnung, dass in den vielfältigen Begegnungen und Alltagsbeziehungen zwischen den verschiedenen religiösen Gemeinschaften und ihren Mitgliedern auf Dauer Vertrauen und Zusammenhalt weiter wachsen und Stereotypisierungen verhindert bzw. überwunden werden. Sobald man von zu stark oder gar einseitig auf Assimilation ausgerichteten Integrationsvorstellungen abrückt (Gianni 2013), eröffnet der praktische politische wie religiöse Erfahrungsschatz der Eidgenossenschaft Spielraum für Einheit in Vielfalt. Das setzt freilich die prinzipielle Anerkennung der Gleichberechtigung unterschiedlicher, und das heißt konkret auch jüngerer religiöser Traditionen im allgemeinen Bewusstsein wie im (Grund‑)Rechtssystem der Schweiz und ihrer Kantone voraus. Ob diese Anerkennung möglich wird, liegt einmal mehr in der Hand der Schweizer Gesellschaft und ihrer mal mehr, mal weniger religiösen Mitglieder.