In der Tat: Auch wenn Jugenddeliquenz aus kriminologischer Sicht und im polizeilichen Konsens
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a)
„ubiquitär“, also in allen sozialen Schichten, vorkommt,
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b)
episodisch auf das Jugendalter beschränkt bleibt,
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c)
innerhalb der gleichen Altersgruppe besonders bei Jungen typisch ist,
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d)
in den verbreitesten Formen (einfache Körperverletzung, Diebstahl, wiederholtes „Schwarzfahren“, Konsum illegaler Drogen und bei 16- bis 21jährigen Verkehrsdelikte wie „Fahren ohne Fahrerlaubnis“) sogenannte „Bagatellkriminalität“ umfasst und
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e)
sich zu 60 % auf eine kleine Gruppe von Mehrfachtätern konzentriert (zusammenfassend: Pütter 2022, S. 78ff),
wird in Armutsstadtteilen bei den meisten dort auf der Anklagebank sitzenden Jugendlichen deutlich: Sie sind von prekären materiellen Lebensbedingungen bzw. Bildungsarmut betroffen, sozial marginalisiert und durch ihre bildungsungewohnten Eltern und/oder die eigenen biographischen, insbesondere schulischen Erfahrungen nicht besonders erfolgsverwöhnt. Spätestens in der Pubertät brauchen sie Geld und nichtmaterielle Ressourcen wie geteilte Aufmerksamkeit und „action“, um sich ihre in der eigenen Familie, in der Schule, im Sportverein oder Jugendeinrichtung bisher nicht erreichte soziale Anerkennung stattdessen in der Peer-Gruppe als „Ersatzfamilie“ (v. Wolffersdorff 2016, S. 636) über Statussymbole wie Markenkleidung/Handy und Zugang zu „jugendgefährdenden“ Internet-Produkten sowie bei den Jungen zusätzlich über den Ersatz körperlicher Gewalt auch gegen Schwächere und anders Denkende verschaffen zu können. Auf diese Weise machen manche männliche Jugendliche schnell Karriere vom kleinen Drogenkurier zum größeren Gebäudekurier bei Einbrüchen. Anerkennung durch Leistungserfolge in Schule, Ausbildung und Betrieb erfordern dagegen meist ein längeres Durchhaltevermögen mit einer höheren Frustrations- und Ambiguitätstoleranz.
Nicht nur im Duisburger Norden, auch in anderen Armutsvierteln vieler Kommunen sind die biographische Erfahrungen jugendlicher Angeklagter Massenphänomene in Form von extrem aggressivem Verhalten, unregelmäßigen Schulbesuch (häufig schon seit der Grundschule), damit verbunden fehlender gegenseitig wertschätzender und vertrauensvoller Kommunikation zwischen Schule und Eltern, dem Ausstieg der Jugendlichen aus den ihnen von der Arbeits- und Sozialverwaltung mit Sanktionsandrohung zugewiesenen, aber noch wenig interkulturell kompetent umgesetzten „Forder- und Fördermaßnahmen“ gemeinnütziger freier Träger zur Berufsvorbereitung („Parkschleifen“) oder dem Abbruch der Ausbildung. Die dem angemessenen Formen von Prävention und Repression werden seit Jahren nicht nur in der Fachöffentlichkeit spätestens seit dem tragischen Tod der auch publizistisch für ihr konsequent sanktionierendes Handeln gegen jugendliche Gewalttäter engagierten Berliner Jugendrichter in Kirsten Heisig (2010) kontrovers diskutiert, zumal wenn die Jugendlichen hier mit familiärer Einwanderungsgeschichte, aber ohne deutsche Staatsbürgerschaft und (auch wegen Straffälligkeit) ungesichertem Aufenthaltsstatus als „Inländer“ aufgewachsen sind.
Dem Aufenthaltsrecht sind die dem Jugendstrafrecht teilweise zugrundeliegenden kriminologischen und pädagogischen Erkenntnisse fremd (Graebsch 2016). Da Jugendliche aus prekären Lebensverhältnissen mit ausländischer Staatsangehörigkeit und Einwanderungsgeschichte aus Nicht-EU-Ländern des globalen Südens ohne Bleiberecht (d. h. wenn sie keine oder nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis haben) bei Verurteilung zu einer Jugendstrafe vor mehr als einem Jahr in ihrem aufenthaltsrechtlichen Status zurückgestuft bzw. ohne Aufenthaltsrecht hier nur „geduldet“ und damit jederzeit auch ausgewiesen werden können, entscheidet die zuständige Ausländerbehörde als staatliches Exekutivorgan wie eine nachgelagerte Sanktionsinstanz der Judikative, unter welchen Umständen eine aufenthaltsrechtliche Statusverschlechterung als „zusätzliche Quasi-Strafe“ oder gar eine Doppelbestrafung durch Abschiebung angedroht bzw. vollzogen werden kann (Graebsch 2016; Walberg 2016). Damit haben einzelne Sachbearbeiter_innen de facto erhebliche Macht über die Lebensperspektiven der Jugendlichen – insbesondere gegenüber Langzeitgeduldeten mit „ungeklärter Identität“, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, ja hier geboren sind.
Der Beitrag von Beate Krafft-Schöning über ein Präventionsmodell mit sogenannten „nichtbeschulbaren“ männlichen Fünft-Klässlern einer Sekundarschule in einer Nachbargemeinde von Bremen zeigt, dass es auch bei Schülern mit Einwanderungsgeschichte keineswegs zwingend ist, auf extrem verbal und körperlich aggressives Verhalten noch nicht strafmündiger Kinder in der Schule mit traditionellen Exklusionsmechanismen des Bildungssystems (wiederholte Sanktionen bis zum Ausschluss vom Unterricht/Schulverweis oder im günstigsten Falle die Überweisung an eine Förderschule für „emotional-soziale Entwicklung“) zu reagieren. Das in der Schule erprobte Konzept illustriert, wie Schulsozialarbeit den mit besonders gewaltsam auftretenden Schülern verbundenen systemischen Herausforderungen in kurzer Zeit mit Hilfe einer konsequent inklusiven, wertschätzenden Sozialpädagogik erfolgreich begegnen kann.
Abschließend beleuchtet Sascha Weber historische, rechtsstaatliche, politische und funktionsspezifische Voraussetzungen und Grenzen einer effektiveren Kooperation von Justiz und Sozialer Arbeit aus system- und steuerungstheoretischer Sicht im Sinne des Governance-Ansatzes. Der Beitrag ist als programmatischer Entwurf einer differenzierten organisationstheoretischen Analyse der notorischen Probleme bei der Zusammenarbeit zwischen den jeweils zuständigen institutionellen Akteuren im Umgang mit Prävention und Repression zu verstehen. Er bietet einen ersten Orientierungsrahmen für eine vertiefte Analyse solcher Kommunikationsprobleme, wie sie in den nachfolgenden Artikeln von R. Schilling, H. Thomé und B. Krafft-Schöning dargestellt werden.
Die Lebenswelt der jugendlichen Angeklagten, ihre biographischen Erfahrungen, die Bildungsarmut und die kulturell-sprachliche Diversifizierung der Mehrfachtäter_innen steht im Gegensatz zu den Mittelschichtmilieus der in der Schule, der Sozialen Arbeit und in den staatlichen Sicherheitsorganen (Polizei, Justiz), aber auch in der Arbeits- und Gesundheitsverwaltung (Umgang mit der Corona-Pandemie!) tätigen Professionen. Dies erfordert bei diesen Akteuren über differenzierte Rechts- und Verwaltungskenntnisse weit hinausgehende Qualifikationen – vor allem persönliche und interkulturelle Kompetenz – des beteiligten Personals auf allen Hierarchieebenen besonders in Regionen/Kommunen mit großem Anteil an Straftäter_innen mit EinwanderungsgeschichteFootnote 4 und stärkere Einbeziehung von Schulen in die Präventionsarbeit bereits vor der Strafmündigkeit, aber erst recht für 14- bis 21jährige Schüler_innen.
Wenn die mit stark normabweichend auffällig gewordenen jungen Menschen konfrontierten Lehrer_innen, Jugendsachbearbeiter_innen der Polizei, Jugendstaatsanwälte, Jugendrichter_innen, Mitarbeiter_innen der Jugendgerichtshilfe, Bewährungshelfer_innen oder Sozialarbeiter_innen und Psycholg_innen in Justizvollzugsanstalten für ihren innerhalb der eigenen Profession ohnehin schon wenig prestigeträchtigen Job nicht motiviert sind und die Zuweisung ihrer formalen Zuständigkeit durch Vorgesetzte oder Kolleg_innen innerhalb des jeweiligen Systems eher als notgedrungen hinzunehmen oder gar als „Strafversetzung“ empfinden, stehen wie in jedem anderen Beruf auch schlechte Chancen für die fachgerecht Umsetzung der Ziele, Aufgaben und Maßnahmen der Organisation, in diesem Falle für eine nachhaltige Inklusion der von dauerhafter Exklusion bedrohten Klientel.
Eine Folge davon ist fehlendes Vertrauen der von Armut betroffenen, bildungsungewohnten Familienangehörigen in Schule, Jugendamt/JGH und die staatlichen Sicherheitsorgane: Sie werden trotz anders lautender Gesetzeslage zu wenig bzw. durch nicht zielführende traditionelle mündliche bzw. schriftliche Kommunikation in der deutschen Schrift‑/Amts- und Schulsprache (die selbst für Akademiker_innen mit B3-Kompetenz schwer verständlich ist) über die eigenen Rechte und Pflichten als Lernende/Tatverdächtige/Beschuldigte/Verurteilte nach dem JGG aufgeklärt. Bei kaum deutsch sprechenden bildungsungewohnten Familien mit Einwanderungsgeschichte führen auch grammatisch korrekt in die jeweiligen Amtssprachen der Herkunftsstaaten übersetzte und bunt gestaltete Flyer oder Internetseiten (z. B. in Hocharabisch für Geflüchtete aus dem Nahen Osten oder in Rumänisch und Bulgarisch für Rom_nja aus diesen EU-Staaten) ohne einfach verständliche Piktogramme und zusätzliche mündliche Vermittlung durch sprachlich-kulturell kompetente Vertrauenspersonen aus den Communitys nicht zu einer effektiven Kommunikation zwischen den Akteuren der Sozialen Arbeit, der Justiz und dem Bildungssystem einerseits und den sprachlich-kulturell diversen Lebenswelten der mit diesen staatlich gesteuerten Funktionssystemen konfrontierten Migrant_innen (vgl. Schweitzer 2018, S. 455; 2019).