Die Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit sind immer wieder mit den Sicherheits- und Rechtspflegeorganen des Staates (Polizei, Verfassungsschutz, Staatsanwaltschaft, Rechtsanwälten, Gerichten) konfrontiert. Problematisch hierbei ist, wenn der jeweils wahrgenommene Ausschnitt der Realität von den beteiligten Akteuren pars pro toto genommen wird. Das Interaktionsfeld der institutionellen Akteure ist jedoch deutlich weitläufiger und die Schnittstellen wesentlich komplexer, als es die jeweiligen Engführungen der Sichtweisen nahelegen.

Grundsätzlich fehlt eine Landkarte des Interaktionsfeldes von Sozialer Arbeit und Rechtspflege/Sicherheitsorganen, die sowohl die persönlichen Interaktionen als auch die Kommunikation der Organisationen insgesamt verständlich macht. Der Schwerpunkt kann diese Landkarte nicht ersetzen. Er soll stattdessen Ebenen und Berührungspunkte dieser oft als „ungleiche Geschwister“ bezeichneten Akteure der Sicherung zentraler gesellschaftlich ausgehandelter Normalisierungskonstruktionen und -Prozesse in einem demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat beleuchten, um der Verkürzung „Soziale Arbeit und …“ etwas auf die Schliche zu kommen und ungerechtfertigte Engführungen zu vermeiden.

Aus der Organisationsperspektive problematisieren beispielsweise Möller (2019) und auch Feltes (2018) in seinem Handbuchbeitrag nur den Ausschnitt „Jugendhilfe und Jugendsachbearbeiter der Polizei“ mit vereinfachenden Zuschreibungen. „Primäre Aufgabe der Polizei ist die Kontrolle, die der Sozialen Arbeit die Hilfe“ (Feltes 2018, S. 1441). Die differenzierte wissenschaftliche Darstellung und Vermeidung von Übersimplifikationen ist eine zugegebenermaßen im Format knapp zu haltender Artikel in Fachpublikationen anspruchsvolle Aufgabe, der auch die Beiträge dieses Themenschwerpunktes notwendigerweise kaum gerecht werden können. Die Diskursrekonstruktion von Scherr und Schweitzer (2021) zu Verbindungslinien zwischen Jugendhilfe und Polizei, aber auch die übrigen Beiträge des Schwerpunkts „Sozialarbeit und Polizei“ (Sozial Extra 3|21) zeigen, dass in der Vergangenheit solche Engführungen bezogen auf gemeinsame Arbeitsfelder und jeweils getrennte Selbstbilder bzw. Fremdzuschreibungen des „Hilfe/Sorge“-Paradigmas der Sozialarbeit einerseits und der repressiven Kontrollfunktion der Polizei andererseits zumindest in Deutschland (im Unterschied etwa zu den entsprechenden Funktionssystemen in Staaten mit anderer Rechts- und Organisationstradition, wie etwa die USA) üblich waren, inzwischen aber hierzulande aufzubrechen beginnen (Lutz 2017; Scherr 2018). Zum Verhältnis von Sozialarbeit und Polizei in Deutschland gibt es neuerdings eine systematische, wenn auch hinsichtlich der aktuellen Rechtslage seit der Novelle des Jugendgerichtsgesetzes 2019 (vgl. Schilling 2021) nicht ganz aktuelle Darstellung der zentralen Schnittfelder beider Professionen (Pütter 2022).

Es fehlt bislang ein analoger systematischer Überblick zum Interaktionsfeld von Sozialer Arbeit und Justizorganen, der die Besonderheiten der Kooperation aus beiden Richtungen reflektiert und an den Schnittstellen parallele bzw. trennende Tendenzen von Prävention, Intervention und Repression analysiert. Erste Hinweise zum Analyserahmen der Beziehung zwischen Sozialer Arbeit und dem Funktionssystem Recht in der moderenen Gesellschaft geben Bommes/ Scherr (2012, 233ff). Höynck (2016) z. B. konzentriert sich in ihrem Handbuchbeitrag zur Jugendgerichtshilfe (JGH) auf die Rolle der Jugendhilfe im Strafverfahren. Zum Verständnis der Kommunikationswege und Probleme zwischen den Akteuren müssen jedoch mehrere Perspektiven betrachtet werden, die die Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit hervorheben können. Nimmt man die Gemeinsamkeiten beider Akteure in den Blick, so geht es um die Klient_innen bzw. Gruppen bzw. Arbeitsfelder. In einer zweiten Perspektive können beide Akteure als Organisationen betrachtet und in ihrem spezifisch deutschen Verhältnis (Trägerstrukturen, Föderalismus u. ä.) nebeneinandergestellt werden.

In diesem theoretischen Rahmen liegt der Fokus der folgenden Beiträge auf den wesentlichen Schnittstellen im Umgang mit abweichendem Verhalten von jungen Menschen mit Mitteln der Prävention und Repression innerhalb und zwischen einerseits der Sozialen Arbeit als organisierter Hilfe im Sozialstaat (hier durch Sozialarbeit mit Einzelfällen) und sozialpädagogischen Methoden sozialer Gruppenarbeit im Rahmen der Jugendhilfe/JGHFootnote 1 bzw. der Schule als Teil des Erziehungssystems (Bommes/Scherr 2012, S. 229-235) und anderseits den zentralen Organen der öffentlichen Sicherheit und Rechtspflege des Staates, d. h. Polizei, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und dem für die unmittelbare Zukunft der Angeklagten entscheidenden Jugendgericht, die alle ihr Handeln am Leitprinzip des „Erziehungsgedankens“ im Jugendgerichtsgesetzes (JGG) auszurichten haben. Aus Platzgründen außen vorFootnote 2 bleiben die Bewährungshilfe als Teil des Jugendgerichts und die Jugendvollzugsanstalten mit ihren unterschiedlichen Präventions- und Repressionsformen zur Umsetzung des ebenfalls dem Erziehungsgedanken verpflichteten Jugendstrafvollzugrecht (Graebsch 2018) und entsprechenden Kompetenzen des nicht bewachenden Personals (Sozialarbeiter_innen, Psycholog_innen, Handwerksmeister_innen, Sportpädagog_innen und u. U. auch des Küchenpersonals).Footnote 3

Der Beitrag des Kriminologen Rüdiger Schilling beleuchtet neue Möglichkeiten zur effektiveren und letztlich effizienteren Interaktion zwischen der JGH als hybrider Organisation der Sozialer Arbeit im Schnittfeld von Rechtsstaat und Sozialstaat und den Teilfunktionssystemen der Sicherheitsorgane Polizei und Staatsanwaltschaft unter einem vielfach auch räumlich gemeinsamen Dach in sogenannten „Häusern des Jugendrechts“ (HdJR). Seine Analyse verschiedener Konstruktionsmodelle aus der Praxis in unterschiedlichen Bundesländern und Kommunen für diesen Kooperationsraum mündet angesichts der dort bearbeiteten Problemlagen und fehlender gemeinsamer Erfolgskriterien in der Forderung, verbindliche Standards als „Mindestvoraussetzung und eine Art Fundament“ für die institutionalisierte Zusammenarbeit zu schaffen. Um die Gefahr der Verwischung der jeweiligen Aufgaben und Systemgrenzen zwischen den drei beteiligten Organisationen durch informelle Gemeinschaftsbildung der Akteure zu reduzieren, plädiert Schilling dafür, als „Pretest“ zunächst einmal die „virtuelle“ Variante verstärkter und beschleunigter systematischer Kommunikation zwischen JGH, Jugendsachbearbeiter_innen der Polizei und den Jugendstaatsanwaltschaften zu erproben. Falls diese sich als unzureichend erweisen sollte, könne die Arbeit in einem gemeinsamen Gebäude organisiert werden, wenn dabei zur Sicherung einer vertrauensvollen Arbeit mit den Klienten die räumliche Eigenständigkeit der JGH gewährleistet ist.

Aus Gründen der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative in einem demokratischen Rechtsstaat ist das Jugendgericht als „entscheidende“ Instanz der Jugendrechtspflege weder virtueller noch materieller Teil der HdJR. Vor diesem Hintergrund vermittelt der Beitrag des Jugendrichters Hendrik Thome einen anschaulichen Einblick in die rechtlichen, organisatorischen und konzeptionell-pädagogischen Fragestellungen der Zusammenarbeit von Justiz und Jugendhilfe in Strafverfahren bei 14- bis 21jährigen Angeklagten. Betroffenen sind junge Menschen mit migrantischer Geschichte und vielfältigen Diskriminierungserfahrungen ihrer Familien bereits in deren Herkunftsstaaten Türkei, dem Libanon, Rom:nja Bulgarien und aus Rumänien. Aufgewachsen sind sie unter besonders prekären Lebensverhältnissen in den von privater und öffentlicher Armut gekennzeichneten Stadtvierteln im Duisburger Norden. Dort werden die Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte aus dem Libanon im angeblichen „No-Go-Area“-Stadtteil Marxloh auf der Grundlage einer „Politik der 1000 Nadelstiche“ wegen ihres Familiennamens als Mitglieder sogenannter „krimineller Clans“ (Boettner und Schweitzer 2020) vor allem in Wahlkampfzeiten durch politisch und medial begleitete Razzien mit mehreren Hundertschaften der Bereitschaftspolizei stigmatisiert (Kalscheuer 2022).

Im Fokus der Darstellung des Jugendrichters stehen sowohl die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Umsetzung des „Erziehungsgedanken“ des Jugendstrafrechts. Um dafür die breite Palette präventiver und repressiver Interventionsmöglichkeiten eines Jugendgerichts in einem extrem schwierigen ökonomischen, sozialen, rechtlichen, organisatorischen und personalen Handlungsrahmen umsetzen zu können, sieht es der Autor als unerlässlich an, dass sowohl die Jugendhilfe gestärkt als auch die vielfach noch nebeneinander laufenden Inklusionsbemühungen aller anderen für die soziale Infrastruktur insbesondere im Bildungsbereich zuständigen kommunalen Akteure koordiniert werden.

Jugendkriminalität in Armutsvierteln

In der Tat: Auch wenn Jugenddeliquenz aus kriminologischer Sicht und im polizeilichen Konsens

  1. a)

    „ubiquitär“, also in allen sozialen Schichten, vorkommt,

  2. b)

    episodisch auf das Jugendalter beschränkt bleibt,

  3. c)

    innerhalb der gleichen Altersgruppe besonders bei Jungen typisch ist,

  4. d)

    in den verbreitesten Formen (einfache Körperverletzung, Diebstahl, wiederholtes „Schwarzfahren“, Konsum illegaler Drogen und bei 16- bis 21jährigen Verkehrsdelikte wie „Fahren ohne Fahrerlaubnis“) sogenannte „Bagatellkriminalität“ umfasst und

  5. e)

    sich zu 60 % auf eine kleine Gruppe von Mehrfachtätern konzentriert (zusammenfassend: Pütter 2022, S. 78ff),

wird in Armutsstadtteilen bei den meisten dort auf der Anklagebank sitzenden Jugendlichen deutlich: Sie sind von prekären materiellen Lebensbedingungen bzw. Bildungsarmut betroffen, sozial marginalisiert und durch ihre bildungsungewohnten Eltern und/oder die eigenen biographischen, insbesondere schulischen Erfahrungen nicht besonders erfolgsverwöhnt. Spätestens in der Pubertät brauchen sie Geld und nichtmaterielle Ressourcen wie geteilte Aufmerksamkeit und „action“, um sich ihre in der eigenen Familie, in der Schule, im Sportverein oder Jugendeinrichtung bisher nicht erreichte soziale Anerkennung stattdessen in der Peer-Gruppe als „Ersatzfamilie“ (v. Wolffersdorff 2016, S. 636) über Statussymbole wie Markenkleidung/Handy und Zugang zu „jugendgefährdenden“ Internet-Produkten sowie bei den Jungen zusätzlich über den Ersatz körperlicher Gewalt auch gegen Schwächere und anders Denkende verschaffen zu können. Auf diese Weise machen manche männliche Jugendliche schnell Karriere vom kleinen Drogenkurier zum größeren Gebäudekurier bei Einbrüchen. Anerkennung durch Leistungserfolge in Schule, Ausbildung und Betrieb erfordern dagegen meist ein längeres Durchhaltevermögen mit einer höheren Frustrations- und Ambiguitätstoleranz.

Nicht nur im Duisburger Norden, auch in anderen Armutsvierteln vieler Kommunen sind die biographische Erfahrungen jugendlicher Angeklagter Massenphänomene in Form von extrem aggressivem Verhalten, unregelmäßigen Schulbesuch (häufig schon seit der Grundschule), damit verbunden fehlender gegenseitig wertschätzender und vertrauensvoller Kommunikation zwischen Schule und Eltern, dem Ausstieg der Jugendlichen aus den ihnen von der Arbeits- und Sozialverwaltung mit Sanktionsandrohung zugewiesenen, aber noch wenig interkulturell kompetent umgesetzten „Forder- und Fördermaßnahmen“ gemeinnütziger freier Träger zur Berufsvorbereitung („Parkschleifen“) oder dem Abbruch der Ausbildung. Die dem angemessenen Formen von Prävention und Repression werden seit Jahren nicht nur in der Fachöffentlichkeit spätestens seit dem tragischen Tod der auch publizistisch für ihr konsequent sanktionierendes Handeln gegen jugendliche Gewalttäter engagierten Berliner Jugendrichter in Kirsten Heisig (2010) kontrovers diskutiert, zumal wenn die Jugendlichen hier mit familiärer Einwanderungsgeschichte, aber ohne deutsche Staatsbürgerschaft und (auch wegen Straffälligkeit) ungesichertem Aufenthaltsstatus als „Inländer“ aufgewachsen sind.

Dem Aufenthaltsrecht sind die dem Jugendstrafrecht teilweise zugrundeliegenden kriminologischen und pädagogischen Erkenntnisse fremd (Graebsch 2016). Da Jugendliche aus prekären Lebensverhältnissen mit ausländischer Staatsangehörigkeit und Einwanderungsgeschichte aus Nicht-EU-Ländern des globalen Südens ohne Bleiberecht (d. h. wenn sie keine oder nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis haben) bei Verurteilung zu einer Jugendstrafe vor mehr als einem Jahr in ihrem aufenthaltsrechtlichen Status zurückgestuft bzw. ohne Aufenthaltsrecht hier nur „geduldet“ und damit jederzeit auch ausgewiesen werden können, entscheidet die zuständige Ausländerbehörde als staatliches Exekutivorgan wie eine nachgelagerte Sanktionsinstanz der Judikative, unter welchen Umständen eine aufenthaltsrechtliche Statusverschlechterung als „zusätzliche Quasi-Strafe“ oder gar eine Doppelbestrafung durch Abschiebung angedroht bzw. vollzogen werden kann (Graebsch 2016; Walberg 2016). Damit haben einzelne Sachbearbeiter_innen de facto erhebliche Macht über die Lebensperspektiven der Jugendlichen – insbesondere gegenüber Langzeitgeduldeten mit „ungeklärter Identität“, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, ja hier geboren sind.

Der Beitrag von Beate Krafft-Schöning über ein Präventionsmodell mit sogenannten „nichtbeschulbaren“ männlichen Fünft-Klässlern einer Sekundarschule in einer Nachbargemeinde von Bremen zeigt, dass es auch bei Schülern mit Einwanderungsgeschichte keineswegs zwingend ist, auf extrem verbal und körperlich aggressives Verhalten noch nicht strafmündiger Kinder in der Schule mit traditionellen Exklusionsmechanismen des Bildungssystems (wiederholte Sanktionen bis zum Ausschluss vom Unterricht/Schulverweis oder im günstigsten Falle die Überweisung an eine Förderschule für „emotional-soziale Entwicklung“) zu reagieren. Das in der Schule erprobte Konzept illustriert, wie Schulsozialarbeit den mit besonders gewaltsam auftretenden Schülern verbundenen systemischen Herausforderungen in kurzer Zeit mit Hilfe einer konsequent inklusiven, wertschätzenden Sozialpädagogik erfolgreich begegnen kann.

Abschließend beleuchtet Sascha Weber historische, rechtsstaatliche, politische und funktionsspezifische Voraussetzungen und Grenzen einer effektiveren Kooperation von Justiz und Sozialer Arbeit aus system- und steuerungstheoretischer Sicht im Sinne des Governance-Ansatzes. Der Beitrag ist als programmatischer Entwurf einer differenzierten organisationstheoretischen Analyse der notorischen Probleme bei der Zusammenarbeit zwischen den jeweils zuständigen institutionellen Akteuren im Umgang mit Prävention und Repression zu verstehen. Er bietet einen ersten Orientierungsrahmen für eine vertiefte Analyse solcher Kommunikationsprobleme, wie sie in den nachfolgenden Artikeln von R. Schilling, H. Thomé und B. Krafft-Schöning dargestellt werden.

Die Lebenswelt der jugendlichen Angeklagten, ihre biographischen Erfahrungen, die Bildungsarmut und die kulturell-sprachliche Diversifizierung der Mehrfachtäter_innen steht im Gegensatz zu den Mittelschichtmilieus der in der Schule, der Sozialen Arbeit und in den staatlichen Sicherheitsorganen (Polizei, Justiz), aber auch in der Arbeits- und Gesundheitsverwaltung (Umgang mit der Corona-Pandemie!) tätigen Professionen. Dies erfordert bei diesen Akteuren über differenzierte Rechts- und Verwaltungskenntnisse weit hinausgehende Qualifikationen – vor allem persönliche und interkulturelle Kompetenz – des beteiligten Personals auf allen Hierarchieebenen besonders in Regionen/Kommunen mit großem Anteil an Straftäter_innen mit EinwanderungsgeschichteFootnote 4 und stärkere Einbeziehung von Schulen in die Präventionsarbeit bereits vor der Strafmündigkeit, aber erst recht für 14- bis 21jährige Schüler_innen.

Wenn die mit stark normabweichend auffällig gewordenen jungen Menschen konfrontierten Lehrer_innen, Jugendsachbearbeiter_innen der Polizei, Jugendstaatsanwälte, Jugendrichter_innen, Mitarbeiter_innen der Jugendgerichtshilfe, Bewährungshelfer_innen oder Sozialarbeiter_innen und Psycholg_innen in Justizvollzugsanstalten für ihren innerhalb der eigenen Profession ohnehin schon wenig prestigeträchtigen Job nicht motiviert sind und die Zuweisung ihrer formalen Zuständigkeit durch Vorgesetzte oder Kolleg_innen innerhalb des jeweiligen Systems eher als notgedrungen hinzunehmen oder gar als „Strafversetzung“ empfinden, stehen wie in jedem anderen Beruf auch schlechte Chancen für die fachgerecht Umsetzung der Ziele, Aufgaben und Maßnahmen der Organisation, in diesem Falle für eine nachhaltige Inklusion der von dauerhafter Exklusion bedrohten Klientel.

Eine Folge davon ist fehlendes Vertrauen der von Armut betroffenen, bildungsungewohnten Familienangehörigen in Schule, Jugendamt/JGH und die staatlichen Sicherheitsorgane: Sie werden trotz anders lautender Gesetzeslage zu wenig bzw. durch nicht zielführende traditionelle mündliche bzw. schriftliche Kommunikation in der deutschen Schrift‑/Amts- und Schulsprache (die selbst für Akademiker_innen mit B3-Kompetenz schwer verständlich ist) über die eigenen Rechte und Pflichten als Lernende/Tatverdächtige/Beschuldigte/Verurteilte nach dem JGG aufgeklärt. Bei kaum deutsch sprechenden bildungsungewohnten Familien mit Einwanderungsgeschichte führen auch grammatisch korrekt in die jeweiligen Amtssprachen der Herkunftsstaaten übersetzte und bunt gestaltete Flyer oder Internetseiten (z. B. in Hocharabisch für Geflüchtete aus dem Nahen Osten oder in Rumänisch und Bulgarisch für Rom_nja aus diesen EU-Staaten) ohne einfach verständliche Piktogramme und zusätzliche mündliche Vermittlung durch sprachlich-kulturell kompetente Vertrauenspersonen aus den Communitys nicht zu einer effektiven Kommunikation zwischen den Akteuren der Sozialen Arbeit, der Justiz und dem Bildungssystem einerseits und den sprachlich-kulturell diversen Lebenswelten der mit diesen staatlich gesteuerten Funktionssystemen konfrontierten Migrant_innen (vgl. Schweitzer 2018, S. 455; 2019).

Unzureichende Umsetzung der Neuerungen im JGG

Die durch das EU-Recht erzwungene Novelle zum JGG hat für das Handeln aller daran beteiligter Systeme – also nicht nur für das Jugendgericht und die Jugendgerichtshilfe, sondern auch Polizei, Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Bewährungshilfe sowie Kommunen als Finanziers der JGH und der Einsatzstellen für Umsetzung von Sozialstunden - das Primat des Erziehungsgedankens als grenzüberschreitendem und damit die traditionellen Funktionslogik dieser Akteure in Frage stellendem Leitprinzip verbindlich gemacht (Höynck/Ernst 2020). Dessen Umsetzung mit seiner breiten Palette von Handlungsmöglichkeiten zwischen präventiver und repressiver Wirkung ist aber noch nicht überall in der Praxis angekommen:

  • Wie wenig selbstverständlich es ist, dass die Polizei gemäß Vorgabe des § 43 JGG möglichst schon vor Einleitung eines Ermittlungsverfahrens die JGH einzubeziehen und deren deeskalierende, vertrauensbildende Interventionsmöglichkeiten zu nutzen, wird gerade in jugendpolitisch und medial instrumentalisierten gewaltsamen Konflikten zwischen jungen Menschen und der Polizei (z. B. anlässlich der sogenannten „Stuttgarter Krawallnacht“ im Corona-Sommer 2020 erkennbar, Scherr und Schweitzer 2021, S. 148f). Bei sofortigem Geständnis in der ersten polizeilichen Vernehmung ohne JGH und Verteidiger_innen braucht die Polizei nicht so arbeitsintensiv ermitteln.

  • Selbst wenn die durch die JGG-Novelle (§ 37 Abs. 1) vorgeschriebene Einrichtung von pädagogisch und psychologisch qualifizierten Jugendstaatsanwaltschaften damit begonnen hat, einen bislang mit Jugendstrafsachen befassten Staatsanwalt nun dafür explizit per Dienstordnung „zuständig“ zu machen, ist es in der Regel noch ein langer Weg, bis die betreffende Person für die Umsetzung des Primats von Erziehungsgedanken fort- bzw. ausgebildet ist.

  • Das für die Verteidigung bis 2019 nicht verpflichtende pädagogische Leitprinzip des Erziehungsgedankens führt derzeit noch zu Brüchen zwischen den beiden Subsystemen der Justiz. Nach den Recherchegesprächen mit verschiedenen Jugendrichtern erscheint die Umsetzung der Neuregelungen noch unzureichend, weil viele in diesem Bereich neue Verteidiger_innen wie bei Prozessen gegen Erwachsene auch im Jugendstrafverfahren gewohnt seien, sowohl nach ihrem funktionsspezifischen Selbstverständnis, einen Gefängnisaufenthalt ihres Mandaten durch Beharren auf dessen Aussageverweigerungsrecht soweit wie möglich zu verhindern, als auch gemäß dem eigenen „prozessökonomischen“ Leitprinzip einer Kosten/Nutzen-Analyse ihren voraussichtlichen Arbeitsaufwand im möglichen weiteren Verlauf des Verfahrens bezogen auf Gründe für eine Klage in höheren Instanzen als Maßstab ihres professionellen Handelns zu benutzen. Dies gelte insbesondere dann, wenn sie entweder von gut zahlenden Angehörigen beauftragt werden, die sich durch die Anklage ihres männlichen Stammhalters in ihrem Selbstbild als „Recht schaffend“ lebende Familien gekränkt oder in ihrer traditionellen „Familienehre“ verletzt fühlen. Und/oder wenn die Verteidigung noch keinen Zugang zu den Jugendlichen und zum besonderen Erziehungsgedanken des JGG-Verfahrens gefunden habe, erfolge häufig analog zum Verfahren gegen Erwachsene der rechtsstaatlich garantierte und zur Abgrenzung gegenüber den anderen beteiligten Akteure systemisch konsequente, aber in solchen Fällen aus Sicht des Jugendgerichts letztlich eher inklusionsverhindernd wirkende Rat, als beschuldigte Person von ihrem Schweigerecht umfassend Gebrauch zu machen und nur so viel (u. U. scheibchenweise) zu gestehen, wie ihr Polizei und Staatsanwaltschaft nachweisen können. In einer solchen Fallkonstellation kommt ein im Interesse der Angeklagten liegendes Arbeitsbündnis der Verteidigung mit der JGH und dem Jugendgericht nicht zustande. Die beiden letzteren Akteure erhalten dann kaum potenziellpotenziell entlastende Informationen über die persönliche Situation und soziale Lage der Angeklagten aus seinem Sozialisationsumfeld in der Familie, bei den Peers oder in der Schule sowie über die Motive für die Straftat. Unter diesen Umständen ist es nicht überraschend, wenn der Jugendrichter „klare Kante“ zurückgibt, indem er im Rahmen seines großen Ermessensspielraums aus dem vielfältigen Instrumentenkasten die Palette von repressiven Maßnahmen aktiviert: „Wenn du mir nichts sagst, dann komme ich Dir auch nicht entgegen und Du bekommst eine harte Strafe“. D. h. es kommt in der zu protokollierenden „Verhandlung“ zwischen den drei beteiligten Justizorganen (Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Jugendgericht) nicht zu einem „Deal für das Jugendwohl“ (Inklusion) des Angeklagten. Beispielsweise könnte das Gericht bei fünf Raubdelikten („Abziehen“) mit Unterstützung der Jugendstaatsanwaltschaft vorschlagen, in drei Fällen das Verfahren einzustellen und für die beiden übrigbleibenden Anklagepunkte das Strafmaß unter einer zweijährigen Jugendstrafe festzusetzen.

  • Ähnliche Brüche entstehen regelmäßig zwischen dem für die Bewährungshilfe zuständigem Justizpersonal und den zu Bewährungsstrafen verurteilten jungen Menschen: Da letztere verpflichtet sind, Kontakt zur Bewährungshilfe zu halten, läuft ihnen – mit den Worten eines Jugendrichters – „niemand hinterher, wenn sie dreimal schriftlich eingeladen wurden“ und aus verschiedenen Gründen nicht erscheinen: Unwissenheit der „unter Bewährungsaufsicht“ stehenden Verurteilten über die Folgen einer Nicht-Kommunikation mangels effektiver Aufklärung im Verfahren, eine nicht mehr aktuelle Postadresse oder einfach bewusste Ignoranz der Adressierten sind offenbar in der traditionellen „Komm-Struktur“ der Bewährungshilfe als Organisation der Justizverwaltung noch zu selten ein Anlass, ihre grundlegenden Leitprinzipien mit Elementen einer aktivierenden „Gehstruktur“ der Sozialarbeit anzureichern.

  • Sozialpolitisch kurzfristiges Handeln und Armut vieler Kommunen mit hoher Jugendkriminalität und Haushaltssicherungskonzepten blockiert aus Sicht von Jugendrichter_innen die zur Umsetzung der Urteile (Erziehungsmaßregeln) notwendige Bereitstellung zielführender personeller und finanzieller Ressourcen: Unter solchen Bedingungen wird im Allgemeinen Sozialdienst zu wenig Personal für die lokal durchaus unterschiedlich organisierten JGH/JuHiS im kommunalen Stellenplan zur Verfügung gestellt, so dass beim Jugendamt nur die Fachaufsicht bleibt und das „operative Geschäft“ als Sachkosten verbucht an die freie Wohlfahrtverbände delegiert wird, um entsprechend den Vorgaben der städtischen Kämmerei bzw. der Jugendamtsleitung den Personalkostenetat des Jugendamt für diese Pflichtaufgabe zu reduzieren. Darüber hinaus klagen JGH und Jugendgerichte über fehlende Einsatzstellen für Sozialstunden in kommunalen Einrichtungen/Betrieben (einschließlich Grünflächenpflege), weil kein Anleitungspersonal vorhanden sei, das bereit und gegebenenfalls durch Fortbildung in der Lage versetzt ist, sich auch mit „schwierigen“ normabweichendem Jugendverhalten inklusiv orientiert auseinanderzusetzen. Unter den Leitungen der Jugendämter und den Fachpolitiker_innen in der Kommune herrsche eine relativ geringe Wertschätzung der JGH und ein mangelndes Bewusstsein über die präventive Bedeutung der durch sie zu organisierenden „Erziehungsmaßregeln“ im Vorfeld kostenintensiver, von der Kommune zu finanzierenden „Hilfen zur Erziehung“ (vor allem bei einer stationäre Unterbringung) oder später „Hilfen für junge Volljährige“. Das gleiche gelte für die Finanzierung der vielfältigen Formen von nachweisbar erfolgreicher „Sozialer Gruppenarbeit“. Die Kosten zum „Absitzen“ eines Arrests bzw. einer Jugendstrafe in einer JVA zahlt ja das Land!

  • Auch unter alt gedienten Jugendrichter_innen gebe es – so die Einschätzung eines Richters – eine Resistenz zur Umsetzung des novellierten JGG. Der Richter-Witz „Wir praktizieren das bisherige Verfahren, bis die Formulare verbraucht sind“ könnte auch für andere Justizakteure zutreffen, wenn dort ein traditionell-bürokratisches DIN-A-4-Denken und -Handeln das Leitprinzip der beteiligten Professionen dominiert.

Als Folge dieses Neben- und teilweise Gegeneinanderhandelns der auf den Erziehungsgedanken im JGG verpflichten institutionellen Akteure bleiben häufig die großen Spielräume des Jugendgerichts ungenutzt und eine stärkere Einbeziehung von Schulen in die Präventionsarbeit bereits vor der Strafmündigkeit, aber erst recht für 14- bis 21jährige Schüler_innen fällt aus dem Blick. Notwendig ist ein rechtskreisübergreifendes, gemeinsames Verständnis der Prävention von dissozialem, straffälligem Handeln junger Menschen innerhalb der Anwendung des Jugendstrafrechts, aber auch bereits im Vorfeld, durch schulische und außerschulische Bildung.