1 Einleitung

Wir geraten ständig an Kreuzungen, die mit grünen und roten Signalen versehen sind […]. Wenn wir uns um die grünen und roten Lichter nicht scheren, wird unser Verhalten dennoch von anderen als eine Antwort auf diese Signale interpretiert […]. Dieses eigenartige Phänomen ist das Thema der folgenden Überlegungen. (Popitz 2006, S. 61)

Bei Rot bleibst du stehen, bei Grün darfst du gehen: Mit dieser alltäglichen Regel beginnt Heinrich Popitz seinen viel zitierten Aufsatz über „Soziale Normen“, die auf seine Antrittsvorlesung an der Universität Basel im Jahr 1960 zurückgeht. Er stellt fest, dass die Begegnung mit dem, was er als „Norm“ bezeichnet, ein ubiquitäres Phänomen ist („Wir geraten ständig an Kreuzungen, die mit grünen und roten Signalen versehen sind“). Er beobachtet ihren aufdringlichen, auch konfrontativen Charakter (sie zu ignorieren, „steht uns nicht frei“). Und er stellt die Weitläufigkeit der Verknüpfungen heraus, in denen sich diese Konfrontativität herstellt (die sich zeigt in Situationen, die „offenbar bereits von anderen entdeckt, fixiert, vorgeformt“ wurden; Popitz 2006, S. 61).

Mit der Ampel als Beispiel fragt Popitz nach den „Kennzeichen der sozialen Normgebundenheit“ menschlichen Verhaltens (Popitz 2006, S. 61). Seine Beobachtung des Ampelgeschehens liest sich nach wie vor präzise, sein Handlungsmodell normgebundenen Verhaltens aber ist in die Jahre gekommen. Die weitere Lektüre seines Aufsatzes eröffnet eine Welt, die stickig und eng erscheint – eine Welt, die durch das „Sich-gegenseitig-Feststellen“ (ebd., S. 64) von Menschen auf Dauer gestellt wird, die normkonformes Verhalten abnicken und auf Normabweichung mit regressiver Zurechtweisung reagieren. Es ist eine starre Welt, in der menschliches Verhalten von Normen auf eine Weise regiert wird, die Popitz als „Standardisierung“ begreift: „Solche Standardisierungen werden ausgebaut zu Gehäusen des menschlichen Zusammenlebens, die unabhängig von den vergesellschafteten Individuen und ihren Intentionen erfaßbar sind“ (ebd., S. 90).

In diesem Aufsatz möchte ich Popitz’ Beobachtung als Sprungbrett in eine Diskussion praxistheoretischer Ansätze nutzen. Dafür jedoch gilt es, seine Problemstellung kritisch anzupassen. Ich frage nicht nach der Normgebundenheit sozialen Verhaltens, sondern nach der Rolle von Normativität und Regeln für Praktiken. Wie kann Normativität Praktiken gestalten? Wie können Regeln Praktiken „binden“ – und wie werden sie überhaupt erst praktisch wirksam? Mich interessiert, wie sich die Ubiquität und Wirksamkeit von Regeln verstehen lässt, ohne hinter praxistheoretische Grundpositionen zurückzufallen.

Auf diese Fragen will ich mit folgendem Argument zum Verhältnis von Normativität, Regeln und Praktiken antworten: Normativität integriert Praktiken; Regeln können Praktiken als Praktiken zusammenhalten. Sie tun das nicht etwa, indem sie Regelmäßigkeit oder „Standardisierung“ erzwingen. Regeln determinieren Praktiken nicht und sie werden auch nicht von den Praktiken determiniert, auf die sie sich beziehen. Stattdessen werden Regeln in der Bestätigung, Korrektur oder Rechtfertigung sich vollziehender Praktiken auf unterschiedliche Weisen mobilisiert. Das Verhältnis von Regeln und Praktiken ist also kein Abbildungsverhältnis und auch keines, das sich in einem einfachen Sinne als wechselseitig, ko-konstituierend oder zirkulär verstehen ließe. Vielmehr verweist dieses Verhältnis auf die mitunter sehr weitläufigen, auch losen Verkettungen von Praktiken, ohne die ein praxistheoretisches Verständnis von Ordnung nicht zu haben ist.

Mein Argument schließt an Joseph Rouse (2001, 53,54,a, b) und Theodore Schatzki (1996, 2001) an, weil bei beiden Normativität für Praktiken konstitutiv ist. Normativität ist für Rouse und Schatzki etwas, das Praktiken zusammenhält. Das mag verblüffen, wenn praxistheoretische Ansätze mit einer Ablehnung oder Deklassierung des Normativen gleichgesetzt werden. Und es stellt praxistheoretische Ansätze vor die Herausforderung, die Normativität von Praktiken zu berücksichtigen, zugleich aber ihre Reifikationen – „die Norm“ oder auch „die Regel“ – nicht einfach als explanans zu setzen, sondern als explanandum zu erkunden (Reckwitz 2003; Schäfer 2013).

Mit meinem Argument möchte ich zur Weiterentwicklung neuerer praxistheoretischer Ansätze in der deutschsprachigen Soziologie beitragen (Reckwitz 2002; Hörning und Reuter 2004a; Schmidt 2012; Hillebrandt 2014; Schäfer et al. 2015a; Alkemeyer et al. 2015; Schäfer 2016a; Pettenkofer 2017). Mein Argument reiht sich in Bestrebungen ein, den raumzeitlich verzweigten Charakter von Praktiken und Bündeln von Praktiken zu verstehen (Scheffer 2014; Röhl 2015; Shove et al. 2015; Meier et al. 2016; Schindler 2016; Blue 2019; Nicolini et al. 2017), und es unterstützt den praxistheoretisch fundierten Blick auf Regeln und regelhafte Prozeduren sowie auf Kritik, Bewertung und Rechtfertigung (wie bspw. in Knoll 2013; Schäfer 2016b; Nicolae et al. 2018).

Um mein Argument zu entfalten, widme ich mich zunächst dem Verhältnis neuerer Praxistheorien zum Problem der Normativität (Abschnitt 2) und erläutere, im Rückgriff auf Rouse und Schatzki, einen normativen Blickwinkel auf Praktiken (Abschnitt 3). Dann äußere ich mich zur Bedeutung von Regeln für die Verwobenheit von Praktiken (und zur Bedeutung dieser Verwobenheit für Regeln, Abschnitt 4). Abschließend diskutiere ich die programmatische Kompatibilität und den methodischen Impetus eines normativen Begriffes von Praktiken (Abschnitt 5).

2 Praktiken und Normativität

Die obigen Bemerkungen zu „Regel“ und „Norm“ machen eine Erläuterung ihrer begrifflichen Unterscheidung notwendig, die ich meinen praxistheoretischen Überlegungen voranstellen möchte. Wie in der Einleitung angekündigt, möchte ich Popitz‘ Fragestellung anpassen und das, was Popitz als „Norm“ fasst, als „Regel“ charakterisieren – eine Entscheidung, die mit Popitz’ normorientierten Handlungsmodell vereinbar ist, die auf das von Popitz gewählte Beispiel der Ampel gut passt und die in meinem Zugriff auf die praxistheoretischen Ansätze von Rouse und Schatzki begründet ist.

Regeln sind dem theoretischen Modell des normorientierten Akteurs nicht fremd; vielmehr sind sie in diesem Modell der „Sinnfaktor […], über den letztlich erklärt werden soll, warum die Akteure so handeln, wie sie es tun“ (Reckwitz 2000, S. 123). Popitz selbst definiert die Norm als sanktionierte Regelmäßigkeit – eine Regelmäßigkeit, die sich bei ihm als Regel beschreiben lassen können muss (Popitz 2006, S. 86). Jedoch macht Judith Butler deutlich, warum es sich lohnt, Normen von Regeln zu unterscheiden: „Obwohl die Norm manchmal mit ‚Regel‘ synonym verwendet wird, ist klar, dass Normen auch das sind, was den Regeln eine bestimmte lokale Kohärenz verleiht“ (Butler 2011, S. 86).Footnote 1 Während Normen also das Feld des Intelligiblen umreißen (Butler 2011, S. 84), wird auf Regeln rekurriert, um bestimmte Handlungsoptionen als präferiert, d. h. als angebracht, richtig und gerechtfertigt zu markieren (siehe dazu auch Wittgenstein 1967, §198; Rawls 1955). Zwar folge ich Butlers Unterscheidung, möchte aber gerade nicht Normen, sondern die expliziten Regeln – verstanden als greifbares empirisches Phänomen, das es selbst zu erklären gilt – in den Vordergrund rücken. Denn Rouse (2001, 53,54,a, b) spricht mit Blick auf Praktiken zwar von Normativität, aber nicht von Normen, und Schatzki (1996, 2001) spricht ebenfalls nicht von Normen, aber von expliziten Regeln. Bevor ich aber die Ansätze von Rouse und Schatzki im Detail diskutiere, will ich den praxistheoretischen Diskurs vorstellen, in dem sie sich verorten.

Die Familie der Praxistheorien ist groß und divers, und der analytische Stellenwert von Praktiken ist in ihr immer noch umstritten. Während etwa Andreas Reckwitz in den Praktiken die „kleinste Einheit“ des Sozialen erkennt (Reckwitz 2003, S. 290) und Schatzki sie als „ontologically more fundamental than action“ versteht (Schatzki 1997, S. 285), reiht Stefan Hirschauer (2016) sie ein in eine Trias aus Tätigkeiten, Handlungen und Praktiken. Dennoch eint Praxistheorien gemeinhin eine Ablehnung, oder zumindest theoriestrategische Abstufung, des Handlungsbegriffes, wie er sich auf Kants Moralphilosophie zurückführen lässt (Rouse 2007b, S. 502; Reckwitz 2000, S. 125). Praxistheorien unterlaufen Modelle des zweck- und normorientierten Handelns, indem sie deren Voraussetzungen – Zwecke, Normen, handelnde Individuen – als erklärungsbedürftig charakterisieren und zu „abgeleitete[n] Phänomene[n]“ machen (Reckwitz 2000, S. 33). Praxistheorien dezentrieren das handelnde Individuum und wenden sich damit nicht nur gegen Rollentheorien wie die von Popitz, sondern auch gegen Individualismus, Intentionalismus, Rationalismus sowie gegen dichotome Unterscheidungen von Handeln und Struktur, von Individuum und Gesellschaft und von Körper und Geist (Reckwitz 2002; Schäfer 2013; Hirschauer 2016).

Dabei rekurrieren viele praxistheoretische Ansätze auf Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie und insbesondere auf das darin entwickelte Regelverständnis (Schatzki 1997; Reckwitz 2003; Rouse 2007b; Schäfer 2013; siehe auch Garfinkel 1967; Bourdieu 1979; Lynch 1992). Denn mit Wittgenstein lassen sich zweck- und normorientierte Handlungsmodelle prägnant herausfordern. Bezüge zu Wittgenstein „pose fundamental concerns for any conception of social life and understanding that emphasizes rules, norms, conventions, or meanings“ (Rouse 2007b, S. 501 f.). In Wittgensteins Regelverständnis sind Regeln – wie auch explizite Normen, Konventionen und geteilte Bedeutungen – konstitutiv an Praktiken gebunden. Die Regel ist dem Regel-Folgen nachgängig. Wittgenstein enttarnt die Regel als einen Effekt (statt der Bedingung) praktischen Geschehens: Was es bedeutet, einer Regel zu folgen, was also die Regel ist, das „[äußert] sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem […], was wir ‚der Regel folgen‘, und was wir ‚ihr entgegenhandeln‘ nennen“ (Wittgenstein 1967, §201). Einer Regel zu folgen, braucht in diesem Sinne „know-how“, nicht „knowing-that“.

Reckwitz (2003, 2002) fasst die sozialtheoretische Programmatik der Praxistheorien in drei Aspekte. Erstens, so Reckwitz, heben praxistheoretische Ansätze die Rolle von Materialität für ein Verständnis des Sozialen hervor. Praktiken sind inhärent materiell; sie vollziehen sich durch Körper und anhand von Artefakten – eine Perspektive, die die kognitivistische Hierarchie von Geist und Körper aufhebt. Daher betonen viele Praxistheorien, zweitens, dass sich Praktiken nach den impliziten und informellen „Logiken“ von praktischem Verständnis und „know-how“ vollziehen, deren Verständnis sich rein rationalistischen oder kognitivistischen Zugängen entzieht. D. h. die Logiken der Praxis gehen dieser nicht voraus, sondern (re‑)konstituieren sich im praktischen Vollzug. Das bedeutet, dass Praktiken nicht nach expliziten Regeln und Normen verlaufen (und das Soziale durch letztere auch nicht adäquat beschrieben werden kann). Vielmehr zeigen Praxistheorien, drittens, wie sich praktische Logiken dem impliziten Spannungsverhältnis von Routine und der „Unberechenbarkeit interpretativer Unbestimmtheiten“ stellen müssen, und betonen damit die Zeitlichkeit des Sozialen (Reckwitz 2003, S. 294; vgl. Schäfer 2013).

Wenn ich vor diesem Hintergrund praxistheoretische Überlegungen zu Normativität darlege, bekomme ich es mit gleich zwei sozialtheoretischen Differenzen zu tun. Die erste dieser beiden Differenzen adressiert die grundsätzliche Frage, welcher sozialtheoretische Stellenwert Normativität zukommt. Praxistheorien beziehen hier eine prägnante Position, wenn sie das Paradigma normorientierter Handlungstheorie ablehnen und Normen den Praktiken analytisch nachordnen. So schlägt Hilmar Schäfer vor, Normen praxistheoretisch als eine „spezifische Konstellation“, als „kontingente Form“ eines Subjektivitätsverhältnisses bzw. als „bestimmte Eigenschaften der Verbindung von Praktiken“ zu verstehen, die es zu erklären gilt (Schäfer 2013, S. 364 ff.). Von einem solchen Verständnis ausgehend kann Normativität „praxeologisch nicht als ‚handlungsanleitende Sollens-Regeln‘ verstanden werden“ (Reckwitz 2003, S. 293). Vielmehr, so Reckwitz, werde Normativität wirksam in Gestalt „implizite[r] normative[r] Kriterien“ des Angemessenen, die eingelagert sind in praktisches Verständnis. Diese Kriterien sind zu unterscheiden von formalen, expliziten Normen, welche „das gesamte Feld des Impliziten nicht zu repräsentieren vermögen und möglicherweise sogar im Widerspruch zu diesem stehen“ (Reckwitz 2003, S. 293).Footnote 2

Ein umfassender Vorschlag dafür, welche Rolle Normativität (jenseits ihrer Reifikation) für soziale Praktiken spielen kann, findet sich in der deutschsprachigen Diskussion praxistheoretischer Ansätze bisher jedoch nicht. Wie können Theorien sozialer Praktiken Popitz‘ Einsicht ein- und vielleicht sogar überholen, dass das, was wir tun, in ein Geflecht von normativen Bezugnahmen – in ein beständiges Ver-Antworten – eingebunden ist? Ich möchte vorschlagen, diese Frage mit einem normativen Begriff von Praktiken zu adressieren.

Dieser normative Begriff von Praktiken bringt eine zweite Differenz, eine Differenz innerhalb der Praxistheorien mit sich (Rouse 2001). Denn während die erste der oben genannten sozialtheoretischen Differenzen damit beschäftigt ist, praxistheoretische Prämissen in Abgrenzung zum Paradigma normorientierter Handlungstheorie herauszuarbeiten, basiert die zweite Differenz schon auf praxistheoretischen Prämissen: Wenn „Praktiken“ grundlegend für Sozialität und soziale Ordnung sind – welcher Begriff von Praktiken befördert dieses Verständnis? Welche begrifflichen Alternativen stehen hier zur Verfügung, und wie gehen diese mit Normativität um? Mit Rouse möchte ich vorschlagen, zwischen „regularist“ und „normative notions of practice“ zu unterscheiden (Rouse 2007a, S. 47) und die Vorzüge eines Begriffes von Praktiken verdeutlichen, der sich nicht über Regelmäßigkeiten („regularity“), sondern über normative Verweiszusammenhänge bestimmt.Footnote 3

3 Ein normativer Begriff von Praktiken

Rouses Arbeiten zu einem normativen Begriff von Praktiken (2001, 2007a) werden seit einigen Jahren vereinzelt auch in der deutschsprachigen praxistheoretisch orientierten Sozialforschung berücksichtigt. Hinweise darauf, dass sowohl eine konzeptionelle als auch eine methodologische Diskussion seiner Arbeit lohnt, finden sich etwa bei Kristina Brümmer (2015, S. 60). Sie argumentiert, dass mit Rouse Normativität in ihrem praktischen Vollzug verstanden und untersucht werden kann. Rouse mache hierzu einen präzisen Vorschlag (präziser als etwa Schatzki 1997, 2002), der sich in der empirischen Forschung als fruchtbar erweise. Auch Thomas Alkemeyer und Nikolaus Buschmann zitieren Rouse en passant und mit der Bemerkung, dass Rouses Ansatz ein Verständnis davon anbiete, „wie sich Normativität in den Interaktionen der Praxis selbst entfaltet und die Teilnehmer dazu befähigt, sich zu diesen praktischen Vollzügen reflexiv zu verhalten“ (Alkemeyer und Buschmann 2016, S. 132). In einem ersten Schritt will ich diesen Hinweisen auf die Nützlichkeit eines normativen Begriffes von Praktiken, wie Rouse ihn vorschlägt, nachgehen (3.1). In einem zweiten Schritt will ich Rouses normativen Begriff von Praktiken zu Schatzkis durchaus verwandtem Ansatz in Beziehung setzen (3.2).

3.1 Rouses normativer Begriff von Praktiken

Rouse entwickelt die Unterscheidung zwischen „regularist“ und „normative“ in Auseinandersetzung mit Stephen Turners Kritik (1994) am Begriff von Praktiken. In seiner Kritik disqualifiziert Turner praxistheoretische Erklärungen, die in ihrer Bestimmung davon, was Praktiken sind und wie sie sich etablieren und verbreiten, auf ein schweigsames Gemeinsames rekurrieren. Turner zufolge schlügen solche Erklärungen fehl, weil sie keinen empirisch zugänglichen, kausal wirksamen Transmissionsmechanismus plausibel machen könnten, der genuin Gemeinsames garantieren kann. Auch ein Transmissionsmechanismus, der auf Iterationen von Handlungen über die Zeit setzt,Footnote 4 sei, so Turner, problematisch. Denn es sei höchst voraussetzungsreich, Iterationen als un-/gleich oder un-/regelmäßig zu erkennen (Turner 1994, S. 21 ff.). Deswegen will Turner den Rekurs auf Regelmäßigkeiten – und auf Praktiken – aus sozialtheoretischen Erklärungsversuchen verbannen:

Turner argues that to do the explanatory work attributed to them, practices must be objectively identifiable regularities. […] Turner ultimately rejects any explanatory appeal to social practices because of allegedly intractable difficulties in justifying the psychological reality, causal efficacy, or transmissible identity of any regularities “underlying” more readily manifest human activities. (Rouse 2001, S. 199, Hervorh. i. Orig.)

Rouse teilt Turners Interesse an kausalen und „objektiven“ Erklärungen nicht. Aber er stimmt mit Turner darin überein, dass Regelmäßigkeit in der Tat nicht als empirisches Bestimmungskriterium für die Identität und Ausdehnung einer Praktik taugt. Folglich, so Rouse, sollten Praktiken auch begrifflich nicht unter Rückgriff auf Regelmäßigkeit bestimmt werden. Stattdessen setzt Rouse dem auf Regelmäßigkeit bezogenen Begriff von Praktiken („regularist“) einen normativen Begriff von Praktiken entgegen. Diesen normativen Begriff, so Rouse, habe Turner übersehen, sodass dessen umfangreiche Kritik an praxistheoretischen Ansätzen diesen auch nicht treffe.

Wenn Rouse nun einen normativen Begriff von Praktiken vorschlägt, dann erkennt er Momente des Normativen überall dort, wo es angemessen ist, Kriterien wie Gerechtigkeit, Richtigkeit oder Angemessenheit zu verwenden (Rouse 2007a, S. 48). Damit will Rouse Normativität weder auf spezielle Gegenstände (Normen, Werte, Regeln, Präferenzen) noch auf eine bestimmte Modalität (etwa des Normativen im Unterschied zum Faktischen) begrenzen. Stattdessen versteht er Normativität als einen offenen Zusammenhang von Bezugnahmen, mittels derer die Elemente einer Praktik in ihrer Ausführung aufeinander reagieren – loben, korrigieren, gutheißen, verzögern, behindern, befördern, fortschreiben etc. All diese Reaktionen sind beobachtbar und „öffentlich“ (Schmidt und Volbers 2011, S. 25, 28). Um sie analytisch zu fassen und sie für seine Bestimmung von Praktiken fruchtbar zu machen, verwendet Rouse den Begriff der „accountability“:

On [Rouse’s normative] conception, a practice is maintained by interactions among its constitutive performances that express their mutual accountability. On this normative conception of practices, a performance belongs to a practice if it is appropriate to hold it accountable as a correct or incorrect performance of that practice. Such holding to account is itself integral to the practice and can likewise be done correctly or incorrectly. If done incorrectly, then it would appropriately be held accountable in turn. That would require responding to it in ways appropriate to a mistaken holding-accountable and so forth. (Rouse 2007a, S. 48)

Rouse versteht unter „accountability“ eine wechselseitige Ver-Antwortlichkeit von „performances“, die ohne ein geteiltes Gemeinsames auskommt. Er erläutert sein Verständnis von „accountability“, indem er Bezüge etwa zu sprachphilosophischen Ansätzen von Brandom (2000) herstellt und auf MacIntyres (1980) Begriff von Tradition rekurriert – Ansätze, die sich dezidiert dagegen aussprechen, die Voraussetzung gelingender, fortdauernder sprachlicher und sozialer Interaktion in gemeinsam geteilten Bedeutungen zu sehen. Trotz sprachphilosophischer Anleihen aber versteht Rouse „accountability“ nicht als ein exklusiv sprachliches Phänomen, sondern als etwas, das der körperlich-materiellen Teilnahme an Praktiken inhärent ist. „Accountability“ drückt sich daher nicht nur und nicht primär in allein sprachlicher Miss‑/Billigung aus:

One performance responds to another, for example, by correcting it, drawing inferences from it, translating it, rewarding or punishing its performer, trying to do the same thing in different circumstances, mimicking it, circumventing its effects, and so on. (Rouse 2007a, S. 49)

Hier geht es nicht allein um Zustimmung, Imitation, Korrektur und Ablehnung, sondern um eine schier unendliche Zahl an Reaktionen, die auch äußerst subtil ausfallen können und durch ganz unterschiedliche Aktivitäts- und Explizitätsniveaus gekennzeichnet (Hirschauer 2016): Geschehen-lassen, Flankieren, Unterstützen, Bestärken, Verstärken, Abschwächen, Ausweichen, Skepsis, Behindern, Verzögern, Weitergeben, Zitieren, Parodieren, Beschweigen, Darüber-hinweggehen, Unbeeindruckt-bleiben, Abperlen-lassen…

Rouse schlägt nun vor, „accountability“ als Kriterium zur Identifikation von Praktiken zu verwenden. Demnach muss die Frage, was zu einer Praktik gehört, mit Blick auf den Verweiszusammenhang beantwortet werden, den „accountability“ schafft: „[T]he bounds of a practice are identified by the ways in which its constitutive performances bear on one another, rather than by any regularities of behavior or meaning that they encompass“ (Rouse 2007a, S. 49). Allerdings hebt Rouse hervor, dass ein Gewebe von sich (ver-)antwortendem Handeln allein noch nicht jene Normativität besitze, die es als eine Praktik auszeichne: „A second crucial feature of practices, normatively conceived, is that these patterns of interaction constitute something at issue and at stake in their outcome“ (Rouse 2007a, S. 50). Dass es Praktiken „um etwas geht“, bedeute aber nicht, dass Praktiken durch fixierte Normen bestimmt wären:

[T]he normativity of practices is expressed not by a determinate norm to which they are accountable but instead in the mutual accountability of their constitutive performances to issues and stakes whose definitive resolution is always prospective. Indeed, that is the point of introducing the phrases “at issue” and “at stake.” Performances of a practice are intentionally directed toward and accountable to “something” (an issue and what is at stake in that issue) that outruns any particular expression of what it is. (Rouse 2007a, S. 51)

Rouse versteht Normativität daher als etwas, das sich nur in der Zeit vollziehen kann. In diesem Sinne ist Normativität etwas, das fortlaufend „getan wird“ – etwas, dass Gegenwart und Vergangenheit berücksichtigt, aber auf eine offene Zukunft hin orientiert ist. So verstanden lässt sich Normativität mit dem Verweis auf Normen, notwendigerweise statisch formuliert, nur unzureichend erklären. Normen können das, worauf Praktiken in ihrer Normativität hinauswollen, nicht vollständig einfangen. Die Normativität von Praktiken, wie auch ihre Identität, ist immer im Fluss (siehe auch Rouse 2001, S. 202); und alle Versuche, sie zu „domestizieren“ müssen daher fehlschlagen (Rouse 2007a, S. 48).

Normativität, in dieser Perspektive, vollzieht sich nicht auf einer dem Geschehen enthobenen Ebene. Sie ist Teil des Geschehens – sie ist situiertes Geschehen. Für Rouse gibt es kein normatives Außerhalb – eine Einsicht, die ihm als Wissenschaftsphilosoph besonders wichtig ist. Rouse zufolge sind alle Anstrengungen, sich außerhalb einer Praktik zu situieren und deren Normbestand zu identifizieren, ein untrennbarer Teil des dynamischen Verweiszusammenhanges von Ver-Antwortlichkeit, in dem sich eine Praktik als solche konstituiert (Rouse 2007a, S. 51). Das bedeutet – und zwar nicht nur für Wissenschaftsphilosophie und Science Studies –, dass Forschung (so wie jedweder Kommentar) über Praktiken es nicht vermeiden kann, sich inmitten des Verweiszusammenhanges zu situieren, der Praktiken hervorbringt.Footnote 5

Was „accountability“ praktisch bedeuten kann, lässt sich anhand Popitz’ Darstellung des Kreuzungsgeschehens illustrieren: In seiner Darstellung sind Verkehrsteilnehmende den „grünen und roten Lichter[n]“ verpflichtet; um das Ampelsignal kommen sie nicht herum. Zwar nennt Popitz das die „Normgebundenheit“ menschlichen Verhaltens, er sagt dann aber nicht etwa, dass menschliches Verhalten dem Ampelsignal unterworfen wäre, sondern spricht davon, dass es – egal, ob es nun dem Signal folgt oder nicht – „von anderen als eine Antwort auf diese Signale interpretiert“ würde (Popitz 2006, S. 61). Wenn auch diese Interpretation als Antwort betrachtet wird (die wiederum eine Antwort nach sich zieht), dann ergibt sich ein sich über die Zeit entspinnendes Netz von Bezugnahmen, das Antworten und Ver-Antwortungen ineinander webt. Es ist dieses Netz von Bezugnahmen, auf das Rouses Begriff von „accountability“ hinauswill. Mit Rouse, und mit praxistheoretischer Sensibilität, sollten diese sich ver-antwortenden Bezüglichkeiten aber nicht verstanden werden als ein „Sich-gegenseitig-Feststellen“ von Alter und Ego (Popitz 2006, S. 64), sondern als praktisches Geschehen jenseits dichotomer Optionen von Konformität und Devianz, dem sich auch die beobachtende Soziologin nicht entziehen kann.

Rouse selbst erläutert seinen Begriff von Praktiken, der auf „accountability“ statt auf Regelmäßigkeit setzt, beispielhaft anhand der elterlichen Schelte: „We don’t hit other children, do we?“ (Rouse 2007a, S. 49) Diese elterliche Aussage wird üblicherweise gerade dann artikuliert, wenn ein Kind im Begriff ist, ein anderes zu schlagen oder das bereits getan hat. In dieser Situation ist die elterliche Aussage eben keine Aussage über beobachtbare Regelmäßigkeit, sondern eine missbilligende Reaktion auf kindliches Verhalten. Die Aussage nimmt eine Bewertung vor – „wir sollten dieses tun, nicht jenes“ – und bezieht ihren Geltungsanspruch nicht aus einem Bezug zu dem, was bisher getan wurde. Das Beispiel ist aufschlussreich, denn es macht deutlich, dass die Stärke eines normativen Begriffes von Praktiken, wie Rouse ihn vorschlägt, gar nicht unbedingt in der trennscharfen Identifikation und Abgrenzung einzelner Praktiken liegt. Setzt man Rouses normativen Begriff an, so geht es in dem Beispiel weder einfach um die kindliche Praktik des Schlagens noch um die des Nicht-Schlagens. Stattdessen geht es um eine Praktik, die sowohl kindliches Verhalten als auch elterliche Erziehung umfasst. Diese Praktik konstituiert sich Rouse zufolge nicht über wiederholtes Schlagen bzw. Nicht-Schlagen (d. h., nicht über beobachtbare Regelmäßigkeiten), sondern über die normativen Verweiszusammenhänge, die in der Interaktion zwischen Kindern und Eltern bestehen. Diese Bezugnahmen können sich weit verteilen, und es wird schwerfallen, sie einzugrenzen. Denn der elterliche Hinweis, dass andere Kinder nicht zu schlagen sind, dürfte wiederum verschiedene andere, implizit oder explizit evaluative Reaktionen hervorrufen – seitens gescholtener Kinder, aber auch seitens anderer Eltern, Erziehungsexpert*innen, Gewaltforscher*innen, Jurist*innen, Kinderbuchautor*innen etc.

3.2 Schatzkis Begriff von Praktiken

Während Rouse kaum Erwähnung findet in deutschsprachiger praxistheoretisch angelegter Forschung, sind Schatzkis Arbeiten zu einer Sozialtheorie der Praktiken (1996, 2001, 2002) seit Längerem einem breiteren Publikum bekannt und werden vielfach referenziert. In Anbetracht dieser Situation überrascht es, dass Schatzkis Perspektive auf Regelmäßigkeit und Normativität kaum thematisiert wird – eine Perspektive, die der von Rouse ähnelt. Wie Rouse lehnt Schatzki es deutlich ab, Regelmäßigkeit zum begrifflichen Kern des Verständnisses von Praktiken zu machen. So ist denn auch Schatzkis Verständnis von Praktiken, gemessen an Rouses Einteilung, weder „regularist“ noch „regulist“ (Rouse 2007a) zu nennen. Wie Rouse rekurriert auch er auf ein irreduzibles Moment von Normativität:

Die unterschiedlichen Aktivitäten, aus denen sich eine Praktik zusammensetzt, werden durch bestimmte Verständnisse, Regeln und normative Teleologien organisiert und geordnet. Diese Aktivitäten müssen keine Regelmäßigkeiten ausbilden: Eine Praktik besteht nicht aus einer Menge regelmäßiger Handlungen, sondern aus einem dynamischen Feld unterschiedlicher Aktivitäten, die durch Gemeinsamkeiten der eben genannten Art miteinander verbunden werden. (Schatzki 2016, S. 69; Hervorhebung S.W.)

Dass Praktiken nicht aus regelmäßigen Aktivitäten bestehen (müssen), und dass sie ihren Zusammenhalt nicht durch Regelmäßigkeit gewinnen (können), hat Schatzki zuvor schon an anderer Stelle betont: „It is important to stress that the doings and sayings that compose a practice need not be regular“ (Schatzki 2002, S. 73 f.; s. a. Schatzki 2001). Dieser „nexus of doings and sayings“Footnote 6 könne, so Schatzki, sich auf drei unterschiedliche Arten integrieren – eben durch praktisches Verständnis („understanding“), Regeln (auch Prinzipien, Geboten, Anweisungen) und das, was Schatzki als teleoaffektive Strukturen („teleoaffective structures“) bezeichnet, welche Ziele, Absichten und Aufgaben umfassen (Schatzki 1996, S. 89; s. a. Schatzki 2002, S. 77).Footnote 7 Nicht alle Integrationsmomente müssen immer gleich präsent sein. Bei Schatzki gewinnen unterschiedliche Typen von Praktiken, etwa verteilte vs. integrative Praktiken, ihre Kohärenz auf unterschiedliche Weise (Schatzki 1996, S. 91, 99). Wichtig ist aber anzuerkennen, dass sowohl „Verständnisse“ davon, wie Praktiken auszuführen sind, als auch Regeln und teleoaffektive Strukturen eine Normativität transportieren, die nicht hinter der Regelmäßigkeit des Tuns verschwindet und sich nicht auf sie reduzieren lässt. Daher hebt Schatzki hervor: „[…] the entirety of a practice’s organization is normative“ (Schatzki 1996, S. 101).

Um das von Popitz eingebrachte Ampelbeispiel zu diskutieren, ist Schatzkis Verweis auf Regeln besonders interessant. Schatzki grenzt sich von Praxistheorien ab, die Praktiken als durch implizite, ihnen auf schlecht einsehbare Weise zugrundeliegende Regeln bestimmt sehen, und spricht stattdessen allein von expliziten Regeln: „By ‚rules‘ I mean explicit formulations that enjoin or school in particular actions“ (Schatzki 2001, S. 59). In diesem Sinne müssen Regeln nicht ein „preexisting understanding“, d. h. ein der Praktik vorgängiges Verständnis ihrer Ausführung, artikulieren (können es aber tun). Daher zählt Schatzki zu den für die Integration von Praktiken brauchbaren Regeln nicht nur „rules of grammar“, sondern auch Gesetze, Vorschriften, Daumenregeln und Rezepte – alle jenen expliziten Regeln, die bewusst im Ausführen von Praktiken mobilisiert werden können. Denn, so Schatzki, „what people do often reflects formulations of which they are aware“ (ebd.), sei es um sich an diesen Formulierungen zu orientieren oder sie zu umgehen. Dabei werden Regeln nicht an Praktiken herangetragen; vielmehr beherbergen Praktiken Regeln, die in ihrer Ausführung mobilisiert werden können und einzelne Elemente ihrer Ausführung zueinander in Beziehung setzen. Zwei Präzisierungen fügt Schatzki dem noch hinzu. Erstens ist genau genommen das, was Praktiken integriert, nicht eine Regel, sondern das Verständnis einer Regel, das sich in der Ausführung einer Praktik ausdrückt. Zweitens zwingt Schatzkis Wittgenstein-Rezeption ihn zu dem grundsätzlichen Vorbehalt: „Rules, however, only intermittently and never simpliciter determine what people specifically do“ (a. a. O., S. 60). Auch bei Schatzki bestimmen also Regeln das praktische Geschehen nicht.

Obwohl Schatzkis Begriffsbestimmung von Praktiken als „organized nexus of doings and sayings“ (Schatzki 2002, S. 77) gern und prominent zitiert wird, etwa bei Reckwitz (2003, S. 290) oder H. Schäfer (2013, S. 19), wird sein (und Rouses) Argument, dass die Organisation dieses Nexus mit einem irreduzibel normativen Moment zu tun hat, zumeist nicht offensiv relevant gemacht. Zwar hebt etwa Reckwitz die Bedeutung von „impliziten normativen Kriterien des Angemessenen“ für die Ausführung von Praktiken hervor (Reckwitz 2003, S. 293). Aber die normativen Begriffe von Praktiken sowohl von Rouse als auch von Schatzki gehen über die Anerkennung impliziter normativer Kriterien hinaus, wenn sie Normativität – gerade auch in Gestalt expliziter Aussagen – zu dem machen, was „doings“ und „sayings“ zueinander in Beziehung setzt.

4 Normativität, Regeln, und die Verwobenheit von Praktiken

Während Rouse das situierte Spiel normativer Bezüge als konstitutiv für Praktiken denkt, lässt sich mit Schatzki hervorheben, welche Rolle expliziten Regeln in diesem Spiel zukommen kann. Zusammengenommen ergibt sich mit Rouse und Schatzki so eine Perspektive darauf, wie Bezüge des Ver-Antwortens Regeln mobilisieren, um Praktiken zusammenzuhalten.

Was Praktiken zusammenhält ist eine bewusst ambivalente Formulierung, die offenlässt, ob sie sich auf die Kohärenz einer Praktik oder auf den Zusammenhalt mehrerer Praktiken miteinander bezieht. Ich verbinde mit dieser Formulierung folgendes Argument: Das, was eine Praktik als eben solche integriert, ist ihre Verwobenheit mit anderen Praktiken. Einem normativen Begriff von Praktiken – von „der Praktik“ – kann es mithin gar nicht darum gehen, Praktiken ein- und voneinander abzugrenzen.

Dieses Argument kommt nicht von ungefähr. Es geht von obiger Darstellung des Praxisbegriffes bei Rouse (und Schatzki) aus und macht für sich die Beobachtung produktiv, dass insbesondere Rouses begrifflicher Ansatz einzelne Praktiken nicht mit Trennschärfe zu fassen vermag. Zudem kann dieses Argument praxistheoretische Überlegungen aufnehmen, die von anderen Autor*innen formuliert wurden.

Die normativen Verweiszusammenhänge, die Rouse für seinen Begriff von Praktiken fruchtbar macht, spannen ein weitreichendes, unabgeschlossenes Netz an Bezugnahmen: Wo, um in Rouses eigenem Beispiel zu bleiben, hört die Praktik des kindlichen Umgangs mit andern Kindern auf, wo fangen elterliche Erziehungspraktiken an? Kindsein und Erziehung lassen sich hier nicht gut voneinander trennen. In der Tat argumentiert Rouse, dass Praktiken sich nicht „objektiv“ voneinander abgrenzen lassen. Ihre Abgrenzung ist selbst Gegenstand praktisch verfasster, normativer Verweiszusammenhänge („Das ist kein Kind/keine Erziehung mehr“). Rouse schreibt: „Practices are only identifiable as practices at all against a background of other practices“ (Rouse 2002, S. 170).

Der Gedanke, dass – allgemeiner formuliert – die für Praktiken konstitutiven Zusammenhänge weit reichen, findet sich auch bei Rahel Jaeggi (2014, S. 104 ff.), für die Praktiken erst im gebündelten Bezug aufeinander (als „Lebensform“) an Bedeutung gewinnen. Einen ganz ähnlichen Gedanken nimmt auch H. Schäfer auf: „Eine ‚Praxis‘ ist stets in einen Kontext eingebettet und steht in Relation zu anderen Praktiken.“ Daher, folgert der Autor, lasse sich „die Frage, was überhaupt eine oder dieselbe Praxis ist, […] ausschließlich kontextuell beantworten“ (Schäfer 2013, S. 19). Diese Schwierigkeit macht Hirschauer zu einem Kniff: Von Praktiken zu sprechen, heißt, analytisch flexibel „zoomen“ zu können. So „kann eine Praktik sowohl eine Verhaltensnuance bezeichnen (die lokal gepflegte Technik der Hangschrägfahrt) als auch eine Körpertechnik der Fortbewegung (das Skifahren) oder einen ganzen Komplex sportlicher Mobilität (den Skisport, inklusive Lehrbetrieb, Produktion und Lifttechnik)“ (Hirschauer 2016, S. 61). Und eben jene weitwinklige Perspektive ist es, die Elizabeth Shove, Matt Watson und Nicola Spurling interessiert, wenn sie die verschiedenen Arten von „interconnection“ in den Blick nehmen, die sich zwischen Praktiken entspinnen können (Shove et al. 2015, S. 279).

Die Weitläufigkeit ver-antwortender Bezüge wird plastisch, wenn Jack Katz das Autofahren in L.A. als ein Set von Praktiken untersucht, das eine anspruchsvolle Mischung aus Umsicht, Reaktionsfähigkeit und „road rage“ kultiviert. Seine Untersuchung reicht von der Straße bis in den Kindergarten, wenn Katz beschreibt, wie ein dreijähriges Kind ein anderes im Spiel adressiert: „Fahr los, du blödes Arschloch!“ (Katz 2015, S. 13). Wie Rouse fallen auch Katz normative Aussagen ins Auge. „Du musst mit dem Fluss schwimmen“, sagt Hilaria, eine Autofahrerin in Los Angeles, die von Katz’ Studierenden beim Autofahren begleitet wurde: „Ich schwimme mit dem Fluss. Es gibt keine Sonderrechte. Und dann gibt es meistens ein Arschloch in einem BMW. BMWs glauben, ihnen gehöre die Straße“ (Katz 2015, S. 60). Den Fahrer*innen teurer Modelle wirft Hilaria vor, genau jene Sonderrechte in Anspruch zu nehmen, die es eigentlich nicht gebe. Doch diesen Anspruch will Hilaria nicht durchgehen lassen und fordert: „[S]ie können die Leute nicht einfach schneiden“ (Katz 2015, S. 60). Dass dies keine leeren Worte sind, sondern eine Haltung, die sich in gefährlichen Manövern ausdrückt, kann Katz mit einer Vielzahl von Beobachtungen glaubhaft machen.

Was Hilaria als „Sonderrechte“ oder den Imperativ des „flow“ formuliert, sind Beispiele für Regeln, die hier in normativen Bezugnahmen auf andere Akteur*innen mobilisiert werden. Mit der Verneinung von „Sonderrechten“ und der Orientierung am „flow“ kann Hilaria auf das reagieren, was sie im Straßenverkehr beobachtet – so verwickelt sie sich in ver-antwortende Bezüge. Offensichtlich ist, dass weder „Sonderrechte“ noch „flow“ gut be- oder vorschreiben können; als formulierte Regeln scheitern beide daran, eine adäquate Deskription des Straßengeschehens zu liefern oder das Geschehen präskriptiv zu determinieren. Trotzdem werden sie – mitten im Geschehen – immer wieder auf eine Weise mobilisiert, die als bloßes „Lippenbekenntnis“ einzustufen ihre Rolle für den Fortgang praktischen Straßengeschehens unterschätzen würde.

Das gilt auch und gerade für die Regeln einer Straßenverkehrsordnung. An einer roten Ampel, schreibt Popitz, besteht zwar die Möglichkeit, sich um das Ampelsignal „nicht [zu] scheren“, doch viel näher liegt, es zu nutzen und das eigene oder fremde Verhalten „als eine Antwort auf diese Signale [zu] interpretier[en]“ (Popitz 2006, S. 61). Dass sich das Ampelsignal nicht leicht in Abrede stellen lässt, liegt im Geltungsanspruch der Ampelregel begründet. Dieser Anspruch wird nicht allein an der Kreuzung erzeugt; er ergibt sich nicht nur daraus, dass Verkehrsteilnehmer*innen der Ampelregel regelmäßig folgen würden. Um also die Rolle von Regeln in normativen Bezüglichkeiten zu klären, ist es wichtig, die Regel nicht allein in jenem praktischen Zusammenhang zu betrachten, auf den sie sich bezieht. Denn viele Regeln werden nicht (nur) dort formuliert und verhandelt, wo ihre Formulierung angewendet wird – und beziehen genau aus diesem Umstand ihren Geltungsanspruch.

Dass Regeln einen bestimmten Geltungsanspruch besitzen, dass ihnen der Anspruch zugebilligt wird, auferlegen oder anleiten zu können, was zu tun ist, lässt sich für unterschiedliche Regeln unterschiedlich begründen. Die Begründung eines Geltungsanspruches kann darauf rekurrieren, dass eine Regel aus Regelmäßigkeiten erwächst – dass sie sich retroaktiv in den Ausführungen einer Praktik wieder und wieder bewiesen zu haben scheint (vgl. Puhl 2002). Eine solche Begründung setzt die Regel in ein sehr enges Verhältnis zu dem praktischen Zusammenhang, den sie zum Inhalt hat. Ein so begründeter Anspruch auf Geltung aber birgt Risiken. Nur allzu schnell lässt sich die Regel in einen Widerspruch zu den praktischen Verrichtungen bringen, die sie zum Inhalt hat (Bourdieu 1992, S. 103). Dagegen begründet sich der Geltungsanspruch vieler Regeln anders, nämlich aus der Verknüpfung von Praktiken, die regeln und geregelt werden.

Das Beispiel der Ampelregel erweist sich hier als instruktiv. Die Ampelregel gilt auch für Fußgänger*innen, aber ihr Geltungsanspruch erwächst nicht aus dem Umstand, dass jene sich regelmäßig an sie halten würden. Vielmehr erwächst ihr Geltungsanspruch – die Aufdringlichkeit, mit der sie in ver-antwortenden Bezügen mobilisiert wird – aus der Verknüpfung des Verkehrsgeschehens mit den Bestrafungspraktiken von Justiz und Selbstjustiz, den Praktiken städtischer Verkehrsregulierung und –planung sowie den Praktiken der Gesetzgebung. Regeln wie die der Straßenverkehrsordnung müssen in aufwendiger Weise erfunden, formuliert, spezifiziert und kodifiziert werden (Latour 2010; Valverde 2012; Scheffer 2014), um nicht minder aufwendig Eingang in die artefaktischen Arrangements der Verkehrsinfrastruktur zu finden (Wagenknecht 2020). Dabei gewinnt die Ampelregel Geltungsanspruch auch daraus, dass die Signalfolge der Ampel Gegenstand nicht nur der Straßenverkehrsordnung, sondern verschiedenster ingenieurswissenschaftlicher Richtlinien, Handbücher und Industrienormen ist, die in regelmäßigen Abständen von Expertenkommissionen überarbeitet werden. Ferner sind der Ampelregel ritualisierte Ermahnungen von Eltern und Pädagog*innen gewidmet. So singt der Kinderliedermacher Rolf Zuckowski in seiner „Verkehrshitparade“: „Rotes Licht und Grün / Das kann doch jeder leicht verstehen / […] So oft kann man Erwachsene sehen / Die bei Rot über die Fahrbahn gehen / Doch die sind wohl nur farbenblind…“ Erst durch diese weitreichenden Verknüpfungen gewinnt die Ampelregel jene Aufdringlichkeit, die Popitz beschreibt: Sie zu ignorieren, steht uns nicht frei.

Auch für die vermeintlichen „Sonderrechte“ (und ihre empörte Zurückweisung) von BMW-Fahrer*innen oder den Imperativ des „flow“ steht zu vermuten, dass diese sich nicht allein aus dem Verkehrsgeschehen ergeben, sondern ihren Geltungsanspruch aus den Verknüpfungen beziehen, die zwischen den Praktiken der Verkehrsteilnahme und anderen Praktiken der Bewegung in öffentlichen Räumen (Goffman 1982), Praktiken politischer Partizipation aber auch, zum Beispiel, jenen des Tanzens bestehen. „Sonderrechte“ und „flow“ aber müssen ihren Geltungsanspruch begründen, ohne auf einen ganzen Komplex von Praktiken verweisen zu können, die sich – gar professionell und hoheitlich – um Formulierung, Verbreitung und Durchsetzung kümmern würden.

Ein gewichtiger Fehler wäre es gleichwohl, allzu einfache Unterscheidungen zwischen Kodifikations- und Anwendungskontexten einer Regel, zwischen Formulierung und Umsetzung, Regelung und Geregelt-Werden zu treffen. Regeln entstehen – bestehen – gerade auch (wenngleich, wie argumentiert, nicht allein) durch ihre Mobilisation im praktischen Geschehen. Dabei bleiben sie, selbst in minutiös kodifizierter Form, immer interpretationsbedürftig. Zudem können aufeinander folgende Bezugnahmen auf Regeln nicht miteinander identisch sein, sondern führen unausweichlich eine Differenz ein, wenn sie Regeln immer wieder neu in situierten Zusammenhängen des Ver-Antwortens mobilisieren. Regeln sind deshalb nie „fertig“ und nie vollständig. Was wir als „die“ Regel bezeichnen, erschließt sich uns erst in einer Verkettung von Bezugnahmen, die in einem Geflecht von Praktiken stabilisiert wird.

Aus dem dargelegten Gedankengang ergibt sich nun Folgendes: Das Geflecht an Praktiken, das Regeln zu integrieren vermögen, ist zugleich das Geflecht, in dem sie sich als Regeln stabilisieren und einen Geltungsanspruch etablieren können. Dabei können ver-antwortende Bezüge Regeln in diesem Geflecht auf ganz unterschiedliche Arten mobilisieren und dabei Ausführungen von Praktiken unterschiedlich zueinander in Beziehung setzen. Die Ampelregel etwa lässt sich verwenden, um die Ausführenden einzelner Mobilitätspraktiken anzuleiten. Zugleich trägt die Ampelregel zur Koordination von potenziell konfligierenden Ausführungen verschiedener urbaner Mobilitätspraktiken bei. Die Ampelregel konsolidiert und koordiniert so einen praktischen Zusammenhang, der sich durch die raumzeitliche Nähe der Ausführungen von Praktiken ergibt. Doch Regeln werden häufig von einem praktischen Zusammenhang in einen anderen übertragen, ohne dass eine raumzeitliche Nähe der praktischen Ausführung gegeben ist, auf die sich die übertragenen Regeln beziehen. Als Beispiel hier kann die Übernahme verschiedener Signalisierungsregeln aus der Binnenschifffahrt in den Straßenverkehr dienen (McShane 1999) oder die Buchrückengestaltung, die sich im angloamerikanischem Raum am Linksverkehr orientiert, im deutsch- und französischsprachigem Raum aber am Rechtsverkehr. Wie oben dargestellt, integrieren sich über Regeln zudem auch Praktiken, in denen eine bestimmte Regel auf ganz andere Weise gehandhabt wird – als Arbeitsgegenstand oder Instrument. Die Ampelregel etwa illustriert, wie gesetzgebende und ingenieurswissenschaftliche Praktiken andere Praktiken, darunter Mobilitätspraktiken oder die Praktiken polizeilicher Sanktionierung, „infrastrukturieren“ (wobei die kodifizierte Regel sicher nur ein Element von Infrastruktur ist, siehe Wagenknecht und Korn 2016; Shove et al. 2019; Röhl 2020).

Mit einem normativen Begriff von Praktiken eröffnet sich also der Blick darauf, wie komplexe praktische Gefüge durch unterschiedliche, mitunter sehr weitläufige Verwebungen von und zwischen Praktiken entstehen. Popitz‘ Problem – die „Gebundenheit“ sozialen Verhaltens, das Problem sozialer Ordnung – erschließt sich so über Fragen nach situierten normativen Bezügen: Wie beziehen etwa Kritik, Bestrafung, Bewertung, Vergleich, Korrektur, Ermöglichung und Geschehen-Lassen verschiedene Praktiken aufeinander? Wie verhalten sich kritisierende und kritisierte, bestrafende und bestrafte, ermöglichende und ermöglichte Praktiken zueinander? Und: Wie lassen sich diese Fragen mit praxistheoretischer Sensibilität für Materialität und Körperlichkeit angehen?

5 Diskussion

Um das analytisch-empirische Potenzial eines normativen Begriffes von Praktiken genauer zu bestimmen, will ich diskutieren, wie ein solcher Begriff sich zur praxistheoretischen Programmatik verhält (5.1), wie er mit Einwänden und Limitationen umgehen kann (5.2) und welche methodischen Implikationen er mit sich bringt (5.3).

5.1 Informalität, Materialität, Routine: Ein normativer Begriff von Praktiken und die praxistheoretische Programmatik

Wird ein normativer Blickwinkel auf Praktiken praxistheoretischen Grundpositionen – Informalität, Materialität, Routine/Offenheit – gerecht? Oder müsste gegen eine solche Perspektive eingewendet werden, dass sie hinter wesentliche theoretische Einsichten zurückfällt oder gar mit ihnen unvereinbar ist?

Herauszustellen ist, dass die praxistheoretische Betonung von Informalität weder von Rouse noch von Schatzki zurückgenommen wird. Bei Ersterem ist das offensichtlich. Aber auch Schatzki, der explizite Regeln als ein wichtiges, wenngleich nicht alleiniges oder unabdingbares Integrationsmoment für Praktiken begreift, verpflichtet sich grundsätzlich einer Wittgenstein’schen Perspektive auf Regeln (Schatzki 1996). Zwar führen explizite Regeln ein Moment von Formalität ein, doch können sie Praktiken nicht bestimmen. Sie bleiben stets interpretationsbedürftig, und es ist genau diese Eigenschaft, die es erlaubt, zwischen der Form der Regel und der Situiertheit des praktischen Vollzugs zu vermitteln. Praktiken bleiben so informal; sie sind nicht restlos zu formalisieren. Jedoch regen die von Schatzki und Rouse dargelegten Ansätze dazu an, Informalität und Form, das Implizite und das Explizierte, zueinander in Beziehung zu setzen. Die explizite Regel ist in vielen Praktiken präsent. Wann und wie es sie zu mobilisieren gilt, ist eine Frage des Know-hows, des praktischen Geschicks.

Auch die Position, dass Materialität eine entscheidende Rolle in der Begründung sozialer Ordnung spielt, kann auf fruchtbare Weise in einen normativen Blick auf Praktiken integriert werden. Es lässt sich untersuchen, wie sich ver-antwortende Bezüge materiell vermitteln, wie sie sich in materiellen Arrangements entfalten (Schatzki 2002, 2016) und „Partizipanden“ unterschiedlichster Konstitution adressieren (Hirschauer 2016, S. 45), dabei Artefakte als Instrumente der Prüfung einbeziehen (Potthast 2017) und Körper affizieren (Reckwitz 2016). Katz‘ Beobachtungen des Verkehrsgeschehens in Los Angeles zeigen deutlich, wie verkörpertes, affiziertes Ver-Antworten in die Praktiken des Autofahrens eingeschrieben ist und sich in Arrangements von Gegenständen (im Auto, zwischen Autos) seinen Weg bahnt. Ohne Scham und Wut geht es nicht, obwohl – oder weil – lautstarke, obszöne Anschuldigungen selten den gut abgeschirmten Innenraum des Autos verlassen. Katz berichtet etwa von Mike, einem 30-jährigen Rechtsanwaltsgehilfen, der „die anderen Fahrer meistens aus seinem Wagen heraus anschreit. Dann lachte er über sich selbst und bemerkte, dass er wisse, sie könnten ihn nicht hören.“ (Katz 2015, S. 14) Andere Autofahrer*innen bedienen sich betont aggressiver Fahrmanöver und nehmen auch Kratzer und abgeknickte Spiegel in Kauf, um auf die Fahrweise anderer Verkehrsteilnehmer*innen zu antworten. Immer ist für das Autofahren das Zusammenwirken verschiedener Artefakte und Körper entscheidend: Asphalt, Reifen, Bremsassistent, Airbag, Knautschzone… Dabei dienen Bremsspuren und Alkoholmessgeräte zur Prüfung und Bewertung, während der Bordcomputer fast aller Wagen inzwischen so programmiert ist, dass er ein unerträgliches Piepen vernehmen lässt, wenn eine im Auto sitzende Person nicht angeschnallt ist – eine Protestnote, die auf komplexer und weitreichender materieller Vermittlung beruht (Latour 1996).

Zur Diskussion des Spannungsverhältnisses von Routine und Offenheit kann ein normativer Begriff von Praktiken ebenfalls beitragen, sofern er Normativität als sich auf eine offene Zukunft hin entfaltend denkt und den Bezug auf Regeln nicht als rigide und starr versteht. Eine solche Begriffsanlage schärft den Blick dafür, wie normative Bezugnahmen dem sich vollziehenden Geschehen sowohl Kontinuität verleihen als auch eine neue Richtung geben können, es sowohl fortsetzen als auch stören oder kritisch transformieren können. In der Art und Weise, wie auf Regeln – zum Beispiel Verkehrsregeln – rekurriert wird, können Konformität und Kritik durchaus Hand in Hand gehen. Denn praktisches Geschick besteht auch darin, „mit der Regel des Spiels bis zum Allerletzten, bis zur Übertretung gar zu spielen und gleichzeitig doch im Rahmen der Regeln zu bleiben“ (Bourdieu 1992, S. 102). Noch ein Beispiel von der Straße: Wenn Hamburger Radfahrer*innen sich jeden letzten Freitag im Monat zu einer „critical mass“ treffen und gemeinsam durch die Innenstadt fahren, verursachen sie mitunter längere Verkehrsstaus mitten im wochentäglichen Feierabendverkehr. Sie ziehen den Unmut vieler Autofahrer*innen auf sich. Es hupt. Sie werden von der Fahrradstaffel der Polizei begleitet. Die „critical mass“, die sie versammeln, ist „kritisch“, weil sie genügend Teilnehmer*innen hat, um sich um Ampelsignale nicht scheren zu müssen. Denn wer im Verband von 16 oder mehr Fahrzeugen fährt, darf Kreuzungen als Kolonne überqueren. Die Radfahrer*innen passieren also rote Ampeln, ohne gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen zu müssen. Dennoch haben sie es auf den vermeintlichen Regelbruch angelegt, mit dem sie den Protestcharakter ihrer gemeinsamen Fahrt unterstreichen möchten. Denn Hamburgs „kritische Masse“ kritisiert die Norm der „Auto-Mobilität“, will sie „entnaturalisieren“, „den Straßenraum materiell wie diskursiv umdefinier[en]“ und sich dafür einsetzen, das Fahrradfahren in Hamburgs Innenstadt zu verändern (Strüver 2015, S. 45, mit Bezug auf Butler 1991). Die „critical mass“ gab/gibt es inzwischen in vielen deutschen Städten; das Format wird immer wieder aufgenommen, weitergegeben, dabei verändert und schließlich verlassen, wenn sich nicht mehr genügend Teilnehmer*innen rekrutieren lassen (Shove und Pantzar 2007). Zumindest in Hamburg, so steht zu vermuten, kommen städtische Verwaltung und Lokalpolitik nicht umhin, auf die „critical mass“ zu reagieren, und es entspinnt sich ein Netz von Bezugnahmen zwischen Radfahrer*innen, Verkehrspolizei, Stadtverwaltung, Autofahrer*innen und Lokalpolitik, das bestimmte Praktiken sowohl eine Zeit lang stabilisieren (die Fahrradkolonne jeden letzten Freitag im Monat) als auch zukünftig verändern könnte (Fahrradfahren in der Hamburger Innenstadt).

5.2 Einwände und Limitationen

Mindestens drei Einwände lassen sich gegen einen normativen Begriff von Praktiken vorbringen. Diese betreffen den Stellenwert nicht-menschlicher Beteiligung an Praktiken, den Stellenwert von Regelmäßigkeit und die Verschiedenartigkeit von Praktiken:

  1. a.

    Einem normativen Begriff von Praktiken gelingt es nicht, menschliche Individuen zu dezentrieren; er bleibt anthropozentrisch.

  2. b.

    Weil die Ein- und Ausübung dessen, was Schatzki „practical understanding“ nennt, Regelmäßigkeit braucht, kann auch ein normativer Begriff von Praktiken sich nicht gänzlich vom Begriff der Regelmäßigkeit verabschieden.

  3. c.

    Die Praktik der Überquerung einer signalisierten Kreuzung kann nicht als Paradigma dienen. Zu sehr unterscheidet sie sich von künstlerischen Praktiken oder Selbstpraktiken wie der Meditation, für die normative Verweiszusammenhänge nicht gleichermaßen relevant zu machen sind. Denn insbesondere letztere Praktiken integrieren sich nicht über Korrektur. Aussagen wie „Du malst/meditierst falsch“ sind kein konstitutiver Teil dieser Praktiken.

Jedem dieser Einwände kann ein normativer Begriff von Praktiken begegnen; zugleich verweist die Diskussion der Einwände auf die Limitationen eines solchen Begriffes.

Ad a.

Ein normativer Begriff von Praktiken kann das Individuum dezentrieren. Weder Rouses noch Schatzkis Bestimmung davon, was Praktiken ausmacht, rekurriert auf Individuen, sondern stattdessen auf „accountability“ bzw. praktisches Verständnis, teleoaffektive Strukturen und Regeln. Diese Begrifflichkeiten beziehen beide Autoren aber auf menschliches Tun – verteiltes menschliches Tun. Stärker als Rouse stellt Schatzki diesen Umstand in den Vordergrund, wenn er Praktiken als „geordnete, raum-zeitliche Vielfalt menschlicher Aktivität“ definiert und, anders als Rouse, Praktiken begrifflich von den sie umgebenden „materiellen Arrangements“ unterscheidet (Schatzki 2016, S. 69; vgl. Rouse 2002, S. 163). Ausgehend von Rouses „accountability“ habe ich mit Katz in Abschnitt 5.1 zu zeigen versucht, wie normative Verweiszusammenhänge verkörpert und artefaktisch vermittelt sein können. Mit den frühen Arbeiten Bruno Latours lässt sich zudem zeigen, wie explizite Regeln als Skripte in Artefakte einzuschreiben versucht werden. Man denke hier an das „moralische Gewicht“ eines klobigen Schlüsselanhängers, der in der Hosentasche gegen das Bein schlägt und dort vielleicht einen blauen Fleck hinterlässt (Latour 1996). Oder man denke an die Bodenwelle, die allen Fahrzeugen bei mehr als 20 km/h einen empfindlichen Dämpfer verpasst (Latour 2000). Die Frage ist, ob und wie genau ein normativer Begriff von Praktiken nicht-menschliche und insbesondere materielle Handlungsträgerschaft („material agency“) berücksichtigen kann. Weder Rouse noch Schatzki diskutieren diese Frage offensiv. Zwar verweist Rouse in seinen Arbeiten immer wieder auf die Performativität des Materiellen, doch er hebt auch die Besonderheit menschlicher Handlungsfähigkeit hervor (Rouse 2016). Aber sind komplexe Regime des Ver-Antwortens nicht auch in den Affordanzen und Widerständigkeiten verschiedener Materialien zu sehen, in ihrer Nachgiebigkeit, Brüchigkeit, Resonanzfähigkeit und Reaktivität – darin gar, wie Dinge und menschliche Akteur*innen sich gegenseitig zum Handeln befähigen (Pickering 1993)?

Ad b.

Ein weiterer Einwand gegen einen normativen Begriff von Praktiken, der sich abzugrenzen sucht von einem „regularist“, d. h. auf Regelmäßigkeit abstellenden Begriff von Praktiken (Rouse 2007a, S. 47), lautet: Die Ein- und Ausübung dessen, was Schatzki „practical understanding“ nennt (2001, S. 58), brauche Regelmäßigkeit – genauer: das Erkennen von Regelmäßigkeit. Schatzki selbst charakterisiert „practical understanding“, praktisches Verständnis, als jene Fähigkeiten, die zum Ausführen einer Praktik nötig sind. Dazu zählt „knowing how to x“, „knowing how to identify x‑ings“ sowie „knowing how to prompt as well as to respond to x‑ings“ (Schatzki 2001, S. 59). Schatzki zufolge ist nun praktisches Verständnis nur ein Integrationsmoment, das nicht für die Integration aller Praktiken gleich wichtig sein muss. Die anderen von Schatzki identifizierten Integrationsmomente – teleoaffektive Strukturen und explizite Regeln – beruhen nicht in gleicher Weise auf dem Erkennen von Regelmäßigkeiten. Regelmäßigkeiten haben daher selbst für Schatzki, der anders als Rouse „practical understanding“ prominent in seinem Begriff von Praktiken berücksichtigt, keinen zentralen Stellenwert.

Ad c.

Am schwersten gegen die hier ausgeführten Argumente für einen normativen Begriff von Praktiken wiegt wohl der Einwand, dem falschen Paradigma aufzusitzen. Das Überqueren einer signalisierten Kreuzung, so der Einwand, könne nicht als paradigmatisches Beispiel für eine Praktik gelten, weil es sich zu stark von künstlerischen Praktiken wie der abstrakten Malerei oder Selbstpraktiken wie der Meditation unterscheide, für die normative Verweiszusammenhänge nicht gleichermaßen relevant zu machen seien. Denn letztere Praktiken integrierten sich nicht über Korrektur; daher seien Aussagen wie „Du malst/meditierst falsch“ kein konstitutiver Teil dieser Praktiken. Ich will auf diesen Einwand antworten, indem ich die normativen Verweiszusammenhänge – so subtil, so wortkarg, so vermittelt, so reflexiv sie sein mögen – aufzeige, die auch für künstlerische oder Selbstpraktiken konstitutiv sein können. Dafür möchte ich aber zunächst herausarbeiten, inwiefern für einige künstlerische, Selbst- oder andere Praktiken bestimmte korrektive Verweise („So machst du es falsch“) irrelevant sind und warum sie sich deswegen einem normativen Begriff von Praktiken, und insbesondere Rouses „accountability“, auf den ersten Blick scheinbar entziehen.

Malen, meditieren, oder auch in eine Pfütze springen, lachen, in Gedanken eine Melodie summen und dabei an der Kreuzung auf eine grüne Ampel warten – das sind alles Praktiken, die ich in Anlehnung an Jaeggi (2014) „lebensförmig“ nennen möchte. Für alle diese Praktiken gilt: Wie sie ausgeführt werden, ist egal. Hauptsache, sie funktionieren. Daher sind Ausführungen dieser Praktiken schlecht als richtig oder falsch zu bewerten. Ein „falsches Warten“ gibt es nicht, denn es wäre kein Warten mehr. Es würde „seinem Begriff nicht entsprechen“ (Jaeggi 2014, S. 182). Ähnlich verhält es sich mit künstlerischen Praktiken der abstrakten Malerei oder Selbstpraktiken der Meditation, wobei allerdings auffällt, dass diese Praktiken sich durch eine Reihe von Besonderheiten auszeichnen: Sowohl künstlerische Praktiken als auch Meditation wollen sich dem Bewerten ja gerade ein Stück weit entziehen; sie stellen darauf ab, Bewertungen einzudämmen, aufzuschieben oder aufzuheben. Zudem haben sie keinen oder keinen starken Ethos. Während die „gute Familie“ oder das „gute Autofahren“ auch auf eine ethische Dimension rekurriert (Fürsorge, Rücksicht), braucht weder die Malerei noch die Meditation in einem ethischen Sinne gut zu sein. Malende und Meditierende sind anderen nicht verpflichtet. Malerei und Meditation sind in obigem Einwand dezidiert nicht als kollaborative Praktiken angelegt und haben keine Koordinationsprobleme zu lösen – zumindest keine Koordinationsprobleme zwischen Menschen (oder anderen Lebewesen), zwischen Ego und Alter. Ein Anderer ist dem Malenden und Meditierenden nicht präsent. Daher kann auch kein anderer sagen: „Du malst/meditierst falsch.“ Was diese Praktiken also auszeichnet ist die Abwesenheit eines spezifischen korrektiven Verweises, adressiert von Alter an das in die Ausführung einer Praktik verstrickte Ego.

Andere ver-antwortende Bezüge sind aber sehr wohl auch bei künstlerischen oder Selbstpraktiken nicht nur auszumachen, sondern als wichtiges Integrationsmoment für diese Praktiken zu verstehen. Beginnen wir mit der Meditation, einer hochgradig selbstbezüglichen Praktik, die an das Beispiel des aufmerksamen Bergsteigers erinnert, der bei der praktischen Ausübung seiner Fähigkeiten diese reflexiv erweitert und vertieft (Hirschauer 2016, S. 57; Ryle 1987, S. 50). Hinzu kommt, dass auch Meditierende sich nicht gänzlich ihrer Umwelt entledigen können. Zur Meditation gehört eben doch auch ein Körper, eine Sitz‑, Stand- oder Liegefläche und eine Umgebung. Sie alle können die Ausführung einer Meditation unterstützen, behindern oder herausfordern und reflexives Anpassungshandeln notwendig machen: „So geht es nicht… aber so sollte es gehen“. Und mit etwas „Zoom“ lässt sich die Meditation als Teil größerer praktischer Zusammenhänge – Lebens- oder Gemeinschaftspraktiken – begreifen, für deren Zusammenhang die Korrektur durch andere menschliche Partizipanden bedeutsam sein kann: „Du meditierst zu wenig“ oder „Könntest du bitte nach dem Küchendienst meditieren?“

Ähnlich verhält es sich mit künstlerischen Praktiken abstrakter Malerei. Selbst wenn diese nur ein Minimum an Konvention mobilisieren (Becker 2008, S. 40 ff.), selbst wenn sie meditativ sind, bleiben sie doch reflexiv. Sie involvieren Reflexionspraktiken, die in der künstlerischen Ausbildung aufwendig eingeübt werden (Thornton 2008, S. 41 ff.). Die künstlerische Reflexion muss unter anderem die Materialien künstlerischen Arbeitens auswählen und berücksichtigen, was diese Materialien mit sich machen lassen. Diese Materialien können spezifische Formen künstlerischen Schaffens ermöglichen oder unmöglich machen (Schürkmann 2016). Mit „Zoom“ und dem Wechsel in einen größeren Bezugsrahmen lassen sich auch hier wieder integrative ver-antwortende Bezüge erkennen, die von menschlichen Partizipanden ausgehen. Man denke an die Galeristin, die der Künstlerin nach Monaten intensiver Arbeit telefonisch mitteilen muss: „Geht so nicht. Erstens passt das Format nicht durch den Liefereingang meiner Galerie, zweitens ist es so nicht zu verkaufen.“ Beides mag für großformatige Malerei nicht das Aus bedeuten, aber beides gehört zu jenen normativen Bezüglichkeiten, über die sich künstlerische Praktiken – verstanden als ein Komplex aus künstlerischem Schaffen, Präsentation, Kritik und Sammlung – integrieren (Becker 2008, Thornton 2008).

Auch die Praktiken der Malerei und Meditation, um meine Antwort auf obigen Einwand zusammenzufassen, beruhen also auf normativen Verweiszusammenhängen. Die Bezüge des Ver-Antwortens, die diese Praktiken zusammenhalten, sind dabei nicht unbedingt verbalisierte Korrekturen, adressiert von Alter an Ego. Diese Bezüge zeichnen sich vielmehr durch ihre Vielfältigkeit aus – durch unterschiedliche Grade an Explizität, unterschiedliche Weisen körperlich-artefaktischer Vermittlung, unterschiedliche Modi (korrektiv oder unterstützend), unterschiedliche Figurationen der Adressierung (selbstbezüglich oder nicht) und unterschiedliche Bezugsrahmen („Zoom“). Sollten normative Verweiszusammenhänge, die Praktiken zusammenhalten können, nicht auszumachen sein, handelt es sich nicht um eine Praktik. Dann stimmt der „Zoom“ nicht. Und dann sind die analytischen Grenzen eines normativen Begriffes von Praktiken erreicht.

5.3 Methodische Implikationen

In Anbetracht der „Notwendigkeit einer genuin praxissoziologischen Methodendiskussion“ (Schäfer et al. 2015b, S. 8) kann ein normativer Begriff von Praktiken die bisherige methodologische Diskussion um den empirischen Zugang zu Praktiken sinnvoll ergänzen. Wer Praktiken in ihrer Regelmäßigkeit oder Iterabilität verstehen will, wird versuchen, sie anhand von Wiederholungen, Bewegungen und Übergängen – gleichsam „transitiv“ – zu beobachten (Schäfer 2016a). Ausgehend von Rouse und Schatzki bietet es sich jedoch an, methodisch stärker darauf Acht zu geben, wo und mit welchen Formen des normativen Verweisens wer oder was an Praktiken teilnimmt, sich ver-antwortet: Wie entfaltet sich ein normativer Verweiszusammenhang in seiner situativen Dynamik? Wo bricht dieser Zusammenhang ab, wo stellt er überraschende Verknüpfungen her? Wie rekurriert er auf Regeln, und durch welche Praktiken wird der Geltungsanspruch dieser Regeln gestützt? Welche Rechtfertigungen und Maßstäbe werden in solchen Verweiszusammenhängen in Anschlag gebracht, welche verschwiegen? Auf welche Formen von Reflexivität bzw. Präreflexivität wird in solchen Verweiszusammenhängen zurückgegriffen (Pettenkofer 2017)? Auch: Wie zeigen sich normative Verweiszusammenhänge in ihrer „materiellen Vollzugswirklichkeit“ (Schäfer und Daniel 2015, S. 43)? Wie konstituieren sich Bezugnahmen im körperlich-artefaktischen „Miteinandertun“ (Hörning und Reuter 2004b, S. 12)? Und in welchem Bezug steht das Inkorporierte zum Expliziten? Wie greifen Bourdieus zwei Modi der „Objektivierung“, institutionalisiert und einverleibt (Bourdieu 1987, S. 106), ineinander?

Teil einer Praktik zu sein, so Diana Lengersdorf, erfordere immer eine spezifische „Stromlinienform“. Dementsprechend sei die Frage, „ob etwas oder jemand in Praktiken involviert wird, […] eine Frage des Passend-seins“ (Lengersdorf 2015, S. 192). Ein normativer Begriff von Praktiken fordert dazu auf, diesen Ansatz zu erweitern und auch die Spannungen und Reibungen – die „friction“ (Tsing 2005, Korn und Wagenknecht 2017) – in jenen Bezugnahmen zu betrachten, die sich in fehlenden Passungsverhältnissen und Widerständen artikulieren. Praktiken konstituieren sich dann nicht mehr nur in einem Mit-, sondern möglicherweise auch in einem Gegeneinandertun und Sichwidersetzen. Demzufolge gilt es mit einem normativen Begriff von Praktiken nicht allein nach weichen Korrekturen, wohlwollenden Begutachtungen und Bestätigungen zu fragen. Sondern auch danach, welche Antagonismen, welche Kontroversen, welche spröden Brüche den Nexus von Praktiken ausmachen. Wie verhält sich das Gegen- zum Miteinandertun? Wie verhält sich die Widerständigkeit und Nachgiebigkeit zueinander? Wie bestehen Regeln in solch spannungsreichen Verweiszusammenhängen?

Methodisch wichtig ist Rouses (2007a, S. 51) Hinweis darauf, dass Forschung immer Teil der normativen Bezüglichkeiten ist, die Praktiken zusammenhalten. Forschung, selbst praktisches Geschehen, kann sich nicht auf einen entrückten Beobachtungsposten zurückziehen. Rouses normativer Begriff von Praktiken muss als Aufforderung dazu gelesen werden, Forschungshandeln und Beobachtungsgegenstände noch offensiver in Zusammenhang zu betrachten.Footnote 8 Das schlagen auch Robert Schmidt und Jörg Volbers vor, denen zufolge praxisanalytische Beobachtungsverfahren „nicht ‚von oben‘ oder ‚von unten‘ auf die Praxis als ihr Anderes [blicken], sondern […] Binnendifferenzierungen einer gemeinsam geteilten Welt [nutzen], um in Perspektivierungspraktiken andere Praktiken in ein neues Licht zu setzen“ (Schmidt und Volbers 2011, S. 36). Forschung kann demnach „keine statische Sicht von einem Nirgendwo aus an[streben], sondern situiert sich, als Praktik unter Praktiken, mitten im Geschehen“ (ebd.). So verstanden muss die Beforschung von Praktiken dem Umstand Rechnung tragen, dass Normativität prospektiven Charakter besitzt, sich normative Bezüge dynamisch entfalten und damit das, was die Kohärenz einer Praktik ausmacht, immer im Fluss bleibt. Praktiken lassen sich schlecht fest- oder vorschreiben; ihre Beschreibung muss zukunftsoffen bleiben. Für die empirische Untersuchung von Praktiken kann es sich daher als lohnenswert erweisen, stärker als bisher den Blick über den Horizont der Gegenwart zu heben und auch mögliche Zukünfte – Utopien (Levitas 2013) – in praxistheoretisch fundierter Forschung zu berücksichtigen.

Sich als Teil eines zukunftsoffenen, zukunftsorientierten normativen Verweiszusammenhanges zu verstehen, muss für sozialwissenschaftliche Forschung allerdings nicht bedeuten, sich mit sozialpolitischen Forderungen an die Öffentlichkeit zu wenden. Wie ein solches Selbstverständnis auf subtile Weise proaktiv sein kann, zeigen Sören Groth, Jakob Hebsaker und Lucas Pohl (2017) in einer stadtgeografischen, „interventionistischen“ Studie darüber, wie kollektive Fußgängerquerungen das Primat der Automobilität zu irritieren vermögen. Ort der Studie ist die Frankfurter Hansaallee, eine Zufahrtsstraße zu einer großen Kreuzung nahe einem Frankfurter Universitätsgelände, über die täglich mehrere tausend Studierende und Universitätsmitarbeiter*innen strömen. Viele der Passant*innen überqueren, oft in großen Gruppen, die Straße abseits der nahe gelegenen Ampelanlage (und verstoßen damit gegen die Straßenverkehrsordnung). Im Rahmen der Studie wurden im Juni 2015 ihre Fußwege markiert. Es ergab sich ein Strang aus Kreidespuren, der quer über die Fahrbahn lief und die Straße als „Konfliktfeld“ kennzeichnete (Groth et al. 2017, S. 257). „Infolge medialer Aufmerksamkeit kam es unmittelbar im Anschluss an die Intervention vor Ort zu einer adaptiv-planerischen Reaktion des städtischen Verkehrsdezernats“ (ebd.): Noch im gleichen Jahr markierte die Stadtverwaltung die Fläche mit einem „Schachbrett“ – einer Markierung, die von der Straßenverkehrsordnung nicht definiert wird und den Autoren zufolge nur einer „vermeintlichen Re-Konfiguration“ (ebd., S. 263) gleichkommt, die aber den Konflikt zwischen motorisiertem Verkehr und Fußquerung intensivierte. Auch der „rote Teppich“, der die Fläche seit Herbst 2016 bedeckt, konnte daran nichts ändern: „Zufußgehende sehen sich in ihrem Handeln bestätigt und Autofahrer_innen beharren weiterhin auf dem Gesetz des Ortes“ (Groth et al. 2017, S. 264). Wie sollte sich daran grundsätzlich auch etwas ändern, könnte man fragen, denn die (wörtlich zu nehmende) Auseinander-Setzung zwischen Fußgänger- und Autofahrer*innen ist für ihre Mobilitätspraktiken wohl konstitutiv. Der Intervention ist es immerhin gelungen, die Praktik fußläufiger Querung jenseits der Ampel zu bestärken – wenn auch nur vorläufig und hochgradig lokal, denn eine Verknüpfung mit den Praktiken der städtischen Verkehrsplanung auch in anderen Städten, der nationalen Verkehrsgesetzgebung etc. ist nicht erreicht. Weder das „Schachbrett“ noch der „rote Teppich“ werden anderswo konsistent als Kreuzungsregel mobilisiert.

6 Schluss

Wie oft haben Sie schon eine Straße bei Rot gequert? Vielleicht sind Sie dabei mahnenden Blicken ausgewichen, haben anerkennende Blicke genossen oder den erbosten Blick einer Autofahrerin erwidert, die in Richtung Ampel gestikulierte? Denn „[w]enn wir uns um die grünen und roten Lichter nicht scheren, wird unser Verhalten dennoch von anderen als eine Antwort auf diese Signale interpretiert“ (Popitz 2006, S. 61). Wenngleich Popitz’ Perspektive nicht einer praxistheoretisch orientierten Soziologie zuzurechnen ist, inspiriert die Formulierung, die Popitz wählt („eine Antwort“), einen begrifflichen Bezug zu Rouses Vorstellung von „accountability“. Aber anders als Popitz konzipiert Rouse die Normativität sozialer Praktiken nicht als die Bewertung und „Feststellung“ von Verhalten am Maßstab einer doch sehr eindeutig identifizierbaren und der Situation vorgängigen, mit sich selbst identischen Norm. Stattdessen charakterisiert Rouse die Normativität sozialer Praktiken als ein zukunftsoffenes, sich dynamisch entfaltendes Geflecht von Bezugnahmen des Ver-Antwortens. Wie Schatzki schlägt Rouse einen normativen Begriff von Praktiken vor, der grundsätzlich einem Wittgenstein‘schen Regelverständnis verpflichtet ist. Zwar entwickeln beide Autoren ihre praxistheoretischen Perspektiven unabhängig voneinander, und ihre Ansätze sind daher nicht deckungsgleich. Doch zusammengenommen entwerfen Rouse und Schatzki eine praxistheoretische Achse, die – eingedenk wichtiger Kritik an der Reifikation des Normativen – die bisher nur unzureichend diskutierte Rolle von Regeln und Normativität für Praktiken ins Blickfeld rückt.

Praxistheoretische Ansätze müssen Normativität als ubiquitäres Phänomen und den Umgang mit Regeln als vielschichtiges Geschehen anerkennen. Ein normativer Begriff von Praktiken ermöglicht, Normativität als konstitutiv für den Vollzug, die Integration und die Verknüpfung von Praktiken zu betrachten. Mit einem normativen Begriff von Praktiken wird nicht nur ersichtlich, dass Ampelsignale, Stoppschilder und Schachbrettmuster das Verhalten von Verkehrsteilnehmer*innen nicht zu bestimmen vermögen, sondern auch, dass Straßenverkehr gerade deshalb nicht ohne nervenaufreibende Momente von Normativität auskommt.