1 Einleitung

Gesellschaftliche Krisenzeiten sind von Gefühlen der Unsicherheit und des Kontrollverlusts sowie von Existenzängsten in der Bevölkerung geprägt, was sich auch im Zuge der COVID-19-Pandemie deutlich zeigte und zeigt (Kirchler et al. 2020). In Zeiten der Krise suchen Individuen Antworten auf komplexe Fragen; sie suchen nach Lösungen, um die Welt, in der sie leben, und aktuelle Geschehnisse besser zu verstehen. Offizielle Statements der politischen und medialen Öffentlichkeit sind in diesen von Unsicherheit geprägten Zeiten jedoch für manche Bevölkerungsgruppen nicht immer zufriedenstellend, was zu einer Suche nach und Offenheit gegenüber alternativen Erklärungen führt (Konkes und Lester 2015). In diesem Beitrag möchten wir unterschiedliche Phänomene fokussieren, die für Menschen die Funktion einer Sinnstiftung erfüllen und insbesondere in Krisenzeiten besonders relevant sind. Einerseits sind es religiöse Zugehörigkeit, religiöser Glaube und Spiritualität, die seit jeher eine Möglichkeit bieten, schicksalhafte Ereignisse mit Sinn zu füllen und einem Gefühl des Kontrollverlusts entgegenzuwirken (Kay et al. 2010). Andererseits verdeutlichen zahlreiche Studien aus unterschiedlichen Disziplinen, dass der Glaube an Verschwörungsmythen in krisenhaften Zeiten, die von Unsicherheit geprägt sind, zunimmt (Douglas et al. 2017; van Prooijen und Douglas 2017). Beide angesprochen Phänomene – religiöser bzw. spiritueller Glaube wie auch Verschwörungsglaube – können demnach als Bewältigungsstrategien in schicksalhaften Phasen interpretiert werden, da sowohl religiöse und spirituelle wie auch verschwörungsmythische Glaubensüberzeugungen potenzielle Erklärungen für das Unerklärliche liefern, obgleich sie sich einer rationalen Verifikation entziehen. In diesem Kontext untersuchen – insbesondere theoretische – Studien mehr und mehr den Zusammenhang zwischen Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsglauben (Robertson 2015, 2016; Dyrendal et al. 2018a; Wood und Douglas 2018). Es stellt sich die Frage, ob in modernen, säkularisierten Gesellschaften der Glaube an Verschwörungsmythen ein Ersatz für religiösen Glauben bieten kann (Robertson 2016). Im Kontext der COVID-19-Pandemie wird auch vermehrt empirisch zu dem Thema geforscht, wenn auch mit teils kontroversen Resultaten (z. B. Jasinskaja-Lahti und Jetten 2019; Gligoric et al. 2021; Ladini 2021; Frenken et al. 2022; Lowicki et al. 2022). Es erscheint insbesondere eine getrennte Betrachtung der beiden Konstrukte Religiosität und Spiritualität essenziell, um das Phänomen Verschwörungsglauben erklären zu können.

In dieser Studie arbeiten wir zunächst die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Funktionen von Religiosität, Spiritualität und dem Glauben an Verschwörungsmythen in Zeiten gesellschaftlicher Krisen theoretisch heraus, um diese schliesslich empirisch zu untersuchen. Diese Studie widmet sich daher folgender Forschungsfrage: Wie hängen die individuelle Religiosität und Spiritualität mit der Affinität gegenüber Verschwörungsmythen zusammen? Die Studie basiert auf Daten einer repräsentativen Online-Bevölkerungsbefragung im April 2022 in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz. Ziel des Beitrages ist es, empirische Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsaffinität zu liefern und die diesbezügliche Forschungslücke zu füllen, indem wir uns auf aktuelle Daten im Kontext der COVID-19-Pandemie beziehen.

Die Schweiz ist ein Beispiel für eine moderne, westliche und säkularisierte Demokratie, die – obwohl die Resilienz gegenüber Misinformationen (als Sammelbegriff für die Verbreitung sämtlicher Informationen, die nicht der Wahrheit entsprechen (Scheufele und Krause 2019)) in der Schweiz vergleichsweise hoch ist (Humprecht et al. 2020) – auch wie andere Länder während der COVID-19-Pandemie mit der Verbreitung von Verschwörungsmythen konfrontiert war (Vogler et al. 2021). Die religiöse Landschaft in der Schweiz zeichnet sich durch einen hohen Anteil an Katholikinnen und Katholiken (34,4 %) und Evangelisch-Reformierten (22,5 %) aus. 5,4 % der Bevölkerung gehören muslimischen und aus dem Islam hervorgegangenen Gemeinschaften an, 7,2 % anderen religiösen Gemeinschaften und 29,4 % der Schweizer Bevölkerung haben keine Religionszugehörigkeit (Bundesamt für Statistik 2022a). Obwohl der Anteil der Konfessionslosen zunimmt, waren laut Bundesamt für Statistik (2022a) im Jahr 2019 für 56 % der Bevölkerung Religion und Spiritualität „in schwierigen Momenten des Lebens“ eher oder sehr wichtig. Es kann davon ausgegangen werden, dass unabhängig von einer religiösen Zugehörigkeit Religiosität und Spiritualität weiterhin für die Mehrheit der Bevölkerung vor allem in Krisenzeiten einen hohen Stellenwert einnehmen.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Verschwörungsmythen in Zeiten gesellschaftlicher Krisen

Die COVID-19-Pandemie ist geprägt von der Verbreitung von Verschwörungsmythen, die Antworten auf komplexe Fragen bieten sollen, während offizielle Stellungnahmen der Regierungen, Medien und von wissenschaftlichen Akteurinnen und Akteuren nicht mehr als zufriedenstellend wahrgenommen werden (Bruns et al. 2020). Generell fallen unter Verschwörungsmythen jene Annahmen, die davon ausgehen, dass gesellschaftliche Ereignisse im Geheimen von meist elitären Gruppen gesteuert werden; nichts passiere aus Zufall und unterschiedliche Ereignisse würden miteinander in Zusammenhang stehen (Clarke 2002; Castanho Silva et al. 2017; Douglas et al. 2019). Verschwörungsmythen stellen sich in den seltensten Fällen als wahr heraus, doch sind sie gleichzeitig in der Regel weder eindeutig falsifizierbar noch verifizierbar. Wir ziehen in diesem Beitrag daher den Begriff der ‚Verschwörungsmythen‘ jenem der ‚Verschwörungstheorien‘ vor, da letzterer eine potenzielle Falsifizier- oder Verifizierbarkeit implizieren würde (Spiegel et al. 2020). Zudem fasst der Mythenbegriff den Kern der Verschwörungserzählungen klarer: Es handelt sich vielmehr um Narrationen und alternative Weltdeutungen als um verifizierte Erklärungen von konkreten Ereignissen oder Phänomenen (Spiegel et al. 2020). Mythen zeugen von paradigmatischem Charakter, um so bestimmten Ereignissen Bedeutung zu verleihen (Dyrendal et al. 2018a) – wie es auch bei religiösen Erzählungen der Fall ist.

Die Diffusion alternativer Narrative – in diesem Fall von Verschwörungsmythen – ist kennzeichnend für Krisenzeiten (Imhof 1996; van Prooijen und Douglas 2017). Im Gegensatz zu strukturzentrierten Phasen, werden in Zeiten der Krise Leitbilder der öffentlichen Sphäre, also die öffentliche Meinung aus Politik, Medien und Ökonomie, stärker hinterfragt (Imhof 1996). Wir leiten den Krisenbegriff öffentlichkeitstheoretisch her, wonach Krise nach Imhof (1996, S. 211) als die „Erosion vormals selbstverständlicher, konsensuell geteilter Gegenwartsinterpretationen wie Zukunftsperspektiven und damit die Aufgabe vieler Konventionen, Denkgewohnheiten und Entwicklungspfade“ definiert wird. Es handelt sich demnach um ein unerwartetes Ereignis, das die Routine durchbricht und wodurch ein Rückgriff auf etablierte Entscheidungen und Normen nicht mehr möglich ist (Oevermann 2016). Die COVID-19-Pandemie ist demnach als traumatische Krise (Oevermann 2016) zu interpretieren, die in diesem Fall durch ein negatives Ereignis und einer ungewissen Zukunft geprägt ist. Alternative Gruppierungen erlangen in diesen Phasen eine stärkere Deutungsmacht, indem sie alternative Weltdeutungen in den Diskurs bringen, die jene Antworten bringen sollen, welche die politische und mediale Öffentlichkeit nicht bietet (Imhof 1996). Verschwörungsmythen erfüllen ebendiese Funktion, indem sie einerseits die öffentliche Meinung konkurrieren (Schwaiger 2022) und in Zeiten der Unsicherheit und des gefühlten Kontrollverlusts Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Ereignisse bieten (Konkes und Lester 2015; van Prooijen und Douglas 2017). Aktuelle Studien verdeutlichen, dass im Zuge der COVID-19-Pandemie die Verbreitung von Verschwörungsmythen zugenommen hat (Bruns et al. 2020; Gemenis 2021; Pummerer et al. 2021; Srol et al. 2021). Die gestiegene Verbreitung von Verschwörungsmythen ist jedoch nicht nur in der aktuellen Krisenphase begründet, sondern steht darüber hinaus mit dem digitalen Wandel respektive der Etablierung von Digitalplattformen in Zusammenhang. Obwohl Verschwörungsmythen aus historischer Sicht schon immer existierten, erlauben es die Funktionen von digitalen Medien auch Laien, Inhalte selbstständig aufzubereiten und zu verbreiten, ohne dass diese auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft oder Quellen transparent angegeben werden müssen, wie es bei professionellen journalistischen Inhalten der Fall ist (Neuberger 2018; Schwaiger 2022). Studien verdeutlichen, dass sich vor allem polarisierende, skandalisierende Inhalte auf sozialen Medien stärker verbreiten als wissenschaftlich fundierte Informationen (Konkes und Lester 2015; Zollo et al. 2015).

Insgesamt lassen sich sowohl sozialer als auch digitaler Wandel als Treiber für die Verbreitung von Verschwörungsmythen festhalten. Es sind insbesondere Krisenzeiten, in denen Personen anfälliger für den Glauben an Verschwörungsmythen werden, da sie hier mit Gefühlen der Unsicherheit und Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen konfrontiert sind (van Prooijen und Douglas 2017; Bode und Vraga 2018; Biddlestone et al. 2020). Die COVID-19-Pandemie ist dementsprechend als gesellschaftliche Krisenphase zu betrachten, die schliesslich auch zu persönlichen Krisen führen kann. Wir stellen daher folgende Hypothesen auf:

H1

Je höher die negative emotionale Betroffenheit während der COVID-19-Pandemie, desto grösser ist die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen.

H2

Je ausgeprägter die positiv empfundenen Emotionen während der COVID-19-Pandemie, desto geringer ist die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen.

Es stellt sich dabei die Frage, inwieweit Religiosität und Spiritualität im Vergleich zur emotionalen Betroffenheit als erklärende Faktoren hinsichtlich der Affinität gegenüber Verschwörungsmythen wirken. Fraglich ist zudem, ob Verschwörungsglaube auch einen Ersatz für religiösen Glauben darstellen kann, zumal in modernen, säkularisierten Gesellschaften das Vertrauen in göttliche Fügungen an Relevanz verliert (Robertson 2015). Im folgenden Abschnitt wird daher die Rolle von Religiosität und Spiritualität in Krisenzeiten erörtert, bevor der Zusammenhang zwischen Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsglauben untersucht wird.

2.2 Zur Rolle von Religiosität und Spiritualität in Krisenzeiten

Kontingenzbewältigung im Sinne einer Unterstützung der Menschen bei existenziell bedrohlichen Situationen im Leben ist eine zentrale Funktion von Religion (Höllinger und Aschauer 2022). Ähnlich dem Glauben an Verschwörungsmythen, der in Krisenzeiten zunimmt, steigt auch religiöser Gaube bei bedrohenden und mit Unsicherheiten verbundenen Ereignissen (Wood und Douglas 2018). Die Relevanz von Religiosität in Krisenzeiten wie auch individueller Spiritualität – die in diesem Beitrag in Abgrenzung zur traditionellen, konfessionellen und institutionellen Religiosität betrachtet wird –, wird auch im Kontext der COVID-19-Pandemie durch aktuelle Studien bestätigt. Eine Bevölkerungsbefragung in Österreich während der Pandemie kam beispielsweise zu dem Befund, dass für jene Personen, die sich stark durch das Virus bedroht fühlten, der Grad an Religiosität wie auch Spiritualität ausgeprägter war als bei Personen, die diese Bedrohung geringer wahrgenommen haben (Höllinger und Aschauer 2022). Weiter deuten die Daten darauf hin, dass religiöse Personen ein höheres Institutionenvertrauen respektive Vertrauen in die Politik aufweisen, während spirituelle Personen der Krisenpolitik deutlich kritischer gegenüber stehen und beispielsweise eine geringere Bereitschaft zeigen, Massnahmen einzuhalten (Höllinger und Aschauer 2022). Auch international zeigen sich ähnliche Befunde, welche die Relevanz von Religion und Spiritualität in Pandemiezeiten verdeutlichen. Eine Befragungsstudie in Polen zeigt, dass etwa ein Fünftel der Befragten während der Pandemie mehr Zeit für religiöse Praktiken wie das Beten aufgebracht hat als vor der Krise (Boguszewski et al. 2020). Auch in Brasilien bestätigt sich das Resultat, religiöser und spiritueller Glauben soll einer Onlinebefragung zufolge eine Bewältigungsstrategie in Pandemiezeiten sein. Religiöse und spirituelle Aktivitäten korrelieren demnach mit geringerer Besorgnis und weniger Angst (Lucchetti et al. 2021). Dies deckt sich mit dem Befund von Roberto et al. (2020), die mit einer quantitativen und qualitativen Studie den positiven Zusammenhang zwischen Spiritualität und Resilienz während Krisenzeiten für Frauen bestätigen. Der Zusammenhang wird durch eine internationale Studie von Bentzen (2021) verdeutlicht. Die Autorin zeigt, dass im Frühjahr 2020 auch über die Plattform Google die Suche nach „Prayer“ und verwandten Begriffen laut Google Trends in 107 Ländern signifikant zugenommen hat.

Die aufgeführten Studien verdeutlichen, dass nicht immer eine eindeutige definitorische Trennung zwischen den Begriffen Religiosität und Spiritualität erfolgt. Wir möchten in dieser Studie konkret auf die unterschiedlichen Effekte der beiden Phänomene im Zusammenhang mit Verschwörungsglauben eingehen. Daher beziehen wir uns theoretisch wie auch methodisch auf zwei Definitionen, welche die beiden Konstrukte annähernd trennscharf erfassen. Zum einen beziehen wir uns auf den Religiositätsbegriff nach Huber (2008), der unterschiedliche Dimensionen von Religiosität definiert. Huber (2008) fasst unter diese Kerndimensionen den Intellekt, der sich in dem Interesse an religiöse Fragen (z. B. Sinnsuche) manifestiert, den Glauben oder die Ideologie (z. B. Haltung gegenüber Transzendenz), die öffentliche Praxis (z. B. Gottesdienstbesuch), die private Praxis (z. B. Gebet) und die Erfahrung (z. B. religiöse Gefühle). Zum anderen beziehen wir uns auf die Definition von Spiritualität nach Houtman und Tromp (2021). Die Autoren grenzen Spiritualität bewusst von einem christlich-geprägten Religiositätsbegriff ab, der beispielsweise durch einen Glauben an Gott und durch institutionelle Aspekte geprägt ist. Houtman und Tromp (2021) sprechen daher von einer post-christlichen Spiritualität, die als Weltanschauung zu deuten ist, geprägt von der Annahme eines ganzheitlichen und lebendigen Kosmos, einer Immanenz des Sakralen und dem Gefühl eines spirituellen Selbst, das losgelöst von bestimmten religiösen Traditionen existiert. Zusammengefasst bezieht sich Huber (2008) stärker auf eine institutionelle Form von Religiosität, während Houtman und Tromp (2021) ebendies als Abgrenzungsmerkmal betrachten. Gleichzeitig gibt es Überschneidungen in den Konzepten. So ist davon auszugehen, dass Spiritualität auch in religiösen, institutionalisierten Kontexten ein zentrales Phänomen ist.

2.3 Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsmythen

Der Zusammenhang zwischen Religiosität, Spiritualität und dem Glauben an Verschwörungsmythen wird seit einigen Jahren insbesondere theoretisch bearbeitet (z. B. Johannsen 2010; Ward und Voas 2011; Franks et al. 2013; Robertson und Dyrendal 2018; Wood und Douglas 2018; Parmigiani 2021). Aber auch empirisch wird das Thema mehr und mehr untersucht (z. B. Jasinskaja-Lahti und Jetten 2019; Gligoric et al. 2021; Ladini 2021; Frenken et al. 2022; Lowicki et al. 2022) – insbesondere aufgrund der Zunahme an Verschwörungsmythen im Kontext der COVID-19-Pandemie –, wenn auch in diesem Bereich noch weiterer Forschungsbedarf besteht.

Der theoretische Diskurs befasst sich vorwiegend mit der Frage, wie der Glaube an Verschwörungsmythen in Relation zu religiösem Glauben steht respektive ob Verschwörungsglaube ein Substitut für Religiosität oder Spiritualität darstellen kann. Robertson et al. (2018) unterscheiden zunächst zwischen den verschiedenen möglichen Erscheinungsformen von Verschwörung im Kontext Religion: Denkbar seien den Autoren zufolge Verschwörungsmythen in Religionen, z. B., wenn religiöse Gruppierungen Mythen über bestimmte Ereignisse verbreiten. Weiter gäbe es Verschwörungsmythen über Religionen und schliesslich Verschwörungsmythen als Religion (Robertson et al. 2018). Wood und Douglas (2018) gehen in diesem letzteren Zusammenhang davon aus, dass Verschwörungsmythen ähnliche Bedürfnisse adressieren wie auch Religionen, indem sie Erklärungen bieten und Ordnung in der zunehmend komplexer werdenden Welt schaffen, insbesondere in Situationen, die gefühlte Unsicherheit hervorrufen. Glaube an Verschwörungsmythen ist wie auch religiöser Glaube in diesem Kontext sinn- und bedeutungsstiftend und bietet (pseudo‑)transzendentale, unüberprüfbare Erklärungen für Phänomene, die ansonsten zusammenhanglos und unerklärbar erscheinen würden (Wood und Douglas 2018). Auch aufgrund der Annahmen, dass Verschwörungsmythen ähnlich wie religiöse Erzählungen schwer zu falsifizieren sind und sie identitätsstiftend wirken, werden sie als möglicher Religionsersatz in säkularisierten Gesellschaften betrachtet (Johannsen 2010). Verschwörungsmythen weisen zudem Ähnlichkeiten zu religiösen Ritualen auf, indem gemeinsame Antworten auf komplexe Fragen im Sinne eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses gegeben werden, was zudem gruppenbildend wirkt (Franks et al. 2013) – Aspekte, die beispielsweise von Wood und Douglas (2018) nicht als gemeinsamer Nenner zwischen Religiosität und Verschwörungsdenken betrachtet werden. Zudem unterscheiden sich den Autoren zufolge zwischen religiösen und verschwörungsmythischen Gruppierungen die Vorstellungen von einer gerechten Welt.

Empirische Studien, die den Zusammenhang zwischen Religiosität und Verschwörungsglauben untersuchen, kommen zu unterschiedlichen Resultaten. Eine Metastudie mit Befragungsdaten aus Deutschland, Polen und den Vereinigten Staaten kommt zu dem Befund, dass Religiosität positiv mit Verschwörungsdenken korreliert (Frenken et al. 2022). Die Autoren sehen dies in den vergleichbaren Erklärungsstilen und Ideologien begründet, wonach sowohl Religiosität als auch Verschwörungsmythen implizieren, dass mächtige Kräfte Schicksale der Welt bestimmen. Eine weitere Studie aus Polen bestätigt, dass Personen, die während der Pandemie mehr Zeit mit religiösen Praktiken verbracht haben, eher Massnahmen der Regierungen nicht beachteten und eine höhere Affinität gegenüber dem Glauben an Verschwörungsmythen haben (Boguszewski et al. 2020). Zu einem differenzierteren Befund kommen Lowicki et al. (2022), wonach nur eine besonders starke Ausprägung fundamentalistischer Religiosität positiv mit Verschwörungsglauben korreliert, während die auch für die vorliegende Studie genutzte Zentralitätsskala von Religiosität (Huber 2008) nicht oder sogar negativ damit in Zusammenhang steht. Auch Ladini (2021) spricht sich für einen differenzierten Blick auf das Thema aus, da in einer empirischen Studie in Italien ausschliesslich alternative Religiosität, gemessen an dem Glauben an Reinkarnation, mit Verschwörungsglauben positiv korreliert.

Während Studien mit einem Fokus auf Religiosität zu unterschiedlichen Erkenntnissen gelangen, scheint vor allem Spiritualität ein Treiber für Verschwörungsglauben zu sein. So zeigt eine aktuelle Studie von Gligoric et al. (2021), dass neben den psychologischen Faktoren Narzissmus und einer geringeren Ausprägung analytischen Denkens vor allem Spiritualität den Glauben an Verschwörungsmythen im Zusammenhang mit COVID-19 beeinflusst. Die Autorinnen und Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf die „New Age Spirituality“ (Gligoric et al. 2021, S. 1172), die die Grundlage bietet für den von Ward und Voas (2011) geprägten Begriff der „Conspirituality“. Conspirituality umschreibt hybride Glaubenssysteme und Weltanschauungen wie auch eine politisch-spirituelle Philosophie, wonach davon ausgegangen wird, dass geheime Gruppen die politische und soziale Ordnung kontrollieren, wie auch steuern, und dass nichts zufällig passiert. Gleichzeitig – so die Autor:innen – gäbe es ein neues Paradigma des Bewusstseins, das sich in der New Age Spirituality manifestiert und eine problemlösende Rolle einnimmt (Ward und Voas 2011; Asprem und Dyrendal 2015). Ähnlichkeiten zwischen Spiritualität und Verschwörungsglauben scheinen daher gegeben, unter anderem aufgrund der unterstellten Annahme, dass nichts zufällig passiere respektive Ereignisse miteinander in Zusammenhang stehen und nichts so ist, wie es scheint (Gligoric et al. 2021).

Obwohl in einigen Studien Spiritualität und Religiosität im Zusammenhang mit Verschwörungsglauben als ein Konstrukt betrachtet werden (z. B. Marques et al. 2021), zeigen die unterschiedlichen Resultate im aktuellen Forschungsstand, dass eine Trennung von Spiritualität und Religiosität essenziell ist. Aufgrund der erörterten aktuellen Studienbefunde und den Ähnlichkeiten zwischen Religiosität und Verschwörungsmythen gehen wir von einem positiven Zusammenhang zwischen den beiden Variablen aus. Zudem postulieren wir, dass Spiritualität aufgrund der Popularität von New Age Movements und ihren esoterischen Zügen (Knoblauch 2000), die sich auch in Verschwörungsmythen wiederfinden (Schwaiger 2022), einen stärkeren Zusammenhang mit der Affinität gegenüber Verschwörungsmythen aufweist als Religiosität.

H3

Je höher die Religiosität, desto höher die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen.

H4

Je höher die Spiritualität, desto höher die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen.

H5

Spiritualität hängt stärker mit der Affinität gegenüber Verschwörungsmythen zusammen als Religiosität.

Die Mehrheit aktueller Studien in dem Themenbereich Religiosität, Spiritualität und Verschwörung betrachtet die von den Befragten selbst eingeschätzte Religiosität und Spiritualität als mögliche Prädiktoren. Die Konfessionszugehörigkeit wird dabei nur selten herangezogen (z. B. Lobato et al. 2014). Wir möchten daher untersuchen, ob es Unterschiede zwischen den Konfessionen hinsichtlich der Affinität gegenüber Verschwörungsmythen gibt. Dabei gehen wir davon aus, dass in modernen, säkularisierten Gesellschaften wie der Schweiz, in der die institutionelle Kirchenbindung abnimmt (Bundesamt für Statistik 2022a), die selbst eingeschätzte Religiosität und Spiritualität stärkere Effekte auf Verschwörungsglauben hat als die Konfessionszugehörigkeit.

H6

Religiosität hängt stärker mit der Affinität gegenüber Verschwörungsmythen zusammen als die Konfessionszugehörigkeit.

H7

Spiritualität hängt stärker mit der Affinität gegenüber Verschwörungsmythen zusammen als die Konfessionszugehörigkeit.

3 Methodik

3.1 Daten

Die Daten wurden mittels einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz vom 31. März bis zum 19. April 2022 erhoben. Der Online-Fragebogen wurde auf Deutsch erstellt und auf Französisch übersetzt. Die Befragung wurde in Kooperation mit dem Marktforschungsinstitut Intervista (2022) durchgeführt, das aus seinem zertifizierten Online-Panel mit über 100.000 aktiven Panelisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der deutsch- und französischsprachigen Schweiz rekrutierte. Der Fragebogen beinhaltete Fragen zu Religiosität und Spiritualität im Allgemeinen, wie auch der COVID-19-Pandemie und damit in Zusammenhang stehende Fragen zur Verschwörungsaffinität und emotionalen Betroffenheit. Insgesamt nahmen 1221 Personen zwischen 18 und 74 Jahren an der Befragung teil. Die französischsprachige Region wurde überproportional abgedeckt und in der Gesamtstichprobe entsprechend der Anteile an der Wohnbevölkerung zurückgewichtet. Innerhalb von vier Grossregionen wurden proportional zur Bevölkerungsverteilung Quotenzellen interlocked nach Geschlecht und Alter gebildet, wodurch auch die schweizweite Bildungsverteilung gut abgebildet wird (Bundesamt für Statistik 2022b). Der für die Analysen gewichtete Datensatz besteht somit aus 50 % männlichen und 49,5 % weiblichen Befragten; 0,5 % der Befragten haben eine nonbinäre Geschlechtszugehörigkeit angegeben. Die gewichtete Alters- und Bildungsverteilung wird in Tab. 1 zusammengefasst.

Tab. 1 Alters- und Bildungsverteilung

3.2 Operationalisierung

Religionszugehörigkeit

Die Religionszugehörigkeit wurde als nominale Variable abgefragt. Wir unterscheiden in dieser Studie zwischen (1) römisch-katholisch; (2) evangelisch-reformiert; (3) freikirchlich; (4) sonstige religiöse Zugehörigkeit (z. B. orthodox, muslimisch, jüdisch, hinduistisch, buddhistisch oder sonstige) und (5) keine Religionszugehörigkeit.

Religiosität

Religiosität wurde unabhängig von der Religionszugehörigkeit abgefragt. Es handelt sich um fünf Items, die auf einer fünfstufigen Likert-Skala abgefragt wurden (z. B. „Wie oft kommt es vor, dass sie über religiöse Themen nachdenken?“). Die Items wurden von der Skala zur Messung von Religiosität von Huber (2008) übernommen (siehe Anhang) (α = 0,89; M = 2,43).

Spiritualität

Die Spiritualitätsskala besteht aus sieben Items, die ebenfalls auf einer fünfstufigen Likert-Skala abgefragt wurden (z. B. „Die persönliche Spiritualität ist wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer religiösen Tradition“). Die Skala wurde aus dem Englischen von Houtman und Tromp (2021) übernommen und ins Deutsche übersetzt (siehe Anhang) (α = 0,88; M = 3,29).

Die Skalen Religiosität und Spiritualität wurden zudem mittels Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation auf ihre Trennschärfe hin geprüft. Die resultierende Lösung mit zwei Komponenten, die einen Eigenwert grösser als eins aufweisen, entspricht den beiden Skalen (vgl. Tab. 2). Somit konnte die Trennschärfe der beiden Konstrukte (und Relevanz dieser) empirisch bestätigt werden. Die Lösung zeigt zudem, dass zwei Items der Spiritualitätsskala („Das gesamte Universum entspringt der einen universellen spirituellen Energie.“ und „Es gibt eine Art Geist oder Lebenskraft, die alles Leben durchdringt.“) zwar stärker auf die Komponente Spiritualität rotieren, aber auch auf der Komponente Religiosität schwache bis mittlere Ladungen erzielen. Daraus kann geschlossen werden, dass Religiosität auch spirituelle Einstellungen integriert, während sich dies umgekehrt nicht zeigt.

Tab. 2 Hauptkomponentenanalyse Religiosität und Spiritualität

Emotionale Betroffenheit während der Krise

Die Befragten mussten auf einer fünfstufigen Likert-Skala angeben, wie häufig sie unterschiedliche Emotionen während der COVID-19-Pandemie empfunden haben (z. B. Einsamkeit, Angst, Kontrollverlust). Die Items wurden übernommen von der „Studie zu Religion und gesellschaftlichem Zusammenhalt in Zeiten der Corona-Pandemie“ der Universität Münster (Yendell et al. 2021). Aus den acht Items wurden zwei Skalen gebildet, um positive Emotionen (3 Items; α = 0,68; M = 3,16) und negative Emotionen (5 Items; α = 0,86; M = 2,43) abzubilden (siehe Anhang).

Affinität gegenüber Verschwörungsmythen

Die Skala zur Messung der Affinität gegenüber Verschwörungsmythen (Schwaiger et al. 2022) besteht aus zwölf Items, die jeweils auf einer fünfstufigen Likert-Skala beantwortet wurden (siehe Anhang). Die Skala misst Affinität gegenüber Verschwörungsmythen in unterschiedlichen Dimensionen mit jeweils zwei Items, darunter Anti-Elitismus (z. B. „Man muss davon ausgehen, dass es geheime Eliten gibt, die die Welt kontrollieren“), Populismus (z. B. „Die Bürger:innen sind sich oft einig, aber die Politiker:innen verfolgen ganz andere Ziele“), Wissenschaftsskepsis (z. B. „Die sogenannte Wissenschaft verleugnet viele Wahrheiten, die nicht in ihr Konzept passen“), Anti-System-Einstellungen (z. B. „Das gesamte System ist im Kern verrottet“), Links-Extremismus (z. B. „Die Mächtigen sind daran interessiert, dass soziale Ungleichheit und Armut bestehen bleibt“), und Rechts-Extremismus (z. B. „Uns werden Veränderungen aufgezwungen, die unsere Kultur gefährden“). Es wurden bewusst keine konkreten Verschwörungsmythen abgefragt, sondern breitere Einstellungsmuster als Prädisposition für Verschwörungsglauben. Aus allen Items wurde ein Index gebildet (α = 0,94; M = 2,77).

Soziodemographische Variablen

Sämtliche Analysen wurden kontrolliert für Geschlecht (männlich, weiblich, divers), Alter (metrisch) und Bildung (niedrig, mittel, hoch).

4 Resultate

Die Verteilung nach Religionszugehörigkeiten ist vergleichbar mit der Schweizer Bevölkerungsverteilung (Bundesamt für Statistik 2022a), mit einem resultierenden Anteil von 30,4 % Katholikinnen und Katholiken, 25,3 % Evangelisch-Reformierten, 3,5 % Freikirchenmitgliedern, 5,5 % mit einer anderen Religionszugehörigkeit und 35,2 % ohne Religionszugehörigkeit.

Zur Testung der Hypothesen wurden insgesamt vier Regressionsmodelle durchgeführt, um Veränderungen in der Erklärungskraft durch Zunahme von Variablenblöcken zu veranschaulichen. Modell 1 beinhaltet neben den soziodemographischen Variablen Alter, Geschlecht und Bildung die beiden Indices zur emotionalen Betroffenheit während der Krise (positive Emotionen; negative Emotionen). In Modell 2 wurden die religiösen Konfessionen hinzugenommen (römisch-katholisch, evangelisch-reformiert, freikirchlich, sonstige religiöse Zugehörigkeit in Referenz zu keiner Zugehörigkeit). Modell 3 beinhaltet zusätzlich den Religiositätsindex und das finale Modell 4 wurde durch den Spiritualitätsindex ergänzt (vgl. Tab. 3). Durch das schrittweise Vorgehen wird deutlich, dass die Erklärungskraft der Modelle durch Hinzunahme der Konfessionszugehörigkeit in Modell 2 um 1,6 Prozentpunkte steigt; Religiosität als zusätzlicher Prädiktor erhöht die Erklärung in Modell 3 um weitere 1,2 Prozentpunkte. Der grösste Anstieg an Erklärungskraft erfolgt in Modell 4, durch Hinzunahme von Spiritualität als unabhängige Variable, mit einem resultierenden korrigierten R2 von 15,8 %.

Tab. 3 Regressionsanalyse zur Vorhersage von Affinität gegenüber Verschwörungsmythen

Die in Modell 1 signifikanten Prädiktoren Alter, Bildung und negative emotionale Betroffenheit während der COVID-19-Pandemie bleiben auch durch Zunahme weiterer Prädiktoren in den anderen Modellen hochsignifikant. So ist im finalen Modell 4 die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen höher, je älter die Befragten sind (β = 0,103; p = 0,000) und je niedriger der Bildungsgrad ist (β = −0,162; p = 0,000). Das Geschlecht hingegen spielt keine signifikante Rolle in diesem Zusammenhang. Emotionale Betroffenheit hängt sowohl positiv wie auch negativ höchst signifikant mit Verschwörungsaffinität zusammen: Wenn positive Emotionen (z. B. Fürsorge und Liebe von anderen) während bzw. trotz der COVID-19-Pandemie gefühlt wurden, sinkt die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen (β = −0,085; p = 0,003). Noch stärker ist der umgekehrte Effekt: Je ausgeprägter die negative emotionale Betroffenheit (z. B. Kontrollverlust) während der Krise, desto höher ist die Verschwörungsaffinität (β = 0,101; p = 0,001). Die Hypothesen H1 und H2 sind somit bestätigt.

Ein interessantes Bild zeigt sich hinsichtlich der unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten. Im Vergleich zu Personen ohne religiöses Bekenntnis, haben nur sonstige Religionszugehörigkeiten einen positiven Effekt auf Verschwörungsaffinität (Modell 4: β = 0,101; p = 0,001). Demnach kann von einer Zugehörigkeit zu den beiden dominierenden christlichen Kirchen der Schweiz, der römisch-katholischen Kirche und der evangelisch-reformierten Kirche, oder von der Mitgliedschaft in Freikirchen nicht auf eine höhere oder niedrigere Affinität gegenüber Verschwörungsmythen geschlossen werden.

Von besonderem Interesse in dieser Studie ist die Frage, inwiefern Religiosität und Spiritualität auf Verschwörungsaffinität wirken. Hier lohnt sich ein Vergleich zwischen dem Regressionsmodell 3 und Modell 4. Während durch Zunahme des Religiositätsindex in Modell 3 die Erklärungskraft des Modells nur minimal steigt (Korrigiertes R2 = 0,099), obwohl ein hochsignifikanter positiver Effekt von Religiosität auf Verschwörungsaffinität feststellbar ist (β = 0,133; p = 0,000), verschwindet dieser signifikante Effekt in Modell 4 durch Hinzunahme des Spiritualitätsindex als Prädiktor. Zudem steigt die Erklärungskraft von Modell 4 um 5,9 Prozentpunkte auf 15,8 %. Die Resultate des finalen Modells zeigen somit, dass Verschwörungsaffinität durch Spiritualität vorhergesagt wird: Je spiritueller eine Person, desto höher ist die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen (β = 0,283; p = 0,000). Im Vergleich zu den weiteren Prädiktoren handelt es sich um den stärksten Zusammenhang. Höhere Religiosität hingegen wirkt im finalen Modell nicht positiv verstärkend auf Verschwörungsaffinität.

Bezugnehmend auf unsere aufgestellten Hypothesen lässt sich somit festhalten, dass nur Spiritualität einen positiven signifikanten Effekt auf Verschwörungsaffinität hat, wodurch Hypothese H4 bestätigt ist. H3, die davon ausgeht, dass Religiosität ebenso eine beeinflussende Variable ist, kann nicht bestätigt werden. Die Annahme, dass Spiritualität einen stärkeren Effekt auf die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen hat als Religiosität (H5) wird jedoch bestätigt. H6, die davon ausgeht, dass Religiosität stärker mit Verschwörungsaffinität zusammenhängt als die Religionszugehörigkeit, konnte nicht belegt werden, da Religiosität als Prädiktor im finalen Modell keinen signifikanten Effekt aufzeigt. Hingegen hat die Zugehörigkeit zu sonstigen Religionen (z. B. muslimisch, hinduistisch, buddhistisch) einen positiven Effekt auf Verschwörungsaffinität. Schliesslich wird H7 angenommen: Spiritualität hat einen stärkeren Effekt auf die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen als die Religionszugehörigkeit. Wie diese Resultate zu interpretieren sind, wird in der abschliessend Diskussion zusammengefasst.

5 Diskussion

Die zunehmende Verbreitung von Verschwörungsmythen während der COVID-19-Pandemie verstärkte die bereits breite Auseinandersetzung mit der Thematik im wissenschaftlichen Diskurs. Neben den digitalen Möglichkeiten, die eine Verbreitung von nicht verifizierten Inhalten ermöglichen und erleichtern (Mahl et al. 2022), bestätigte sich während der Pandemie die Relevanz von krisenhaften Ereignissen für die Aufnahmebereitschaft von alternativen Weltdeutungen wie Verschwörungsmythen (Imhof 1996, 2011; van Prooijen und Douglas 2017). Der Zusammenhang zwischen Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsglauben, der bislang vorwiegend theoretisch untersucht wurde (z. B. Franks et al. 2013; Robertson 2015; Dyrendal et al. 2018b), erlangte im Kontext der Pandemie neue Aufmerksamkeit für empirische Forschungen. Unter anderem werden die Fragen gestellt, wie Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsglaube zusammenhängen; ob und inwiefern Religiosität respektive Spiritualität eine Art Ersatzreligion darstellen; oder ob Religiosität und Spiritualität die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen in Zeiten der COVID-19-Pandemie erhöhen. Befeuert wurden diese Fragen durch die Annahme, dass insbesondere in krisenhaften Phasen, die von Unsicherheiten und Kontrollverlust geprägt sind, sowohl religiöser Glaube der Kontingenzbewältigung dienlich sein kann (Höllinger und Aschauer 2022), aber auch Verschwörungsglaube (Wood und Douglas 2018). Theoretische Studien sind sich zudem mehrheitlich einig, dass in Bezug auf sinnstiftende Erklärungen für Unerklärliches und gruppenbildende und identitätsstiftende Funktionen Ähnlichkeiten zwischen religiösem und spirituellem Glauben einerseits sowie Verschwörungsglauben andererseits gegeben sind (Johannsen 2010; Franks et al. 2013).

Insbesondere hinsichtlich der Rolle von Religiosität zeigt sich in bisherigen empirischen Studien ein kontroverses Bild. Während manche Studien von einem positiven Zusammenhang zwischen Religiosität und Verschwörungsglauben berichten (Boguszewski et al. 2020; Frenken et al. 2022), sprechen sich andere Autorinnen und Autoren für eine differenzierte Betrachtung aus, wonach beispielsweise nur bestimmte Ausprägungen von Religiosität mit Verschwörungsaffinität korrelieren, oder sogar negative Zusammenhänge festgestellt werden (Ladini 2021; Lowicki et al. 2022). Insbesondere die Abgrenzung zwischen Religiosität und alternativer Religiosität (Ladini 2021) respektive Spiritualität scheint im Kontext Verschwörungsaffinität von Bedeutung zu sein. So gibt es Befunde, dass Spiritualität den Glauben an Verschwörungsmythen positiv beeinflusst, gestützt durch die Annahme eines neuen Glaubenssystems der „Conspirituality“ (Ward und Voas 2011; Asprem und Dyrendal 2015; Gligoric et al. 2021).

Aufgrund der teils kontroversen bisherigen Befunde war es Ziel der vorliegenden Studie, den Zusammenhang zwischen Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsaffinität empirisch zu überprüfen. Dabei war es uns insbesondere ein Anliegen, Religiosität und Spiritualität getrennt voneinander als Treiber für Verschwörungsaffinität zu betrachten. Dabei stützten wir uns auf etablierte Skalen der Religiosität (Huber 2008) und Spiritualität (Houtman und Tromp 2021), die im Rahmen dieser Studie mittels Hauptkomponentenanalyse auf ihre Trennbarkeit hin untersucht wurden. Die Analyse zeigt deutlich, dass die zwei theoretisch hergeleiteten Konstrukte Religiosität und Spiritualität empirisch getrennt voneinander betrachtet werden müssen, wenn auch einzelne Items der Spiritualität auch auf der Religiositätsskala höhere Ladungen erzielen. Diese Trennung von Religiosität und Spiritualität hilft schliesslich bei der Interpretation der Ergebnisse. An dieser Stelle muss jedoch angemerkt werden, dass die Resultate und deren Interpretation durch ebendiese Definitionen von Religiosität (Huber 2008) und Spiritualität (Houtman und Tromp 2021) klar bedingt sind. Die Wahl anderer theoretischer Definitionen und Operationalisierungen, die beispielsweise beide Konstrukte ähnlicher definieren, hätten das Ergebnis der Hauptkomponentenanalyse potenziell verändert.

Durch die insgesamt vier Regressionsmodelle zur Vorhersage von Affinität gegenüber Verschwörungsmythen konnte deutlich gezeigt werden, durch welche Prädiktoren die Erklärungskraft der Modelle gestärkt wird. So konnten zunächst die Hypothesen bestätigt werden, wonach emotionale Betroffenheit in Krisenphasen die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen erhöht, sofern es sich um negative Emotionen handelt, und schliesslich senkt, wenn positive Emotionen gefühlt wurden. Dieser Befund bestätigt bisherige theoretische Annahmen, wonach Verschwörungsaffinität in belastendenden, krisenhaften Situationen zunimmt (z. B. van Prooijen und Douglas 2017). Schliesslich handelt es sich bei der COVID-19-Pandemie um eine traumatische Krise (Oevermann 2016), die gesellschaftliche und persönliche Routinen plötzlich und unvorhergesehen durchbrach und für deren Bewältigung es an gesellschaftlichen Erfahrungen und Normen mangelte. Die Suche nach klaren Antworten, die schliesslich durch verschwörungsmythische Narrative versprochen wurden, gewann dadurch an Relevanz. Die noch unzureichend erforschte Rolle von religiöser Konfessionszugehörigkeit im Zusammenhang mit Verschwörungsaffinität stellt sich als gering heraus. So zeigt sich, dass die Zugehörigkeit zu den zwei dominierenden christlichen Landeskirchen der Schweiz, der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche, sowie eine Mitgliedschaft in Freikirchen nicht signifikant Verschwörungsaffinität beeinflusst. Ausschliesslich die Zugehörigkeit zu sonstigen Religionen stellt sich als signifikanter Treiber für Verschwörungsaffinität im Vergleich zu keiner Konfessionszugehörigkeit heraus. Wir interpretieren diesen statistisch positiven Effekt als Zeichen dafür, dass Personen, die sich zu religiösen Minderheiten in der Schweiz zählen, eine geringere institutionelle und soziale Einbindung in der Schweiz aufweisen und daher ein höheres Risiko haben, sich durch den Glauben an Verschwörungsmythen einen entsprechenden Ersatz in krisenhaften Zeiten zu suchen. Eine eindeutige Interpretation ist allerdings schwierig, da in der Stichprobe dieser Studie nur 5,5 % der Befragten in diese Gruppe fallen und darunter unterschiedliche Religionen, die in der Schweiz zu den Minderheiten zählen, gefasst werden. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf. Durch die Hinzunahme des Religiositätsindex in das Regressionsmodell wird darüber hinaus auch dieser Effekt kleiner. Besonders interessant, auch im Vergleich zu bisheriger empirischer Forschung, ist der Befund im finalen Regressionsmodell. So zeigt sich, dass insbesondere Spiritualität ein Treiber für Verschwörungsaffinität ist, der nicht nur die Erklärungskraft des Regressionsmodells deutlich erhöht, sondern auch offenbart, dass Religiosität an sich in Summe keinen signifikanten Einfluss auf die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen hat. Spiritualität lässt sich zudem insgesamt als stärkster Effekt identifizieren, auch gegenüber üblichen signifikanten Prädiktoren wie Alter und Bildung. Es ist davon auszugehen, dass Spiritualität den Religiositätseffekt vermindert, zumal auch religiöse Personen in gewisser Weise spirituell sind, allerdings andere Faktoren der Spiritualität stärker mit Verschwörungsglauben in Einklang zu bringen sind. Mit Verweis auf die Hauptkomponentenanalyse wird diese Interpretation deutlich: So rotieren auch einzelne Items der Spiritualitätsskala auf die Komponente Religiosität, umgekehrt zeigt sich dieser Befund jedoch nicht. Weiter lässt sich das Resultat auch theoretisch, unter Rückbezug auf die Definitionen von Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsmythen, interpretieren. So operationalisieren wir in dieser Studie Religiosität nach dem Religiositätskonzept von Huber (2008), wonach Religiosität stärker an institutionellen Indikatoren gemessen wird, wie beispielsweise mittels der Häufigkeit des Gottesdienstbesuches oder des Betens. Es ist davon auszugehen, dass eine stärkere institutionell geprägte Religiosität die Verschwörungsaffinität nicht signifikant erhöht, da diese gesellschaftlichen und institutionell etablierten Strukturen bereits Halt in Krisenphasen geben. Spiritualität hingegen ist individueller geprägt und losgelöst von konkreten religiösen Traditionen (Houtman und Tromp 2021), womit eine geringere soziale Einbindung einhergehen kann. Spiritualität als Konzept distanziert sich demnach stärker von gesellschaftlich etablierten Strukturen, einem Narrativ, dem sich auch Verschwörungsmythen mitunter bedienen, indem sie sich gegen die öffentliche Meinung richten.

In Summe möchten wir durch dieses Resultat verdeutlichen, dass eine Trennung von Religiosität und Spiritualität in dem sensiblen Kontext der Erforschung von Verschwörungsglauben essenziell ist, um Fehlschlüsse zu vermeiden. Das stufenweise Vorgehen im Zuge der Regressionsanalysen zeigt, dass eine Analyse ohne den Prädiktor Spiritualität die Annahme bestärkt hätte, dass Religiosität ein Treiber für Verschwörungsaffinität ist. Der Effekt verflüchtigt sich allerdings, wenn zusätzlich Spiritualität betrachtet wird. Somit konnten unsere Hypothesen teilweise bestätigt werden: Je höher die Spiritualität, desto grösser ist die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen. Der Effekt ist stärker als die religiöse Zugehörigkeit. Nicht bestätigt werden konnte die Hypothese, dass auch Religiosität ein positiver Treiber für Verschwörungsaffinität ist.

Jede Studie hat Limitationen, die auch hier mitberücksichtigt werden müssen. Wir haben in dieser Studie neben soziodemographischen Kontrollvariablen insbesondere auf emotionale Betroffenheit während der COVID-19-Pandemie, religiöse Zugehörigkeit und schliesslich Religiosität und Spiritualität als Prädiktoren für Affinität gegenüber Verschwörungsmythen fokussiert. Selbsterklärend gibt es weitere bereits häufig erforschte Variablen, die Verschwörungsaffinität signifikant beeinflussen, wie beispielsweise politische Einstellungen (z. B. Castanho Silva et al. 2017; Hollander 2018; Wood und Gray 2019), Misstrauen gegenüber der Regierung oder Autoritäten (z. B. Darwin et al. 2011; Bode und Vraga 2018) oder Mediennutzung (z. B. Stecula und Pickup 2021). Wir haben in dieser Studie bewusst auf Prädiktoren wie Religiosität und Spiritualität fokussiert, wenn auch weitere Variablen die Erklärungskraft der Regressionsmodelle erhöhen würden. In Hinblick auf bereits publizierte empirische Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Religiosität und Verschwörungsdenken auseinandersetzen, gibt es weitere zu berücksichtigende Aspekte. Insbesondere definitorische Unterschiede respektive unterschiedliche Operationalisierungen können zu variierenden Resultaten führen. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob Religiosität anhand der religiösen Konfession operationalisiert wird, oder die beiden Indikatoren getrennt voneinander abgefragt werden, wie in der vorliegenden Studie. Ebenso verhält es sich, wenn Religiosität und Spiritualität nicht getrennt voneinander abgefragt werden. Daraus können Fehlschlüsse resultieren, die wir in dieser Studie versucht haben zu vermeiden. Die Schwierigkeit, einheitliche Definitionen für Religiosität wie auch Spiritualität zu entwickeln, ist im wissenschaftlichen Diskurs bekannt – und verhält sich im Kontext des Verschwörungsbegriffs nicht anders. So sprechen Dyrendal et al. (2018a, S. 21) im Zusammenhang mit den Begriffen ‚Religion‘ und ‚Verschwörungstheorien‘ von „two fuzzy terms“. Insbesondere die Operationalisierung von Verschwörungsglauben respektive -affinität variiert. Es existieren beispielsweise viele Studien, die konkrete Verschwörungsmythen und deren Glaubwürdigkeit abfragen (Bruns et al. 2020; Balta et al. 2021; Eberl et al. 2021). In der vorliegenden Studie haben wir uns dazu entschieden, nicht konkrete Ereignisse mit verschwörungsmythischem Charakter in die Befragung mit aufzunehmen, sondern breitere Einstellungsmuster, die Affinitäten im Sinne von Prädispositionen für Verschwörungsglauben abbilden.

Abschliessend stellt sich die Frage, inwiefern Verschwörungsglaube als Ersatz für religiösen Glauben gedeutet werden kann. Den Resultaten zufolge erweist sich Religiosität per se nicht als signifikanter Treiber für Verschwörungsaffinität, weshalb postuliert werden kann, dass religiöser Glaube seine Funktion zur Kontingenzbewältigung in krisenhaften Phasen erfüllt. Vielmehr befördert Spiritualität die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen. Wir schliessen daraus, dass in säkularisierten Gesellschaften Spiritualität ohne die Einbindung in traditionelle religiöse Gemeinschaften mit einer verstärkten Offenheit für Verschwörungsmythen als Ersatzreligion einhergeht.