1 Einleitung

Die Analyse von Unterrichtsvideos hat sich zu einem regelrechten Standard in der universitären Lehrkräftebildung entwickelt, um die Entwicklung professioneller Kompetenzen zu unterstützen (Holodynski et al. 2022). Die exemplarische Illustration authentischer beruflicher Anforderungssituationen und ihre theoriebasierte Analyse anhand von Unterrichtsvideos ermöglicht angehenden Lehrkräften stellvertretende Erfahrungen, die sich positiv auf Selbstwirksamkeitsüberzeugungen auswirken können (Gold et al. 2017). Darüber hinaus werden durch die theoriebasierte Analyse Schemata aufgebaut, die zur Förderung der professionellen Wahrnehmung als Fähigkeit des Erkennens und wissensbasierten Verarbeitens von relevanten Unterrichtsereignissen beitragen (Gold und Holodynski 2017; König et al. 2022).

Solch eine theoriebasierte Unterrichtsanalyse wird häufig auch als Unterrichtsreflexion bezeichnet (z. B. Weber et al. 2020), unter anderem, weil ähnliche Prozesse, Phasen oder Schritte (z. B. die Auswahl, Beschreibung und Interpretation einer Unterrichtssituation) durchlaufen werden wie bei der Unterrichtsreflexion (Schneider 2016). Trotzdem weisen Unterrichtsanalyse und -reflexion unserer Ansicht nach einen zentralen Unterschied auf: In Abgrenzung zur Unterrichtsanalyse wird bei einer Reflexion zusätzlich ein expliziter Selbstbezug hergestellt (von Aufschnaiter et al. 2019; Lenske und Lohse-Bossenz 2023), durch den – beispielsweise über eine explizite Adressierung der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten – die eigene Kompetenzentwicklung (zusätzlich) unterstützt wird. Vor allem hinsichtlich der Veränderung tiefer gehender Aspekte professioneller Kompetenz (Überzeugungen, Werthaltungen, Selbstwirksamkeitserwartungen, vgl. Korthagen und Kessels 1999) wird der reflektierten Auseinandersetzung eine bedeutsame Rolle zugeschrieben (Baumert und Kunter 2006; Korthagen und Vasalos 2005).

Trotz der skizzierten angenommenen Bedeutung des Selbstbezugs für die professionelle Entwicklung und als Differenzierungsaspekt gegenüber der Unterrichtsanalyse ist bisher empirisch kaum untersucht worden, welchen inkrementellen Wert dieser Selbstbezug als Aspekt einer Reflexion von Unterrichtssituationen gegenüber der Analyse der gleichen Unterrichtssituationen auf die professionelle Wahrnehmung und Selbstwirksamkeitsüberzeugung hat. Diese beiden Merkmale stellen zentrale Elemente professioneller Kompetenz (Blömeke et al. 2015) dar, die sich zum einen in der Fähigkeit äußern, lernrelevante Ereignisse im Unterricht zu erkennen, zu interpretieren und darauf aufbauend Entscheidungen zu treffen (van Es und Sherin 2002), sowie zum anderen im Zutrauen, berufliche Anforderungen auf der Basis eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten bewältigen zu können (Bandura 1997).

Die vorliegende Studie untersucht dementsprechend, ob ein auf diesen Selbstbezug ausgelegter Prompt bei der Arbeit mit Unterrichtsvideos eine zusätzliche Wirkung auf die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen von Lehramtsstudierenden hat. Sie kann somit Erkenntnisse darüber liefern, ob sich die dargestellte theoretische Unterscheidung von videobasierter Unterrichtsanalyse und videobasierter Unterrichtsreflexion (im Sinne eines über die Analyse hinausgehenden expliziten Selbstbezugs) auch empirisch in differentiellen Wirkungen auf die Kompetenzentwicklung abhängig vom Grad an Selbstbezug manifestiert, und kann somit den Nutzen einer solchen Unterscheidung aufzeigen.

2 Theorieteil

2.1 Unterrichtsvideos in der Lehrkräftebildung

In Folge der Ergebnisse der vergleichenden Videostudien Mitte der 1990er-Jahre (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001), der ersten PISA-Studien Anfang der 2000er (OECD 2001), der stärkeren Fokussierung auf die Lehrkräftebildung sowie des technischen Fortschritts spielen Unterrichtsvideos mittlerweile eine bedeutsame Rolle innerhalb der universitären Lehrkräftebildung. Dies zeigt sich unter anderem in der Anzahl von Entwicklungs- und Forschungsprojekten zur videobasierten Lehrkräftebildung, der Verbreitung von Videoportalen und dem stetigen Anstieg an thematischen wissenschaftlichen Publikationen (Seidel 2022). Vor allem der systematischen Analyse und Reflexion von Unterrichtsvideos wird ein großes Potenzial zugeschrieben, da hierdurch die Komplexität unterrichtlichen Handelns für die Studierenden sichtbarer, aber als Ergebnis auch handhabbarer erlebt wird (Borko et al. 2008; Gaudin und Chaliès 2015). Konzeptionell wird die Arbeit mit Unterrichtsvideos als Unterrichtsanalyse oder Unterrichtsreflexion beschrieben. Die Begriffe werden oft synonym für einen Prozess des Analysierens von und des Nachdenkens über Unterrichtssituationen mit unterscheidbaren und teilweise aufeinander aufbauenden Schritten verwendet. Trennschärfe in Bezug auf die Begriffe Ungerrichtsanalyse und -reflexion lässt sich über den Aspekt des Selbstbezugs herstellen. Unklar ist in diesem Zusammenhang, ob sich der theoretisch angenommene Mehrwert des Selbstbezugs auch empirisch zeigt.

2.2 Modelle von Unterrichtsreflexion

Wie schon in der historischen Definition von Dewey (Dewey 1938 aus Gelfuso und Dennis 2014) ersichtlich, beschreibt Reflexion einen komplexen kognitiven Prozess, der sich in unterschiedliche Teilprozesse aufteilen lässt. Ein in der empirischen Lehrkräftebildungsforschung oft rezipiertes Prozessmodell von Korthagen und Kessels (1999) unterteilt Reflexion in die Prozesse „Action“, „Looking back at action“, „Awareness of essential aspects“, „Creating alternatives“ und „Trial“ (ALACT). Diese sind als Kreislauf konzeptualisiert und beschreiben somit ein wiederkehrendes Muster an aufeinander aufbauenden kognitiven Aktivitäten und Handlungen.

Die Grundidee, dass verschiedene kognitive Teilprozesse in spezifischen Phasen eines Reflexionsprozesses zum Tragen kommen, findet sich auch im EDAMA-Modell von Aeppli und Lötscher (2016). Dort werden, angelehnt an das ALACT-Modell, die Phasen „Erleben“, „Darstellen“, „Analysieren“, „Maßnahmen entwickeln, planen“ und „Anwenden“ formuliert (siehe auch Aeppli und Lötscher 2017). In den hier dargestellten und weiteren Modellen professioneller Reflexion (z. B. Lohse-Bossenz et al. 2019; Windt und Lenske 2015) lassen sich grundlegend drei zentrale kognitive Teilprozesse identifizieren: 1. Das Beschreiben der jeweiligen Situation/Erfahrung, 2. die Erklärung oder Interpretation der jeweiligen Situation sowie 3. eine in die Zukunft gerichtete Entwicklung von alternativen Handlungen und ihren Konsequenzen. Während das Beschreiben der umfassenden Informationssammlung aus der Situation dient, wird bei der Erklärung und Interpretation professionelles Wissen in Form komplexer Schemata/Skripte aktiviert (Heins 2020).

Gegenüber diesen Prozessmodellen differenzieren Stufenmodelle die Reflexionsergebnisse anhand unterschiedlicher Qualitätsstufen der Auseinandersetzung (Hatton und Smith 1995; Larrivee 2008; van Manen 1977). Zusammenfassend (s. a. Lenske und Lohse-Bossenz 2023) kann dabei festgestellt werden, dass Reflexionen auf unteren Stufen eher beschreibend zu charakterisieren sind. Auf höheren Stufen werden zunehmend eigene Erfahrungen mit wissenschaftlichen Theorien abgeglichen und auch die eigenen Werte, Rollenbilder und Überzeugungen thematisiert (Larrivee 2008). Die höchsten Stufen in den verschiedenen Modellen umfassen jeweils u. a. die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Person.

Im Modell vonn Aeppli und Lötscher (2016) sind prozesshafte und stufenorientierte Perspektive kombiniert, indem mit der Blickrichtung nach innen oder nach außen sowie den Denkaktivitäten „Konstruktion von Bedeutung“ und „kritisches Prüfen“ eine Ausdifferenzierung der Reflexionsprozesse erfolgt. Dabei können in jeder Phase die Blickrichtungen nach innen und außen realisiert werden und dabei jeweils entweder Bedeutung konstruieren oder den Gegenstand kritisch prüfen im Sinne einer Bewertung. Das Core Reflections-Model von Korthagen und Vasalos (2005) nimmt eine ähnlich vergleichende Perspektive an, in der eine core reflection die Identität und die Mission einer Person betrifft und somit abgrenzbar ist von der Reflexion von Verhaltensweisen.

2.3 Modelle der Unterrichtsanalyse

Die in der Zusammenschau von Prozessmodellen der Reflexion thematisierten kognitiven Teilprozesse Beschreiben, Erklären/Interpretieren und Handlungsoptionen generieren finden sich auch in Vorschlägen zum Vorgehen bei videobasierten Unterrichtsanalysen (z. B. Blomberg et al. 2013; Kramer et al. 2017; Weber et al. 2019). Santagata und Angelici (2010) sowie Santagata und Guarino (2011) charakterisieren die Videoanalyse im Rahmen ihres Lesson Analysis Frameworks (LAF) durch die Schritte der Identifikation der Lernziele, der Beschreibung und begründeten Erklärung des Schüler*innenverhaltens bzw. ihrer Verstehensprozesse, der theoriebasierten Erklärung der Wirkung des Lehrkraftverhaltens und der Entwicklung und theoriebasierten Begründung von Handlungsalternativen (siehe auch Krammer et al. 2015). Im Learning to Notice Framework von van Es und Sherin (2002) werden ähnliche Schritte durchlaufen, die sich auf das Verstehen und Analysieren der Situation und weniger auf das Generieren von Handlungsalternativen konzentrieren: die Identifikation relevanter Ereignisse, die wissensbasierte Interpretation und die Verknüpfung dieser spezifischen Ereignisse mit evidenzbasierten Prinzipien des Lehrens und Lernens. Der spezifische Fokus dieser Modelle auf die Unterrichtsanalyse verdeutlicht, dass hierdurch bedeutsam zu einem Aufbau professioneller Handlungskompetenz beigetragen werden kann. In der überblickshaften Betrachtung wird also deutlich, dass Modelle der Unterrichtsanalyse eine hohe konzeptuelle Überlappung zu prozesshaften Reflexionsmodellen aufweisen, jedoch hinsichtlich der thematisierten Inhalte eher eng ausgerichtet sind.

2.4 Der Selbstbezug als Differenzierungsaspekt zwischen Unterrichtsreflexion und Unterrichtsanalyse

Dass eine mögliche Differenzierung zwischen Reflexion und Analyse nur unzureichend betrachtet wird, zeigt sich daran, dass eine Unterscheidung von Analyse und Reflexion nicht immer explizit vorgenommen wird. So sprechen beispielweise Gold et al. (2013) von einer „reflektierte[n] Unterrichtsanalyse“ (S. 148). Angelehnt an Förderkonzepte von professioneller Wahrnehmung formulieren Seethaler et al. (2021), dass Studierende über Videovignetten und Rollenspiele „Handlungsstrategien effizienter Klassenführung erkennen, theoretisch rückbinden und reflektiert auswählen“ (S. 44) lernen sollen. Piwowar et al. (2013) bringen Videoanalysen und Reflexion in eine spezifische Reihenfolge, dahingehend, dass „Video analyses …help teachers reflect on their own classroom management techniques“ (S. 4). Zuletzt setzen Weber et al. (2020) Analyse und Reflexion gleich, da sie in ihrem Interventionskonzept den Schritt der „Selbstreflexion“ mit „3-Schritt-Analyse mit dem Fokus auf Klassenführung“ beschreiben (S. 351).

Der Selbstbezug als ein mögliches Differenzierungsmerkmal findet sich in unterschiedlichen Stufenmodellen der Reflexion (z. B. Larrivee 2008), sowie im EDAMA-Modell von Aeppli und Lötscher (2016). Dort erfolgt eine Differenzierung hinsichtlich einer Blickrichtung „nach außen“ und einer Blickrichtung „nach innen“. Diese spiegelt den beschriebenen Unterschied zwischen Analyse und Reflexion wider: die Blickrichtung „nach außen“ (Aeppli und Lötscher 2017) entspricht den Inhalten einer Unterrichtsanalyse, die die Umgebung/den Rahmen, das Verhalten der Lehrperson, das Verhalten anderer, die Eigenschaften der beteiligten Akteure und den zeitlichen Verlauf der pädagogischen Situation berücksichtigt. Die Blickrichtung „nach innen“ (Aeppli und Lötscher 2017; Gruber 2021) ergänzt den Aspekt des Selbstbezugs, dessen Fokus auf eigenen Kompetenzen, Wünschen, Einstellungen, Bedürfnissen oder der eigenen Identität liegt.

Ergänzend dazu wird innerhalb des Netzwerks „Reflexion im Pädagogischen Kontext“ (vgl. Lenske und Lohse-Bossenz 2023) Reflexion als „anlassbezogener mentaler Prozess [beschrieben], der unter explizitem Selbstbezug auf ein erweitertes Verständnis pädagogischer Praxis abzielt“. Während bezüglich der Beschreibung des mentalen Prozesses – bestehend aus kognitiven und meta-kognitiven Teilprozessen und Strategien – Überlappungen zur Analyse unterrichtlicher Situationen bestehen, scheint der explizite Selbstbezug als Ergänzung zur Unterrichtsanalyse ein Alleinstellungsmerkmal reflexiver Auseinandersetzung mit pädagogischer Praxis zu sein (von Aufschnaiter et al. 2019). Dem folgend soll explizit argumentiert werden, dass die Analyse von Unterricht den Ausgangspunkt einer reflexiven Auseinandersetzung darstellen kann (unter explizitem Rückbezug auf die eigene Person), dies aber nicht zwingend daraus folgen muss. Damit muss nicht jede Analyse zu einer Reflexion führen.

Insofern lässt sich festhalten, dass einer Analyse und einer Reflexion auf der Prozessebene die gleichen wesentlichen kognitiven Denkprozesse zugeordnet werden können. Abgrenzen lässt sich die Reflexion von der Analyse jedoch durch den expliziten Rückbezug auf die eigene Person (Emotionen, Motive, Kompetenz, Werte, Überzeugungen) als inhaltliches Differenzierungskriterium. In Anbetracht dieser Unterscheidung von Unterrichtsreflexion und Unterrichtsanalyse stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Selbstbezug als Differenzierungskriterium Unterschiede in der Kompetenzentwicklung hervorruft.

2.5 Forschungsstand zur Förderung professioneller Wahrnehmung und Selbstwirksamkeit

Die Arbeit mit Unterrichtsvideos hat nachweislich positive Effekte sowohl auf kognitive (z. B. professionelles Wissen, professionelle Wahrnehmung) als auch auf motivationale (z. B. Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Überzeugungen zum Lehren und Lernen) Kompetenzaspekte (z. B. Gold et al. 2017; Weber et al. 2019; Santagata et al. 2021; Stürmer et al. 2013). Zwei im Kontext der Klassenführung häufig adressierte Kompetenzaspekte sind dabei die professionelle Unterrichtswahrnehmung als die Fähigkeit von Lehrpersonen, unterrichtsrelevante Ereignisse zu erkennen und für den weiteren Verlauf der Unterrichtsstunde zu nutzen (Marsh und Mitchell 2014; Santagata et al. 2021) sowie Selbstwirksamkeitsüberzeugungen als die Überzeugung, berufliche Anforderungen auf der Basis der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten bewältigen zu können (Gold et al. 2017; Gröschner et al. 2018). Aus diesem Grund wurden beide Konstrukte für die vorliegende Untersuchung exemplarisch ausgewählt, um den Effekt des Selbstbezugs zu betrachten.

Die Wirksamkeit der videobasierten Unterrichtsanalyse auf die professionelle Wahrnehmung ist vielfach für unterschiedliche Videoarten, Zielgruppen und Lehr-Lern-Settings bestätigt worden (s. zur Übersicht Gaudin und Chaliès 2015; Santagata et al. 2021). Die konzeptuellen Grundlagen für Designentscheidungen hinsichtlich videobasierter Lernsettings sind vielfältig, z. B. Modelllernen, beispielbasiertes Lernen, situiertes bzw. fallbasiertes Lernen oder problembasiertes Lernen (Gaudin und Chaliès 2015; Seidel 2022). In der ersten Phase der Lehrkräftebildung dominieren Ansätze mit Videos fremder Lehrkräfte, die dabei eine gewisse Anleitung bzw. Strukturierung bereitstellen, um die als Noviz*innen zu betrachtenden Lehramtsstudierenden nicht mit der Vielschichtigkeit und Komplexität des beobachteten Unterrichts kognitiv zu überfordern. So zeigten beispielsweise Seidel et al. (2013), dass Studierende in der professionellen Wahrnehmung besser gefördert wurden, wenn sie bei den Videoanalysen durch eine thematische Fokussierung auf spezifische Inhalte im Sinne des Aufbaus professionellen Wissens bei gleichzeitiger Komplexitätsreduktion unterstützt wurden.

Die Auseinandersetzung mit Unterrichtssituationen scheint ebenso förderlich für die Überzeugung zu sein, den Herausforderungen des Unterrichts auch selbst besser begegnen zu können. Beispielsweise wiesen in einer Interventionsstudie von Gold et al. (2017) zwei videobasierte Seminare zum Thema Klassenmanagement im Vergleich zu einer Kontrollgruppe und einer fallbasiert arbeitenden Gruppe (ohne Unterrichtsvideoanalyse) eine signifikante Steigerung ihrer Selbstwirksamkeitsüberzeugungen auf. Solche Effekte werden zurückgeführt auf positive Unterrichtserfahrungen mit damit verbundenem ressourcenorientierten Feedback bei der Auseinandersetzung mit eigenen Unterrichtsvideos oder auf stellvertretende Erfahrungen durch Unterrichtsvideos fremder Lehrkräfte (Bandura 1977; Gröschner et al. 2018). Palmer (2002) ergänzt diese Quellen für Selbstwirksamkeitsüberzeugungen nach Bandura (1997) um positive Erfahrungen, die aus dem Beherrschen bzw. Verstehen von fachdidaktischen oder pädagogischen Studieninhalten resultieren. Das Verstehen komplexer pädagogischer Situationen bestärkt somit möglicherweise Selbstwirksamkeitsüberzeugungen vermittelt über die Wahrnehmung des eigenen Wissens- bzw. Kompetenzaufbaus.

Entlang der oben genannten Argumentation finden sich in den bisherigen Studien oft Kombinationen aus rein analytischen und reflexiven (Analyse + Selbstbezug) Methoden. Eine Differenzierung hinsichtlich der analytischen und der auf die Person selbst bezogenen Komponente der Auseinandersetzung kann zu einem vertieften Verständnis entsprechender Lerngelegenheiten beitragen.

2.6 Ziel der vorliegenden Studie

Ziel der vorliegenden Studie ist es, empirisch zu untersuchen, inwiefern sich der postulierte Unterschied im Selbstbezug zwischen Unterrichtsanalyse und Unterrichtsreflexion – operationalisiert durch einen Selbstbezugsprompt – hinsichtlich der Veränderung professioneller Wahrnehmung von Klassenführung und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen bzgl. Klassenführung zeigt. Ausgangspunkt war eine evaluierte Lehrveranstaltung, in der professionelle Wahrnehmung hinsichtlich klassenführungsrelevanter Merkmale mittels systematischer Videoanalysen gefördert wurde. In einer erneuten Durchführung der Lehrveranstaltung wurden die dortigen Analyseaufträge durch einen Selbstbezugsprompt ergänzt, um zu prüfen, welchen Einfluss dieser zusätzliche Prompt auf die Veränderung der betrachteten Merkmale hat.

Da in beiden Lehrveranstaltungsformaten mit Videos gearbeitet wird und in den Analyseaufträgen eher der „Blick nach außen“ adressiert wird, nehmen wir an, dass in beiden eine Verbesserung der Fähigkeit zur professionellen Wahrnehmung klassenführungsrelevanter Situationen stattfindet. Damit ist zu erwarten, dass der zusätzliche Selbstbezug keinen Unterschied hinsichtlich der Entwicklung professioneller Wahrnehmung bewirkt (Hypothese 1).

Durch einen Prompt, der den Selbstbezug in der Auseinandersetzung mit den Unterrichtsvideos adressiert, können selbstbezogene Kognitionen gestärkt und bestehende Fähigkeiten und Fertigkeiten expliziert werden („Blick nach innen“). Obwohl das Thematisieren von noch nicht vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten auch zu einer Reduktion der Selbstwirksamkeitserwartungen mit Blick auf Klassenführung führen könnte, erwarten wir, dass durch eine anschließende Ableitung von Konsequenzen für die Förderung der Fähigkeiten und Fertigkeiten der explizite Selbstbezug eine Steigerung von Selbstwirksamkeitserwartungen in Bezug auf Klassenführung bewirkt (Hypothese 2).

3 Methode

3.1 Studiendesign und Stichprobe

Zur Untersuchung der Wirkung des Selbstbezugs wurde ein Prä-Post-Kontrollgruppendesign realisiert. Hierfür wurde ein semesterbegleitendes Seminar für Masterstudierende mit Lehramt Grundschule und Sekundarstufe I ausgewählt, welches den inhaltlichen Fokus auf Klassenführung als ein zentrales Merkmal von Unterrichtsqualität (Praetorius et al. 2018) und den methodischen Fokus auf die angeleitete individuelle Analyse von spezifischen Videosequenzen anderer Lehrpersonen setzte. Hierfür wurden über den Semesterverlauf sechs Analyseaufträge zu verschiedenen Videoclips des Videoportals ViU der Universität Münster erteilt. Diese umfassten die theoriegeleitete Betrachtung der jeweiligen Unterrichtsvideos, wobei jeweils auf spezifische theoretisch vorbereitete Aspekte der Klassenführung (Regeln und Routinen, Allgegenwärtigkeit und Überlappung, Reibungslosigkeit und Schwung, Gruppenmobilisierung, On‑/Off-task-Verhalten von Schüler*innen, positives Klassenklima) fokussiert wurde.

Neben der Klärung der Zielsetzung des Seminars (Vermittlung klassenführungsrelevanten Wissens sowie Förderung der professionellen Wahrnehmung von Klassenführung) wurde auch die theoretische Basis zur professionellen Wahrnehmung unterrichtsrelevanter Ereignisse zu Semesterbeginn eingeführt. Ein theoretischer Input zur Selbstwirksamkeitserwartung und/oder Unterrichtsreflexionen fand nicht statt. Anschließend wurden die sechs Analysen sukzessive in wöchentlichem Abstand bearbeitet. Hierfür wurde zunächst jeweils ein theoretischer Aspekt der Klassenführung über einen Input inhaltlich im Seminar vermittelt (beispielsweise Allgegenwärtigkeit/Überlappung oder Gruppenmobilisierung nach Kounin 2006). Anschließend wurden der jeweilige Arbeitsauftrag für die in Frage stehende Analyse sowie der entsprechende Erwartungshorizont geklärt. Die Analysen beinhalteten dabei stets ein Globalrating zur beobachteten Klassenführung und ab Analyse 3 abhängig vom Fokus eine offene Analyse und/oder die Anwendung von vorab definierten Beobachtungskategorien (event sampling). Die Bearbeitung und Einreichung der jeweiligen Analyse war innerhalb einer Woche individuell möglich. Im weiteren Seminarverlauf bestand die Möglichkeit der gemeinsamen Nachbesprechung sowie zur eigenständigen Rezeption einer Musterlösung. Jede Musterlösung enthielt zusätzlich zu den Ratings geeignete inhaltliche Kommentierungen, um die klassenführungsbezogenen Gesichtspunkte besser nachvollziehbar zu machen.

Das Seminar wurde bereits über mehrere Semester erprobt, evaluiert und stellt in seiner Originalkonzeption die Interventionsgruppe 1 (IG1) dar. In einem darauffolgenden Semester wurden die individuellen Aufträge zur Analyse der Videosequenzen jeweils um einen Selbstbezugsprompt ergänzt, der die eigentliche Analyse um den folgenden Auftrag ergänzte: „Sie haben gerade Lehrer*innenhandlungen im Bereich der Klassenführung beobachtet. Überlegen Sie, inwiefern Sie die gelungenen Lehrer*innenhandlungen aktuell bereits selbst umsetzen könnten. Falls Sie glauben, Handlungen noch nicht umsetzen zu können, überlegen Sie, woran das liegt und was Sie ggf. tun können, um die entsprechende Handlungskompetenz zu erwerben.“ (IG2). Damit erfüllte diese Gruppe die analytischen Aufträge und bearbeitete zusätzlich daran anschließend den Selbstbezugsprompt. Die durchschnittliche Textlänge der einzureichenden Antworten auf den Selbstbezugsprompt über alle Aufträge hinweg lag bei 119,60 Wörtern (SD = 67,45, Median = 111,5). In allen anderen Aspekten der Lehrveranstaltung (Form der studentischen Zusammenarbeit, Feedback, Reihenfolge der Arbeitsaufträge) gab es keine Unterschiede zwischen IG1 und IG2, um Unterschiede zwischen IG1 und auf den Effekt des Selbstbezugsprompts zurückführen zu können. Ergänzend wurde eine unbehandelte Kontrollgruppe von Masterstudierenden rekrutiert, die keine Seminare zum Thema Klassenführung und Unterrichtsqualität besuchten (KG), um Testwiederholungs- oder Reifungseffekte ausschließen zu können. Abb. 1 veranschaulicht das Studiendesign. Insgesamt nahmen 194 Personen (78 % weiblich) teil. Diese waren durchschnittlich 25,12 Jahre (SD = 3,79) alt. Die mittlere Abiturnote lag bei 2,37 (SD = 0,99). Die Teilnahme an der Datenerhebung war freiwillig und weder als Studien- noch als Prüfungsleistung deklariert. Aus datenschutzrechtlichen Gründen erfolgte kein Tracking der eingereichten Unterrichtsanalysen und Selbstbezugsdarstellungen, sodass diese weder als Einschluss- noch als Ausschlusskriterium herangezogen wurden.

Abb. 1
figure 1

Studiendesign (UA Unterrichtsanalyse, IG Interventionsgruppe, KG Kontrollgruppe)

3.2 Instrumente

3.2.1 Professionelle Wahrnehmung im Bereich Klassenführung

Zur Erfassung der professionellen Wahrnehmung wurde in dieser Studie eine leicht veränderte Version des videobasierten Verfahrens von Gold und Holodynski (2017) eingesetzt. Die Testpersonen betrachten drei ausgewählte Videosequenzen, die nicht Teil des Seminars waren und bewerten hierzu 41 vierstufige Rating-Items (1 – trifft nicht zu bis 4 – trifft zu), die das Schüler*innenverhalten oder das Lehrkraftverhalten in Bezug auf Klassenführung beschreiben oder interpretieren. Inhaltlich decken die Items die Subdimensionen Schüler*innenverhalten (z. B. „Das Fehlverhalten einiger Schüler*innen breitet sich auf andere aus.“), Strukturierung (z. B. „Die Lehrerin stellt ein schwungvolles Unterrichtstempo her.“), Monitoring von Schüler*innenverhalten (z. B. „Die Lehrerin merkt, was der Rest der Klasse macht, auch wenn sie mit einzelnen Schüler*innen beschäftigt ist.“) sowie Regeln und Routinen (z. B. „Die Lehrerin hat erfolgreich Routinen in der Klasse etabliert.“) ab, die auch im Seminar bzw. in den sechs Analyseaufgaben behandelt wurden.

Um die Testantworten der Studierenden zu bepunkten, wurden ihre Einschätzungen mit einer Expert*innennorm verglichen, die auf den unabhängigen Testantworten von insgesamt 16 Wissenschaftler*innen basierten, die sich in ihrer Forschung mit dem Thema Klassenführung beschäftigen. Dabei wurden nur Items in die genutzte Testversion aufgenommen, die eine ausreichende Übereinstimmung zwischen den Expert*innen (mindestens 70 %) aufwiesen (Gold und Holodynski 2017). Auf Grundlage des so erstellten Masterratings wurden die Studierendenantworten für jedes Item in korrekt (1 Punkt) oder falsch (0 Punkte) kodiert und aufgrund der eindimensionalen Faktorenstruktur in einem Gesamtmittelwert aggregiert.

Das eingesetzte Verfahren hat sich in bisherigen Studien als sensitiv für Interventionen erwiesen (Gold et al. 2021; Hellermann et al. 2015). In der vorliegenden Stichprobe zeigte die eindimensionale Struktur des Tests sowohl im Prätest, χ2 (2) = 2,42, p = 0,30, CFI = 0,997, RMSEA = 0,033, ω = 0,77, als auch im Posttest, χ2 (2) = 0,44, p = 0,80, CFI = 1,00, RMSEA = 0,000, ω = 0,86, eine zufriedenstellende Passung zu den Daten.

3.2.2 Selbstwirksamkeit Klassenführung

Zur Erfassung der klassenführungsbezogenen Selbstwirksamkeit wurde ein Verfahren von Tschannen-Moran und Hoy (2001) in einer deutschen Übersetzung aus Kunter et al. (2016) eingesetzt. Anhand von acht Items (z. B. „Wie gut können Sie …verhindern, dass einige Problemschüler Ihre ganze Unterrichtsstunde ruinieren?“) gaben die beteiligten Personen auf einer 6‑stufigen Likert-Skala Auskunft darüber, wie sie die eigenen Fähigkeiten zur Bewältigung klassenführungsbezogener Anforderungen einschätzen (Bandura 1977). Sowohl im Prätest, χ2 (7) = 13,52, p = 0,06, CFI = 0,984, RMSEA = 0,083, ω = 0,73, als auch im Posttest, χ2 (7) = 17,98, p = 0,01, CFI = 0,971, RMSEA = 0,112, ω = 0,69, zeigte sich eine zufriedenstellende Passung der eindimensionalen Struktur zu den Daten. Das eingesetzte Instrument war überdies in der Lage, Interventionseffekte abzubilden (vgl. Dicke et al. 2015).

3.3 Analytisches Vorgehen

Zur längsschnittlichen Skalierung der Testwerte wurde auf den Ansatz der virtuellen Personen zurückgegriffen (vgl. König und Seifert 2012). Bei diesem Verfahren werden Personen unabhängig davon, ob diese ausschließlich am Prätest, am Posttest oder an beiden Messzeitpunkten teilgenommen haben, simultan skaliert. Personen, die sowohl am Prä- als auch am Posttest teilgenommen haben, werden als zwei Personen in die Skalierung aufgenommen. Nach dem Skalierungsvorgang werden die Faktorwerte als Testwerte extrahiert und Prä- und Posttest zugeordnet. Vorteil dieses Vorgehens ist, dass über den konfirmatorischen Ansatz messfehlerbereinigte Testwerte generiert werden können, obwohl die vorliegende Stichprobe vergleichsweise gering ist. Einschränkend ist an dieser Stelle anzuführen, dass autoregressive Effekte nicht explizit modelliert werden. Gleichzeitig wird eine strikte Messinvarianz modellseitig angenommen. Die Modellpassung des zweidimensionalen Modells für die Stichprobe 388 virtueller Personen war mit χ2(40) = 77,03, p < 0,001, CFI = 0,976, RMSEA = 0,048 als zufriedenstellend zu beurteilen.

Im Anschluss an die Restrukturierung der Daten erfolgte die Beantwortung der Fragestellung nach der Bedeutung des Selbstbezugs als konstitutives Element reflexiver Auseinandersetzung mit Unterrichtsvideos über einen regressionsanalytischen Ansatz. Für die zwei Kriterien professionelle Wahrnehmung und klassenführungsbezogene Selbstwirksamkeit wurden deren jeweilige Prätest-Ausprägungen als Prädiktoren modelliert. Ergänzend wurden die Kontrollvariablen Alter und Geschlecht in das Modell aufgenommen. Die Zugehörigkeit zu einer der drei Vergleichsgruppen erfolgt über eine Dummy-Codierung mit der IG1 (Unterrichtsanalyse) als Referenzgruppe. Unterschiede wurden daher explizit zwischen dieser und der KG (Kontrollgruppe ohne Klassenführungsseminar) sowie zwischen dieser und der IG2 (Selbstbezugsprompt) ausgewiesen und geprüft. Fehlende Werte (< 20 %) wurden über full infomation maximum likelihood bei der Schätzung der Parameter berücksichtigt.

Die eingereichten Aufgaben zur videobasierten Unterrichtsanalyse sowie zum Selbstbezugsprompt standen zwar zur Auswertung zur Verfügung, konnten jedoch aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht mit den im Rahmen des skizzierten Studiendesigns erhobenen Daten (professionelle Wahrnehmung und Selbstwirksamkeit) kombiniert werden und wurden daher für die Beantwortung der vorliegenden Fragestellung nicht herangezogen.

4 Ergebnisse

4.1 Längsschnittliche Veränderungen

Tab. 1 stellt die Veränderung der Gruppenmittelwerte zwischen Prä- und Posttest, d. h. im Verlauf eines Semesters, dar. Erkennbar ist in den ersten beiden Spalten, in denen Mittelwert und Standardabweichung aus der Stichprobe virtueller Personen dargestellt sind, dass hier mit der längsschnittlichen Skalierung die jeweiligen latenten Variablen auf M = 0 und Var = 1 standardisiert wurden. In den weiteren Spalten ist erkennbar, dass die größten Zuwächse im Bereich professioneller Wahrnehmung für Klassenführung zu verzeichnen sind. Gruppenübergreifend zeigen sich keine Veränderungen der klassenführungsbezogenen Selbstwirksamkeit.

Tab. 1 Mittelwerte, Standardabweichungen sowie Ergebnisse der t-Tests für den Pre-Post-Vergleich

4.2 Effekt des Selbstbezugsprompts

Für die zentrale Frage nach dem Effekt des Prompts zum expliziten Selbstbezug auf die Entwicklung verschiedener Aspekte professioneller Kompetenz wurde erwartet, dass durch die Blickrichtung „nach innen“ selbstgerichtete Kognitionen unterstützt werden, die zu einer Zunahme der Selbstwirksamkeit für Klassenführung beitragen, während hinsichtlich der professionellen Wahrnehmung von Klassenführung kein Vorteil einer Unterrichtsreflexion gegenüber einer Unterrichtsanalyse (ohne Selbstbezug) angenommen wurde.

In Tab. 2 sind die standardisierten Regressionskoeffizienten für die einzelnen Kriteriumsvariablen dargestellt. Es ist erkennbar, dass die KG (ohne explizites Klassenführungsseminar) eine geringere Zunahme in der professionellen Wahrnehmung von Klassenführung im Semesterverlauf zeigt als die IG1, die mit Videoanalysen arbeitete. Da der Regressionskoeffizient für die Dummy-Variable IG2 nicht signifikant war, kann davon ausgegangen werden, dass die beiden Seminarkonzepte mit und ohne Selbstbezugsprompt in vergleichbarer Weise die professionelle Wahrnehmung fördern (Hypothese 1).

Tab. 2 Regressionskoeffizienten zur Vorhersage der Veränderung verschiedener Merkmale abhängig von der Interventionsgruppe

Mit Blick auf die Entwicklung klassenführungsbezogener Selbstwirksamkeit (Hypothese 2) zeigte sich zum einen, dass kein Unterschied zwischen Personen aus der KG und aus der IG1 besteht. Somit scheint die systematische Auseinandersetzung mit Unterrichtsvideos weniger dazu beizutragen, Selbstwirksamkeit in Bezug auf Klassenführung zu fördern. Jedoch zeigte die IG2 im Vergleich zur IG1 eine stärkere Zunahme klassenführungsbezogener Selbstwirksamkeit. Der ergänzende explizite „Blick nach innen“ führte somit zu einer Steigerung der klassenführungsbezogenen Selbstwirksamkeit, die über die reine analytische Auseinandersetzung mit Unterrichtsvideos hinausging.

5 Diskussion

Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Feststellung, dass Unterrichtsanalyse und Unterrichtsreflexion im Kontext der universitären Lehrkräftebildung z. T. synonym verwendet werden und eine begriffliche Abgrenzung nicht eindeutig erscheint. Dieser Umstand kann schließlich auch zu Unklarheiten hinsichtlich der Interpretation von empirischen Ergebnissen führen.

In der vorliegenden quasi-experimentellen Studie wurde der Selbstbezug als Differenzierungskriterium zwischen Unterrichtsanalyse und Unterrichtsreflexion systematisch variiert und die Wirkung auf zwei Zielkonstrukte der aktuellen Forschung zur videobasierten Förderung klassenführungsrelevanter Merkmale untersucht – die professionelle Wahrnehmung von Klassenführung und klassenführungsbezogene Selbstwirksamkeitsüberzeugungen. Zwei videobasierte Seminare zum Thema Klassenführung, die aus mehreren Sitzungen und Aufträgen zur theoriebasierten Unterrichtsvideoanalyse bestanden, waren hinsichtlich der Instruktion zur Videoanalyse identisch. Eine Gruppe erhielt ergänzend zur Instruktion der Videoanalyse jeweils einen Prompt, um explizit einen Selbstbezug zwischen Erkenntnissen aus der Videoanalyse und der eigenen Kompetenzentwicklung herzustellen.

5.1 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass durch den Prompt, der einen Selbstbezug oder einen Blick nach innen (Aeppli und Lötscher 2016) adressiert, ein inkrementeller Nutzen gegenüber der Unterrichtsanalyse generiert werden kann: Während das Analysieren fremder Unterrichtsvideos (IG1 und IG2) zu einer Steigerung der professionellen Unterrichtswahrnehmung hinsichtlich Klassenführung führte, begünstigte der Selbstbezugsprompt (IG2) eine höhere Steigerung der Selbstwirksamkeitsüberzeugungen in Bezug auf Klassenführung im Vergleich zur reinen Videoanalyse fremden Unterrichts (IG1).

Korthagen und Vasalos (2005) formulieren in ihrem Modell der Core Reflections verschiedene Reflexionsinhalte in einem geschichteten Modell. Während außenliegende Schichten Aspekte des eigenen Verhaltens umfassen, finden sich auf den schwerer zugänglichen innen liegenden Schichten eigene Überzeugungen, Werte und Aspekte der eigenen professionellen Identität. Ähnlich argumentieren auch Aeppli und Lötscher (2016). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie können vor dem Hintergrund dieses Modells interpretiert werden. Der Interventionseffekt beider Interventionsgruppen (mit und ohne Selbstbezugsprompt) auf die professionelle Wahrnehmung (eher außenliegende Schicht im Core Reflection Model) stützt Befunde zur Wirksamkeit von Videoanalysen im Vergleich zu einer Kontrollbedingung ohne Videos (Kramer et al. 2020). Ein Mehrwert des Selbstbezugsprompts zeigte sich hier erwartungsgemäß nicht. Maßgeblich für die Veränderung professioneller Wahrnehmung scheint der systematische Wissensaufbau hinsichtlich Klassenführung sowie die Analyse unterrichtlicher Situationen. Für klassenführungsbezogene Selbstwirksamkeit als weiter innen liegender Aspekt des Core Reflection Models zeigte sich, dass der Bezug auf die eigene Person (= Selbstbezugsprompt) diesen eher tiefer liegenden Aspekt der eigenen Professionalität zugänglich macht (stärkere Zunahme in IG2).

Kritisch stellt sich die Frage, ob die Steigerung der klassenführungsbezogenen Selbstwirksamkeitsüberzeugung zwingend Ziel von Reflexion sein muss. Einerseits führen positive Selbstwirksamkeitsüberzeugungen dazu, dass Studierende sich herausforderndere Aufgaben stellen und sich somit langfristig eine Kompetenzentwicklung einstellt. Andererseits ist unklar, wie realistisch und akkurat die Selbstwirksamkeitserwartungen der Studierenden hinsichtlich der tatsächlichen Kompetenz ausfallen (Kruger und Dunning 1999). So berichten Seifert et al. (2018) beispielsweise in ihrer LtP-Studie von einem (wenn überhaupt vorhandenen) niedrigen Zusammenhang zwischen selbst eingeschätzten Kompetenzen und dem bildungswissenschaftlichen Wissen. Andererseits ist jedoch anzuführen, dass erst über den Rückbezug der Analyseergebnisse auf die eigene Person Professionalisierungsprozesse, die über den Aufbau spezifischen Wissens hinausgehen, bewusst initiiert werden. Denken angehende Lehrkräfte nach der Analyse nicht darüber nach, ob sie die gesehene Handlung oder die besprochene alternative Handlung bereits umsetzen können bzw. was sie ggf. noch brauchen, um die Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand zu verringern, fehlt die explizite Anbindung an den Ist-Status. Reflexion – im Sinne einer Kombination von Analyse und Selbstbezug – hilft somit eigene Lernprozesse zu explizieren und künftige Lernprozesse zu planen.

Weiterhin stellt sich die Frage, ob das vorliegende Ergebnismuster auch auf die Analyse bzw. Reflexion von eigenen Unterrichtsvideos übertragbar ist. Der Selbstbezug ist bei der Betrachtung der eigenen Person inhärent. Ob die Analyse eigener Videos hinsichtlich der professionellen Wahrnehmung von Bedeutung ist, scheint aufgrund inkonsistenter Ergebnisse derzeit noch unklar (Frommelt et al. 2019; Gold et al. 2021; Weber et al. 2022).

Obwohl die Ergebnisse für den inkrementellen Nutzen des Selbstbezugs sprechen, soll an dieser Stelle dafür argumentiert werden, dass die Unterrichtsanalyse ohne Selbstbezug eine bedeutsame Form der Auseinandersetzung mit und Betrachtung von unterrichtlichen Erfahrungen ist. So ist die Fähigkeit, Unterricht systematisch zu betrachten, beispielsweise eine Grundvoraussetzung für die Kommunikation über Unterricht und das professionelle Formulieren von Feedback. Ähnliches gilt für andere Formen der Auseinandersetzung mit unterrichtlicher Praxis. Zentral scheint daher, dass die jeweilige Zielstellung dieser Auseinandersetzungen klar ist. Diese Klarheit in den (hochschul-)didaktischen Zielen kann angehenden Lehrpersonen helfen, den Nutzen verschiedener Auseinandersetzungsformen zu erkennen und später im Beruf zielgerichtet einzusetzen.

5.2 Limitationen

Trotz der vielversprechenden und in weiten Teilen erwartungskonformen Ergebnisse zeigen sich einige Limitationen. So handelt es sich bei dem Prompt zum Selbstbezug um eine additive Aufgabenstellung, die von den Studierenden prinzipiell zusätzliche Zeit eingefordert hat. Die durchschnittliche Wortzahl zeigt, dass der zusätzliche Aufwand bei ca. einer halben A4-Seite lag. Insofern kann auf Basis der Befunde nicht eindeutig der Selbstbezug als Ursache für den Anstieg der Selbstwirksamkeitsüberzeugungen bestimmt werden. Die längere Beschäftigungsdauer mit dem Inhalt könnte streng genommen allein zu diesem Effekt führen. Replikationsstudien sollten deshalb für die Beschäftigungsdauer entsprechend kontrollieren bzw. eine weitere Bedingung mit einem alternativen Analyseprompt ohne Selbstbezug einplanen.

Darüber hinaus konnten im Rahmen der hier vorgelegten Studie aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Daten zur Qualität der Auseinandersetzung mit den Videoanalyseaufträgen sowie zur Qualität der Auseinandersetzung mit dem Selbstbezugsprompt mit hier betrachteten Aspekten der professionellen Kompetenz kombiniert werden. Trotzdem können die geplanten Auswertungen der Prozessdaten wichtige Erkenntnisse zu mediierenden Prozessen generieren. Insofern sollte in weiterführenden Studien, ähnlich dem Beitrag von Merkert et al. (2023xxx) die Qualität bzw. die Tiefe des Selbstbezugs berücksichtigt werden.

Zuletzt wurden in dieser Studie nur zwei Merkmale in ihrer Veränderung betrachtet. Diese können durch einen klaren Bezug zum Seminarinhalt als ökologisch valide betrachtet werden. In weiteren Studien können jedoch auch andere Merkmale betrachtet werden, bspw. das Wissen über Klassenführung oder Merkmale, die im Sinne von Korthagen und Vasalos (2005) noch tiefer liegende Aspekte der Professionalität adressieren. Schließlich wird angenommen, dass verschiedene pädagogische oder didaktisch-methodische Überzeugungen die Umsetzung von Modelllernen einschränken. Um also Modelllernen über Videos noch gewinnbringender zu gestalten, scheint der Abgleich mit Theorie und Forschung aber auch der Bezug auf die eigene Person (im Sinne der Explikation eigener Überzeugungen) ratsam.

5.3 Ausblick

Die vorliegende Studie hat empirisch die Bedeutung des Selbstbezugs als konstitutives Element reflexiver Auseinandersetzung mit eigenen Kompetenzen für die Entwicklung von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen gezeigt. Weitere Arbeiten können an dieser spezifischen Unterscheidung zwischen Analyse und Reflexion ansetzen und in den Blick nehmen, wie diese zwei Auseinandersetzungsformen zu differenziellen Entwicklungen im weiteren Professionalisierungsprozess führen. Darüber hinaus können motivationale und affektive Dispositionen in ihren Auswirkungen auf Analyse und Reflexion untersucht werden. Zuletzt eröffnet eine klare Fokussierung auf den Selbstbezug als zentrales Merkmal professioneller Reflexion die Entwicklung möglicher Indikatoren zur Beurteilung der Reflexionsqualität.

Hier anschließend eröffnen sich auch für die Praxis der Lehrkräftebildung verschiedene Implikationen. Eine klare Differenzierung von rein analytischen Aufträgen, die bspw. dem Verstehen von Lehr-Lern-Prozessen dienen, und Aufträgen mit einer reflexiven Komponente im Sinne des hier untersuchten Selbstbezugs können Lernenden helfen, Zielstellungen klarer zu fokussieren. Ein damit verbundenes klares Verständnis des Reflexionsbegriffs verringert die Unsicherheit auf Seiten der Lernenden (siehe auch Clarà 2015; van Beveren et al. 2018). Lehrende sind auf dieser ersten Befundlage angeregt, rein analytische Aufträge von reflexionsbezogenen Aufträgen zu trennen – abhängig vom konkreten Lernziel der jeweiligen Einheit.