1 Einleitung – Migration als Herausforderung für eine politische Kultur?

Mit den weltweiten Fluchtbewegungen 2015 geriet das Thema Migration wieder verstärkt in den Fokus der deutschen Öffentlichkeit. War das Thema schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder problematisiert worden, so wie z. B. nach der Anwerbung der sogenannten „Gastarbeiter“ in den 1950er- und 1960er-Jahren, übertraf die mit den Fluchtbewegungen in 2015 verbundene politische Polarisierung die früheren Auseinandersetzungen erheblich.Footnote 1 Das Interesse an Thilo Sarrazins 2010 erschienenem Buch „Deutschland schafft sich ab“ wurde neu belebt und ein neues, weitreichendes Bedrohungsszenario von Migrant:innen entfaltete sich im öffentlichen Diskurs. Es verbreitete sich in Teilen der Bevölkerung die Ansicht, die Kultur und Demokratie in Deutschland (wie auch in anderen Ländern Europas) sei in Gefahr (Sarrazin 2021; auch Bade 2017, S. 91–94). In rechten Kreisen griff man diese Bedrohungsnarrative auf und spitzte sie auf das Verschwörungsnarrativ des sogenannten „großen Austauschs“ zu. So wurden kulturelle Differenzen und das Thema der „Überfremdung“ betont und weniger die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch Zuwanderung. Migration und Migrant:innen wurden als massives Problem für die deutsche Gesellschaft und deren Zusammenhalt dargestellt – und nicht wenige Bürger:innen teilten diese Annahme (McLaren 2003, S. 914–918).Footnote 2 Die Konsequenz waren weitreichende Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien.

Die Erfolge des Rechtspopulismus in Europa sind somit nicht ohne das „Feindbild Migration“ verstehbar.Footnote 3 Präziser gesagt, nicht ohne muslimische Migration. Ob sich Migrant:innen dabei tatsächlich als Muslim:innen verstehen, ist für diese Feindbildkonstruktion unerheblich. Es wird somit deutlich, dass nicht alle Gruppen mit Migrationshintergrund gleichermaßen im Fokus der öffentlichen Diskussion stehen. Gerade die jüngeren Debatten über Geflüchtete fokussieren auf Muslim:innen. Dabei werden Geflüchtete und Muslim:innen von Aussenstehenden faktisch gleichgesetzt, wie empirische Befunde zeigen (vgl. Pickel und Pickel 2019; Öztürk und Pickel 2022). Muslim:innen werden aus vielen verschiedenen Gründen als Objekt der Kategorisierung gewählt. Sie werden über ihre Religionszugehörigkeit als kulturell fremd klassifiziert, über Symbole identifiziert und über unterstellte Verbindungen zu islamistischem Terrorismus kriminalisiert (vgl. Cinnirella 2012; Pickel und Yendell 2016). Gerade die kulturelle Komponente des „Othering“ und der Abgrenzung kann als antimuslimischer Rassismus interpretiert werden. Nicht selten werden ihnen, unter Hinweis auf ihre Religion und ihre vermeintliche kulturelle Distanz, Demokratieunfähigkeit und antisemitische Einstellungen vorgeworfen.

Kaum jemand weiß allerdings, wie empirisch belastbar diese Vorwürfe sind. Die Frage ist also, welche Einstellungen finden sich wirklich und in welchem Verhältnis stehen sie zur Migrationserfahrung. Zur Beantwortung dieser Frage sollte man zwischen unterschiedlichen Gruppen unter Migrant:innen unterscheiden und die unterschiedlichen Deutungen empirisch prüfen. Denn während Anhänger:innen des Rechtspopulismus und andere Gruppen in der Gesellschaft (muslimische) Migrant:innen für eine Gefährdung der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts verantwortlich machen, wird die Verantwortung für diese Gefährdung von Teilen der Gesellschaft auf rechtspopulistischer Seite verortet (Pickel 2018, S. 295–301). Eindeutig ist, dass Haltungen und Ängste in der Bevölkerung existieren, die das Verhältnis von Migration und Demokratie beeinflussen (Oberndörfer 2016, S. 34–39). Die Fragestellung dieses Beitrags zielt auf diese Dynamiken und ihre Wechselwirkungen: Wie wirken sich Einstellungen zur Migration und zu Migrant:innen, aber auch Einstellungen von muslimischen Migrant:innen auf die demokratische politische Kultur aus?

Diese Fragestellung lässt sich aus unserer Sicht besonders gut in einer heterogenen Stadtgesellschaft wie Berlin untersuchen. Kaum irgendwo anders als in Berlin spiegelt sich die durch Migration beförderte Pluralität in Deutschland so wieder, wie in Berlin (Lanz 2007, S. 9). Ein Drittel der Berliner Bevölkerung besitzt einen Migrationshintergrund, und Berlin wird als paradigmatischer Fall der postmigrantischen Gesellschaft angesehen (Statistisches Bundesamt 2020, S. 24; vgl. Foroutan 2019). Inmitten des Aushandlungsprozesses von Zugehörigkeit, von nationaler, aber auch kultureller, geschlechtlicher, politischer und anderer Identitäten sowie von Partizipationsmöglichkeiten und Chancengerechtigkeit, ist die Berliner Stadtgesellschaft durch abgeschlossene wie auch durch laufende Migrationsprozesse geprägt. Aufgrund dieser Bedingungen ist Berlin faktisch ein Testfall, wo Migrant:innen einerseits besonders gut integriert zu sein scheinen, andererseits aber migrationsfeindliche oder antimuslimische Haltungen besonders markant sind. Zudem existiert eine angemessene Anzahl muslimischer Migrant:innen in Berlin. Ein Zusammenleben unter pluralen Lebensbedingungen erfordert die Akzeptanz von Freiheits- und Schutzrechten, Toleranz, wechselseitige Anerkennung sowie ein geteiltes Gefühl der Zugehörigkeit. Dies sind nicht nur aus sozialpsychologischer Sicht Kernbausteine eines demokratischen Mindsets, sondern auch Ausgangsbedingungen für eine demokratische politische Kultur (vgl. Celik et al. 2021; Taijfel 1982).

Entsprechende Überlegungen finden sich im Theoriekonzept der politischen Kulturforschung (vgl. Almond und Verba 1963; Easton 1975; Lipset 1981; Pickel und Pickel 2006). Es bestimmt über Umfragen kollektive Einstellungen gegenüber der Demokratie, also ihre Verankerung in der Bevölkerung sowie ihre Begründungsfaktoren. Die Grundannahme der politischen Kulturforschung lautet, dass die Demokratie nur überleben kann, wenn in der politischen Gemeinschaft ein überwiegend geteilter Grundkonsens über die Legitimität der Demokratie besteht. Dies gilt speziell für plurale Gesellschaften mit divergierenden Einzelinteressen und für liberale Demokratien. Auf diesen Überlegungen und Ansätzen der Vorurteilsforschung aufbauend, wollen wir die folgende Forschungsfrage beantworten: Wie wirken sich Einstellungen zu Migration sowie Haltungen von (muslimischen) Migrant:innen auf die demokratische politische Kultur in der pluralen Berliner Stadtgesellschaft aus? Um die mehrdimensionale Frage zu beantworten, analysieren wir anhand von Daten des 2019 erhobenen Berlin-Monitors Haltungen gegenüber und von Migrant:innen wie Muslim:innen unter Berücksichtigung ausgewählter politischer und religiöser Aspekte (vgl. Pickel et al. 2019, 2020a). Die Ergebnisse betten wir, wenn aus Vergleichsgründen sinnvoll, in Ergebnisse bundesweiter Studien ein.Footnote 4

2 Politische Kulturforschung und ihre Verbindung zu Migration

2.1 Politische Kulturforschung als Demokratieforschung

Die aus dem Umfeld der Systemtheorie Parsons stammende politische Kulturforschung eignet sich gut dazu, Grenzziehungen in der Demokratie zu bestimmen (vgl. Parsons 1951). Sie ist seit ihrer Genese auf Demokratien ausgerichtet und stellt die Bürger:innen in den Vordergrund der politikwissenschaftlichen Analyse (Pickel und Pickel 2006, S. 49–56). Aus ihrer Sicht ist es die Unterstützung der Bürger:innen, die eine Demokratie erhält oder zum Einsturz bringt. Unter der politischen Kultur werden die gesammelten Einstellungen aller Bürger:innen einer politischen Gemeinschaft verstanden. Die der politischen Kultur zugrundeliegenden Einstellungen beruhen auf kognitiven, evaluativen und affektiven Einstellungen und stehen in Bezug zu politischen Objekten. David Easton, ein zentraler Vertreter der politischen Kulturforschung, unterscheidet hierbei zwischen politischen Autoritäten (Personen, die politische Entscheidungen treffen und Ämter besetzen), der politischen Ordnung (Institutionen) sowie der politischen Gemeinschaft. Die Orientierungen können spezifisch, also auf die seitens der politischen Objekte erbrachten Leistungen, oder diffus (unspezifisch, eher emotional geprägt) ausgerichtet sein. Für eine Demokratie besonders gefährlich ist das Ausbleiben diffuser politischer Unterstützung, also einer Art Grundvertrauen und Anerkennung von Demokratie im Allgemeinen. Diffuse politische Unterstützung nach Easton ist faktisch gleichzusetzen mit dem, was Seymor Martin Lipset im Anschluss an Max Weber als Legitimität bezeichnet (Lipset 1981, S. 64). In beiden Fällen geht es um eine allgemeine Anerkennung der Demokratie – bleibt man einmal im Rahmen der demokratischen Formen von Herrschaftsorganisation. In neueren Studien wird dem Aspekt der Legitimität der Demokratie noch der Aspekt der Akzeptanz der gegenwärtigen Demokratie als diffus-spezifische Unterstützung oder Legitimität der aktuellen Demokratie zur Seite gestellt (Pickel und Pickel 2016, S. 553; Pickel und Pickel 2020, S. 10). Praktische Annahme ist, dass auf jeden Fall eine Legitimität der Demokratie und mindestens keine weitreichende aktive Ablehnung der aktuellen Ausformung der Demokratie vorliegen sollte.

Folgt man dem input-output-Modell der politischen Systemlehre, dann stellt Migration eine Herausforderung für die politische Kultur dar (Pickel und Pickel 2018; Bade 2017; Pickel et al. 2022). Dies lässt sich bereits aus Parsons Modell des Strukturfunktionalismus und dessen Systemlogik ableiten: Ziel jedes Systems ist hiernach der Systemerhalt. Umwelteinflüsse, wie eben die Immigration von neuen Mitgliedern in eine Gesellschaft, müssen als Systemirritation bearbeitet werden (vgl. Parsons 1951). Die Integration der Mitglieder ist zentrale Aufgabe des sozialen Systems. Doch neben dieser funktionalen Aufgabe besteht eine weitere. Innerhalb des politischen Systems werden, folgt man wieder Easton, geeignete Reaktionen politischer Verantwortungsträger:innen auf die nun entstehenden demands verschiedener Bürger:innen erwartet. So benötigen die Herrschenden mittelfristig die politische Unterstützung (support) durch eine Mehrheit der Bürger:innen (Easton 1979, S. 435–436). Dabei formulieren Mitglieder der autochthonen Bevölkerung und Migrant:innen im Hinblick auf Migration unterschiedliche Forderungen an das politische System. Erfüllt werden müssen diese Forderungen von den politischen Eliten. Sie stehen vor der Entscheidung eine stabile demokratische politische Kultur zu erhalten und innergesellschaftliche Auseinandersetzungen politisch konstruktiv zu bearbeiten (Pickel und Pickel 2018, S. 298). Sie agieren zwischen normativen Vorgaben der Demokratie (als übergeordnete Referenz demokratischer Systeme), die demokratische politische Kultur zu erhalten, pragmatischen Konfliktbewältigungsstrategien und dem Wunsch Wähler:innen für sich zu gewinnen.

2.2 Migration und ihre Verbindung zu einer demokratischen politischen Kultur

Politiker:innen formulieren meist die Erwartung, dass Migrant:innen die vorhandene demokratische politische Kultur übernehmen und die Demokratie unterstützen. Selbst wenn bestimmte Parteien diese Erwartung im Sinne einer kulturellen Assimilation verstehen, impliziert die Erwartung an politische Inkulturation nach Auffassung der politischen Kulturforschung keineswegs eine kulturelle und soziale Assimilation. Folgt man den Implikationen der politischen Kulturforschung, so beruht der Erhalt der politischen Stabilität maßgeblich auf der grundsätzlichen Anerkennung der Demokratie als Herrschaftssystem und dem Unterbleiben jedes Versuchs, sie in ein autokratisches Regime zu verändern. Das wechselseitige Lernen und die Aushandlungsprozesse einer postmigrantischen Gesellschaft sind davon unbetroffen. Im Gegenteil, das Entstehen einer neuen politischen Gemeinschaft unter Einbezug von Einflüssen von Migrant:innen wird als positive Entwicklung einer pluralen Demokratie gewertet. In einer liberalen Demokratie sind zudem Partizipation und zivilgesellschaftliches Engagement erwünscht, allerdings mit gewissen Einschränkungen einer Civic Culture (Almond und Verba 1963, S. 267). Diese Vorstellung schließt gut an gegenwärtige Modelle der Migrationsforschung an, welche Integration als gleichzeitige Aufgabe von Migrant:innen und Einwanderungsgesellschaft ansehen (vgl. Alba und Foner 2015; Brettell und Hollifield 2000; Schmitter-Heisler 2000; Portes 1997). Dies schließt die Inklusion aller Mitglieder als gleichwertige und zur Teilhabe berechtigte Subjekte der politischen Gemeinschaft ein (Pickel und Pickel 2018, S. 300).

Probleme entstehen, wenn ein Verlust der politischen Unterstützung oder der Legitimität der Demokratie droht. Einige aktuelle Debatten fokussieren in der Tat auf das potenzielle Konfliktpotential von Migration. Zum einen wird Immigrant:innen und Geflüchteten, häufig pauschalisierend, eine mangelnde Bereitschaft zur (soziopolitischen) Anpassung an die Aufnahmegesellschaft vorgeworfen. Gelegentlich – und für die vorliegende Fragestellung besonders interessant – wird der Vorwurf erhoben, Migrant:innen wären nur begrenzt „demokratiefähig“ oder würden die Verfassung nicht achten. Speziell muslimische Migrant:innen werden pauschal mit islamistischen Fundamentalisten gleichgesetzt und ihnen wird die Gefahr eines Hanges zu Gewalt zugeschrieben (Pollack et al. 2014, S. 23). Auch jenseits pauschaler Zuweisungen werden Probleme von Migrant:innen mit der demokratischen Ordnung ausgemacht. Ruud Koopmans (2017, S. 151–183) thematisiert in seinen Studien Problemlagen von in Deutschland – und anderen europäischen Ländern lebenden – Muslim:innen. Diese Probleme leitet er weitgehend aus einem stärkeren religiösen Fundamentalismus der Muslim:innen ab. Darin sieht er die Wurzeln für eine stärkere Ablehnung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, und eine höhere Neigung zu antisemitischen Ressentiments begründet (Koopmans 2021, S. 210–220; vgl. Höcker et al. 2020). Jenseits kritischer Einwände gegen eine zu starke Betonung der Demokratieunfähigkeit dieser Aussagen und ihrer Verdachtslogik, sowie von Hinweisen auf methodische Probleme und einer möglicherweise zu einseitigen Fokussierung auf die Erklärungskomponente Religion, scheint zumindest die Frage nach möglichen Problemfeldern legitim.Footnote 5 So wurden z. B. die angesprochenen antisemitischen Ressentiments zuletzt öffentlich immer häufiger unter dem Label eines „muslimischen Antisemitismus“ diskutiert (vgl. Ranan 2018). Selbst wenn die Kommunikationsverschiebung, weg von einem schon länger bestehenden, oft sekundären Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung zu einem angeblich „importierten Antisemitismus“ mit Vorsicht begegnet werden sollte, werfen diese Beobachtungen doch Fragen hinsichtlich der demokratischen politischen Kultur von muslimischen Migrant:innen und ihrer Anerkennung von Pluralität auf.Footnote 6

Die gleichen Probleme lassen sich allerdings auf der Seite der Dominanzgesellschaft ausmachen.Footnote 7 So sind die Beispiele für eine Zurückweisung von muslimischen Migrant:innen im Wohnungs- und Arbeitsmarkt durch Studien belegt.Footnote 8 Entscheidend für eine demokratische politische Kultur ist die potenziell gefährdende Existenz von Vorurteilen und Abwertung anderer sozialer Gruppen (Heckmann 2015, S. 205–230). So zeigen Studien die seitens der Dominanzgesellschaft erfolgende (rassistische) Diskriminierung gerade gegen Migrant:innen deutlich (Scherr und Yüksel 2020, S. 7–8; ebd., S. 18–25). Sie werden von Teilhaberechten ausgeschlossen und im Alltagsleben diskriminiert. Fassen wir zusammen: Will man Gefährdungen einer demokratischen politischen Kultur ausmachen, so wäre dies zum einen eine fehlende Offenheit von Immigrant:innen für eine demokratische politische Kultur, zum anderen die Gefährdung der politischen Kultur durch Vorurteile gegenüber und Abwertung von Migrant:innen. In beiden Fällen handelt es sich um gängige Annahmen, die Vorurteile als Ausgangspunkt einer Gefährdung der demokratischen politischen Kultur aufgreifen. Doch warum?

2.3 Gruppenbezogene Vorurteile

Zum Verständnis dieser Funktion hilft die sozialpsychologische Vorurteilsforschung.Footnote 9 Man kann auf drei, nicht vollständig voneinander unabhängige Ansätze zurückgreifen. Die Theorie der Gruppenbedrohung erklärt gruppenbezogene Vorurteile aus einer Kombination des Gefühls erhöhter Zuwanderung und der Wahrnehmung ungünstiger ökonomischer Verhältnisse, bzw. der ungleichen Verteilung von Ressourcen in einer Gesellschaft (vgl. Blumer 1958; Blalock 1967). So ist Zuwanderung hier ein Problem, weil Konkurrenten um umkämpfte Güter in einen (nationalen) Markt kommen. Allerdings ist das noch nicht alles. Beginnt die als Out-Group gesehene Gruppe in der Gesellschaft an Status zu gewinnen, so steigt die Ablehnung dieser Gruppe und ihrer Mitglieder durch die dominierende Gruppe infolge der Wahrnehmung einer Bedrohung ihrer Gruppen- und Machtposition durch die als untergeordnet angesehene Out-Group (vgl. Quillian 1995).

Die Theorie der Gruppenbedrohung spricht sozioökonomische Konkurrenzverhältnisse an. Beobachtungen der gegenwärtigen Diskurse um Migrant:innen in Deutschland nehmen dies auf, deuten aber oft stärker auf kulturelle Gründe hin. Hier hilft die Social Identity Theory (SIT) weiter (vgl. Tajfel 1982; Tajfel und Turner 1986). Nach ihr sind Identifikationsprozesse der Ausgangspunkt für Vorurteile gegenüber Out-Groups. Triebkraft ist das Bedürfnis der Individuen nach einem positiven Selbstwert; das Bedürfnis ist dann besonders hoch, wenn Misserfolge und das Gefühl von Abwertung erfahren werden. Die Identifikation mit der Gruppe stärkt das eigene Selbstbewusstsein durch deren (subjektiv gesehene) hohe Wertigkeit. Das setzt wiederum voraus, dass die Wertigkeit der Gruppe hoch ist. Dies ist entweder gegeben, oder aber man muss die In-Group aufwerten, was durch die Abwertung einer oder mehrerer Out-Groups realisiert werden kann. Im Zeitverlauf internalisieren die Mitglieder der In-Group der Out-Group unterstellte negative Gruppeneigenschaften und die Kategorisierungen werden zu Stereotypen, mit der Tendenz zur weiteren Abwertung. Gelegentlich wird das konstruierte Bild vom „Anderen“ mit Aspekten der Gefährlichkeit und Fremdheit aufgeladen, was zur weiteren Internalisierung von Ängsten vor der Out-Group beiträgt (vgl. Bauman 2016). Zum Schutz sucht man nun umso mehr die Nähe zur In-Group, was gruppenbezogene Vorurteile – denn um diese handelt es sich hier – bestärkt.

Dieser Ansatz lässt sich gut auf die Situation von Migrant:innen übertragen, da sie aufgrund einer Fremdheitszuschreibung gerne als Out-Group ausgemacht werden. Doch warum gewannen die Diskussionen mit den Fluchtbewegungen 2015 so an Schwung? Nach der Social Identity Theory ist dies einfach zu erklären: Eine gefühlte Zunahme der abgelehnten Gruppe im Umfeld erhöht das Gefühl der Gefährdung und in der Folge die Abgrenzung und Konfliktbereitschaft gegenüber der Out-Group – und ggf. den politischen Verantwortungsträger:innen, welche diese Zunahme nicht verhindern. Die Wirkung von Bedrohungsgefühlen wird durch die Integrated Threat Theory (ITT) noch exakter bestimmbar (vgl. Stephan et al. 2000). Sie unterscheidet realistische Bedrohungen (realistic threats), die eine gefühlte (physische, materielle, politische) Existenzbedrohung der In-Group mit sich bringt (z. B. Gefahr eines terroristischen Anschlags), von einer symbolischen Bedrohung (symbolic threat). Letztere bezieht sich auf die Wahrnehmung von Konflikten bei Werten, Normen, Überzeugungen und Weltsichten (vgl. Gonzalez et al. 2008). Die Wahrnehmung einer Bedrohung steigert die Abwertung der Out-Group. Die Wirkung ist besonders stark, wenn die Identifikation mit der In-Group hoch ist und die Out-Group suspekt erscheint.Footnote 10

Unterstützend für solche Prozesse sind Verschwörungsnarrative über die Out-Group. Sie helfen bei ihrer Kategorisierung und Stereotypisierung. Ein derzeit weit verbreitetes Verschwörungsnarrativ ist dasjenige der Verdrängung der deutschen Kultur durch das vermeintlich Fremde, meist als muslimisch identifizierte – der Ansatz des „großen Austausches“. Neben der Verdrängungsbedrohung werden im Sinne der Theorie der Gruppenbedrohung Fantasien vom schnellen und mühelosen Reichtum auf Geflüchtete projiziert, die angeblich das große Geld vom Staat geschenkt bekommen. So soll ihnen das Recht auf Unterstützung abgesprochen und sie als „Parasiten“ gebrandmarkt werden, die „allein aus finanziellen Gründen kommen“ (Rommelspacher 1995, S. 144). Stärker aber noch wird die kulturelle Fremdheit betont. Hier genügt die Differenz von muslimischen Migrant:innen zum „christlichen Abendland“ als Referenz. Die Offenheit für Verschwörungsnarrative verweist auf Ansätze der Autoritarismusforschung und Theodor Adorno (1973). Hiernach sind Menschen mit einem autoritären Persönlichkeitsbild anfälliger für Abwertung und autoritäre Aggression (Decker und Brähler 2018, S. 122). Sowohl Adorno, als auch Gordon Allport machen zudem religiöse Aspekte als Stütze von Vorurteilen aus (Adorno 1973, S. 287–300; Allport 1979, S. 450–457; vgl. Allport und Ross 1967). Speziell wenn sie dogmatisch, exklusivistisch oder fundamentalistisch ausfallen. Von Adorno wurden Bezüge zwischen einer dogmatischen Religiosität und dem Hang zu Autoritarismus festgestellt. Migrant:innen können dann, wenn sie gut identifizierbar sind, als Zielobjekt autoritärer Aggression dienen.

Ebenfalls auf kulturelle Abgrenzung und Ungleichwertigkeit beziehen sich rassismuskritische Ansätze und Ansätze der kritischen Rassismusforschung (Delgado und Stefancic 2017). Sie betonen die strukturelle Komponente des existierenden Rassismus, also eine auch historisch bedingte Eingelassenheit des Rassismus in die Gesellschaft und der sich so etablierende Alltagsrassismus (Messerschmidt 2018). Da Religion eine kulturelle Komponente darstellt, ist eine Deutung einer auf die religiöse Zugehörigkeit bezogenen Abwertung durchaus als antimuslimischer Rassismus zu interpretieren. Da Einstellungen allerdings Rassismus nicht eindeutig widerspiegeln, bedarf es einer Interpretationsleistung.

3 Politische Kultur und Muslimfeindlichkeit in Berlin 2019

Geht man mit der politischen Kulturforschung davon aus, dass eine Demokratie eine demokratische politische Kultur benötigt, so stellt sich die Frage, wie sich dies in Berlin darstellt. Als empirische Grundlage für unsere Analysen verwenden wir den Berlin-Monitor 2019. Im Rahmen des Berlin-Monitors werden seit 2019 alle zwei Jahre politische Einstellungen erhoben, darunter auch Haltungen zur Demokratie und politischen Kultur, zur Verbreitung von Vorurteilen sowie zu Diskriminierungserfahrungen innerhalb der Berliner Bevölkerung. Schwerpunkt der Erhebung 2019 waren antisemitische Ressentiments. Zwischen März und April 2019 wurden 2005 Berliner:innen ab 16 Jahren befragt. Die Befragung erfolgte in den sechs am häufigsten vertretenen Sprachen in Berlin. Damit wurde der Pluralität Berlins Rechnung getragen. Auch der Migrationshintergrund wurde als soziodemographische Variable erhoben. Hierfür fand die im Mikrozensus genutzte Definition Verwendung.Footnote 11 Nun ist der Begriff „Migrationshintergrund“ und dessen Erfassung entlang der kriterienorientierten Definition der amtlichen Statistik durchaus umstritten. Die im Mikrozensus verwendete synthetische Bestimmung entspricht nicht immer dem Selbstverständnis der solchermaßen kategorisierten Personen (Nesterko und Glaesmer 2019). Zudem ist die deutsche Bevölkerung mit Migrationshintergrund eine heterogene Gruppe von Menschen, die sehr verschiedene Erfahrungen aufgrund von eigenen oder familiären Migrationsgeschichten machen – auch, weil mit dieser Kategorie Personen erfasst werden, in deren Familien die Migrationserfahrung bereits eine Generation zurückliegt. Weitere Anfragen ergeben sich aus der Klärung der Bedeutung des transgenerational vermittelten Migrationshintergrundes.

Trotz dieser Einschränkungen stellt die Erfassung des Migrationshintergrundes entlang der Definition des Mikrozensus eine der wenigen konsolidierten Möglichkeiten dar, abseits von der üblichen Gegenüberstellung von deutschen Staatsbürger:innen und „Ausländer:innen“ repräsentative und vergleichbare Aussagen in Bezug auf die Existenz eines Migrationshintergrundes zu treffen. In Tab. 1 ist aus Gründen der Transparenz die verwendete Stichprobe des Berlin-Monitors 2019 ausgewiesen. Auffällig ist eine überdurchschnittliche Beteiligung von Berliner:innen mit höherem formalen Bildungsstand. Dem wurde für die Präsentation der Ergebnisse durch eine sozialstrukturelle Gewichtung entlang der Berliner Sozialstatistik begegnet, so dass die vorgestellten Ergebnisse als für Berlin repräsentativ angesehen werden können.

Tab. 1 Stichprobe des Berlin-Monitors 2019. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten ungewichtet; Prozentwerte gerundet)

Hinsichtlich der Messung der politischen Kultur und der politischen Unterstützung stehen uns im Berlin-Monitor 2019 sowohl Kernmerkmale der diffus-spezifischen Unterstützung, der spezifischen politischen Unterstützung als auch die Zuwendung zu autokratischen Positionen für die Analyse zur Verfügung. Eine direkte Messung der Legitimität der Demokratie wird durch die Ablehnung einer Diktatur abgebildet.Footnote 12 Diesbezüglich zeigt sich dann auch, dass die Berliner:innen keine andere Herrschaftsform als die Demokratie bevorzugen. Nur eine kleine Gruppe der Berliner:innen präferiert eine Diktatur, 84 % der Befragten lehnen einen starken Führer ab.Footnote 13 Bedenklich ist, dass jede:r fünfte Berliner:in sich eine eindeutig autokratische Einparteienherrschaft wünscht (Abb. 1).

Abb. 1
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Politische Unterstützung der Demokratie. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle)

Die Berliner:innen schätzen zwar die Demokratie, auch wie sie aktuell in Deutschland existiert, aber Teile der Bevölkerung wünschen sich stärkere autoritäre Elemente in ihr und/oder gehen hinsichtlich der Bestandteile der Demokratie nicht unbedingt mit dem normativen Bild einer (in dem Fall liberalen) Demokratie konform. Ambivalenter sieht das Ergebnis bei der Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie aus. Anders als in den meisten Umfragen üblich, wurde im Berlin-Monitor die Demokratiezufriedenheit unter Hinzunahme einer Mittelkategorie (teils/teils) gemessen (vgl. u. a. Zick et al. 2019; Decker und Brähler 2020). Das Ergebnis ist prägnant: 52 % der Befragten wählte diese Mittelkategorie und zeigte somit eine ambivalente Haltung gegenüber der aktuellen Demokratie. Hier kommt die Vermengung einer generellen Zustimmung zur Demokratie als Herrschaftsform mit der stark ablehnenden Haltung gegenüber Politiker:innen zum Ausdruck (siehe Tab. 2): 50 % der Berliner:innen besitzen kein Vertrauen in Politiker:innen. Die ambivalente Demokratiezufriedenheit, von Bettina Westle als diffus-spezifische Unterstützung bezeichnete Einstellung, deutet auf Gegenwartsprobleme der Demokratie und ihrer Umsetzung hin. Nur jede:r vierte Berliner:in äußert dezidierte Zufriedenheit, allerdings auch nur jede:r Fünfte dezidierte Unzufriedenheit (vgl. Westle 1989; auch Fuchs 1989).

Tab. 2 Ambivalente Demokratiezufriedenheit. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle)

Vor dem Hintergrund unserer Fragestellung ist interessant, inwieweit unter Migrant:innen eine Ablehnung der Diktatur und Zustimmung zur Demokratie existiert. Ein zentraler Vorwurf an Migrant:innen von rechter Seite ist eine vermeintliche Distanz zur liberalen Demokratie. Diese Unterstellung der fehlenden Demokratiefähigkeit bezieht sich meist auf Migrant:innen muslimischen Glaubens. Sie werden als kulturell fremd und zudem als gefährlich eingestuft (vgl. Pollack et al. 2014; Pickel 2019, S. 80). Diese als überdurchschnittlich wahrgenommene Bedrohung durch Muslim:innen wird durch die Ergebnisse des Berlin-Monitors 2019 bestätigt. So lösen Muslim:innen als Gruppe unter den Berliner:innen die größten Ängste aus (Abb. 2). Gleichzeit bleibt diese Bedrohungsangst deutlich unter den Ergebnissen bundesweiter Befragungen mit vergleichbaren Daten zu Ängsten vor „dem Islam“. Dies bestätigt sich im Vergleich mit Ergebnissen des Religionsmonitors 2013 und 2017, wo mehr als die Hälfte der Befragten im Islam eine Bedrohung sahen (Pickel 2019, S. 80). Zwei Schlüsse sind möglich: Zum einen könnte Berlin aufgrund seiner multikulturellen Gesellschaft hier geringere Werte aufweisen. Zum anderen könnte sich die Unterscheidung zwischen „dem Islam“ und Muslim:innen auswirken. Analysen mit der 2019 durchgeführten Studie „Konfigurationen und religiöse sowie soziale Identitäten“, welche für eine Bedrohung durch den Islam die Ergebnisse des Religionsmonitors bestätigen und für Berlin (bei allerdings begrenzter Fallzahl) nur geringfügig geringere Werte als im Bundesschnitt ausweisen, deuten in diese Richtung (Pickel et al. 2020a, S. 25–28). Sieht man einmal von möglichen Erhebungseffekten ab, werden zumindest nicht alle Ängste vor „dem Islam“ auf seine Mitglieder übertragen.

Abb. 2
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Ängste vor sozialen Gruppen in Berlin. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle)

Muslim:innen scheinen also aus Sicht eines Fünftel der Berliner:innen bedrohlich (Pickel et al. 2020a, S. 23–25). Hierfür können unterschiedliche Gründe angeführt werden. Sie variieren zwischen dem Effekt eines übergreifenden antimuslimischen Rassismus bis hin zu „realistischen“ Bedrohungswahrnehmungen, die mit Terroranschlägen von Islamist:innen und der Wahrnehmung des IS in den Medien in Zusammenhang gestellt werden (Pickel und Yendell 2016, S. 292–295; Carol und Koopmans 2013, S. 185–186). Diese Abwehrhaltung verbindet sich seit 2015 mit den sich intensivierenden Fluchtbewegungen. Sie erzeugen die Aktivierung einer bereits vorhandenen sozialen Distanz zu Muslim:innen. Dabei werden in der öffentlichen Meinung, wie Studien zeigen, Geflüchtete und Muslim:innen gleichgesetzt (Pickel und Pickel 2019, S. 297; ebd., S. 314). Andere Gruppen von Migrant:innen kommen in der öffentlichen Diskussion kaum vor. Diese Gleichsetzung belegt die sehr hohe Korrelation von r = 0,68 zwischen dem Bedrohungsgefühl gegenüber Muslim:innen und dem Bedrohungsgefühl gegenüber Geflüchteten. Die Konsequenz für unsere weiteren Analysen ist, die Gruppe der Muslim:innen in einer Typisierung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gesondert herauszustellen. Eine solche Typisierung von Migrant:innen liefert dann detailliertere Ergebnisse über deren politische Unterstützung (Abb. 3). Für die Typisierung berücksichtigen wir Migrationserfahrung, muslimischen Religionsstatus und Migrationshintergrund.Footnote 14

Abb. 3
figure 3

Differenzierung von Migrationsgruppen in Berlin. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle. MH Migrationshintergrund, ME Migrationserfahrung. Eingeschlossene Fälle: autochthone Deutsche = 1373, nichtmuslimisch, mit MH, ohne ME = 122, nichtmuslimisch, mit MH, mit ME = 327, muslimisch, ohne ME = 33, muslimisch, mit ME = 149. Die Unterschiede zu den in Tab. 1 gezeigten Fallzahlen der Berlin-Monitor Stichprobe ergeben sich durch die für eine repräsentative Abbildung notwendige Gewichtung der Daten)

Ein Nachteil einer solch differenzierten Betrachtung von Migrationsgruppen liegt in den teilweise geringen Fallzahlen. Die Zahl der muslimischen Teilnehmer:innen bei repräsentativen Umfragen in Deutschland ist typischerweise gering. Dies war ein Grund für die Fallauswahl Berlin mit seiner multikulturellen Beschaffenheit. Der Berlin-Monitor bietet den Vorteil einer vergleichsweise hohen Anzahl von Personen mit Migrationshintergrund in der Stichprobe. Zusätzlich trägt auch die mehrsprachige Erhebung zu einer soliden Stichprobe bei. Die Ergebnisse für die Gruppe der Muslim:innen ohne Migrationserfahrung sind trotzdem mit Vorsicht zu interpretieren, da dort eine besonders niedrige Fallzahl vorliegt. Die übrigen Fallzahlen sind als hinreichend für statistische Analysen zu betrachten und machen Tendenzen in den verschiedenen Gruppen sichtbar.

Wir unterscheiden fünf Gruppen: autochthone Deutsche, Nichtmuslim:innen mit Migrationshintergrund, jeweils mit und ohne Migrationserfahrung sowie Muslim:innen jeweils mit und ohne Migrationserfahrung. Eine Migrationserfahrung haben diejenigen gemacht, die nicht in Deutschland geboren sind. Abb. 3 zeigt die Verteilung dieser Gruppen in Berlin. Fast alle Muslim:innen weisen einen Migrationshintergrund auf und ein Großteil von ihnen ist nicht in Deutschland geboren. Gleichzeitig wird der beachtliche Anteil von Migrant:innen ohne muslimische Religionszugehörigkeit erkennbar. Einfaktorielle Varianzanalysen bestätigen zudem, dass es signifikante Unterschiede zwischen den konstruierten Gruppen gibt. Mit dieser Aufteilung werfen wir nun einen Blick auf die Haltung zur Demokratie. Folgt man dem Vorwurf einer mangelnden Demokratiefähigkeit von muslimischen Mitbürger:innen, dann müsste unter ihnen eine geringere Legitimität der Demokratie bestehen. Das Ergebnis deckt sich weitgehend mit anderen Befunden (Abb. 4): Unter den Migrant:innen ist Demokratie genauso legitim, wie überall sonst in der Berliner Bevölkerung. Unter allen untersuchten Gruppen sind es nur Minderheiten, die sich eine Diktatur wünschen. Allerdings ist der Wert unter den muslimischen Migrant:innen am höchsten.

Abb. 4
figure 4

Politische Unterstützung der Demokratie. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle. Einfaktorielle Varianzanalyse (v.l.n.r.): p-Werte = 0,007; 0,002; 0,013; 0,000)

Fast paradox wirkt es in diesem Zusammenhang, dass in der gleichen Gruppe die Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie besonders hoch ausfällt. Hier dürften Vergleiche mit Erfahrungen aus dem Herkunftsgebiet und dortigen Bedingungen eine Rolle spielen. Ebenfalls deutlich wird, dass in der Gruppe der Menschen mit Migrationserfahrungen häufiger eine Demokratie mit einer starken Führung akzeptabel finden. Dabei handelt es sich aber um eine Minderheit. Die Ergebnisse belegen, in der Berliner Stadtgesellschaft geht keine maßgebliche Bedrohung der demokratischen politischen Kultur von Migrant:innen aus; seien sie muslimischen Glaubens oder nicht. Die Demokratie ist für sie genauso legitim wie für die autochthone Bevölkerung. Weitreichende Ängste über der Verfassung und Demokratie ablehnend gegenüberstehende Migrant:innen sind in Berlin faktisch überflüssig.Footnote 15

Ist nun die postmigrantische Gesellschaft vollständig frei von Problemen? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, den Blick auf ein derzeit intensiv diskutiertes Thema zu richten – auf den sogenannten „muslimischen Antisemitismus“ (Ranan 2018, S. 9–11; Öztürk und Pickel 2022). Dieser wird in manchen Kreisen gerne auch als „importierter Antisemitismus“ eingestuft – und von rechtspopulistischer Seite argumentativ zur Mobilisierung gegenüber muslimischer Migration genutzt (vgl. Arnold und König 2016; Berek 2018). Zur Bestimmung nutzen wir das in der Antisemitismusforschung etablierte Set zur Messung des sogenannten tradierten oder primären Antisemitismus und später zum sekundären, sowie zum israelbezogenen Antisemitismus.Footnote 16 Sind nun Berliner Muslim:innen wirklich für antisemitische Ressentiments anfälliger als andere Stadtbewohner:innen? Folgt man den Abb. 5 und 6, so ist dies mit ja zu beantworten. Der primäre oder tradierte Antisemitismus ist unter Muslim:innen, insbesondere mit einer Migrationserfahrung, stärker ausgeprägt als in der übrigen Bevölkerung. Allerdings fallen die Zustimmungswerte übersichtlich aus, auch wenn Zustimmungsgrade zwischen 10 und 20 % nicht kleingeredet werden sollten. Es sind eher Items des israelbezogenen Antisemitismus, die unter Muslim:innen, ob mit oder ohne Migrationserfahrung, auf höhere Zustimmung stoßen (Abb. 6).

Abb. 5
figure 5

Tradierter Antisemitismus nach Migrationsgruppen. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle. Einfaktorielle Varianzanalyse (v.l.n.r.): p-Werte = durchgehend 0,000)

Abb. 6
figure 6

Antisemitische Ressentiments nach Migrationsgruppen. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle. Einfaktorielle Varianzanalyse (v.l.n.r.): p-Werte = durchgehend 0,000)

Um falschen Interpretationen zuvorzukommen: Bei den verwendeten Items handelt es sich konzeptionell nicht um eine berechtigte Israelkritik. Die verwendeten Erhebungsitems folgen dem Dreiklang von israelbezogenen Antisemitismus: Doppelte Standards, die an Israel angelegt werden, aber nicht an andere Nationen, Delegitimierung des Staates Israel (und Infragestellung seines Existenzrechtes) sowie die Dämonisierung israelischer Politik verbunden mit einer Übertragung auf alle Jüd:innen (Salzborn 2020, S. 109). In den Items wird entsprechend zum einen das Existenzrecht Israels in Frage gestellt, zum anderen eine Gleichsetzung mit der Politik der Nationalsozialisten zum Ausdruck gebracht. Insofern fallen die Zustimmungswerte beachtlich aus. Zwar sieht man „die Juden“ nicht durchweg als die Verantwortlichen für die meisten Kriege an, aber die Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus ist unter Muslim:innen – und dort überraschenderweise besonders bei Muslim:innen ohne Migrationserfahrung – weit verbreitet. Selbst hinsichtlich des eigentlich typisch deutschen, sekundären Antisemitismus fallen die Zustimmungswerte der in Berlin lebenden Muslim:innen überdurchschnittlich hoch aus. Alle anderen Migrationsgruppen bewegen sich im Bevölkerungsmittel von Berlin. Ebenfalls herauszuheben ist die klare Differenz zwischen nichtmuslimischen und muslimischen Migrant:innen. Nichtmuslimische Migrant:innen finden sich hinsichtlich antisemitischer Ressentiments ungefähr auf der Höhe der autochthonen Bevölkerung, beim sekundären Antisemitismus unter diesen Werten.

Bei Vergleich der Unterschiede zwischen Muslim:innen ohne und Muslim:innen mit Migrationshintergrund könnte man vermuten, dass primärer Antisemitismus durch eine Sozialisation in Deutschland abnimmt, aber der (deutsche) Schuldabwehrantisemitismus erlernt wird. Dies fällt gezielt bei den beiden Items auf, die einen Bezug zum zweiten Weltkrieg haben. Gleichwohl kann es sich auch um einen Übertragungs- statt um Lerneffekte handeln. Dies könnte bedeuten, dass Antisemitismus bereits in der frühen Sozialisation erlernt wurde und dann möglicherweise durch eigene Erfahrungen, bzw. im Umfeld gestützt wird. Die Weitergabe muss also nicht nur vor Ort im „Herkunftsland“, sondern kann also auch in der Sozialisation in Deutschland, über die in der Familie vermittelten Bezüge zum Herkunftsgebiet und den dort vorherrschenden Bildern von Israel und Jüd:innen begründet sein. Negative Aspekte israelischer Regierungspolitik werden dabei pauschal auf alle Jüd:innen übertragen und diese Gruppe mit Ressentiments und Abwertung belegt. Allerdings existiert eine alternative oder zumindest ergänzende Erklärungsmöglichkeit. Sie beruht auf dem Faktor Religiosität (siehe Öztürk und Pickel 2022, S. 220–222). So kann ein stark auf die eigene Religion ausgerichtetes dogmatisches Verständnis von Religion förderlich für antisemitische Ressentiments sein. Dies verbindet sich mit der Annahme einer – in gewisser Hinsicht vergleichbar zu einem christlichen Antijudaismus – dem muslimischen Glauben innewohnenden Ablehnung von Jüd:innen (Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

Religion und deutsche Gesetze – ein Gegensatz? (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle; Eingeschlossene Fälle: muslimisch, ohne ME = 33, muslimisch, mit ME = 149; katholisch, ohne ME = 119, katholisch, mit ME = 96; evangelisch, ohne ME = 304, evangelisch, mit ME = 162)

Dass diese Vermutung nicht vollkommen abwegig ist, zeigt eine Korrelationsanalyse zwischen religiösen Vorstellungen und antisemitischen Ressentiments. Sie belegt signifikante Beziehungen zwischen einem dogmatisch-fundamentalistischen Religionsverständnis und antisemitischen Ressentiments (r = 0,32). Diese betreffen übrigens nicht allein Muslim:innen, sondern auch Christ:innen. Entsprechend kann man hier von einem Dogmatismuseffekt sprechen. Dies ist schon einmal begrenzt als quasi antijudaistischer Effekt zu deuten. Allerdings kommt es neben den statistischen Beziehungen auch auf die Größe der entsprechenden Gruppe an. Und in der Tat sind religiös dogmatische Vorstellungen unter Muslim:innen in Berlin weit stärker verbreitet als unter Christ:innen. Besonders die Kombination einer konkreten Migrationserfahrung und muslimischer Religionszugehörigkeit sticht durch hohe Zustimmung zu einer wichtigeren Stellung des Koran gegenüber deutschen Gesetzen heraus. Hier bestehen nun deutlichere Hinweise auf eine religiöse Prägung. Dabei wird in einer – allerdings nicht ganz einfach zu interpretierenden – Aussage, der Koran über die deutschen Gesetze gestellt. Vergleichbare Ergebnisse führten in der Vergangenheit zu kritischen Positionen hinsichtlich der Demokratiefähigkeit muslimischer Bürger:innen (vgl. Koopmans 2015, 2017, 2020). Selbst wenn man vor dem Hintergrund von Religionsfreiheit als immanentem Aspekt der Verfassung und einem möglicherweise anderem Verständnis von Religiosität unter Muslim:innen die Aussage in ihrer Reichweite relativieren kann, verbleibt hier ein gewisses Problem für einen sich säkular verstehenden demokratischen Staat. So wird die Priorität seiner Rechtssetzung in Frage gestellt. Diese Gefährdung steigt noch, wenn die dogmatischen religiösen Haltungen sich gegen andere Gruppen der Gesellschaft richten (Abb. 8).

Abb. 8
figure 8

Religiöse Haltungen – religiöser Dogmatismus. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle. Einfaktorielle Varianzanalyse (v.l.n.r.): p-Wert = durchgehend 0,000)

Dieser Befund trifft aber in allen Untersuchungsgruppen kaum zu. Nur kleine Minderheiten würden ihre religiösen Überzeugungen mit Gewalt durchsetzen wollen. Diese Gruppe fällt unter Muslim:innen ohne Migrationserfahrung am höchsten aus. Ob es sich dabei um neue Radikalisierungsprozesse oder aber um technische Effekte der Stichprobe handelt, da diese Gruppe besonders klein ist, muss an dieser Stelle offenbleiben. Auffällig ist die bei Muslim:innen mit Migrationserfahrung zu findende religiöse Begründung von Antisemitismus. Sie weist auf ein gewisses religiöses Problempotential hin. Diese Vorurteile sind allerdings nicht allein auf Jüd:innen beschränkt. Bei vorliegender Migrationserfahrung, allerdings auch nur dann, bestehen unter Muslim:innen Probleme mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Ein Drittel der Personen mit Migrationserfahrung sieht in Transsexualität eine Gefahr; faktisch ebenso viele halten Homosexualität für eine Krankheit, und mehr als die Hälfte der Gruppe empfindet Homosexualität nicht als normal (Abb. 9). In diesen Urteilen weichen Muslim:innen mit Migrationshintergrund massiv vom Grundverständnis der Berliner Stadtgesellschaft ab. Geringer sind die Abweichungen bei Vorurteilen gegenüber Sinti und Roma. Beachtlich ist die diametrale Entwicklung von Muslim:innen ohne Migrationshintergrund, die einen starken Effekt der Migrationserfahrung und Anpassungseffekte an das Wertesystem der Zuwanderungsgesellschaft spiegelt.

Abb. 9
figure 9

Vorurteile nach Migrationsgruppen. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle. Einfaktorielle Varianzanalyse (v.l.n.r.): p-Wert = 0,000; 0,062; 0,000; 0,000; 0,000)

Man kann festhalten: Eine überwältigende Zahl an Migrant:innen, inklusive muslimischer Migrant:innen, erkennt die Demokratie als Herrschaftsform an. Nur wenige wollen eine Diktatur oder ein nichtdemokratisches System. Gleichzeitig mischen sich gelegentlich autoritäre Vorstellungen ins Demokratiebild, allerdings nur bei einer Minderheit der Migrant:innen. Die demokratische politische Kultur ist durch Migrant:innen in keiner Weise gefährdet. Hinsichtlich einiger Vorurteile und Ressentiments dagegen unterscheiden sich muslimische Migrant:innen maßgeblich von der Berliner Stadtgesellschaft und von anderen Migrationsgruppen. Antisemitische Ressentiments, speziell mit einem Bezug zu Israel, sowie Vorurteile gegen geschlechtliche Vielfalt liegen in dieser Gruppe – teils deutlich – über dem Durchschnitt der Berliner Bevölkerung. Allerdings ist zwischen den zwei Gruppen, mit und ohne Migrationserfahrung, zu differenzieren. In Deutschland geborene Muslim:innen sind bei einigen Items weniger vorurteilsbehaftet als alle anderen Gruppen. Im Falle der Muslim:innen mit Migrationserfahrung sind religiöse und herkunftsbezogene Ursachen für die Vorurteile verantwortlich zu machen. Da Vorurteile für eine demokratische politische Kultur, für ihre ausgeprägte Pluralität und eine plurale demokratische Gesellschaft auf Dauer Gefahren beinhalten, speziell über die Brückenfunktion zu völkischen Rechtspopulist:innen, muss dies als Einschränkung für den ansonsten positiven Tenor hinsichtlich der politischen Kultur bei Migrationsgruppen gelten.

4 Antimuslimische Ressentiments und ihre Gründe

Nun liegt – wie anfangs ausgeführt – die Problemlage nicht allein auf Seite der Migrant:innen. Eine Gefahr für eine plurale Demokratie resultiert aus Abgrenzungs- und Vorurteilsstrukturen gegenüber Migrant:innen, wie sie in verschiedenen Ländern Europas aufzufinden sind (Strabac und Listhaug 2007, S. 268–280; Pickel und Öztürk 2020, S. 70–72). Wie in Abb. 2 aufgezeigt, werden unter anderen Gruppen gerade Muslim:innen als besonders bedrohlich angesehen. Dieses Ergebnis findet sich auch in bundesweiten Studien (vgl. Pickel 2019; Abb. 10).

Abb. 10
figure 10

Muslimfeindliche Aussagen (in Berlin und im Bund). (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle; Referenzdaten Bund aus FES-Mitte-Studie 2019 (Zick et al. 2019, S. 70–71))

Für Berlin zeigen sich nur unterdurchschnittliche Ausprägungen von Muslimfeindlichkeit und Vorurteilen gegenüber Geflüchteten.Footnote 17 Möglicherweise bringen die häufigeren interkulturellen Kontakte die Berliner:innen dazu, Vorurteile zu überdenken, die teilweise ein Produkt des Konsums von (meist negativen) Medienbildern sind.Footnote 18 Die Ergebnisse zur Muslimfeindlichkeit korrespondieren erneut stark mit den Vorurteilen und Haltungen gegenüber Geflüchteten. Nun sind die Einstellungen und gruppenbezogenen Vorurteile auf der Seite der Berliner Stadtgesellschaft eine Sache, eine andere sind die Erfahrungen in den Migrationsgruppen. Hierzu wurde im Berlin-Monitor nach DiskriminierungserfahrungenFootnote 19 gefragt. Von Diskriminierung berichtende Personen konnten unterschiedliche Diskriminierungsgründe angeben (Abb. 11; siehe auch Pickel 2019, S. 51).

Abb. 11
figure 11

Diskriminierungserfahrungen. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle. Einfaktorielle Varianzanalyse (v.l.n.r.): p-Wert = durchgehend 0,000)

Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass Muslim:innen die größte Gruppe sind, die nach eigenen Aussagen aufgrund Herkunft und Religion Diskriminierungen erleiden müssen. Dies deckt sich mit Untersuchungen in anderen europäischen Ländern, welche die Schwierigkeit der Integration von Muslim:innen in christlichen Gesellschaften abbilden (vgl. Adida et al. 2016, S. 127–147; Scherr und Yüksel 2020, S. 3–12). Zudem fällt auf, dass Muslim:innen, die in Deutschland geboren sind, erkennbar häufiger von einer entsprechenden Diskriminierung berichten. Da liegt die Vermutung einer stärkeren Sensibilisierung für Diskriminierungserfahrungen nahe. Erst die Erfahrungen vor Ort haben das Verständnis für bestimmte Verhaltensweisen als Diskriminierung geöffnet. Die Werte von um und über 90 % der Muslim:innen ohne Migrationserfahrung ist dabei sehr hoch. Da auch über die Hälfte der Muslim:innen mit Migrationserfahrung über Diskriminierung aus diesen beiden Gründen berichtet, kann man von einer in Berlin (und vermutlich nicht nur dort) weit verbreiteten – auch rassistischen – Diskriminierung von muslimischen Migrant:innen sprechen. Andere Migrant:innen berichten ebenfalls häufiger von Diskriminierung als autochthone Berliner:innen. Dieselben hohen Werte wie unter Muslim:innen, erreichen sie allerdings nicht.Footnote 20

Zusammengefasst lässt sich auch für Berlin bestätigen, dass Muslim:innen unter den Migrant:innen diejenige Gruppe sind, die am stärksten von Diskriminierung und Vorurteilen betroffen ist. Prozesse der Social Identity Theory und der Integrated Thread Theory greifen. Die unterschiedlichen Ergebnisse zwischen den Migrationsgruppen legen nahe, dass man analytisch nicht pauschal von Migrant:innen reden sollte. So sind nichtmuslimische Migrationsgruppen nicht zwingend in gleichem Maße Ziel von Kategorisierung, Stereotypisierung und Abwertung wie dies für muslimische Menschen der Fall ist. Die hohe Verbreitung der Diskriminierungserfahrungen verweist auf Probleme im Lebensalltag und das Risiko eines strukturellen Rassismus, aber zumindest eine beachtliche Sichtbarkeit von Alltagsrassismus (Messerschmidt 2018). Das dieser nicht mit der Gleichheit und Gleichberechtigung von Bürger:innen in einer Demokratie vereinbar ist, bedarf keiner großen demokratietheoretischen Fundierung (Pickel und Pickel 2022). Egal, ob wir es mit strukturellem oder mit individuellem Rassismus zu tun haben, wie sich dieser auf die politische Kultur auswirkt, kann man mit Blick auf die Verbindungen zu antidemokratischen Positionen sehr gut erkennen.

5 Antimuslimischer Rassismus, Rechtspopulismus und antidemokratische Positionen

Einen Grund für Muslimfeindlichkeit oder für antimuslimischen Rassismus stellen die schon erwähnten Aspekte der zugeschriebenen Fremdheit und der potenziellen Gefährlichkeit muslimischer Migrant:innen in den Augen vieler Bürger:innen dar. Ein anderer Grund ist, dass Rechtsextremisten und Rechtspopulist:innen sich diese diffusen Bedrohungsängste zunutze machen und damit Wähler:innen für sich mobilisieren. Die Verteilung von muslimfeindlichen Überzeugungen und Vorurteilen bzw. die Ablehnung von Geflüchteten über die Wählerschaft der im Bundestag vertretenen Parteien zeigt dies (Abb. 12).

Abb. 12
figure 12

Rechtspopulistische Mobilisierungsstrategie Muslimfeindlichkeit. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Prozentwerte gerundet auf eine Nachkommastelle. Eingeschlossene Fälle: CDU = 278, SPD = 262, FDP = 75, Linke = 248, Grüne = 333, AfD = 76. Einfaktorielle Varianzanalyse: p-Wert = durchgehend 0,000)

Während unter Wähler:innen der Linken und der Grünen eine überwältigende Offenheit für Geflüchtete vorliegt, lässt dies in der Wählerschaft der CDU und der FDP sichtbar nach. Ein Drittel der CDU-Wähler:innen würde Geflüchtete nicht immer willkommen heißen und findet den Anteil von Muslim:innen in Deutschland zu hoch. Gleichwohl heißen deutliche Mehrheiten Geflüchtete generell willkommen und nur Minderheiten von 12 bis 14 % wollen die Zuwanderung von Geflüchteten und Muslim:innen unterbinden. Vollständig anders sieht das Bild bei den Wähler:innen der AfD – und in Teilen bei den Nichtwähler:innen – aus. Bereits in der hochdifferenten Gruppe der Nichtwähler:innen ist die Offenheit für Zuwanderung eingeschränkt (32–39 %) und die Grundhaltung gegenüber Muslim:innen ungünstiger als unter den Wähler:innen aller Parteien – außer der AfD. AfD-Wähler:innen besitzen gänzlich andere Einstellungen: Über 70 % finden, es gibt zu viele Muslim:innen im Land; mehr als die Hälfte würde die Zuwanderung einschränken und nur ein Drittel der AfD-Wähler:innen würde Geflüchtete generell willkommen heißen. Diese besondere Bedeutung der Muslimfeindlichkeit für Wähler:innen der AfD wurde auch in anderen Analysen nachgewiesen. Muslimfeindlichkeit und die Angst vor kultureller Überfremdung erweist sich als der zentrale Faktor für die Wahl der AfD (Pickel 2019, S. 161; Rippl und Seipel 2018, S. 253–254; Hambauer und Mays 2018, S. 148–154). Kulturelle Überfremdungsängste sowie eine Offenheit für Verschwörungsnarrative stützen eine solche Position. Dieses Potenzial wird von der AfD bewusst gesucht und, wenn es geht, durch gezielte Polarisierung und Aktivitäten zu steigern versucht (vgl. Celik et al. 2020). Stärker als alle anderen Faktoren ist Muslimfeindlichkeit zentrales Wahlkampf- und Mobilisierungsthema für ihre Wahl.Footnote 21

Entsteht hier nun eine Gefahr für die demokratische politische Kultur in Berlin? Diese Frage beantworten Korrelationen zwischen der Ablehnung von Geflüchteten und Muslimfeindlichkeit mit autoritären und autokratischen Einstellungsmustern.

Am stärksten sind die Korrelationen bei den autoritären Ausdrucksformen einer starken (Einheits)Partei und eines starken Führers, die der Gegenpol zur Legitimität der Demokratie sind (Pickel et al. 2020d, S. 105). Aber auch alle anderen Zusammenhänge deuten in eine Richtung: Muslimfeindlichkeit und die Ablehnung von Geflüchteten sind Brückenkonstruktionen zur extremen Rechten und zu antidemokratischen Vorstellungsmustern (Tab. 3). Eine starke Migrationsablehnung unterminiert eine demokratische politische Kultur (Pickel et al. 2019, 59,61,a, b). Diese Ergebnisse werden durch vergleichbare Analysen der Leipziger Autoritarismus Studie 2020 gestützt, die zusätzliche Messungen zur Legitimität der Demokratie enthält. Sie erbringen fast deckungsgleiche Korrelationswerte für das Bundesgebiet. Folgt man den Annahmen der politischen Kulturforschung, sind dies Schritte, welche die Demokratie, speziell eine liberale Demokratie auf Dauer beschädigen können. Vorurteile erweisen sich somit als eine wichtige Brücke für demokratieschädliche Haltungen.

Tab. 3 Muslimfeindlichkeit und seine antidemokratische Wirkung. (Quelle: Berlin-Monitor 2019; 2005 Befragte aus Berlin; Daten gewichtet; Pearsons Produkt Moment Korrelationen (signifikant bei p < 0,01))

6 Fazit: Antimuslimischer Rassismus als Gefahr für die Demokratie

Die Berliner Stadtgesellschaft zeigt sich als Paradebeispiel für die Aushandlungsprozesse in pluralen Zuwanderungsgesellschaften. Durch Migrations- und Globalisierungsprozesse ist Berlin mit einer, so beschreibt es Naika Foroutan, „doppelten Komplexität“ konfrontiert (Foroutan 2019, S. 130). Während die Abwertung bestimmter Gruppen aus psychologischer Sicht sowohl als Ausdruck der Aufwertung der Eigengruppe, als auch als Ventil für autoritäre Aggressionen gewertet werden kann, dient sie doch auch der Reduktion von Komplexität und der Stabilität des Selbst. Dieses kann man durch die Suche von Sündenböcken und über eine starke Bindung an eine In-Group erreichen. Else Frenkel-Brunswik stellte schon 1949 fest, dass ambiguitätsintolerante Persönlichkeiten eher zu weniger komplexen Lösungen und Erklärungen neigen. Sie besitzen eine „tendency to resort to black-white solutions, to arrive at premature closure as to valuative aspects, often at the neglect of reality, and to seek for unqualified and unambiguous overall acceptance and rejection of other people“ (Frenkel-Brunswik 1949, S. 115). Damit verbunden sind Vorurteile und die Ablehnung anderer sozialer Gruppen, speziell, wenn diese bedrohlich scheinen. Und diese wiederum wirken sich ungünstig auf eine demokratische politische Kultur aus, wie wir zeigen konnten. Was deutlich wird: Muslimfeindlichkeit oder antimuslimischer Rassismus untergräbt die demokratische politische Kultur und steigert antidemokratische Positionen (Levitsky und Ziblatt 2018).

Für die Vorurteile konstituierenden Prozesse der Kategorisierung, Stereotypisierung und Abwertung spielt den Analysen nach die (muslimische oder jüdische) Religionszugehörigkeit eine bedeutende Rolle als Referenzpunkt. Speziell Muslim:innen werden als fremd und gefährlich angesehen. Vor allem die Art der Fremdwahrnehmung und der kulturellen Abwertung zeigt, dass es nicht nur um Vorurteile, sondern um Rassismus geht (Lavorano 2020, S. 2). Die unter Berliner:innen häufigere Wahrnehmung einer Bedrohung durch Muslim:innen gegenüber anderen religiösen und sozialen Gruppen (ausgenommen der mit Muslim:innen quasi gleichgesetzten Geflüchteten) deutet auf die Relevanz einer Kategorisierbarkeit über Religionszugehörigkeit sowie auf Differenzen in den Lebenserfahrungen zwischen Migrationsgruppen hin. Umgekehrt findet sich unter Muslim:innen eine stärkere Verbreitung antisemitischer Ressentiments, welche den Analysen nach nicht durch Migrationserfahrungen bedingt sind. Diese Befunde allgemein unter Migrant:innen, ohne Berücksichtigung der Vielfältigkeit dieser Gruppe (so z. B. verschiedener Religionszugehörigkeiten) zu behandeln, wird den Problem- und Diskriminierungslagen pluraler Gesellschaften nicht gerecht.

Wichtig ist aber auch ein anderes Ergebnis: Unter den verschiedenen Migrationsgruppen findet sich keine direkte Gefährdung der demokratischen politischen Kultur. (Muslimische) Migrant:innen nehmen die Demokratie überwiegend als legitim wahr und lehnen ein autoritäres Staatssystem ab. Allerdings tendieren Gruppen mit Migrationserfahrung gelegentlich zu einer Offenheit gegenüber Merkmalen autoritärer politischer Systeme. Möglicherweise unterscheidet sich das Demokratieverständnis. So ist unter den Muslim:innen mit Migrationserfahrung häufiger die Meinung verbreitet, mit der Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert, zufrieden zu sein, gleichzeitig aber einen starken Führer zu wünschen und unter bestimmten Umständen eine Diktatur zu präferieren. Zudem sind unter Muslim:innen religiös dogmatische Haltungen weiter verbreitet als in der Gesamtbevölkerung. Gruppen mit vorhandener oder fehlender Migrationserfahrung unterscheiden sich hierbei, was auf Veränderungen durch Akkulturationsprozesse hindeuten könnte. Würde man den Überlegungen von Koopmans folgen, so liegt in diesem Dogmatismus die Wurzel für ablehnende Haltungen gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Diese Ablehnung scheint unter muslimischen Berliner:innen mit Migrationserfahrung besonders häufig vorzukommen. Muslim:innen ohne Migrationserfahrung dagegen besitzen seltener abwertende Haltungen. Insgesamt handelt es sich allerdings immer um Minderheiten, die antidemokratische oder antiplurale Tendenzen aufweisen. Die Demokratie wird von der deutlichen Mehrheit der Berliner Migrant:innen und Muslim:innen unterstützt, was der Annahme einer mangelnden „Demokratiefähigkeit“ entgegensteht.

Ein Problem stellt sich: Die angesprochene negative Wirkung von Vorurteilen und Ressentiments gilt nicht nur in der Dominanzgesellschaft, sondern auch für religiös dogmatische bzw. fundamentalistische Muslim:innen. Unter ihnen konnten antisemitische Ressentiments und Probleme mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt bislang leichter Fuß fassen als in vielen anderen Gruppen der deutschen Gesellschaft. In welchem Ausmaß dies durch die Herkunftserfahrung begründet ist, und in welchem Ausmaß durch religiöse Prägungen, ist Aufgabe für weitere Analysen (siehe auch Öztürk und Pickel 2022). Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass beide Faktoren Relevanz besitzen. Entscheidend ist, dass diese Vorurteile sich ebenfalls ungünstig auf eine demokratische politische Kultur auswirken. Die statistischen Analysen belegen: Eine liberale und plural ausgerichtete demokratische politische Kultur kommt durch Ausgrenzungsprozesse unter Druck. Zum einen, wenn Migrant:innen Vorurteile mitbringen oder ausbilden, zum anderen wenn sie Ausgrenzung durch die Dominanzgesellschaft erfahren.

Zwar handelt es sich in Berlin durchweg um deutliche Minderheiten, deren Haltungen von Vorurteilen, Ressentiments oder Rassismus geprägt sind, gleichwohl sind auch in einer so multikulturellen Stadtgesellschaft Vorurteile und antidemokratische Haltungen möglich. Die Kontakt- und Kennenlernmöglichkeiten einer multikulturellen Stadtgesellschaft helfen bei der Entschärfung von Vorurteilen, verhindern aber Problemlagen nicht völlig. Fallen solche moderierenden Kontakte weg und werden sie durch parasoziale Kontakte (Medien) oder unreflektierte negative Gefühle ersetzt, dann ist eine Demokratie in erheblichem Ausmaß herausgefordert. Entsprechend sollte man der Verbindung von Migration und Demokratie auf der Ebene der Einstellungen in Zukunft stärker Aufmerksamkeit schenken, und Differenzierungen nach Identitätsgruppen, wie z. B. religiöse Gruppen, in die Modelle einbeziehen.