Religion und Migration sind in ihrer Kombination bislang nicht hinreichend untersuchte Bereiche. Meist wird in der Migrationsforschung Religion und Religiosität keine große Bedeutung zugemessen. Entsprechend ist die empirische Forschung noch beschränkt. Die vorliegende Special Section, wofür dieser Text die Einleitung ist, soll helfen die bestehenden Lücken in der empirischen Bedeutung von Religion für Migration und die Migrationsforschung zumindest partiell auszufüllen.

1 Ausgangspunkt und Idee

Die gesellschaftliche Bedeutung der Religion schwindet in Deutschland – als Lebensinhalt und -kompass für den Einzelnen und als Merkmal der Sozialstruktur (Pickel 2017). Immer seltener wird das religiöse Bekenntnis herangezogen, um Parteipräferenzen von Wähler:innen oder wirtschaftlichen Erfolg von Regionen zu erklären. Die Positionen der Kirchen zu den wichtigen Fragen der Zeit verkommen oft nur noch zu einer Randnotiz.

Und doch behält das Thema Religion seit Jahren eine ungeheure Anziehungskraft, und zwar im Zusammenhang mit Migration. Es sorgt für öffentliche Erregung, wenn es um Kopftücher von Lehrkräften und Kruzifixen in Amtsstuben geht. Es bringt rechtspopulistischen, rechtsextremen Parteien Wählerstimmen, die mit Szenarien zu religiöser Überfremdung Stimmung machen. Dass dabei unklar bleibt, was religiöse Überfremdung ist, wann sie erreicht ist, wem sie schadet oder nutzt, ist Nebensache. Denn Religion steht als Symbol für die Fremdheit von Migrant:innen (Adida et al. 2016; Pickel 2018; Strabac und Listhaug 2007). So bietet die Religionszugehörigkeit eine Projektionsfläche für Ressentiments, Vorurteile und (rassistische) Diskriminierung gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund. Die vorgenommenen Kategorisierungen werden mit Stereotypen angereichert, um sich dann gegenüber als fremd konstruierten Gruppen, wie Migrant:innen, bzw. muslimischen Migrant:innen abzugrenzen (Helbling 2012; McLaren 2003; Yendell und Huber 2020). Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums, wie zum Beispiel die rechtsradikale und rechtspopulistische AFD in Deutschland oder Front National in Frankreich wissen dies nicht nur zur Aktivierung ihrer Wählerschaft, sondern auch zur Mobilisierung von Wähler:innen mit Ängsten vor dieser und anderen Veränderungen zu nutzen (Öztürk und Pickel 2019; Pickel und Öztürk 2022; Pickel und Yendell 2016). Dies alles mit realen Folgen für das politische System, die Gesellschaft und den Einzelnen (Pickel und Pickel 2018). So hat die auf diese Weise entsachlichte Debatte um Religion und Migration in den letzten Jahren, verstärkt noch seit 2015, der extremen Rechten zum Einzug in fast alle deutsche Parlamente verholfen. Ihre Rhetorik ermutigt Gruppen, aber auch einzelne Täter, Gewalt an Menschen mit Migrationshintergrund auszuüben, wie die Ermordung zehn muslimisch gelesener Menschen in Hanau schmerzlich zeigt.

Ebenfalls, jedoch weniger offensichtlich treibt sie die Spaltung der Gesellschaft entlang von Religionszugehörigkeiten voran: In Alltagssituationen ist die Solidarität mit muslimischen Menschen seltener als mit anderen Bevölkerungsgruppen (Choi et al. 2019). Vorurteile, Ablehnung und Abwertung ihnen gegenüber sind so stark, wie gegenüber kaum einer anderen sozialen Gruppe in Deutschland (Pickel 2021). Dabei wird „muslimisch sein“ mit „migrantisch sein“ gleichgesetzt und „migrantisch sein“ mit „muslimisch sein“. Nicht umsonst vermischt sich die Zuschreibung, und die Ablehnungen korrespondieren zwischen antimuslimischen Rassismus, Migrantenfeindlichkeit und Abwertung von Geflüchteten (Pickel und Pickel 2019). In gewisser Hinsicht kann die Ablehnung von Muslim:innen und der ihnen gegenüber geäußerte Rassismus, ähnlich wie der Antisemitismus, als kultureller Code für eine antimoderne Position verstanden werden (Volkov 2022). Die kulturelle Differenz wird dabei oft als unveränderlich und naturgegeben interpretiert wie konstruiert. Die Folge ist, dass gerade muslimischen Migrant:innen die Fähigkeit zur Integration in die deutsche Gesellschaft abgesprochen wird (Shooman 2014).

Doch nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene, auch strukturell beeinflusst das Zusammenspiel von Religion und Migration das politische und gesellschaftlich System Deutschlands. Mit der Zuwanderung von Menschen nicht christlicher Religionszugehörigkeit verändert sich das Institutionengefüge. Zu den wichtigsten Neuerungen der letzten Jahre zählen die Einrichtung der Deutschen Islamkonferenz durch den damaligen konservativen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, die Anerkennung nicht christlicher Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, z. B. die Ahmadiyya in Hessen, die Gründung des Deutschen Islamkolleg zur Ausbildung islamisch-theologischen Personals sowie die Einführung islamischen Religionsunterrichts an Schulen. In dieser Hinsicht kommen muslimische Migrant:innen und ihre Nachkommen in der Deutschen Gesellschaft an und stärken eine transnationale Perspektive und schaffen eine bislang kaum gekannte religiöse Pluralität (Demmrich et al. 2022; Pickel 2019; Wohlrab-Sahr und Teczan 2022).

Neben institutionellem Wandel gehen räumliche Veränderungen auf den Einfluss von Religion und Migration zurück. Die Sichtbarkeit von nicht christlichen Sakralbauten und Bräuchen steigt, vor allem in den Städten. Repräsentative Moscheegebäude inklusive Minarett gibt es mittlerweile in vielen größeren Städten Deutschlands, und der Gebetsruf ist beispielsweise in Köln und Düren Alltag (Nicolai et al. 2022) – wenn auch immer wieder Anlass von Streit (Köln).

Dieser Überblick hat nicht ganz zufällig seinen Schwerpunkt auf Islam in Deutschland und muslimischer Religiosität von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Denn die öffentliche Debatte dreht sich seit einigen Jahren schon hauptsächlich um diese Facette von Religion und Migration. Christliche oder andere Migration wird kaum thematisiert, obwohl noch 2015 weit mehr Zuwanderung aus Ostmittel- und Südosteuropa stattfand. In großem Ausmaß ist diese Fokussierung auf muslimische Migrant:innen und Muslim:innen überhaupt angefeuert durch die historischen Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 in New York und die terroristischen Akte durch muslimische Extremisten in Europa in den nachfolgenden Jahren. Sie haben das Bild eines gefährlichen Islam geprägt (z. B. Pollack et al. 2014). Diese Orientierung auf Sicherheitsfragen und muslimische Religion als Marker für Probleme spiegelt sich auch in der Forschung wider. Religiöse Phänomene und Gruppen finden im Zusammenhang mit Migration kaum Beachtung (siehe Kalter 2007; Heckmann 2015; Rother 2016; Aigner 2017).Footnote 1

Das Interesse der Forschung scheint erst mit dem Islambezug zu erwachen. Forschungen zu Muslim:innen und zu Religion als Integrationshemmnis oder -stütze dominieren die Themenlandschaft (siehe Fleischmann in dieser Special Section). Selten steht bisher Forschung über die Religionspraxis von Migrant:innen und zur (Veränderung) der Gläubigkeit unter dem Eindruck der Migration auf der Agenda (Ausnahme z. B. Nagel 2018; Pickel 2021; mit stärker pädagogischer und theologischer Perspektive Polak 2017; Stein et al. 2019). Ebenfalls liegt wenig zur Bedeutung von Religiosität für individuelle Dispositionen vor, die über Integration hinausgehen, bspw. Gesundheit – psychisch und physisch, aber auch mit Blick auf Integrationsbereitschaft, eigene Vorurteile und Gruppenbildungsprozesse. Die Zuordnung als Musim:innen wird nicht selten nur als auswechselbarer Proxy für Migrant:in genommen und die potenzielle Bedeutung des Religiösen ignoriert. Teilweise reicht dies so weit, dass man der Religiosität und der Religionszugehörigkeit von Migrant:innen keine Aufmerksamkeit schenkt, obwohl sie positiv (über Gemeinschaftsbildungs- und Integrationsprozesse) als auch negativ (als Referenzpunkt für Vorurteile, Ablehnung und gar Rassismus) keineswegs bedeutungslos sind. Deutlich wird dann auch ein Defizit an Studien, die Religion in seiner Bedeutung für Migration, Integration, Beteiligung und Gemeinschaftsbildung ernst nehmen. Besonders an quantitativ-empirischen Studien mangelt es hier.

2 Zur Special Section

Diese Lücke zumindest in kleinen Teilen zu füllen, verschreibt sich das vorliegende Special Section. Dabei wird an eine Diskussionsstruktur angeschlossen. Um die empirische Forschung zu Religion, und besonders ihre quantitative Variante, zu stärken, haben Wissenschaftler:innen vor mehr als einem Jahrzehnt den Arbeitskreis quantitative Religionsforschung (AqR) gegründet.Footnote 2 Den Austausch zwischen Wissenschaftler:innen der empirischen Religionsforschung fördert der AqR auf seiner jährlichen Tagung. Der vorliegende Sonderband basiert auf Beiträgen, die auf der AqR-Jahrestagung „Religion und Migration“ (online) im Februar 2021 einem Call for Papers folgend eingereicht und präsentiert wurden. Durch einen ergänzenden Call for Papers für dieses Heft konnten die Perspektiven auf das Thema Religion und Migration noch einmal maßgeblich erweitert werden, sei es methodisch, auch durch qualitative Studien, sei es inhaltlich durch weitere Facetten des Verhältnisses von Religion und Migration. Das Ergebnis ist die vorliegende Special Section zum Thema Religion und Migration. Sie enthält etablierte Themen, wie eine Überprüfung des State-of-the-Art zum Verhältnis zwischen Religion und Ressentiments, Vorurteilen und Rassismus sowie Forschung zu bisher weniger beachteten Religionsgruppen (wie baptistische Russlanddeutsche in Südamerika) und greift Themen wie die Muster der Religiosität von Geflüchteten und methodische Aspekte bei der Befragung von Migrant:innen auf.

Entsprechend der allgemein gültigen Standards zur Qualitätssicherung in der Wissenschaft haben alle Beiträge des Sonderbandes ein strenges double-blind peer-review-Verfahren vor ihrer Veröffentlichung durchlaufen. Ergebnis sind die vorliegenden zwölf Beiträge dieser Special Section, die ein breites Spektrum der aktuellen Verbindungen von Migration und Religion abbilden. Dabei gehen sie aus unterschiedlichen Perspektiven an dieses Verhältnisses heran.

3 Beiträge des Bandes

Den Auftakt der Special Section macht Fenella Fleischmann mit ihrem Überblicksartikel zum Stand der Forschung. In „Researching religion and migration 20 years after ‚9/11‘: Taking stock and looking ahead“ skizziert sie kenntnisreich und umfassend wichtige Bereiche der Forschung und existierende Forschungsergebnisse zur Verbindung von Religion und Migration in Westeuropa der letzten 20 Jahre (Fleischmann 2022). Als Ergebnis zeigt sich ein ganzes Geflecht an Querverbindungen, die auch für die Gesamtkonstitution der Gesellschaft keine geringe Bedeutung besitzen. So zeigt sie auch pointiert auf, welches Potenzial das Thema über den heutigen Stand hinaus noch zu bieten hat. Legt Fenella Fleischmann den theoretischen und konzeptionellen Grundstock für die weiteren Untersuchungen, wird im Beitrag von Katrin Pfündel und Anja Stichs (Stichs und Pfündel 2022) die methodische Basis angesprochen. Sie fragen sich, wie gut die am häufigsten zur Erhebung von Umfragedaten über Minderheiten und speziell Muslim:innen verwendeten onomastischen Verfahren funktionieren. Dabei verweisen sie darauf, dass es ein Verfahren ist, welches auf das Herkunftsland und nicht direkt auf die Religionszugehörigkeit zielt. Entsprechend sind hier Hemmnisse der Erforschung der Beziehungen zwischen Migrationsgeschichte und Religiosität deutlich erkennbar.

Einen deutlichen Schwerpunkt bilden Studien zu Religion, Migration und Ressentiments. Insgesamt fünf Beiträge widmen sich Fragestellungen aus diesem Bereich. Allerdings gehen sie auf unterschiedliche Weise über den bisherigen Forschungsstand hinaus, indem sie stärker Instrumente und Theorien aus der Sozialpsychologie berücksichtigen (Genkova et al. 2022), bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Jugendliche in den Blick nehmen (Stein und Zimmer 2022; Janzen und Ahrens 2022), sich mit der Wirkungsweise sozialer Medien befassen (Öztürk 2022) oder vergleichende Designs einsetzen (Pickel und Celik 2022).

Haltungen zur gesellschaftlichen Vielfalt im Allgemeinen spielen in der Studie von Margit Stein und Veronika Zimmer eine Rolle. Sie untersuchen mit einer Umfrage unter 1090 Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren, ob bei jungen Muslim:innen und Christ:innen eher Religiosität oder interreligiöser Kontakt die Akzeptanz gesellschaftlicher Diversität beeinflusst (Stein und Zimmer 2022). Die Befragung zeigt, dass die Religionszugehörigkeit, die Stärke der Religiosität und die religiöse Zusammensetzung des Freundeskreises in stärkerem Maße als etwa der Migrationshintergrund oder die schulische Bildung Vorurteilsstrukturen gegenüber bestimmten Gruppen wie etwa gegenüber Homosexuellen beeinflussen. Interreligiöse und interethnische Begegnungen insbesondere in der Nachbarschaft und im erweiterten Freundeskreis stehen in positivem Zusammenhang mit der Diversitätsakzeptanz.

Petia Genkova, Henrik Schreiber und Joana Hegemann gehen in ihrem Artikel dem unklaren Zusammenhang zwischen Religiosität und Fremdenfeindlichkeit nach, in dem sie einen Faktor aus der Psychologie berücksichtigen, der in der soziologisch geprägten Religions- und Vorurteilsforschung selten genutzt wird: den Grad der interkulturellen Persönlichkeit eines Menschen (Genkova et al. 2022). Für ihre statistischen Querschnittsanalysen nutzen sie eine Befragung von 101 Teilnehmenden, die per Schneeballverfahren rekrutiert wurden. Selbsteingeschätzte Religiosität ist dabei ein eigenständiger Erklärungsfaktor für Fremdenfeindlichkeit, wobei die Richtung abhängig von der Ausprägung der eigenen interkulturellen Persönlichkeit sind. Religiosität steht nicht nur im Zusammenhang mit Einstellungen zu Migranten. Ebenfalls wird diskutiert, ob Religiosität Einstellungen zu anders Gläubigen beeinflusst. Dies untersuchen Gert Pickel und Kazim Celik mit den Daten des Berlin-Monitors 2019 anhand eines vergleichenden Designs, bei dem sie die Haltungen von Muslim:innen und Christ:innen gegenüberstellen (Pickel und Celik 2022). Deutlich wird die stärkere Ablehnung von Muslim:innen, welche in großem Maß auf geäußerte Bedrohungsängste zurückzuführen ist. Inwieweit sich dahinter ein tiefer liegender antimuslimischer Rassismus verbirgt, muss noch weiter untersucht werden – wichtig ist nur, Religion und Religiosität machen etwas aus für die Haltungen von Migrant:innen, wie ihnen gegenüber.

Eine Facette dieser Fragestellung greifen Olga Janzen und Petra Angela Ahrens auf, indem sie die Einstellungen zu Muslim:innen und dem Islam bei Jugendlichen untersucht (Janzen und Ahrens 2022). Auf Basis einer aktuellen Befragung unter Jugendlichen mit 2868 Befragten im Alter zwischen 14 und 29 Jahren können Sie verschiedene Dimensionen von Religiosität identifizieren, aber auch verschiedene Dimensionen von Rassismus und Vorurteilen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass vor allem ein dogmatisches Religionsverständnis eine Bedeutung besitzt und erweitern damit einen Forschungsstrang, der derzeit eine Differenzierung religiöser Einflüsse herausarbeitet (Pickel et al. 2022). Nicht weit entfernt ist das Vorgehen von Cemal Öztürk. Auch er befasst sich mit Muslimfeindlichkeit. In zweierlei Hinsicht geht er dabei einen anderen Weg, als die bereits genannten Beiträge. Erstens untersucht er nicht den Einfluss von Religiosität, sondern den Einfluss von Intergruppenkontakten auf antimuslimische Einstellungsmuster. Zweitens nimmt er dabei nicht den Einfluss von realen, sondern von virtuellen Kontakten in den Blick (Öztürk 2022). Aus seiner komparativen Studie wird deutlich, das parasoziale (mediale Kontakte) sich begünstigend für Muslimfeindlichkeit auswirken, reale Kontakte dies aber moderieren und Muslimfeindlichkeit entgegenwirken können.

Mithilfe von qualitativen Interviews widmen sich Inken Rommel und Helen Schwenken den Einstellungen gegenüber Islam und Christentum. Sie arbeiten anhand von Gesprächen heraus, welche Narrative Menschen nutzen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, wenn sie über das Christentum oder den Islam sprechen (Rommel und Schwenken 2022). Die daraus entstehenden Narrative besitzen eine weitreichende Bedeutung für den wechselseitigen Umgang und die Anerkennung gerade von Muslim:innen in Deutschland. Auch der Beitrag von Alexander-Kenneth Nagel beschäftigt sich mit Geflüchteten. Alexander-Kenneth Nagel greift die wichtige Frage auf, wie sich religiöse Praxis unter den Bedingungen von Migration wandelt. Neue Antworten findet er durch die qualitative Inhaltsanalyse von über 100 Interviews mit Menschen, die die extremste Form von Migration erlebt haben: der Flucht (Nagel 2022). Dabei wird deutlich, dass „erfahrene“ religiöse Minderheiten wie Yezid:innen angesichts der neu gewonnenen Religionsfreiheit zu einer nachholenden Intensivierung neigen, während Muslim:innen angesichts islamfeindlicher Stimmungen zu religiöser Privatisierung tendieren. Zugleich zeichnet sich ab, dass Frauen und jüngere Menschen eher zu religiöser Relativierung neigen. Insgesamt wird deutlich, dass viele Geflüchtete sich eine intensivere religiöse Betätigung zwar wünschen, aber durch logistische Herausforderungen (Mangel an muttersprachlichen Gemeinden, Herausforderungen des Alltags) davon abgehalten werden.

Lena Kahle greift ein Thema auf, das trotz seiner gesellschaftlichen Wichtigkeit erst selten untersucht wurde. Sie untersucht, wie die Merkmale Migration und Religion von Lehrkräften zur Differenzierung und Klassifikation von Schüler:innen herangezogen werden. Damit bewegt sie sich auf dem Feld kritischer Rassismusforschung, geht es doch um Kategorisierungen. Die Ergebnisse der halboffenen Experteninterviews zeigen, dass eine Übersetzung der schwierigen Lehrkraft-Schüler-Interaktion versucht, den Raum für didaktische Prinzipien zu öffnen, aber auch in manifeste Grenzziehung umschlägt, um Autorität zu erlangen.

Zwei Beiträge in diesem Sonderband schauen auf Religionsgruppen, zu denen bisher wenige Untersuchungen vorliegen. Anna Flack untersucht russlanddeutsche Baptist:innen, die nach Bolivien migriert sind (Flack 2022). Konkretes Ziel sind sozialen Netzwerke und die Vergesellschaftungspraktiken der BewohnerInnen einer multiethnisch geprägten Kleinstadt in Bolivien. Dabei bewegen sich ihre Überlegungen entlang einer Entmigrantisierung der Migrationsforschung: Anstatt Akteur:innen entlang migrantischer, ethnischer oder religiöser Kategorien auszuwählen, wird der Fokus auf konkrete lokale Begegnungsorte als Ausgangspunkt für eine möglichst breite Akteursgewinnung gewählt. Hüseyin I. Cicek befasst sich mit den religionspolitischen Herausforderungen von Alevit:innen (Çiçek 2022). Aus seiner Sicht sind die politischen, religiösen und gesellschaftlichen Forderungen der Alevit:innen in der Türkei keine, die die türkische Nation oder Identität untergraben. Vielmehr ist es das Versäumnis des türkischen Staates, bspw. die Alevit:innen in Identitäts- und Religionsfragen als gleichberechtigt anzuerkennen, was u. a. zur Entstehung von Gegensätzen und Dichotomien zwischen den jeweiligen Gruppen geführt hat. Bei beiden Beiträgen handelt es sich um konzeptionelle Überlegungen.

Die Zusammenschau der Beiträge dieses Special Issues vermittelt einen ersten Eindruck über die große Bandbreite der Forschung, die das Themenfeld „Religion und Migration“ zu bieten hat. Seine große Vielfalt ist damit jedoch noch lange nicht ausgeschöpft – weder thematisch, noch was die beforschten Gruppen anbelangt. Eine breit aufgestellte datenbasierte Forschung (quantitativ wie qualitativ) zu Migration und Religion ist nicht allein akademisches Wunschdenken, sondern gesellschaftlich notwendig.

Religion und Religiosität hat echte soziale Folgen, auch heute noch und nicht nur wegen Migration. Von religiöser Normadhärenz betroffen sind Bildungs- und Erwerbsentscheidungen sowie die Entscheidung für Lebensstile mit Tendenz gegen die Chancengleichheit von Mann und Frau. Religiosität beeinflusst Wertvorstellungen und Haltungen zu Themen, die die Gesellschaft polarisieren und spalten können, wie Abtreibung, pränatale Implantationsdiagnostik, Sterbehilfe und Impfpflicht. Und nicht zuletzt bietet Religion und Religiosität wie bereits mehrfach angesprochen eine Projektionsfläche für Ressentiments gegenüber anders Denkenden und Glaubenden.

Neben all diesen Aspekten leistet Religion, auch das zeigt die Forschung, einen Beitrag für gesellschaftlichen Zusammenhalt: Religiöse Organisationsformen führen Menschen zusammen, die aufgrund von Bildung, sozialem Status oder Lebensphase im Alltag keine Berührungspunkte haben. Sie sind Bildungs‑, Gesundheits- und Wohltätigkeitsdienstleister und stellen gerade in strukturschwachen Gegenden sowohl in der Stadt als auch im ländlichen Raum all dies oftmals als Kollektivgut bereit. Und Menschen verschiedener Religionen sind qua ihres Glaubens bereit, sich an der Bereitstellung von Kollektivgütern zu beteiligen. Dies zeigte sich beispielsweise während der Flüchtlingskrise 2015/2016, in der viele Menschen mit Migrationshintergrund und nicht christliche Gemeinden die Geflüchteten beim Ankommen begleitet und unterstützt haben (Nagel und El-Menouar 2019).

Die Beiträge dieser Special Section verdeutlichen, dass der Wissenschaft bei der Erforschung von Phänomenen, die mit Migration und Religion zusammenhängen, drei wichtige Funktionen zukommt: Erstens, die Debatte um Religion und Migration durch qualitative und quantitative empirische, aber auch datenbasierte Forschung zu versachlichen. Zweitens, gesellschaftliche Folgen von Religion und Migration aufzuzeigen und zu erforschen, mit welchen Instrumenten politischer Polarisierung entgegengewirkt und gesellschaftlicher Zusammenhalt unter den Bedingungen einer Einwanderungsgesellschaft gestärkt werden kann. Und drittens zu zeigen, wo Religion als Brücke zwischen Migrant:innen und autochthoner Bevölkerung dienen kann. Wir hoffen, dass die Special Section und ihre Beiträge ein Anstoß für noch mehr Forschende ist, sich mit dem wichtigen Thema Religion und Migration auseinanderzusetzen.