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1 Einleitung: Krisenerfahrung und religiöse und spirituelle Praktiken

Sowohl klassische, als auch neuere religionssoziologische und -psychologische Ansätze sehen die Kontingenzbewältigung als eine zentrale Funktion der Religion. Religion hilft dabei, die in der Natur des Menschen angelegte Unsicherheit des Daseins leichter zu ertragen, sie bietet Trost und vermittelt Sicherheit angesichts von Leid, Krankheit, Sterben, Elend und Ungerechtigkeit (z. B. James 1997; Yinger 1957; Lübbe 1986; Atran 2002; Kirkpatrick 2005). Viele traditionelle religiöse Rituale, wie etwa der Regentanz des Schamanen, die ländlichen Bittprozessionen oder die Votivgaben an Marienwallfahrtsorten, erfüllten den Zweck, unsichere und bedrohliche Lebenssituationen, die man mit eigenen Mitteln nicht beeinflussen kann, zu kompensieren, indem man die Lösung des Problems in die Hände wohlwollender höherer Mächte legt. Aber nicht nur bei derartigen Ritualen, die in Notsituationen ausgeführt werden, sondern auch bei regelmäßig praktizierten religiösen Ritualen, wie etwa bei Gottesdiensten, steht das „Heilsversprechen“ (Riesebrodt 2007) im Mittelpunkt des religiösen Denkens und Handelns.

Der technische und der medizinische Fortschritt haben dazu geführt, dass die materiellen Lebensbedingungen in Europa heute um ein Vielfaches besser und sicherer geworden sind, als sie es im bisherigen Verlauf der Geschichte für den Großteil der Menschen waren. Dies zeigt schon allein die durchschnittliche Lebenserwartung, die im Verlauf der letzten 150 Jahre in Westeuropa von zirka 40 auf über 80 Jahre gestiegen ist und sich somit etwa verdoppelt hat.Footnote 1 Parallel zur Verbesserung der Lebensbedingungen ist die kirchliche Religiosität in Europa stark zurückgegangen (Pollack und Rosta 2015; Pickel 2009). Um 1960 besuchten mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Österreich regelmäßig den Sonntagsgottesdienst, heute tun dies nur mehr etwa 10 % (Höllinger 2013; Zulehner 2020). Ein wesentlicher Grund für diesen Rückgang ist nach Ansicht vieler Sozialwissenschaftler*innen, die Zunahme des materiellen Wohlstands. In jüngerer Zeit haben Pippa Norris und Ronald Inglehart dieses Argument in ihrer „Existential Security Thesis“ aufgegriffen (Norris und Inglehart 2011). Das Kernargument dieser These lautet: Je höher die existenziellen Risiken der Menschen sind, desto religiöser sind sie. Je besser die Menschen durch ein sicheres und ausreichendes Einkommen, durch ein effizientes Gesundheitssystem und durch den Wohlfahrtsstaat vor existenziellen Risiken geschützt sind, desto mehr verliert die Religion für sie an Bedeutung. Zahlreiche empirische Studien haben diesen Zusammenhang auf der Ebene des weltweiten Ländervergleichs bestätigt. Je höher das Wohlstandsniveau (gemessen am BIP pro Kopf) und je besser die medizinische Versorgung und die sozialstaatliche Absicherung, desto niedriger ist in der Regel der Anteil religiöser Menschen in einem Land (Gill und Lundsgaarde 2004; Rees 2009; Barber 2011).Footnote 2

Weniger eindeutig sind die Ergebnisse in Hinblick auf den Zusammenhang zwischen existenzieller Unsicherheit und Religiosität auf individueller Ebene innerhalb einzelner Länder. In manchen Studien wurde festgestellt, dass materielle Not und ein schlechter Gesundheitszustand mit höherer Religiosität einhergehen (Norris und Inglehart 2011; Hoverd et al. 2013). Andere Studien zeigen hingegen, dass Menschen, die unter materieller Not leiden, keine geregelte Arbeit haben und/oder sich in ihrer Wohnumgebung von Kriminalität bedroht fühlen, im Durchschnitt nicht oder nur geringfügig religiöser sind als jene, die keine derartigen Erfahrungen machen (Höllinger und Muckenhuber 2019). Armut oder länger andauernde Arbeitslosigkeit kann vielmehr auch dazu führen, dass man sich aus dem sozialen Leben zurückzieht und nicht mehr an Gottesdiensten teilnimmt (Immerzeel und Van Tubergen 2013). Der deutsche Arzt und Theologe Gereon Heuft hat in einer groß angelegten Vergleichsstudie festgestellt, dass sich die Patient*innen in seiner psychosomatischen Klinik zwar etwas häufiger mit religiösen Fragen beschäftigen, aber weder gläubiger noch religiös aktiver sind als der Rest der Bevölkerung. Er schließt daraus, dass körperliches oder psychisches Leiden allenfalls dann zu einer intensiveren religiösen Haltung oder Praxis führt, wenn schon vor der Krankheitsphase eine religiöse Grunddisposition vorhanden war (Heuft 2016; vgl. dazu auch Sinnemann 2020). Anders scheint es zu sein, wenn es um die Frage von Leben und Tod geht. Bei Menschen, die den Tod eines nahestehenden Menschen (z. B. des Ehepartners) erfahren haben, und bei Bevölkerungsgruppen, die in Regionen wohnen, in denen Kriegszustand herrscht oder in der jüngeren Vergangenheit geherrscht hat, konnten deutlich höhere Religiositätswerte festgestellt werden als bei Menschen, die keine derartigen Erfahrungen machen. Auch Angst vor terroristischen Angriffen führt zu (leicht) erhöhten Religiositätswerten (Peterson und Greil 1990; Immerzeel und Van Tubergen 2013).

In den letzten Jahrzehnten haben sich in der westlichen Welt verschiedene neue Formen der Spiritualität wie etwa Meditation, Yoga und andere Körperbewusstseins-Praktiken ausgebreitet. Im Unterschied zur herkömmlichen christlich-kirchlichen Religiosität werden die spirituellen Praktiken meist nicht im Rahmen einer religiösen Gemeinschaft, sondern individuell oder im Rahmen von Kurs-Angeboten des postmodernen Spiritualitäts- und Selbsterfahrungsmarkts ausgeübt (Knoblauch 1989; Houtman und Aupers 2007; Höllinger und Tripold 2012). Neuere Studien zeigen, dass spirituelle Praktiken, ähnlich wie konventionelle Formen der Religiosität, dazu beitragen können, Krankheiten und psychische Belastungen besser zu bewältigen (Pargament 1997; Bucher 2014).

Die Covid-19-Pandemie hat in Europa und in anderen Weltregionen die wohl größte Gesundheits- und Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Auch wenn in Österreich bisher im Vergleich zu anderen Ländern nur relativ wenige Menschen an den Folgen der Infektion verstorben sind, so hatten und haben doch viele Angst davor, dass das Virus ihr eigenes Leben oder das Leben von Menschen, denen sie nahestehen, gefährden könnte. Viele Menschen sind auch ökonomisch stark betroffen und/oder befürchten, ihre berufliche Situation könnte sich aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Krise in den kommenden Monaten drastisch verschlechtern. Vor diesem Hintergrund lauten die ersten beiden Fragen, denen wir in diesem Beitrag nachgehen möchten:

  • Gibt es Anzeichen dafür, dass Religiosität und Spiritualität infolge der Corona-Krise insgesamt gestiegen sind bzw. dass die subjektive Wichtigkeit der Religion zugenommen hat?

  • Sind Menschen, die von der Corona-Krise persönlich stark betroffen sind oder die Krise als massive gesundheitliche bzw. ökonomische Bedrohung wahrnehmen, in ihrer Selbstwahrnehmung religiöser als jene, die sich durch die Krise weniger oder nicht gefährdet fühlen?

2 Die Rolle religiöser und spiritueller Orientierungen in der Krisenbewältigung

Der zweite Themenkomplex, den wir in diesem Beitrag untersuchen möchten, betrifft die Frage, inwiefern Religion dazu beiträgt, Notsituationen, Krankheiten und psychische Krisen zu bewältigen und ob sich, je nach Art der Religiosität und Spiritualität, Unterschiede in den Wahrnehmungen der gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit und in solidarischen Einstellungen feststellen lassen. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Religiosität, Krisenbewältigung und subjektivem Wohlbefinden wird in der Religionspsychologie und Religionsphilosophie seit mehr als hundert Jahren kontroversiell diskutiert. Vor dem Hintergrund der Religionskritik der europäischen Aufklärung wurden vielfach die negativen Auswirkungen der Religion auf Mensch und Gesellschaft hervorgehoben. So betrachtet etwa Sigmund Freud die Religion als eine „universelle Zwangsneurose“, die Schuldgefühle und Angst vor göttlicher Strafe hervorruft und durch den Glauben an einen überhöhten Vater-Gott die Entwicklung des Menschen zu einer reifen, autonomen Persönlichkeit verhindert (Freud 1946). Freuds amerikanischer Zeitgenosse William James richtet in seinem Buch „Die Vielfalt religiöser Erfahrungen“ sein Augenmerk weniger auf die institutionalisierte (kirchliche) Religion, sondern auf individuelle religiöse Erfahrungen und zeigt anhand der Analyse von persönlichen Erfahrungsberichten, dass Religiosität sehr unterschiedliche Effekte auf die Befindlichkeit und Lebensführung von Menschen haben kann, wobei insgesamt eher positive Effekte hervorgehoben werden. Im Mittelpunkt dieses Werks stehen mystische Erfahrungen, die zu einer Transformation der Persönlichkeit führen und oft mit einem Gefühl der Geborgenheit sowie liebevollen Empfindungen gegenüber Mitmenschen einhergehen (James 1997). Diese These könnte insbesondere bei spirituell orientierten Personen zum Tragen kommen, die nach transzendentalen Erfahrungen streben und durch einen besonders sensitiven Umgang mit Krisen gekennzeichnet sind (vgl. auch Knoblauch 2018, S. 340).

In jüngerer Zeit wurde vor allem in den USA, aber auch in Europa, anhand zahlreicher medizinisch-klinischer und psychologischer Studien untersucht, wie sich verschiedene Formen und Aspekte von Religiosität und Spiritualität auf das Erkrankungsrisiko und die Heilungschancen bei somatischen Krankheiten und psychischen Störungen auswirken. So wurde beispielsweise festgestellt, dass Personen mit einem liebevoll-akzeptierenden Gottesbild bei verschiedenen psychopathologischen Symptomen geringere Belastungswerte aufweisen als Menschen mit einem autoritären Gottesbild oder Nicht-Gläubige. Stärker intrinsische Formen der Religiosität bzw. Spiritualität, wie etwa regelmäßiges Meditieren, gehen mit einer verringerten Anfälligkeit für depressive Verstimmungen und Angststörungen und einer höheren Lebenszufriedenheit einher. Spiritualität schützt nicht nur vor Stress im Alltagsleben, sie lindert auch traumatischen Stress nach schwerwiegenden Notsituationen und Verlusterfahrungen. Rigide Formen der Religiosität in Verbindung mit einem strengen Gottesbild können hingegen Zwangs- und Angststörungen verstärken (Überblicksdarstellungen zu diesem Themenkomplex findet man u. a. bei Pargament 1997; Bucher 2014; Koenig et al. 2012; Klein und Albani 2011). Kenneth Pergament hat in den letzten Jahrzehnten eine Theorie des „religiösen Copings“ entwickelt, bei der zwischen drei Coping-Stilen unterschieden wird: Beim „delegativen Stil“ erwartet sich der/die Gläubige, dass Gott das Problem lösen wird, ohne dass man selbst einen Beitrag dazu leistet; beim „kollaborativen Stil“ baut man darauf, dass Gott das eigene Tun unterstützt; beim „selbst-direktiven Stil“ wird ausschließlich die eigene Aktivität als relevant erachtet. Empirische Untersuchungen zeigen, dass sich der kollaborative Coping-Stil in vielen Problemkonstellationen positiv auf die Stressbewältigung auswirkt. Der selbst-direktive Stil erweist sich vor allem bei geringeren Belastungen als hilfreich. In Situationen, in denen man selbst keine Möglichkeit hat, die Lösung des Problems zu beeinflussen, kann es auch hilfreich sein, die Verantwortung an eine höhere Macht zu delegieren (vgl. Klein und Lehr 2011, S. 337 ff.). Auch die Einbindung in eine religiöse Gemeinschaft kann sich positiv auf die Bewältigung schwieriger Lebenssituationen auswirken, da man durch die Gruppe emotional und zum Teil auch durch konkrete Hilfeleistungen unterstützt wird (ebd., S. 346). Die Bewältigung kollektiver Bedrohungen erfordert, dass jeder und jede Einzelne nicht nur an sich selbst denkt, sondern dass man sich für das Wohl aller mitverantwortlich fühlt. Insofern stellt sich auch die Frage, ob Religiosität und Spiritualität dazu beitragen, sich mit anderen solidarisch zu fühlen und staatlich verordnete Maßnahmen mitzutragen, um der Verbreitung des Virus entgegenzuwirken und andere nicht zu gefährden. Da die aktive Nächstenliebe im Christentum wie auch in anderen Weltreligionen einen zentralen Stellenwert einnimmt, könnte die Religiosität einen positiven Beitrag zur Krisenbewältigung leisten, indem selbstlose Werte gelebt und Solidarität mit Betroffenen praktiziert wird.Footnote 3 Verschiedene Studien zeigen, dass intrinsisch motivierte religiöse Personen häufiger prosoziale Orientierungen haben und eher bereit sind, Freiwilligenarbeit zu leisten als nicht religiöse (z. B. Saroglou et al. 2005; Hoof 2010). Bei kirchlich religiösen Menschen wurde aber auch ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis sowie eine Neigung zu einer Pflichtmentalität und zu autoritären Orientierungen festgestellt (Beierlein et al. 2014; Wink et al. 2007; Polak 2020). Religiöse Menschen könnten daher auch eine höhere Bereitschaft zeigen, staatlichen Institutionen zu vertrauen und deren Anordnungen bezüglich des korrekten Sozialverhaltens in der Corona-Krise zu akzeptieren und zu befolgen. Für spirituell orientierte Menschen steht hingegen die Suche nach individuellen, bereichernden Erfahrungen im Vordergrund; sie sind daher weniger auf die staatlich-religiöse Gemeinschaft und auf kulturelle Leitwerte angewiesen (siehe Knoblauch 2005; Höllinger 2017). Man könnte die Hinwendung zu spirituellen Aktivitäten auch als eine Art Abgrenzung zu staatlichen oder religiösen Institutionen begreifen, wodurch ein stärkeres Institutionenmisstrauen als auch eine Oppositionshaltung zu gesetzten Maßnahmen in der Corona-Krise deutlich werden könnte.

Zu guter Letzt ist auch von Interesse, wie religiöse und spirituelle Menschen die ökonomischen Kriseneffekte und die Lage massiv betroffener Gruppen einschätzen. Solidarische Einstellungen gegenüber Betroffenen verdeutlichen ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit, das aus unterschiedlichen Gründen entstehen kann und besonders im Kontext gesellschaftlicher Krisen Relevanz erfährt. Dennoch ist die Solidarität in einer individualistischen Gesellschaft stets ein „vergängliches Band“ (Hondrich und Koch-Arzberger 1992, S. 24) und sie ist auch bei religiös orientierten Menschen nicht zwangsläufig vorhanden. Tatsächlich zeigen umfassende Studien im Ländervergleich, dass sich konventionell religiöse Menschen, teils stärker als andere, gegen Umverteilung in der Gesellschaft aussprechen (z. B. Stegmüller et al. 2012). Aufgrund einer höheren Betonung der Leistungsethik im Protestantismus könnte bei katholischer Religionszugehörigkeit der Wunsch nach einem stärkeren Ausgleich zwischen sozialen Schichten (z. B. Jordan 2014) höher ausgeprägt sein. Vielfach belegt ist auch die erhöhte Neigung religiöser Menschen zu altruistischem Verhalten in Form von Freiwilligenarbeit und Nachbarschaftshilfe (z. B. Hoof 2010). Bekannte internationale Studien zeigen aber auch, dass bei jenen Gruppen, die als besonders bedürftig eingeschätzt werden und beispielsweise von einem bedingungslosen Grundeinkommen profitieren würden, Religiosität in der Regel nicht als bestimmender Faktor hin zu einer weitreichenden Umverteilung ausgemacht wird (z. B. van Oorschot 2006).

Im Unterschied dazu werden spirituelle Aktivitäten häufig zur Entfaltung der eigenen Potenziale genutzt, wobei auch in sozialen Bewegungen Einflüsse der Esoterik und Bedürfnisse nach kollektiver Sinngebung geläufig sind (z. B. Hutchinson 2012). In ihrem Anliegen nach gesellschaftlicher Transformation könnten spirituell orientierte Menschen systemischen Zwängen kritischer gegenüberstehen und sich in gesellschaftspolitisch brisanten Fragen vermehrt gegen die Diktion von Eliten wenden. Einflussreiche Konzepte im spirituellen Milieu verkörpern stets hoffnungsvolle Visionen eines guten Lebens, die auch ein solidarisches Miteinander in der Gesellschaft einschließen (z. B. Endler 2019). Trotz dieser offen kommunizierten Wünsche nach gesellschaftlichem Zusammenhalt bleibt jedoch offen, wie hoch der innere Antrieb zu gesellschaftspolitischem Engagement und für eine Bekämpfung struktureller und sozialer Ungleichheiten tatsächlich einzuschätzen ist. Denn es dominiert in vielen spirituellen Kreisen die Orientierung an der Entfaltung des eigenen Glücks und die Ausformung der eigenen Identität steht primär im Dienst der eigenen Selbstverwirklichung (Lasch 1980; Bellah et al. 1996; Cabanas und Illouz 2019).

Im zweiten Teil des Beitrags möchten wir also zusammenfassend folgende Fragen untersuchen:

  • Wie wirken sich Religiosität und Spiritualität auf das emotionale Wohlbefinden, die Lebenszufriedenheit und die Strategien der Krisenbewältigung (Coping-Strategien) vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie aus?

  • Unterscheiden sich religiöse, spirituelle und nicht religiöse Menschen in Hinblick auf die Haltung zur staatlichen Krisenpolitik, den Umgang mit den sozialen Distanzregelungen sowie dem Solidarverhalten gegenüber Menschen, die besonders von der Krise betroffen sind?

3 Religiosität und Spiritualität vor und während der Krise

Für unsere Analyse ziehen wir die Austrian Corona Panel Studie (ACPP) heran, die von mehreren Instituten der Universität Wien koordiniert wird (vgl. Kittel et al. 2020). In dieser Online-Längsschnittstudie werden die gleichen Personen über einen längeren Erhebungszeitraum hinweg immer wieder zu ihren Einschätzungen in der Corona-Krise befragt. Seit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 wurden wöchentlich rund 1500 Österreicher*nnen (nach entsprechenden Quotenvorgaben zu Alter, Geschlecht, Region und Bildung) für die Umfrage motiviert. Die Frage der Religiosität wurde erstmals in der 6. Welle des ACPP aufgegriffen (vgl. Aschauer et al. 2020). Die in diesem Beitrag präsentierten Daten zu Religiosität und Spiritualität wurden in der 14. Welle im August 2020 erhoben. Die verwendeten Indikatoren stammen aus dem Frageprogramm des Sozialen Survey Österreich (SSÖ) und der Europäischen Wertestudie (EVS) (siehe Tab. 5.2 im Anhang). Anhand dieser Indikatoren kann verglichen werden, wie sich das religiöse Verhalten und die Glaubensvorstellungen der Befragten der Corona-Panelstichprobe von den Ergebnissen der letzten SSÖ- und EVS-Erhebungen unterscheiden. Alle diese Studien beruhen auf Stichproben, die bei entsprechender Gewichtung eine ähnliche demografische Verteilung (nach Alter, Geschlecht, Bildung und Bundesland) aufweisen. Die Studien unterscheiden sich jedoch in Hinblick auf die Art der Stichprobe und den Erhebungsmodus: Beim SSÖ und beim EVS wurden die Befragten nach einem Zufallsverfahren ausgewählt, die Befragung wurde mündlich im Haushalt der Befragten durchgeführt. Die ACPP-Studie beruht hingegen auf einer vorrekrutierten Stichprobe von Personen, die den Fragebogen am Computer beantworten. Da ältere Menschen nur zum Teil in der Lage sind, Online-Fragebögen auszufüllen, ist bei Befragten in höherem Lebensalter eine repräsentative Auswahl nicht mehr möglich.Footnote 4 Aus diesem Grund wurden beim Vergleich der Religiosität (in Tab. 5.1) nur Personen im Alter zwischen 18 und 69 Jahren berücksichtigt. Auch wenn ungewiss ist, inwieweit Unterschiede zwischen der ACPP-Erhebung und den Ergebnissen früherer Surveys auf Veränderungen der Religiosität oder auf den Erhebungsmodus zurückzuführen sind, ermöglicht der Vergleich doch gewisse Rückschlüsse, ob und in welcher Weise sich die Religiosität durch die Corona-Krise verändert hat.Footnote 5

Tab. 5.1 Religiosität und Spiritualität – Ergebnisse des ACPP im Vergleich mit Surveys der letzten Jahre

Während der Phase des ersten Corona-Lockdowns von Mitte März bis Mitte Mai 2020 kam das öffentliche religiöse Leben weitgehend zum Erliegen. Um Gläubigen eine Fortsetzung ihrer religiösen Praxis zu ermöglichen, wurden Gottesdienste und spirituelle Gruppenaktivitäten (wie z. B. Yoga-Gruppen) zum Teil online angeboten. Auch in den Monaten danach durften religiöse Gemeinschaftsaktivitäten nur mit beschränkter Teilnehmerzahl durchgeführt werden.Footnote 6 Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Anteil der Befragten, die angeben, mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst zu besuchen in der ACPP-Stichprobe nur halb so hoch ist wie im SSÖ 2018. Aber auch die Anteile derer, die regelmäßig oder häufig beten, an Gott glauben, sich selbst als religiös einstufen und „Religion und Kirche“ für wichtig erachten, sind in der ACPP-Studie deutlich niedriger als in den SSÖ-Erhebungen und in der österreichischen Stichprobe des EVS-2017. Der Anteil derer, die alternative spirituelle Praktiken ausüben und Bücher über Religion oder Esoterik lesen, ist hingegen im ACPP etwa gleich hoch wie im SSÖ 2018.Footnote 7

Angesichts der konsistent niedrigen Werte bei den Religiositäts-Indikatoren in der Corona-Panelstudie ist davon auszugehen, dass die Befragten, die für diese Studie ausgewählt wurden, etwas weniger religiös sind als der Durchschnitt der Bevölkerung.Footnote 8 Die Unterschiede zwischen den Erhebungen vor und während der Corona-Krise könnten aber zumindest teilweise auch darauf zurückzuführen sein, dass der Rückgang der kirchlichen Religiosität, der seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in Österreich kontinuierlich voranschreitet, durch den Lockdown noch zusätzlich verstärkt wurde, während der steigende Trend zur Ausübung alternativer spiritueller Praktiken durch die Corona-Krise sichtlich kaum gebremst wird.

Um die Religiosität und Spiritualität in der österreichischen Bevölkerung entsprechend abzubilden, wurden zwei zusammenfassende Scores gebildet.Footnote 9 Die Variablen Beten, Gottesdienstbesuch, Glaube an Gott und subjektive religiöse Selbsteinstufung wurden zur Skala Religiosität zusammengefasst.Footnote 10 Aus dieser Skala wurden drei Gruppen gebildet. Befragte, die (fast) nie beten, keine Gottesdienste besuchen, nicht an Gott glauben und sich selbst als nicht religiös einstufen, werden als „nicht religiös“ klassifiziert. Jene, die sich in allen vier Bereichen als religiös deklarierten, bilden die Gruppe der Religiösen. Der Anteil dieser beiden Gruppen an der Stichprobe beträgt jeweils etwa 30 %. Die restlichen rund 40 % der Befragten, die bei einem, zwei oder drei der vier Indikatoren einen positiven Religionswert haben, werden als „etwas religiös“ eingestuft. Aus den drei Variablen zum spirituellen Verhalten, nämlich Häufigkeit des Meditierens, der Ausübung von Yoga, Tai-Chi oder Qigong und Lesen von Büchern über religiöse oder spirituelle Themen, wurde ein Summenindex Spiritualität errechnet, der von 0 (nie) bis zum Wert 8 (mehrmals täglich) reicht. Für die weitere Analyse (siehe Abschn. 4) wurden die Befragten ebenfalls in drei Gruppen geteilt. Jene, die weder körperorientierte Methoden der Entspannung und Bewusstwerdung (wie Meditation, Yoga, Qigong und Tai-Chi) anwenden noch esoterische und spirituelle Bücher lesen (rund 52 % der Stichprobe), werden als „nicht spirituell“ bezeichnet. Jene, die diese Praktiken schon ausprobiert haben oder gelegentlich entsprechende Bücher lesen, werden als „etwas spirituell“ (rund 40 % der Bevölkerung) eingestuft. Als „spirituell“ bezeichnen wir jene knapp 10 % der Befragten, die eine oder mehrere dieser Praktiken zumindest monatlich ausüben.

Im ersten Schritt der Analyse soll anhand der Daten des ACPP geprüft werden, ob Befragte, die von der Corona-Krise persönlich betroffen sind bzw. sich stark betroffen fühlen, religiöser oder spiritueller sind als Befragte, die sich nicht betroffen fühlen. Als Kriterien für die Betroffenheit durch die Corona-Krise wurden folgende Indikatoren herangezogen (siehe auch Tab. 5.2 im Anhang):

  1. a)

    man schätzt die gesundheitliche Gefahr, die vom Coronavirus für die eigene Person ausgeht, als „sehr groß“ oder „groß“ ein;

  2. b)

    bei der eigenen Person oder bei Bekannten, die man in der letzten Woche getroffen hat, wurde das Coronavirus diagnostiziert;

  3. c)

    man schätzt die wirtschaftliche Gefahr, welche vom Coronavirus für die eigene Person ausgeht, als „sehr groß“ oder „groß“ ein;

  4. d)

    man befürchtet (mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % bis 100 %), durch die Krise seinen Arbeitsplatz zu verlieren;

  5. e)

    man kommt mit dem Haushaltsbudget derzeit nur „schwer“ oder „sehr schwer“ zurecht.

Abb. 5.1 zeigt, dass Befragte, die die Corona-Krise als gesundheitliche Bedrohung wahrnehmen, etwas höhere Spiritualitäts- und Religiositätswerte aufweisen als jene, die sich nicht gefährdet fühlen (diese Zusammenhänge sind allerdings statistisch nicht signifikant). Noch stärker ist dieser Zusammenhang, wenn man selbst infiziert ist oder wenn bei Personen aus dem Bekanntenkreis das Virus diagnostiziert wurde. Hier zeigt sich, dass zumindest spirituelle Aktivitäten signifikant erhöht sind, wobei die Richtung des Zusammenhangs unklar bleibt.Footnote 11 Auch jene Befragten, die Angst haben, wegen Corona ihren Arbeitsplatz zu verlieren, sind etwas häufiger spirituell aktiv.Footnote 12 Das Gefühl, durch die Corona-Krise ökonomisch bedroht zu sein, wirkt sich hingegen nur geringfügig auf Religiosität und Spiritualität aus; zudem zeigen sich hier zum Teil gegenläufige Tendenzen. Aus der Perspektive der eingangs erwähnten „Existential Security Thesis“ kann man diese Befunde so interpretieren: In einem Sozialstaat wie Österreich, in dem man gegen ökonomische Risiken relativ gut abgesichert ist, sind ökonomische Bedrohungen kein Anlass, sich verstärkt der Religion zuzuwenden. Die Angst davor, dass die Pandemie das eigene Leben bedroht, führt hingegen dazu, dass man sich mehr als sonst mit grundlegenden Sinnfragen beschäftigt, die eine höhere Akzentuierung von Religiosität und Spiritualität mit sich bringen.

Abb. 5.1
figure 1

(Quelle: ACPP, Welle 14 (gewichtete Daten))

Religiosität und Spiritualität bei Personen, die durch die Corona-Krise persönlich betroffen sind, im Vergleich zu Personen, die nicht betroffen sind. Anmerkungen: In der Grafik werden die b-Werte zweier multipler linearer Regressionen abgebildet. Die b-Werte geben an, wie sich Befragte, die die 5 Aussagen bejahten, in Hinblick auf Religiosität und Spiritualität von jenen unterscheiden, die die Aussagen nicht bejahten (d. h. die Corona nicht als gesundheitliche Gefahr wahrnehmen usw.). Zusätzlich zu den 5 Betroffenheitsvariablen wurden Geschlecht, Alter, Bildung und Migrationshintergrund als Kontrollvariable berücksichtigt. Die Skalen Religiosität und Spiritualität wurden z-standardisiert. Bei Religiosität finden sich keine signifikanten Ergebnisse; bei Spiritualität sind die b-Werte für die Items b und e signifikant. Zahl der Fälle bei der Regression für Religiosität: N = 1134; bei der Regression für Spiritualität: N = 1540. Werte in Klammer in der 2. Spalte: Zahl der Fälle, auf die diese Antwortkategorie zutrifft.

4 Religiosität und Krisenbewältigung in der Corona-Zeit

Der Einfluss von Religiosität und Spiritualität auf die aktuelle Krisenbewältigung kann sowohl in Bezug auf individuelle Dynamiken, als auch hinsichtlich gesellschaftspolitisch relevanter Einstellungen analysiert werden. Auf der individuellen Ebene sind primär Aspekte des subjektiven Wohlbefindens und des Umgangs mit der Krise (Coping-Strategien) entscheidend. In der Wellbeing-Forschung haben sich vier verschiedene Messungen zum subjektiven Wohlbefinden durchgesetzt, die nur moderat miteinander verbunden sind: die Lebenszufriedenheit und das Glückslevel insgesamt sowie positive und negative Gefühlszustände (vgl. Diener et al. 1999, S. 277).

Im Corona-Panel liegt über alle Erhebungswellen eine Messung der aktuellen Lebenszufriedenheit und einzelner positiver und negativer Affekte vor.Footnote 13 In Bezug auf Stressbewältigung in Zeiten von Krisen existieren in der Psychologie eine Reihe von Skalen, die auf verschiedene Coping-Strategien verweisen. Im ACPP wurde eine Kurzfassung der Coping-Skala von Knoll et al. (2005) verwendet.Footnote 14 Im Rahmen der 13. Erhebungswelle (im Juli 2020) des ACPP wurden die 11 Indikatoren dieser Skala erneut zur Disposition gestellt, wobei mit einer Faktorenanalyse drei übergeordnete Krisenbewältigungsstrategien eruiert werden konnten: aktive Auseinandersetzung und Suche nach Unterstützung, Optimismus sowie Humor und Verdrängung. Diese drei Coping-Strategien werden ebenfalls in ihrer Relevanz je nach Religiosität und Spiritualität geprüft.Footnote 15

Neben dem individuellen Umgang mit der Krise interessiert zudem, ob sich die Österreicher*innen nach Spiritualität und konventioneller Religiosität in ihrer Haltung gegenüber der Bundesregierung, im Institutionenvertrauen und im Umgang mit den kommunizierten Corona-Verhaltensregeln unterscheiden. Zudem ist von Interesse (vgl. Fragestellung 2.2), ob Religiosität und Spiritualität mit einem solidarischen Bewusstsein in Verbindung stehen. Zu allen Indikatoren liegt jeweils eine geeignete Messung vor.Footnote 16 Teils beschränkt sich die Messung auf einen einzelnen Indikator (z. B. Zufriedenheit mit der Arbeit und Leistung der Bundesregierung; Bereitschaft höhere Steuern zu zahlen; Einstellung zum bedingungslosen Grundeinkommen). Überwiegend werden jedoch auch hier differenzierte Messungen verwendet, um eine stabile Messung einzelner Einstellungsdimensionen zu gewährleisten. Die Einhaltung der Corona-Verhaltensmaßnahmen wird über vier Indikatoren geprüft (Maske tragen, Abstand halten, Verletzungen vermeiden und zu Hause bleiben). Das Institutionenvertrauen wird über eine Liste von Fragen nach dem Vertrauen in einzelne staatliche Institutionen (ORF, Polizei, Parlament, Gesundheitswesen, Bundesregierung sowie Militär) abgeleitet. Zusätzlich wird getestet, ob konventionell religiöse Menschen oder spirituelle Personen stärkere Appelle an eine starke wohlfahrtsstaatliche Lenkung des Staats aussprechen und folglich den Staat für die möglichst breite Gewährleistung von solidarischen Leistungen (Lebensstandard für Pensionist*innen, Arbeitslose, ausreichende Kinderbetreuung, Bereitstellung von hochqualitativer gesundheitlicher Versorgung und universitärer Ausbildung) verstärkt in die Pflicht nehmen.

Abb. 5.2 zeigt nun die Unterschiede in der aktuellen Lebenszufriedenheit für jene drei Gruppen auf, die sich in keinem Bereich (Beten, Kirchgang, Gottglaube und Selbstdefinition), in einzelnen Bereichen oder in allen Bereichen als religiös deklarieren. Im Zeitverlauf der Covid-19-Pandemie von März 2020 bis August 2020 zeigt sich tatsächlich, dass jene Österreicher*innen, die sich in mehreren Indikatoren als religiös positionieren, tendenziell eine höhere Lebenszufriedenheit angeben als Befragte, die nur wenig oder nicht religiös sind. Die Ergebnisse sind aber zeitlich nicht unbedingt konsistent. Während in der Frühphase des Lockdowns bei Religiösen eine höhere Lebenszufriedenheit sichtbar ist, unterscheiden sich die Gruppen über die Osterzeit im April kaum voneinander. Dies könnte vielleicht (auch) daran liegen, dass das Fehlen von Gottesdiensten in der Osterzeit für kirchlich religiöse Menschen eine deutliche Verschlechterung des Lebensgefühls bedeutet. In den Phasen der ersten Öffnung scheint die Lebenszufriedenheit bei höherer Religiosität wieder stärker anzusteigen und im weiteren Verlauf der Pandemie bis über den Sommer anzuhalten.

Abb. 5.2
figure 2

(Quelle: ACPP-Studie, Welle 1 −14, ungewichtete Daten)

Konventionelle Religiosität und Lebenszufriedenheit im Zeitverlauf.

Dies zeigt sich auch an den signifikanten Unterschieden zwischen den Gruppen, die in den einzelnen Erhebungsdaten vermerkt sind.Footnote 17 So zeigt sich sowohl in der Woche rund um den 25. April 2020 sowie Mitte Mai und tendenziell auch in den Sommermonaten, dass bei hoher Religiosität eine höhere Lebenszufriedenheit berichtet wird.

Es stellt sich nun die Frage, ob diese Unterschiede auch je nach Ausmaß der spirituellen Orientierung in ähnlicher Form beobachtbar sind. Dies ist, wie Abb. 5.3 zeigt, zumindest ansatzweise der Fall. Von Interesse ist, dass hochgradig spirituelle Personen eher in den frühen Phasen des ersten Lockdowns zu einer höheren Lebenszufriedenheit finden und somit möglicherweise unmittelbar nach dem Eintritt kritischer Lebensereignisse auf kompensatorische Ressourcen zugreifen können. Denn es zeigt sich nur in den ersten Erhebungen (insbesondere in der Woche rund um den 04.04.2020) eine erhöhte Ausprägung der Lebenszufriedenheit bei spirituell orientierten Personen, während sich im weiteren Verlauf (insbesondere ab Mitte Mai) die Unterschiede nivellieren. Insgesamt fallen die Unterschiede nach Lebenszufriedenheit in Bezug auf Spiritualität geringer aus, es ist nur im Rahmen der ersten Messungen ein statistisch bedeutsamer Unterschied zwischen den Gruppen vorhanden.

Abb. 5.3
figure 3

(Quelle: ACPP-Studie, Welle 1 −14, ungewichtete Daten)

Spiritualität und Lebenszufriedenheit im Zeitverlauf.

Während die Lebenszufriedenheit eher auf eine kognitive Bewertung des Lebens abzielt, geraten auch affektive Gefühlszustände im Zuge der Pandemie stärker ins Wanken. So ist anzunehmen, dass gerade am Beginn der Krise intensivere Gefühlsausbrüche erfolgen und auch depressive Verstimmungen zunehmen (vgl. hierzu für Österreich Pieh et al. 2020). Eine religiöse und spirituelle Orientierung kann in schwierigen Zeiten als Kompensation dienen, negative Gefühlsausbrüche zu kontrollieren. Tatsächlich lässt sich aber in den Daten kein Zusammenhang zwischen konventioneller Religiosität und positiven oder negativen Gefühlslagen feststellen. Bei einer erhöhten spirituellen Orientierung kann in einzelnen Erhebungen ein höherer Grad an negativen Gefühlslagen beobachtet werden, wobei die Ergebnisse in den meisten Erhebungswellen nicht statistisch bedeutsam sind. Von Interesse ist jedoch, dass spirituell aktive Personen übereinstimmend und in nahezu allen Erhebungswellen eine signifikant höhere Frequenz an positiven Affekten berichten (Abb. 5.4). Sie sind also öfter ruhig und gelassen, glücklich und voller Energie.

Abb. 5.4
figure 4

(Quelle: ACPP-Studie, Welle 1 −14, ungewichtete Daten)

Spiritualität und positive Affekte im Zeitverlauf.

Da sich der Effekt ausschließlich bei hoher Spiritualität zeigt, ist anzunehmen, dass in spirituellen Milieus generell ein sensitiver Umgang mit der Krise propagiert wird und wohl eher versucht wird, auftretenden Gefühlen freien Lauf zu lassen. Insofern müssten sich auch bei den Mechanismen der Krisenbewältigung relevante Unterschiede zeigen. Wenn man die Coping-Strategien in der Erhebungswelle 13 (im Juli 2020) nach Spiritualität und Religiosität vergleicht, wird ersichtlich, dass sich sowohl stark religiöse als auch spirituelle Personen häufiger aktiv mit der Krise auseinandersetzen und nach Unterstützung suchen (siehe Abb. 5.5 und 5.6).Footnote 18 Insgesamt wird der Krise (im zeitlichen Kontext des niedrigen Infektionsgeschehens im Sommer) eher mit Optimismus und Humor begegnet, wobei die Unterschiede zwischen den Gruppen eher gering ausfallen. Auch im Mechanismus der Verdrängung, der insgesamt eine geringere Relevanz aufweist, finden sich keine bedeutsamen Unterschiede. Religiöse Menschen neigen etwas häufiger zu Verdrängung als nicht religiöse. Bei Spiritualität zeigt sich tendenziell ein umgekehrter Zusammenhang: Hier ziehen spirituell orientierte Personen die Coping-Strategie der Verdrängung weniger häufig in Betracht.

Abb. 5.5
figure 5

Coping-Strategien nach Religiosität

Abb. 5.6
figure 6

Coping-Strategien nach Spiritualität

Abb. 5.7
figure 7

Zufriedenheit mit der Regierung, Institutionenvertrauen und Einhaltung der Corona-Maßnahmen nach Religiosität

Abb. 5.8
figure 8

Zufriedenheit mit der Regierung, Institutionenvertrauen und Einhaltung der Corona-Maßnahmen nach Spiritualität

In weiterer Folge wird nun analysiert, wie religiös und spirituell orientierte Personen zu den staatlichen Krisenmanagementstrategien stehen, welches Vertrauen sie den österreichischen Institutionen entgegenbringen und ob sie die Corona-Verhaltensrichtlinien persönlich befolgen (siehe Abb. 5.7 und 5.8). Bei diesen Aspekten lässt sich eine beachtliche Einstellungs- und Verhaltensdiskrepanz zwischen den verschiedenen religiösen Orientierungen feststellen. Insgesamt wird erkennbar, dass Personen mit hoher konventioneller Religiosität stärker zu Obrigkeitshörigkeit neigen als nicht religiöse Personen. Die Zufriedenheit mit der Bundesregierung ist deutlich höher, zudem werden die gesetzten Maßnahmen überproportional häufig eingehalten.Footnote 19 Insgesamt zeigt sich, dass religiöse Personen ein hohes Vertrauen zu österreichischen Institutionen mitbringen, was durchaus bestätigt, dass Religiosität mit einem Vertrauensvorschuss gegenüber Mitmenschen und Institutionen einhergeht (z. B. Daniels und von der Ruhr 2010). Im Gegensatz dazu wird bei spirituell orientierten Personen eine größere Distanz zur Bundesregierung, zu Institutionen und zu den Corona-Verhaltensrichtlinien deutlich. Gerade aktiv spirituelle Personen opponieren stärker gegen die gesetzten Maßnahmen, wodurch sich eine äußerst skeptische Sichtweise zu den staatlich verordneten Verhaltensrichtlinien offenbart.

Diese alternative Sichtweise schlägt sich schließlich auch im solidarischen Bewusstsein nieder (Abb. 5.9 und 5.10). Zwar sind sowohl spirituelle als auch religiöse Personen bereit, in Zukunft höhere Steuern zu zahlen, um die Leidtragenden der Krise entsprechend zu unterstützen. Jedoch gehen in Fragen des bedingungslosen Grundeinkommens und im Appell für eine starke staatliche Einflussnahme auf wohlfahrtsstaatliche Sicherung die Meinungen erneut weit auseinander. Während religiöse Österreicher*innen sich tendenziell stärker gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen positionieren als nicht religiöse, treten spirituell orientierte Personen ungleich stärker dafür ein, als jene, die keinen spirituellen Aktivitäten nachgehen. Von Interesse ist auch, dass sich sowohl konventionell religiöse Personen (wohl aufgrund des erhöhten politischen Vertrauens) als auch nicht religiöse für eine starke wohlfahrtsstaatliche Lenkung des Staats aussprechen, während spirituell orientierte Personen einer hohen Zuschreibung der Verantwortung an den Staat kritisch gegenüberstehen. Insofern orientieren sich religiöse Menschen im solidarischen Handeln eher an bestehenden Regulationen. Etablierte Elemente der staatlichen Fürsorge sollen weiterhin angewendet werden, während eine radikale Neuausrichtung von Umverteilungsmaßnahmen eher abgelehnt wird. Die sichtbare Distanz zur Regierungsarbeit, zu gesetzten Maßnahmen und zu etablierten Strategien der sozialen Sicherung, offenbart sich viel deutlicher bei aktiv spirituellen Personen, wodurch der staatliche Weg der Krisenbewältigung wenig Legitimation erfährt. Jene Gruppe tritt aktiv in Opposition zu staatlichen Vorgaben und scheint sich tendenziell eher für innovative Wege der Umverteilung in der Post-Corona-Gesellschaft stark zu machen.

Abb. 5.9
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Befürwortung von sozialstaatlichen Maßnahmen nach Religiosität

Abb. 5.10
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Befürwortung von sozialstaatlichen Maßnahmen nach Spiritualität

5 Resümee

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor die christlich-kirchliche Religiosität in den europäischen Gesellschaften stark an Bedeutung. Ein kleiner, im Zeitverlauf leicht steigender Teil der Bevölkerung hat sich neuen spirituellen Praktiken zugewandt. Insgesamt dürften jedoch sowohl Religion, als auch Spiritualität im Alltagsleben eines großen Teils der heutigen Menschen nur (mehr) einen relativ geringen Stellenwert einnehmen. Dies hat sich, wie unsere Ergebnisse nahelegen, in Zeiten der Pandemie nicht geändert, wobei jedoch je nach religiöser oder spiritueller Orientierung durchaus Unterschiede in der individuellen Krisenbewältigung und in gesellschaftspolitisch relevanten Einstellungen zutage treten.

Der Vergleich von Umfragedaten während der Zeit der Covid-19-Pandemie mit den Ergebnissen repräsentativer Bevölkerungsumfragen aus den vorhergehenden Jahren zeigt, dass sich – gemessen an gängigen Indikatoren wie die Häufigkeit des Betens oder des Meditierens – der Grad der Religiosität der österreichischen Bevölkerung seit dem Beginn der Corona-Krise insgesamt nur wenig verändert hat. Präzise Aussagen sind zwar aufgrund unterschiedlicher Methoden der Stichprobenziehung und Datenerhebung nicht möglich; zudem muss bei diesem Vergleich berücksichtigt werden, dass die Ausübung gemeinschaftlicher religiöser oder spiritueller Praktiken durch die sozialen Distanzregelungen phasenweise stark erschwert wurde. Trotz dieser methodologischen Unsicherheitsfaktoren erscheint angesichts der empirischen Ergebnisse die Annahme plausibel, dass die Erfahrungen der Covid-19-Pandemie bei einem großen Teil der Bevölkerung kein verstärktes Bedürfnis nach religiöser Sinngebung hervorgerufen haben. Die Ergebnisse des Austrian Corona Panel Projects deuten jedoch darauf hin, dass in der relativ kleinen Gruppe von Menschen, die sich durch das Virus stark gesundheitlich bedroht fühlen bzw. selbst an Corona erkranken, der Grad der Religiosität und Spiritualität doch etwas höher ist als bei Menschen, die sich durch Corona weniger bedroht fühlen. Die religionssoziologische These, dass Menschen in Situationen starker existenzieller Unsicherheit vermehrt den Trost der Religion suchen, wird somit durch unsere Ergebnisse ansatzweise bestätigt. Zugleich aber zeigen die Ergebnisse, dass selbst die größte humanitäre Katastrophe in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bei sehr vielen Menschen (unter den Rahmenbedingungen unseres heutigen Wohlfahrtsstaats) letztlich keine allzu starken existenziellen Bedrohungsgefühle auslöst und – wenn man dem Argumentationsrahmen der „Existential Security These“ (Norris und Inglehart 2011) folgt – dementsprechend auch kein vermehrtes Bedürfnis nach Religion hervorruft.

Aus den Ergebnissen im zweiten Teil dieses Beitrags wird ersichtlich, dass Religiosität und Spiritualität sehr wohl gewisse Auswirkungen darauf haben, wie Menschen die Corona-Krise emotional bewältigen, wie sie die staatliche Krisenpolitik beurteilen und welche persönliche Haltung sie zu den staatlich verordneten Sicherheitsmaßnahmen und zur Frage der gesellschaftlichen Solidarität einnehmen. Religiöse und spirituelle Menschen zeigen tendenziell eine höhere Lebenszufriedenheit als nicht religiöse und nicht spirituelle (zwischen den einzelnen Erhebungswellen bestehen allerdings erhebliche Schwankungen). Religiöse und Spirituelle weisen ihrer subjektiven Selbstwahrnehmung zufolge auch ein aktiveres Coping-Verhalten auf, d. h. sie geben häufiger an, sich aktiv mit der Krise auseinanderzusetzen und Unterstützung bei anderen zu suchen.

In Hinblick auf die Einstellung zur staatlichen Corona-Krisenpolitik und den Umgang mit den Covid-Sicherheitsmaßnahmen konnten wir hingegen zum Teil markante Unterschiede zwischen religiösen und spirituellen Befragten feststellen. Religiöse Personen haben (im Vergleich zur Gesamtstichprobe) ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen in staatliche Institutionen; dementsprechend haben sie auch eine erhöhte Bereitschaft, die staatliche Krisenpolitik zu akzeptieren und die Corona-Sicherheitsbestimmungen (soziale Distanzregeln, Maskentragen) einzuhalten. Befragte, die spirituelle Praktiken ausüben, haben hingegen ein signifikant geringeres Vertrauen in staatliche Institutionen, sie stehen der staatlichen Krisenpolitik kritischer gegenüber und äußerten zum Zeitpunkt der Befragung (im August 2020) eine geringere Bereitschaft, die Corona-Sicherheitsbestimmungen einzuhalten als die restlichen Befragten. Diese sozialen Orientierungen lassen sich unmittelbar aus den religiösen Grundorientierungen der beiden Gruppen ableiten: einer stärkeren Gehorsamsmentalität, aber auch einer höheren Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für und Solidarität mit den Mitmenschen auf Seite der Kirchlich-Religiösen (Hoof 2010), eine stärkere Betonung der Autonomie und der Verantwortung jedes Menschen für sich selbst auf Seite der Spirituellen (Endler 2019). Die geringere Bereitschaft der spirituell Aktiven zur Einhaltung der Corona-Sicherheitsbestimmungen könnte auch damit zu tun haben, dass diese Gruppe auch während der Corona-Zeit stärker unter den Einschränkungen des Lebens gelitten hatte, während die Kirchlich-Religiösen ihren Aktionsradius bereitwilliger einschränkten. Je nachdem, wie man die jeweilige Haltung zum Staat und zu den Corona-Sicherheitsbestimmungen beurteilt, kann man den Kirchlich-Religiösen eine erhöhte Neigung zu Obrigkeitsgläubigkeit vorwerfen oder aber hervorheben, dass sie in Krisenzeiten eher bereit sind, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen. Im umgekehrten Fall können das Autonomiebedürfnis und das kritische Verhältnis der Spirituellen zu Autoritäten dazu führen, dass sie auch in Krisenzeiten, in denen soziale Einschränkungen und Rücksichtnahme angebracht wären, ihr Eigeninteresse über das Gemeinwohl stellen.

Religiöse und spirituelle Personen unterscheiden sich auch deutlich hinsichtlich ihrer Einstellung zum Sozialstaat und zur Frage der sozialen Umverteilung. Beide Gruppen haben zwar laut ihren Angaben im Fragebogen eine höhere Bereitschaft als nicht religiöse Menschen, als Beitrag zur Bewältigung der ökonomischen Folgen der Krise in Zukunft mehr Steuern zu zahlen. Kirchlich-Religiöse sprechen sich zudem überproportional häufig für die Aufrechterhaltung des bisherigen Sozialstaats und somit für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo aus, sie lehnen aber radikalere politische Eingriffe in das Sozialsystem in Form der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens häufiger ab als andere. Bei den Spirituellen verhält es sich umgekehrt: Sie haben eine überdurchschnittlich starke Sympathie für die (bis dato) utopische Idee der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, sprechen sich aber gegen eine starke Rolle des Staats (auch im Sinne einer wohlfahrtsstaatlichen Lenkung) aus. Infolge dessen wird auch den staatlichen Krisenmanagementstrategien wenig Legitimation entgegengebracht. In der Krisenerfahrung erfolgt ein starker Rückzug ins Private, eine starke Beschäftigung mit den eigenen Emotionen, verbunden mit einer geringeren Bereitschaft im Sinne des Gemeinwohls Verhaltenseinschränkungen zu akzeptieren. Insofern wird bei konventionell religiösen Menschen eher Solidarität im Sinne sozialer Unterstützung und gesellschaftlicher Verantwortung gelebt, während bei spirituellen Personen ein tief greifender Wandel der Solidarität postuliert wird. Diese imaginierte Solidarität spiegelt sich im Wunsch nach einer gerechteren Post-Corona-Gesellschaft wider, die im Idealfall alle Menschen unabhängig von Status und Herkunft miteinschließen sollte.