1 Einleitung

Auf eine als heterogen bezeichnete Schüler*innenschaft wird seit einiger Zeit auch an weiterführenden Schulen mit einer Individualisierung von Unterricht reagiert, die international als schulische Reformstrategie gilt (Beach und Fritzsche 2018; Furtschegger 2023; Hangartner et al. 2022; Schäffer und Rabenstein 2018) und derzeit u. a. mit dem Einsatz digitalisierter Formen des Lernens weiteren Auftrieb erhält. Schulpädagogisch erscheint Unterricht zu individualisieren – anders als im soziologischen Diskurs (Ricken 2018a) – als eine noch einzulösende, positiv belegte Erwartung an pädagogisches Handeln. In der schulpädagogischen Forschung wird vor allem nach Steigerungsmöglichkeiten von Lernanstrengung und Leistung aller Schüler*innen durch eine Individualisierung von Unterricht gesucht (Rabenstein 2016a), durch die das seit den 2000er Jahren diskutierte Problem fehlender Leistungen eines Teils der Schüler*innenschaft auf der Organisations- und Interaktionsebene von Unterricht – und somit pädagogisch – lösbar erscheint. Die damit in Gang gesetzte Dynamisierung des Verhältnisses der Individuen zu ‚ihrer‘ Bildung, in dem sie „sich noch mehr und vor allem anders als bisher“ (Ludwig-Mayerhofer 2014, S. 171, Hervorhebungen im Original) bilden sollen, ist seit einiger Zeit auch Anlass für subjektivierungstheoretisch fundierte Studien zu individualisierendem Unterricht (Beach und Fritzsche 2018; Furtschegger 2023; Hangartner et al. 2022). Insofern Subjektivierungsforschung nicht dem „kulturellen Individualismus“ (Schmidt 2021, S. 119) folgt, wird es mit dieser theoretischen Perspektivierung möglich, Lernen und Leistungserbringung und damit auch die Verantwortung dafür nicht als vorrangig mentales Geschehen zu verstehen, sondern sich für den Praktikenzusammenhang zu interessieren, in dem Subjekte als verantwortlich für ihr Lernen und ihre Leistung hervorgebracht werden.

Während Responsibilisierung im Sinne einer „aktivierenden Semantik“ (Kuhlmann und Ricken 2017, S. 138) in der sich an Michel Foucault anschließenden Subjektivierungsforschung eng verknüpft mit dem „Versprechen von gestiegener Handlungsfreiheit, Autonomie und sozialer Moralität“ (Kuhlmann und Ricken 2017, S. 138) für viele gesellschaftliche Bereiche untersucht wurde, wurde sie trotz des zentralen Stellenwerts von ‚Eigenverantwortung‘ für die pädagogische Programmatik individualisierenden Unterrichts (Kuhlmann und Ricken 2017), in dem auf Noten verzichtet wird, praxistheoretisch für Unterricht noch nicht untersucht. Für den lehrerzentrierten Unterricht ist demgegenüber mit der Figur der „Härtung“ (Kalthoff und Dittrich 2016, S. 465) beschrieben, wie Schüler*innen zu Verantwortlichen für ihre Leistung (gemacht) werden, indem Noten zunächst für mündliche Beiträge, dann für schriftliche Aufgabenergebnisse hervorgebracht und schließlich durch entsprechende Rechenoperationen objektviert, in (in-)formellen Gesprächen unter Lehrkräften ratifiziert und von Lehrkräften den Schüler*innen gegenüber legitimiert werden. Im Zusammenhang mit der vermeintlichen Eindeutigkeit von Noten werden Schüler*innen dabei nicht nur zueinander in eine hierarchisierende Rangfolge, sondern auch zu sich selbst als Urheber*innen eigener Leistung in ein spezifisches Verhältnis gesetzt (Ricken 2018b). Wir fragen demgegenüber danach, wie Verantwortlichkeit für den eigenen Lernprozess bzw. eigene Leistung im individualisierenden Unterricht hergestellt wird, der auf individuelle statt soziale Bezugsnormen setzt und so auf die sonst für Unterricht konstitutive permanente soziale Vergleichsmöglichkeit entlang von Leistung (Berdelmann et al. 2018) sowie auf Notengebung verzichtet.

Wir werden dafür zunächst Erträge und Desiderate ethnografischer und subjektivierungstheoretisch fundierter Forschung zu individualisierendem Unterricht aufzeigen (2.), um dann eine von uns vorgeschlagene methodologische Weichenstellung zu begründen, von der ausgehend Responsibilisierung als prozesshaftes Geschehen in den Blick zu nehmen ist (3.). Im Ergebnis argumentieren wir an ausgewählten Datenauszügen aus zwei Studien dafür, dass mit Blick auf miteinander verschränkte Praktiken verstehbar wird, wie Schüler*innen im individualisierenden Unterricht als Verantwortliche für die eigene Leistungserbringung subjektiviert werden (4.). Abschließend reflektieren wir Erträge und offene Fragen für die Subjektivierungsforschung (5.).

2 Subjektivierungslogiken im individualisierenden Unterricht. Forschungsstand

Mittlerweile liegt eine Vielzahl von ethnografischen und subjektivierungstheoretisch fundierten Studien mit dem Fokus auf unterschiedliche Praktiken individualisierenden Unterrichts vor, in denen auch verschiedene Ausprägungen dieser Unterrichtsform in ihrem alltäglichen Vollzug aufgezeigt werden. Betont wird in den Studien immer wieder, dass und wie sich der praktische Vollzug individualisierenden Unterrichts als anders, überraschend und damit auch widerspruchsvoll gegenüber den normativen Leitvorstellungen individualisierenden Unterrichts darstellt, ein Mehr an Selbstbestimmung und Entscheidungsmöglichkeiten und damit auch verbundenem Förderung interessegeleiteten Lernens hervorzubringen. Diese Befunde rufen wir im Folgenden in stark komprimierter Weise auf, um im Anschluss unser Anliegen zu begründen, nach der performativen Hervorbringung des selbstverantwortlich Lernenden in Praktiken individualisierenden Unterrichts zu fragen.

Ethnografisch wurden schon früh insbesondere aufgabenbezogene Schüler*innen-Interaktionen untersucht und dabei – angesichts der normativen Vorstellung von Kooperation – ihr Beitrag zur Hierarchisierung von Peerbeziehungen aufgezeigt (Huf 2007; Naujok 2000); auch die konstitutive Relevanz dieser auf Aufgaben bezogenen wechselseitigen Bezugnahmen von Schüler*innen für die Aufrechterhaltung der pädagogischen Ordnung individualisierenden Unterrichts wird in diesen Studien immer wieder deutlich gemacht (Breidenstein und Rademacher 2017; Reh 2011). Zudem wurde gegenüber der normativen Vorstellung von den Schüler*innen eröffneten Wahlmöglichkeiten das hohe Vorkommen und die zentrale Relevanz von Kontrollpraktiken und einer auf Effizienz gerichteten Zeitordnung im Unterricht herausgestellt (Breidenstein und Rademacher 2017). Das Prozessieren von Aufgaben im Unterricht wird dabei allerdings als – überraschend – stark formalisiert und standardisiert rekonstruiert (Breidenstein und Rademacher 2017; Martens 2018). Darüber hinaus wurden die mittlerweile weit verbreiteten sogenannten Selbstkontrollpraktiken von Schüler*innen untersucht (Breidenstein und Rademacher 2017), die im Zusammenhang mit Artefakten der Selbsteinschätzung (Bossen 2020; Kalthoff und Dittrich 2017; Rabenstein 2017) und von sie begleitenden Reflexions‑, Gesprächs- und Berichtspraktiken (Bonanati 2018) auftauchen: Sie werden, so die Ergebnisse, im Wesentlichen durch die Lehrkraft gesteuert und mit einem „Zwang zur Selbstkontrolle“ (Breidenstein und Rademacher 2017, S. 253) verbunden, d. h. sie führen letztlich zu einer „Dopplung von Kontrolle“ (Breidenstein und Rademacher 2017, S. 254; Hervorhebung im Original).

Studien zu Subjektivierungslogiken individualisierenden Unterrichts zeigen bislang vor allem auf, wie Schüler*innen – in Verbindung mit „gesellschaftlich dominanten Differenzordnungen“ (Kuhlmann und Ricken 2022, S. 104) – schulisch als unterschiedlich leistungs(un)fähige Subjekte hervorgebracht werden. Mit Adressierungen von Schüler*innen als „Sorge- und Zuwendungsbedürftige“ (Kuhlmann und Ricken, S. 105) können damit nicht nur Fördermöglichkeiten einhergehen, sondern auch Pathologisierungen, infolge derer ungleiche Chancen für Bildung nur noch im therapeutischen Modus, d. h. als individuell zu behandeln, reflektiert werden würden (Keupp und Schneider 2014, S. 214). Auch wurde in subjektivierungstheoretisch fundierten Studien immer wieder das in der Programmatik individualisierenden Unterrichts vorausgesetzte ‚starke‘ Subjekt, das selbstständig (Rabenstein 2007; Reh und Rabenstein 2012) und autonom (Hangartner et al. 2022) lernt, zu einem Einsatzpunkt für die Forschung gemacht. So weisen Studien zu Differenzmarkierungen zwischen jenen Schüler*innen, die selbstständig arbeiten, und solchen, die für die Bearbeitung von Aufgaben der Zuwendung pädagogischer Professioneller bedürfen (Reh und Rabenstein 2012), darauf hin, dass individualisierender Unterricht auch Positionierungen Unselbstständiger produziert, in denen Schüler*innen in Gefahr der Beschämung geraten.

Zusammenfassend heißt das, dass bislang erstens einzelne Praktiken differenziert in den Blick genommen wurden, aber noch kaum nach deren Zusammenhangsbildung gefragt wird. Zweitens wurde subjektivierungstheoretisch die Relevanz der den Schüler*innen in unterschiedlichem Ausmaß eröffneten Räume, „über bestimmte Dinge selbst Entscheidungen zu treffen“ (Reh 2013, S. 194), noch kaum einbezogen (Rabenstein 2016b). Zum einen mag dies darin begründet sein, dass die Wahlmöglichkeiten für Schüler*innen im individualisierenden Unterricht trotz ihrer Allgegenwärtigkeit oft als sehr begrenzt eingeschätzt und damit in ihrer Bedeutung für die soziale Ordnung dieses Unterrichts unterschätzt werden (Rabenstein 2016b), zum anderen darin, dass durch das Interesse an den (neuen) Kontroll- und Bewertungspraktiken die Frage nach der Herstellung von Zurechenbarkeit von Leistung in den Hintergrund getreten ist.

Im Folgenden wollen wir eine methodologische Möglichkeit aufzeigen, die Zusammenhangsbildung von Praktiken individualisierenden Unterrichts zu untersuchen und dabei in zentraler Weise die Frage nach der Bedeutung des Entscheiden-Könnens respektive Entscheiden-Müssens im individualisierenden Unterricht aufzunehmen. Bevor wir jedoch dazu kommen, führen wir in die empirische Basis ein, an der wir unseren Vorschlag einer Theoretisierung von Praktiken individualisierenden Unterrichts als Responsibilisierung gewonnen haben.

3 Zur Frage nach Zusammenhangsbildungen von Praktiken. Methodologische und methodische Weichenstellungen

Für unsere Frage nach der Subjektivierungslogik individualisierenden Unterrichts nutzen wir die empirischen Erkenntnisse auf einer reichhaltigen Basis ethnografischer Daten aus zwei gerade abgeschlossenen praxis- und subjektivierungstheoretisch fundierten Studien, deren Forschungsdesigns sehr ähnlich sindFootnote 1 (Steinwand 2023; Strauß 2023). Beide Studien untersuchen an zwei Integrierten Gesamtschulen vergleichbarer großstädtischer Standorte eine Variante des ‚Planunterrichts‘, in der Schüler*innen angesichts der Eröffnung von Wahlmöglichkeiten und -notwendigkeiten ihre Arbeit weitgehend selbst organisieren. Beide Studien nutzen den Gedanken der „Doppelstruktur“ (Reckwitz 2008, S. 196) von Praktiken, und interessieren sich sowohl für Praktiken als auch für das in ihrem routinisierten Vollzug entstehende Gefüge von Subjektpositionierungen (Reh und Ricken 2012): Dabei fragen beide Studien nach der in Praktiken hervorgebrachten Ordnung von Unterricht im Zusammenhang mit Macht- und Selbstverhältnissen. Unterricht wird demgemäß als öffentliches und damit beobachtbares Geschehen verstanden, dessen Praktiken Subjekte formen, indem die an ihm Beteiligten durch die inhärenten Adressierungen in Praktiken einerseits zu bestimmten Subjekten gemacht werden, sich andererseits in Akten der Re-Adressierung zu dem Geschehen in ein Verhältnis setzen (Reh und Ricken 2012, S. 44; Rabenstein und Steinwand 2016). Beiden Studien „geht es gerade nicht darum, einzelnen Schüler*innen oder Lehrer*innen zu folgen und die individuelle Subjektivation nachzuzeichnen, sondern um die Herausarbeitung der subjektivierenden Logiken“ (Ricken et al. 2017, S. 210; Hervorhebung im Original) der fokussierten Praktiken.

Dies haben beide Studien mit Blick auf verschiedene Praktiken des individualisierenden Unterrichts realisiert. Ausgehend von einer zunächst breit angelegten Datenerhebung im Rahmen teilnehmender Beobachtung wurde in Studie 1 (Steinwand 2023) zunehmend auf die sich durch den Unterrichtsalltag ziehenden Praktiken der aufgabenbezogenen Bezugnahme zwischen Schüler*innen fokussiert, während Studie 2 (Strauß 2023) die Bewertungspraktiken ‚Wochenplaner‘, ‚Aufgabenbewertung‘ und ‚halbjährliche Portfolio- und Zielvereinbarungsbewertung‘ untersucht, die sich während der Planarbeit und eigens etablierter Gesprächssettings (z. B. in Lernentwicklungsgesprächen) vollziehen. Aufgrund des Erkenntnisinteresses an der ‚Sprachlichkeit von Anerkennung‘ (Ricken et al. 2017) wurden ethnografisch fokussiert generierte Videografien im Umfang von ca. 27 Zeitstunden (Studie 1) bzw. von 27 Audiografien von Lernentwicklungsgesprächen und 60 Felddokumenten (Studie 2)Footnote 2 zunächst thematisch geclustert (Breidenstein et al. 2013, S. 129) und ausgewählte Daten dann (re-)adressierungsanalytisch ausgewertet (Reh und Ricken 2012). Die Ähnlichkeit der Forschungsdesigns beider Studien, die zugleich an unterschiedlichen Praktiken im individualisierenden Unterricht interessiert sind, nutzen wir, um die Analysemöglichkeiten ethnografischer Forschung zu erweitern.

Nach Möglichkeiten, auf einer breiten Basis von Daten und Befunden zu unterschiedlichen Praktiken Aussagen zu Praktiken als verzweigte, sich über Raum und Zeit erstreckende Praxiszusammenhänge zu machen (Hirschauer 2014), wird schon länger gesucht. Angesichts unterschiedlicher Ausprägungen individualisierenden Unterrichts werden beispielsweise mit dem Konzept der ‚Meta-Ethnografie‘ Generalisierungen (Beach und Fritzsche 2018) entwickelt oder durch Fallvergleiche Typologien (Breidenstein und Rademacher 2017) erarbeitet. Demgegenüber nehmen wir die wenigen in der praxistheoretischen Literatur zu findenden, aber instruktiven, Hinweise zur Normativität als konstitutivem Element der Zusammenhangsbildung von Praktiken für unseren folgenden Versuch auf (Alkemeyer et al. 2015; Hörning 2001; Rabenstein 2020; Ricken 2019; Schmidt 2021; Wagenknecht 2020).

Der zentrale Gedanke, dem wir dafür folgen, ist, dass es die Normativität ist, die Praktiken integriert – eine Normativität, die im Vollzug von Praktiken entsteht und die mit in Praktiken gleichermaßen hervorgebrachten und wirksam gemachten (expliziten) Regeln zusammenhängt (Wagenknecht 2020). So argumentiert Susann Wagenknecht (2020) im Anschluss an Josef Rouse (2001) und Theodore Schatzki (1996) entgegen der oft zu findenden Betonung von Regelmäßigkeiten als konstitutives Merkmal von Praktiken, dass es die ihnen inhärente Normativität ist, die ihren Zusammenhang stiftet: „Mit einem normativen Begriff von Praktiken eröffnet sich also der Blick darauf, wie komplexe praktische Gefüge durch unterschiedliche, mitunter sehr weitläufige Verwebungen von und zwischen Praktiken entstehen“ (Wagenknecht 2020, S. 274). Demnach bilden Praktiken in ihrer Verkettung „normative Verweisungszusammenhänge“ (Wagenknecht 2020, S. 265) aus und lassen sich gleichzeitig als eingebunden in diese Verweisungszusammenhänge verstehen.

Auch wenn Wagenknecht (2020) dem Normenbegriff von Judith Butler grundsätzlich folgt, schlägt sie für die praxistheoretische Forschung vor, in der Lesart Schatzkis im Sinne Ludwig Wittgensteins auf ‚(explizite) Regeln‘, die in Praktiken mobilisiert werden, zu fokussieren, um nach den im Vollzug von Praktiken erzeugten Präferenzen für Anschlüsse zu fragen. Unter expliziten Regeln werden dabei Prinzipien, Gebote und Anweisungen (Wagenknecht 2020, S. 270) verstanden. Entscheidend ist hierbei, dass praxistheoretisch ‚einer Regel zu folgen‘ nicht im Sinne einer Praktiken vorgängigen Existenz von Regeln zu verstehen ist, sondern als ein ‚Regelfolgen‘; anders gesagt existieren Regeln nur im Vollzug von Praktiken und Regeln sind nur als solche zu denken, die im Vollzug von Praktiken immer wieder erneut mobilisiert werden (Schmidt 2021; Wagenknecht 2020). Die Mobilisierung von Regeln lässt sich dabei keineswegs nur in Situationen der Regelverletzung und den Reaktionen darauf beobachten. Regeln werden vielmehr in vielfachen evaluativen Vollzügen („Bestätigung, Korrektur oder Rechtfertigung“, Wagenknecht 2020, S. 261) mobilisiert. Es kann also danach gefragt werden, wie ein bestimmtes Tun im Vollzug von Praktiken als angemessen, richtig, passend hervorgebracht wird. Die Normativität von Praktiken ist damit als gleichermaßen situiert und immer „im Fluss“ (Wagenknecht 2020, S. 268) zu verstehen und dabei „untrennbarer Teil des dynamischen Verweisungszusammenhangs“, der als „sich über die Zeit entspinnendes Netz von Bezugnahmen“ (Wagenknecht 2020, S. 268) zu denken ist. Für die Rekonstruktion von Praktiken ist nun besonders zentral, dass, „Zwecke, Zielsetzungen und entsprechende affektive Lagen“ (Ricken 2019, S. 37) im Vollzug von Handlungen entstehen, also nicht vor dem Handeln entwickelt werden, um dann vollzogen zu werden, sondern sich „durch und aus dem Vollzug eben dieser Praktiken herausbilden“ (Ricken 2019, S. 37). In der affektiven Tönung von Praktiken und einer sich damit herausbildenden präferierten Richtung ihrer Verkettung liegt demnach ihr subjektivierendes Potenzial.

Mit dieser theoretisch sensibilisierten Optik untersuchen wir nachfolgend anhand von, vor dem Hintergrund der Befunde der beiden Studien, beispielhaft ausgewählten Situationen Praktiken, die normativ über die Mobilisierung der Regeln der Planarbeit miteinander verbunden sind, in denen Schüler*innen sich als verantwortlich für das eigene Vorankommen im Unterricht erlernen (können).

4 Responsibilisierung für eigenes (Nicht‑)Vorankommen im individualisierenden Unterricht. Empirie

Unsere am Material entwickelte These ist, dass die Regeln eines sich schüler*innenseits für das Aufgabenbearbeiten verantwortlich Zeichnens kleinschrittig und laufend in einem weit verzweigten Netz von Praktiken und den evaluativen Bezugnahmen auf das eigene Tun und das Tun anderer darin mobilisiert werden. Neben Artefakten, die in den folgenden Situationen (nur) vermittelt über die (Re‑)Adressierungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen eine Rolle spielen, kommen Aufforderungen, Nachfragen, Erinnerungen etc. durch Lehrkräfte ebenso zum Tragen, wie ein sich wechselseitig auf das Bearbeiten von Aufgaben Verpflichten unter Schüler*innen.

4.1 Regel, sich etwas zu tun vorzunehmen

Wir beginnen mit Auszügen aus allmorgendlich stattfindenden Plenumsgesprächen, in denen Schüler*innen durch Lehrkräfte aufgefordert werden, für verschiedene Fächer die Aufgaben zu benennen, die sie sich „vornehmen“ zu bearbeiten. Anders als für den Grundschulunterricht beschrieben (Huf 2008), sind in beiden beforschten Lerngruppen die Schüler*innen selbst aufgefordert, ‚Ziele‘, die etwa in Lernentwicklungsgesprächen formuliert werden, im Rahmen von Tages- und Wochenplanungen als Teilziele zu entwerfen, die auf das Erreichen von ‚Projekt-‘ oder ‚Halbjahreszielen‘ angelegt sind und in ‚Wochenplanern‘ schriftlich fixiert werden. Zu Beginn des Unterrichtstages wurden in beiden Studien klassenöffentliche Gespräche beobachtet, in denen Schüler*innen aufgefordert werden, in Bezug auf die konkreten Vorhaben des Tages eine Wahl zu treffen. In der ersten der beiden aufgerufenen Situation ist es an Daten aus Studie 2 eine Wahl in Bezug auf Aufgaben innerhalb einzelner Schulfächer, in der zweiten Situation aus Daten aus Studie 1 geht es um eine Wahl zwischen Schulfächern.

Beispiel 1

L::

was kann man sich in Deutsch vornehmen was kannst du dir in Deutsch vornehmen […]

Sw1::

Rechtschreibung a zwei einen grünen Punkt kriegen

L::

genau also jeder kann sich einen grünen Punkt in einer Checkliste vornehmen was auch immer es ist kannst du ja ausfüllen in Englisch was kann man sich in Englisch vornehmen außer Vokabeln [Schüler Sm1 wird aufgerufen]

Sm1::

Buch lesen oder […] [Schüler*innen fragen, ob es neue Vokabeln geben wird.]

L::

also Workplan oder im Buch lesen (.) es wird heute keine neuen Vokabeln geben

In einem simulierten inneren Gedankengang („was kann man sich …“) und einem bekräftigenden Aufrufen der Erfordernisse eines Artefakt („Checkliste“) durch die Lehrkraft werden die Schüler*innen als welche adressiert, die um die Regeln der Planung des eigenen Aufgabenpensums bereits wissen und Auskunft über ihre Vorhaben geben müssen. Die Regel, sich aus einer Reihe von Optionen etwas ‚vorzunehmen‘ bzw. Ziele zu setzen, ist zwar bereits im Artefakt Wochenplaner auf Dauer gestellt. Dennoch wird das Prozedere von der Lehrkraft – stellvertretend für die Schüler*innen, kleinschrittig und für alle hörbar – in Gang gesetzt. Auch wenn das, „was“ genau sie sich in „Deutsch vornehmen“ entlang standardisierter Aufgabenpakete („Rechtschreibung a zwei“) begrenzt ist, sind es die Schüler*innen, die hier in die Position gerückt werden, sich für etwas Bestimmtes zu entscheiden und, mit der Entscheidung einhergehend, etwas als das eigene Vorhaben zu benennen. Sich auf das Bearbeiten bestimmter Aufgaben zu verpflichten und sich damit für das Bearbeiten der Aufgaben verantwortlich zu zeichnen, wird hier klassenöffentlich beobachtbar. Im Verlauf der Sequenz wiederholt sich diese Praktik der kleinschrittigen Anbahnung von Entscheidungen über die zu bearbeitenden Unterrichtsinhalte auch für das Fach Englisch.

Beispiel 2

In der folgenden Situation werden Schüler*innen angehalten zwischen Schulfächern eine Wahl zu treffen – und zwar entlang einer Entscheidung dahingehend, was diese ‚brauchen‘. Gerade dass die Lehrkraft dabei auch, wie sie andeutet, eigene Präferenzen hat, lesen wir als Hinweis darauf, dass der Regel nach Schüler*innen selbst Entscheidungen über Präferenzen zu treffen haben – und insofern gegebenenfalls auch eine Wahl gegen die von L1 nahegelegte Präferenz für das Fach Mathematik treffen dürfen.

L1::

ich bin ja jetzt für Mathe auf jeden Fall noch bis fünf vor neun da also ich freu mich natürlich immer wenn alle die da sind Mathe machen aber bitte macht auch Französisch oder Englisch wenn ihr das braucht oder auch eben Deutsch wie’s einige dann immer machen wollen

L2::

frohes Schaffen

Diese Regel wird dadurch noch unterstrichen, dass eine der beiden Lehrkräfte kurz nach Ende des Plenumsgesprächs, die Schüler*innen machen sich im Raum an ihren Plätzen zum Arbeiten bereit, an einen der Gruppentische herantritt und sich nach der durch den Schüler bereits getroffenen Wahl bzw. dem Effekt derselben, etwas Bestimmtes zu tun zu haben, erkundigt:

L1::

Andreas was machst du jetzt (?)

Die Nachfrage scheint entweder rückversichernd abzusichern oder spätestens in dem Moment hervorzurufen, dass (überhaupt) eine Wahl getroffen wurde.

Auch wenn in beiden Situationen schüler*innenseits etwas aus nur begrenzten Optionen auszuwählen ist, wird doch allmorgendlich einiger zeitlicher und kommunikativer Aufwand dahingehend betrieben, dass es die Schüler*innen selbst sind, die zu entscheiden haben, was genau sie zu tun beabsichtigen, und damit ein Vorhaben ausweisen können, das es schriftlich in Plänen festzuhalten gilt. Unabhängig davon, als wie (nicht) ausreichend offen die Wahlmöglichkeiten für Schüler*innen im schulpädagogischen Diskurs auch bewertet werden, wird damit „den kulturspezifischen Deutungsmuster der Optionalität, die im Gegensatz stehen zu einem Sinnmuster der Alternativlosigkeit“ (Reckwitz 2008, S. 178) gefolgt. Gegenüber einem Frontalunterricht, in dem Praktiken des Auswählens und Entscheidens weitgehend Lehrkräften vorbehalten bleiben, hängt, kulturtheoretisch argumentiert, die eröffnete Möglichkeit, Aufgaben(-reihenfolgen) etc. wählen zu können bzw. zu müssen, eng mit den sie begleitenden Praktiken der Selbstbeobachtung und insofern einem Versprechen einer widersprüchlichen Einheit aus „Selbstoptimierung“ und „Selbstentfaltung“ (Reckwitz 2008, S. 178) zusammen. Anders formuliert, werden die Schüler*innen als Subjekte adressiert, die sich zu entfalten und zu verbessern vermögen, indem sie nicht nur Intentionen und Absichten in Bezug auf das eigene Lernen ausbilden, sondern auch ihnen zu folgen beabsichtigen.

4.2 Regel, sich an der Progression von Arbeitsprozessen auszurichten

Wir setzen unsere Analyse mit Daten aus Studie 1 zu einer Situation aus der täglichen Planarbeit fort; Situationen, in denen Schüler*innen in wechselseitigen Bezugnahmen aufeinander und ihre Aufgaben für das Voranschreiten beim Aufgabenerledigen sorgen, sind im beforschten Unterricht vielfältig zu beobachten. Im Folgenden zeigen wir an einer Sequenz, in der Achtklässler in verschiedenen Konstellationen aufgabenbezogen aufeinander Bezug nehmen, wie im Zusammenhang mit erstens einem legitimen Unterbrechen und zweitens einem rituellen Anmahnen einer angemessenen Arbeitshaltung wiederholt die Regel, sich an der Progression von Arbeitsprozessen auszurichten, mobilisiert wird.

Die folgende Situation, in der ein Schüler auf der Suche nach einem Ansprechpartner ist, lässt einhergehend mit einem legitimen Unterbrechen des Arbeitens des Mitschülers Regeln der Aufgabenbearbeitung erkennen. Insofern Schüler*innen in der Arbeitszeit verschiedene Aufgaben in verschiedenen Fächern bearbeiten (siehe Beispiel 2 oben), ist bereits das Finden von für Fragen zu eigenen Aufgaben kompetenten Mitschüler*innen eine Praktik, die auf einem praktischen Wissen dazu basiert, welche Mitschüler*innen sich bereits und verlässlich womit beschäftigt haben.

Beispiel 3

Chris,:

der an seinem Arbeitsplatz steht, schreibt auf der aufgeschlagenen Seite seines Mathehefters. Durch den Raum hindurch kommt Silas auf Chris zugelaufen und fragt diesen noch im Gehen: Chris wie weit bist du mit Mathe (?)

Chris:

schreibt weiter und sagt: wart kurz

Silas::

gar nicht [Er beugt sich über Chris Hefter.] Seite drei (?)

Chris::

Seite fünf

Silas::

wo bist du denn (?)

Chris::

Seite drei

Silas::

ich komm da nicht weiter das ist voll scheiße ich bin Seite zwei

Chris::

wieso wo bist du denn (?) wart mal ich muss mal kurz

Silas::

ganz unten

Chris:

bringt noch zuende, was er tut und fragt kurz darauf: wo bist du (?)

Chris:

blättert in seinem Hefter, beide suchen die entsprechende Seite.

Dann:

sagt Silas, in Chris Hefter deutend: warte da unten da ich komm da ich komm da grad nich klar mann

Chris::

wieso (?)

Silas::

ich finds voll schwer

Beide:

Schüler, über Chris’ Hefter gebeugt, sprechen nun über die Aufgabe.

Die Bezugnahme zwischen Silas und Chris beginnt mit einem Erfragen von Chris’ Arbeitsstand – es scheint für Silas von Bedeutung, dass Chris sich bereits mit der richtigen „Seite“ befasst hat. In die sich anschließende Veröffentlichung seines Problems durch Silas’ „ich komm da nicht weiter“, ist eine implizite Aufforderung an Chris eingelassen, sich diesem Problem ebenfalls zuzuwenden. Das Geschehen-Lassen dieser Unterbrechung – das Weiterführen des eigenen Arbeitens ohne Ärger zu zeigen – und das zugleich damit verbundene Verzögern einer Reaktion – das Wartenlassen des Anderen – verstehen wir als eine Praktik, in der die Regel mobilisiert wird, für die eigene Progression zuständig zu sein. Es erscheint in dieser Sequenz legitim, Andere in ihren Arbeitsprozessen zu unterbrechen und zwecks der Unterstützung der eigenen Progression anzusprechen. Auch das Insistieren von Silas, mit dem er auf Chris’ Bitte zu warten reagiert, deutet ebenso auf die Legitimität der Unterbrechung hin, wie auf den hohen Stellenwert, der der Aufrechterhaltung von Progressionen in diesem Unterricht zukommt. Mit dem Insistieren wird zugleich eine Antwortverpflichtung des Angesprochenen aufgerufen, die sich daran zeigt, dass Chris sich – im Anschluss an die hier zitierte Sequenz – nach Fertigstellung seiner Aufgabe gewissenhaft mit-zuständig für Silas’ Problemanzeige zeigt.

In dieser Sequenz wird also in den wechselseitigen Bezugnahmen der Schüler auf sich bzw. ihre Aufgaben nicht nur eine Präferenz für ein Voranschreiten bei der Aufgabenbearbeitung deutlich. Auch wird deutlich, dass Schüler*innen angesichts der unterschiedlichen Aufgaben im Dienste der eigenen Progression in Praktiken des Beobachtens und Erfragens von Arbeitsständen aufgabengleiche Schüler*innen aufsuchen. Sie zeigen sich für ihre eigene Progression zuständig, insofern sie Probleme im eigenen Arbeitsprozess identifizieren und anderen Schüler*innen gegenüber zur Sprache bringen. Und sie zeigen sich für die Progression von Mitschüler*innen mit-zuständig, indem sie sich deren Anliegen zuwenden. Dabei wird durch das Wartenlassen des anfragenden Schülers deutlich, dass es auch für Schüler*innen, die sich für die Progression anderer mit-zuständig zeigen, gilt, die eigene Progression im Blick zu behalten.

Im weiteren Verlauf der Sequenz kommt wenig später ein dritter Schüler, Jens, hinzu, der mit seiner Kommentierung des Arbeitsstandes von Silas für Irritation sorgt.

Beispiel 4

Jens::

boah bist du schon da silas

Silas::

hä (?)

Chris::

äh du-bist du ach du bist weiter als er

Silas::

ja (?) ich bin weiter als

Chris:

und Silas lächeln nun in Jens Richtung.

Jens::

ja is ja egal wie weit du bist

Silas::

aber ich komm nicht-

Jens:

unterbricht ihn: ja guck mal wenn du in der Schule arbeitest

Silas::

ich-ich brauch eine Stunde für ne halbe Seite

Jens::

ja weil du mit Miri quatschst

Silas::

nein, aber [Silas dreht sich weg und murmelt.] nerv’ nicht.

Was sich aufseiten von Chris wie die stellvertretende Abwehr einer Deklassierung von Silas durch Jens qua Arbeitsstand ankündigt, wird von Silas zunächst aufgenommen. Der Triumph, der aufseiten von Silas damit verbunden sein mag, wie sein Lächeln es andeutet, wird von Jens dann jedoch mit einer Kritik an Silas‘ Arbeitshaltung abgewehrt: Würde Silas ‚arbeiten‘, so die Deutung, die Jens vorbringt, wäre der Stand seiner Progression nicht irritierend, sondern angemessen. Dabei zeigt sich Jens als aufmerksamer Beobachter, wenn er zu bedenken gibt, dass Silas in der Arbeitszeit ‚mit Miri quatscht‘, statt zu ‚arbeiten‘. Wenngleich Silas Jens’ Deutung von sich weist und damit das Thema hier endet, verstehen wir doch die Kritik an Silas’ Arbeitshaltung im Sinne einer im Unterricht jederzeit möglichen, rituell vorgebrachten Ermahnung als Verweis auf die unterrichtliche Regel, an Aufgaben zu arbeiten und für die Progression eigener Aufgabenbearbeitung zuständig zu sein, die hier einen weiteren Disput überflüssig erscheinen lässt.

Insgesamt weisen die dargestellten Praktiken des Beobachtens, Deutens, Wertens und Aufsuchens von Mitschüler*innen, des Erfragens und Offenlegens von Arbeitsständen, des Darlegens und gemeinsamen Bearbeitens von Problemen im Arbeitsprozess, aber auch des Thematisierens von Regelverstößen und des damit angedeuteten Justierens des unterrichtlichen Tuns anderer auf eine unterrichtliche Normativität, die auf die Ermöglichung der Progression Einzelner zielt und dabei zugleich die Zuständigkeit von Schüler*innen für die eigene Progression mit der Mit-Zuständigkeit für die Progression anderer in für die Ordnung des Unterrichts in konstitutiver Weise verbindet.

4.3 Regel, sich angesichts von (Nicht‑)Erreichtem neue Ziele zu setzen

Schließlich ziehen wir an Daten aus Studie 2 zwei Situationen aus sogenannten ‚Lernentwicklungsgesprächen‘ heran, die in den untersuchten Unterrichtssettings turnusmäßig alle halbe Jahr zu beobachten sind und in denen Schüler*innen angehalten sind, in Anwesenheit von Erziehungsberechtigten den eigenen Lernprozess auszuwerten und zu planen. Programmatisch substituieren diese Art von Lernentwicklungsgesprächen die Vergabe von Ziffernoten, indem sie in Verbindung mit dem Einsatz von Artefakten in einem, sich auf diese beziehenden, Gespräch Erreichtes und zukünftig noch zu Erreichendes sichtbar machen. Wir arbeiten an zwei Beispielen heraus, wie gerade in der für diese Gespräche typischen Verschränkung von einem (rückbezüglichen) Bewerten und (vorausschauenden) Planen des unterrichtlichen Tuns Schüler*innen als verantwortlich für ihren Lernprozess und das von ihnen Geleistete adressiert werden.

Zu Beginn der ersten Sequenz wird zunächst die Anordnung von Artefakten (‚alte‘ und ‚neue‘ Ziel-‚Vereinbarung‘) zwischen Lehrperson und Schülerin verhandelt – die ebenfalls anwesenden Mütter kommen in beiden Ausschnitten nicht zu Wort, sind gleichwohl aber je als Zeugin anwesend, vor der Erreichtes und zu Erreichendes nach bestimmten Regeln festgestellt und festgelegt wird.

Beispiel 5

Lw::

nimm mal die alte und die neue Vereinbarung die legen wir-legst du dann so nebeneinander hin

Sw::

ich glaub die alte Vereinbarung ist noch auf meinem Platz

Lw::

dann hol sie die brauchen wir jetzt und wir helfen hier schon mal ein bisschen […]

Lw::

genau und wir haben das immer so nebeneinander gelegt das ist ganz praktisch dann kann man da gleich gucken.

Die Schülerin wird von der Lehrperson als verantwortlich dafür adressiert, die Dokumente mitzubringen, die als Gesprächsgrundlage dienen; dabei zeigt sich die Lehrkraft mit dem Sprechakt „und wir helfen hier schon mal ein bisschen“ für die von ihr präferierte Anordnung dieser Dokumente – und damit die Rahmung der Situation – zuständig. Mit der Formulierung „gucken“ macht die Lehrkraft dabei auf das aufmerksam, was erst nachfolgend zur Rede stehen soll, nämlich das auf der Evaluation von Zurückliegendem bezogene Planen neuer Aufgaben.

In einem zweiten Gesprächsausschnitt wird angesichts der ‚alten Zielvereinbarung‘ vor den Anwesenden das Nicht-Erreichen von Zielen offenbar – das der Schüler dann zu erklären aufgefordert wird:

Beispiel 6

Sm::

Literatur – den roten Punkt den hab ich noch nicht gemacht

Lw::

nee

Sm::

und den Eigene Texte auch nicht

Lw::

nee warum nicht (Sm spricht parallel: nee) warum denn nicht

Sm::

hab mich glaub ich eher auf Mathe konzentriert diesmal

Lw::

wo ist denn dein Kompetenzraster hast du das nicht wieder reingepackt

Sm::

kann sein das er dort ist

Lw::

musste nachher holen ja irgendwie hast du Deutsch nachher nicht mehr (gemacht) also am ersten im ersten Teil bist du bis zum Herbst hast du ja dann alles geschafft gehabt was wir vereinbart hatten

Sm::

ja

Lw::

und dann hast du gar nichts mehr gemacht außer Fabeln ne

Sm::

nee und dann hab ich nur noch Mathe und Englisch gemacht

Lw::

da musst du Fahrt aufnehmen mein lieber Freund

In dem Bekennen zu nicht gemachten Aufgaben vor der Lehrkraft und der Mutter, den durch die Aufforderung der Lehrkraft hervorgerufenen Rechtfertigungen und dem Anmahnen eines Voranschreiten-Müssens in den vereinbarten Aufgaben werden Regeln des Beobachtens des eigene Arbeitens und des ins Verhältnissetzens des Erreichten mit den, in den ‚Vereinbarungen‘ festgehaltenen, Zielen mobilisiert. Dabei führt die zu Tage tretende Differenz zwischen erreichter und ehemals geplanter Aufgabenerledigung im Zusammenspiel mit den Artefakten, die diese Differenz sichtbar machen, zu einer Bekräftigung des Verantwortlich-Seins des Schülers für das eigene Vorankommen. In der eingeforderten Erklärung bezüglich des Nicht-Erreichens von Zielen wird nicht nur die Regel mobilisiert, sich retrospektiv über das eigene Tun in Relation zu erfüllenden Leistungsansprüchen ins Verhältnis zu setzen. Es wird auch auf die Normativität der Planarbeit verwiesen, vereinbarte Ziele abschließen zu sollen, und der Schüler verantwortlich für die Aufrechterhaltung von Progression in der Aufgabenbearbeitung gemacht. Mit der von der Lehrkraft ins Spiel gebrachten Deutung, dass der Schüler im Laufe des Halbjahres „nichts mehr“ gemacht habe „außer Fabeln“, wird die Verantwortung für das Ausbleiben von Progression an das Handeln des Schülers gebunden. Was in Bezug auf die Erklärung, die der Schüler gibt, gleichwohl dann auch abgearbeitet wird, erscheint wiederum als legitimer Effekt einer Entscheidung, in diesem Fall für Mathematik zuungunsten der Deutschaufgaben: Es ist also nicht ‚nicht‘ gearbeitet worden. Diese Selbstpositionierung des Schülers scheint die Lehrperson anzuerkennen, wenn sie schließlich appelliert: „da musst du Fahrt aufnehmen mein lieber Freund“. Die ausgebliebene Progression erscheint damit als eine, die auszugleichen ist mittels einer korrigierenden Neujustierung der (zukünftigen) unterrichtlichen Arbeit des Schülers.

Zweierlei möchten wir zusammenfassend festhalten: Erstens werden in den Gesprächen zurückliegende Entscheidungen über Artefakte präsent gemacht, an denen sich das eigene Tun messen lassen muss. Durch die Verschränkung von Bilanzierungen des Erreichten und neuer Planung von Aufgaben wird das Erreichte einerseits als Effekt einer vorausgehenden Entscheidung hervorgebracht und andererseits die zukünftig zu bearbeitenden Aufgaben als Konsequenz markiert. Zweitens zeigt sich, wie in den wiederholenden Adressierungen der Schüler*innen als diejenigen, die sich selbst beobachten sollen und können, eine voranschreitende Entwicklung der Schüler*innen zur Aufführung gebracht wird. Insofern aus Selbstbeobachtung und -bewertung jedoch nicht einfach Selbstveränderung resultiert, wird die Kontingenz der Selbstveränderung mit einem Zuschreiben der Verantwortung für die falsche Entscheidung, sich den falschen Fächern zugewendet zu haben, beantwortet. Eben damit wird die unterrichtliche Normativität der selbstverantworteten Leistungsentwicklung und der Zuständigkeit für die eigene Progression wirksam.

4.4 Zwischenresümee: Responsibilisierung als prozesshaftes Geschehen

Wir haben im Sinne der Theoretisierung empirischer Beobachtungen Responsibilisierung als ein prozesshaftes Geschehen beschrieben, in dem Schüler*innensubjekte in der Verkettung unterschiedlicher Praktiken entlang der (exemplarisch) rekonstruierten Regeln als für ihr Lernen und ihre Leistung verantwortlich zu Machende hervorgebracht werden. Der Eröffnung von Wahlmöglichkeiten und den Praktiken des Entscheidens kommt in diesem Netz von Praktiken für die Responsibilisierung von Schüler*innen ein konstitutiver Stellenwert zu.

Die Eröffnung von Wahlmöglichkeiten – wie umfassend oder begrenzt auch immer – führt Entscheidungsnotwendigkeiten mit sich. Eine Entscheidung zu treffen, eine Aufgabe aus Möglichkeiten auszuwählen, macht diese zu einem selbst zu verantwortenden Vorhaben, insofern die Aufgabenbearbeitung retrospektiv als Folge einer getroffenen Entscheidung erscheint. Entscheidungen zu treffen, ist damit, folgt man den von Robert Schmidt (2021) in einem anderen Kontext formulierten Überlegungen, als zentrale Machttechnik zu verstehen: Rückblickend betrachtet, legt eine Entscheidung getroffen zu haben, nahe, sich (Nicht‑)Erreichtes „retroaktiv als Resultate von vorausgegangenen und […] selbst getroffenen Entscheidungen“ (Schmidt 2021, S. 128), und somit als in der eigenen Verantwortung stehend, anzueignen. So wird in dem Zusammenspiel (mindestens) von Praktiken des Entscheidens über Auswahl, Reihenfolge etc. von Aufgaben, der aufgabenbezogenen Bezugnahmen der Schüler*innen untereinander und der auswertenden Planung zukünftiger Aufgabenbearbeitung die Subjektivierungslogik individualisierenden Unterrichts hervorgebracht, sich das eigene mehr oder weniger erfolgreiche Aufgabenbearbeiten – ex post – als Resultat eigener vormals getroffener Entscheidungen zuzurechnen.

In den einander mahnenden Adressierungen unter den Schüler*innen und in sich wiederholenden Adressierungen von Schüler*innen in den Lernentwicklungsgesprächen durch Lehrkräfte als welche, die sich vor allem um das eigene Vorankommen bemühen müssen, wird ersichtlich, wie eine schüler*innenseitige Verantwortlichkeit für die (eigene) Leistungserbringung in Praktiken laufend re-aktualisiert wird. Dass aber zudem, wie in den zuvor aufgezeigten empirischen Beispielen, im Unterricht permanent daran gearbeitet wird, das Regel-Folgen anzubahnen, einzuüben und durchzusetzen, deuten wir als Hinweis auf die Instabilität der Praxis. Die Kleinschrittigkeit des Einübens, wie sich etwa an dem Monitoring getroffener Entscheidungen zeigt, weist auf die Form hin, die pädagogisches Handeln in diesem Unterrichtsformat annimmt, nämlich dafür Sorge tragen zu müssen, dass im Zusammenhang mit den Artefakten die Regeln selbstständigen Aufgabenbearbeitens, von denen wir einige exemplarisch rekonstruiert haben, am Laufen gehalten werden.

5 Diskussion

Wir haben in diesem Beitrag gefragt, wie in Praktiken individualisierenden Unterrichts lernende Subjekte als welche, die für ihr eigenes Lernen verantwortlich sind, hervorgebracht werden. Wir sind mit dieser Frage sowohl hinter die Annahme zurückgegangen, dass Verantwortung für den Lernprozess und sein Ergebnis in diesem Unterrichtsformat (nur) durch ein Öffentlichmachen der Prinzipien der Planarbeit in sogenannten Logbüchern bzw. einem Verpflichten der Schüler*innen auf diese durch eine Art Vertragsschließung vorweggenommen, vorausgesetzt oder von außen hergestellt werden würde, als auch dahinter, dass sich die individuelle Planarbeit des Einzelnen als ein vorrangig mentales Geschehen vollzöge. Vielmehr verstehen wir Praktiken als ein öffentliches Geschehen und fragen nach den in ihrem Vollzug mobilisierten Regeln, in denen individualisierendes Lernen und damit auch sich in bestimmter Weise selbst als Lernende verstehende Subjekte hervorgebracht werden.

Sich entscheiden zu sollen und für die Effekte früherer eigener Entscheidungen verantwortlich gemacht zu werden (Rabenstein 2016b), lässt sich mit der von uns gewählten theoretischen Optik als eine die verschiedenen Praktiken durchziehende Normativität beschreiben, die durchlaufend aufgerufen wird sowie reglementierend eingefordert und durchgesetzt wird. Die vorgenommene methodologische und methodische Justierung hat sich hierfür als ertragreich erwiesen. Auf diese Weise wurde die Frage nach der Normativität dieses Unterrichts nicht mit dem Hinweis auf eine Diskrepanz zwischen Programmatik und Umsetzung beantwortet, von der grundsätzlich immer auszugehen wäre, sondern die feldspezifische Logik des Regelfolgens – also der praktischen Hervorbringung eines für sein Lernen und seine Leistung selbst verantwortlich zu machenden Subjekts rekonstruiert.

Diesen Wandel der Leistungsordnung haben wir allerdings nicht am Material, wohl aber im Vergleich zu Forschung zum Frontalunterricht feststellen können: Der Befund, dass sich Schüler*innen über verschiedene Praktiken hinweg als Verantwortliche – und verantwortlich zu Machende – (er-)lernen, erscheint vor allem mit Blick darauf bemerkenswert, dass Progression im individualisierenden Unterricht nicht durch lehrerseitiges Einspielen immer neuer Aufgaben und Themen bzw. dem Einfordern von zu erledigenden Hausaufgaben sowie dem Abschließen von Themeneinheiten durch Prüfungen gesorgt werden kann bzw. wird. Vielmehr wird, wie wir gezeigt haben, in vielen sich durch den Unterrichtsalltag ziehenden, sich wiederholenden und miteinander zusammenhängenden Praktiken eine Responsibilisierung der Schüler*innen für das eigene Vorankommen erzeugt. Weitergehend könnte nun dieses Netz aus Praktiken dahingehend befragt werden, welche unterschiedlichen Subjektpositionierungen für Schüler*innen in unterschiedlich weit eröffneten Spielräumen für Entscheidungen entstehen (Reh und Rabenstein 2012).

Für die Frage nach der Normativität von Praktiken sind wir empirisch zwar (noch) nicht über den schulischen Rahmen hinausgegangen, doch konnten wir zeigen, wie in über verschiedene Schauplätze und in der Zeit verteilten Praktiken in der Schule Regeln individualisierenden Unterrichts als ein verantwortlich gemacht Werden für das eigene Arbeiten mobilisiert werden. Diese Zusammenhangsbildung könnte noch weiterverfolgt werden: Der scheinbar einfach einzulösende Geltungsanspruch dieser Regeln innerhalb von Unterricht hängt beispielsweise auch in einem Unterricht, in dem auf Ziffernnoten verzichtet wird, mit der normativen Erwartung an Schule, Leistung zu zertifizieren zusammen. Dabei ist zu bedenken, dass der Geltungsanspruch der Regeln, denen (nicht nur) in den ausgewählten Sequenzen aus unserem empirischen Material ‚einfach‘ Geltung verliehen wird, nicht nur aus dem schulischen Auftrag erwächst. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Verantwortung für den eigenen Lernprozess und Leistung weit über Schule hinaus als eine positiv affirmierte Formel für Selbstverhältnisse fungieren kann.