1 Einleitung

Die aktuelle Lehrkräftebildung fokussiert den Lernort Universität (Gröschner 2019) und betont die Herausforderung, Lerngelegenheiten zu gestalten, die es Noviz:innen ermöglichen, Theorie-Praxis-Relationen zu entwickeln. Praxisphasen im Studium nehmen hierbei eine bedeutende Stellung ein und die Analyse videografierter eigener und beobachteter (fremder) Unterrichtspraxis wird häufig als methodisch-didaktische Herangehensweise verwendet (vgl. Gröschner 2019, S. 105). Als mediierender Prozess wird, seit der Arbeit über den reflektierenden Praktiker nach Schön (1983; vgl. Beauchamp 2015), die systematische Reflexion der praktischen Erfahrungen angenommen (Gröschner et al. 2019; Körkkö et al. 2016; Wyss 2013). Die professionelle Reflexion in pädagogischen Kontexten wird dabei als ein anlassbezogener mentaler Prozess gefasst, der unter explizitem Selbstbezug auf ein erweitertes Verständnis pädagogischer Praxis abzielt (Lenske und Lohse-Bossenz im Druck)Footnote 1.

Eine wachsende Basis empirischer Untersuchungen verweist jedoch auf eine widersprüchliche Befundlage zu videobasierten Unterrichtsreflexionen (Brouwer 2014). Studierende ohne, bzw. mit wenig Praxiserfahrung erleben größere Hürden, deklarativ-konzeptuelle Wissensbestände auf die Reflexion von Unterrichtsvideos anzuwenden (Seidel 2022) und berichten subjektiv etwas höhere kognitive Belastung bei videobasierter im Vergleich zu protokollbasierter Reflexion (z. B. Syring et al. 2015). Auch gibt es Hinweise, dass selbstwertbezogene Emotionen die systematische und wissensbasierte Reflexion erschweren und die Entwicklung professioneller Kompetenzen unterminieren (Kleinknecht und Poschinski 2014). Die Begleitung durch Dozierende scheint einerseits diese mögliche Überforderung von Noviz:innen zu kompensieren (Brouwer 2014; Gröschner 2019, 2021; Seidel 2022). Andererseits zeigt sich, dass sowohl eine zu gering (Kleinknecht und Poschinski 2014) als auch eine zu stark strukturierende instruktionale Begleitung (Gelfuso und Dennis 2014) auf die Entwicklung reflexiver Kompetenzen hemmend wirken kann. Andere Ergebnisse zeigen, dass Lehramtsstudierende eher zu tiefgehender Reflexion neigen, wenn sie mehr Selbstkontrolle in der Reflexionsgelegenheit erleben (Callens und Elen 2011). Außerdem wird der Vergleich zwischen video- und protokollbasierter Reflexion bislang nur von wenigen Studien explizit adressiert (Kücholl und Lazarides 2021) und es ist nicht eindeutig zu belegen, inwiefern der Einsatz von Videografie und die personenbetreute Reflexion immer gemeinsam notwendig und zielführend sind.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Reflexion eigenen Unterrichts für Noviz:innen nicht nur eine wissensbasierte Herausforderung darstellt. Auch das subjektive affektive Erleben der Reflexionsgelegenheiten ist bedeutsam (Beauchamp 2015; Korthagen und Vasalos 2005; Sutton und Wheatley 2003). Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Studie der Frage, welche spezifischen Effekte video- im Vergleich zu protokollbasierter Reflexion bei der selbständigen Durchführung einer strukturierten, theoriegeleiteten Reflexion erster Unterrichtserfahrungen zeigt. Dabei wird an einer Stichprobe von Unterrichts-Noviz:innen untersucht, inwiefern sich Unterschiede im subjektiven Erleben der Reflexionstätigkeit und der Qualität der schriftlichen Reflexionen zeigen.

2 Theoretischer Rahmen und Forschungslage

2.1 Reflexionsgelegenheiten im Kontext professionsorientierter Lehrkräftebildung

Reflexion in der Lehrkräftebildung wird im weitesten Sinn als das Nachdenken über das eigene Handeln in der professionsspezifischen Praxis gefasst (Beauchamp 2015; Schön 1983; Wyss 2013). Dabei steht die rückblickende Reflexion eigenen Lehrhandelns, als angeleiteter Prozess, im Zentrum und wird zunehmend, bereits in der universitären Phase, für Noviz:innen als bedeutsam erachtet (Gröschner 2019). Reflexion findet somit anlassbezogen statt, fokussiert im Kern mentale Prozesse und zielt auf ein erweitertes Verständnis pädagogischer Praxis ab, das wiederum die fortschreitende Professionalisierung als Lehrkraft ermöglicht (Kelchtermans 2009; Korthagen und Vasalos 2005). Das Nachdenken über Unterricht ist insofern spezifisch, als dass das Ziel pädagogischer Professionalisierung nicht nur fachliche und fachdidaktische Aspekte beleuchtet, sondern die Betrachtung der Beteiligten, sowie ihr soziales und emotionales Erleben einschließt (Beauchamp 2015; Gröschner 2019; Korthagen und Vasalos 2005; Krauskopf und Knigge 2017; Sutton und Wheatley 2003).

2.2 Forschungsstand Reflexionsgelegenheiten im Lehramtsstudium

Unterrichtsreflexionen in der Lehrkräftebildung finden in der Regel protokoll- oder videobasiert statt (Brouwer 2014; Gröschner 2021). Beginnend mit den Arbeiten von van Es und Sherin (2002) haben sich Prozessmodelle zur Reflexion etabliert, die sich an drei Phasen orientieren: (1) Wahrnehmung und Beschreibung der Situation, (2) Erkennen und wissensbasierte Interpretation selektiver Aspekte, (3) Ableitung von Schlussfolgerungen. In Studien zeigt sich, dass Noviz:innen weniger in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit auf unterrichtsrelevante Momente zu lenken und sich, aufgrund noch geringen Professionswissens, eher zu Oberflächenmerkmalen äußern (Blomberg et al. 2014; Seidel 2022). Dabei kann die professionelle Unterrichtswahrnehmung als Ausgangspunkt reflexiver Prozesse systematisch gefördert werden, wobei den Möglichkeiten und Grenzen von videobasierter Reflexion besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird (Gröschner 2021; Seidel 2022).

2.2.1 Videobasierte Reflexion

Die videobasierte Unterrichtsreflexion verwendet Aufnahmen eigenen und fremden Unterrichts (Kleinknecht und Poschinski 2014; Krammer und Hugener 2014), sowie sogenannte Staged Videos (Bönte et al. 2019; Knigge et al. 2019). Empirische Befunde zeigen, dass Aufnahmen eigenen Unterrichts als authentischer empfunden werden und die Reflektierenden sich als stärker involviert sowie motiviert erleben (Brouwer 2014; Gröschner 2021; Seidel 2022). Wenngleich die Reflexion anhand fremder Videos differenzierter ausfällt und eher aus kritischer Distanz geschieht, besteht der Nachteil, dass dieses Vorgehen kaum Bezüge zur eigenen Praxis der zukünftigen Lehrkräfte aufweist (Gröschner 2021; Kleinknecht und Poschinski 2014; Krammer und Hugener 2014). Demgegenüber steht, dass die Arbeit mit eigenen Videos als bedrohlich für den Selbstwert erlebt werden kann und die Tendenz befördert, das eigene Handeln in der Situation zu verteidigen, statt darüber zu reflektieren (Krammer 2014).

Für Noviz:innen ergeben sich insgesamt eher Vorteile aus der Reflexion anhand eigener Videos. Die komplexe Lage im eigenen Klassenraum kann festgehalten, in Echtzeit dargestellt, wiederholt und fokussiert betrachtet werden (Blomberg et al. 2014; Brouwer 2014). Auch finden sich Hinweise, dass gerade die videobasierte Reflexion des eigenen Unterrichts notwendige Voraussetzung für signifikante Kompetenzentwicklungen ist (Göbel et al. 2022). Die videobasierte Reflexion allein unterstützt Noviz:innen jedoch nicht dabei, über vorwiegend deskriptive Betrachtungen hinauszugehen. Da es ihnen noch an Fachwissen fehlt, das als strukturgebendes Element genutzt werden kann, bedarf es strukturierender didaktischer Einbettung (Blomberg et al. 2014; Kleinknecht und Gröschner 2016; Seidel 2022).

2.2.2 Video- versus protokollbasierte Reflexion

Im Vergleich video- und protokollbasierter Reflexion stellen Syring et al. (2015) fest, dass videobasiert mehr Freude an, sowie mehr Motivation für Reflexion berichtet werden. Gleichzeitig ergibt sich für videobasierte Reflexion eine leicht höhere kognitive Belastung. Kleinknecht und Gröschner (2016) zeigen, dass videobasiertes Vorgehen zwar zur tieferen Reflexion positiv erlebter Unterrichtssituationen beiträgt, negativ erlebte Situationen hingegen oberflächlicher betrachtet werden. Im Hinblick auf die subjektive Bedeutsamkeit zeigen Gröschner et al. (2019), dass Lehramtsstudierende bei der videobasierten Reflexion den Theorie-Praxis-Bezug subjektiv höher einschätzen. Der Vergleich protokoll- und videobasierter Reflexionen selbst ergibt nicht immer signifikante Unterschiede, wie z. B. in der Studie von Kücholl und Lazarides (2021). Die Autorinnen legen dar, dass Reflexionen herausfordernder Situationen in beiden Bedingungen Tiefenstrukturen des Unterrichts gleichermaßen berücksichtigen. Auch Kramer et al. (2017) finden bei gleichem Wissens- und Kompetenzzuwachs keine signifikanten Unterschiede zwischen video- und protokollbasierter Reflexion. Insgesamt zeichnen sich allerdings videobasierte Reflexionen durch eine größere inhaltliche Differenziertheit und Fokussierung aus (Krammer 2014).

2.3 Instruktionale Begleitung von Reflexionsgelegenheiten

Studien zeigen, dass sich zur notwendigen Strukturierung von Reflexionsgelegenheiten Leitfragen anbieten (Kleinknecht und Gröschner 2016; Wyss 2013). Diese Fragen sollten an Kriterien orientiert sein, die für die Reflektierenden subjektive Relevanz erkennen lassen (Krammer 2014). Komplett unstrukturierte Reflexionen hingegen erweisen sich als Überforderung für Noviz:innen. Sie vernachlässigen häufiger die fokussierte Beschreibung erlebter Situationen (Beauchamp 2015; Brouwer 2014; Gröschner 2019, 2021; Wyss 2013), bzw. verteilen ihre Aufmerksamkeit auf den eher unspezifischen Unterrichtseinstieg (Calkins et al. 2020). Gelingt es in Instruktionen, Struktur und individuelle Schwerpunktsetzung zu integrieren, so ergeben sich förderliche Bedingungen für die professionelle Entwicklung von Lehramtsstudierenden (Blomberg et al. 2014; Kleinknecht und Gröschner 2016; Krammer 2014; Sherin und van Es 2005). Dabei ist die aktive Beteiligung der Reflektierenden am Reflexionsprozess eine wichtige Voraussetzung (Brouwer 2014; Göbel et al. 2022).

Das ALACT-Modell von Korthagen und Vasalos (2005) bietet eine Grundlage für Reflexionsgelegenheiten, die eine hohe Strukturiertheit (linear approach) mit flexibler Schwerpunktsetzung bei der Auswahl der zu reflektierenden Praxiserfahrungen (learner control) verzahnen. Diese Verbindung kann den Reflexionsprozess auch für Noviz:innen leichter umsetzbar gestalten (Callens und Elen 2011; Lüken et al. 2020). Das ALACT Modell postuliert neben den nacheinander ablaufenden Phasen des Handelns (action), Reflektierens (looking back on action), Integrierens (awareness of essential aspects), Schlussfolgerns (creating alternative methods) und Erprobens (trial), ineinander verschachtelte Ebenen professioneller Reflexionsanlässe. Dabei wird explizit die Betrachtung von kognitiven und affektiven Aspekten in den reflektierten Situationen auf allen Ebenen betont.

Diese Ansätze beschreiben bisher jedoch Reflexionsgelegenheiten, die umfänglich durch Dozent:innen begleitet werden, Vorerfahrungen mit Reflexionsmodellen wie ALACT voraussetzen oder auf technisch anspruchsvolle, videobasierte Lernumgebungen angewiesen sind (Gröschner 2021; Gröschner et al. 2019). Die vorliegende Studie widmet sich daher dem Desiderat, Prinzipien strukturierter Reflexion der Unterrichtspraxis im Lehramtsstudium in weniger betreuungsintensiven Szenarios zu erproben. Es soll dabei empirisch geprüft werden, inwiefern Noviz:innen im Hinblick auf folgende aus der Literatur extrahierte Kriterien unterstützt werden können: Die begründete Auswahl von Situationen, die differenzierte Beschreibung von Kognitionen und Affekten, die Bezugnahme auf eigenes professionelles Handeln, die Ableitung konkreter Schlussfolgerungen und Herstellung von Theorie-Praxis-Bezügen.

3 Die aktuelle Studie – protokoll- vs. videobasierte Reflexion anhand des ALACT-Modells

Für die vorliegende Studie wurde eine strukturierende Instruktion zur Reflexion kurzer Unterrichtseinheiten basierend auf dem ALACT-Modell entwickelt. Diese kann ohne personelle Betreuung der Lehramsstudierenden bearbeitet werden. Zugrunde liegt in diesem Beitrag das Verständnis von Reflexion als anlassbezogener mentaler Prozess in pädagogischen Kontexten, der unter explizitem Selbstbezug auf ein erweitertes Verständnis pädagogischer Praxis abzielt. In Anlehnung an das Design von Gröschner und Kolleg:innen (Gröschner et al. 2019; Kleinknecht und Gröschner 2016) werden zwei quasi-experimentelle Gruppen, protokollbasiert (oV) versus videobasiert (mV), im Rahmen eines gemischt-methodischen Ansatzes (Kuckartz 2018), anhand von Selbsteinschätzungen der Reflexionsaufgabe und inhaltsanalytischer Kodierung der schriftlichen Reflexionen verglichen. Vor dem Hintergrund der betrachteten Forschungsliteratur wurden folgende Hypothesen formuliert:

  1. 1.

    Da beide Gruppen über Situationen aus dem eigenen Unterricht reflektierten, sollte durch die Verbindung klarer Strukturierung (linear approach) mit flexibler Schwerpunktsetzung (learner control) für alle Teilnehmenden eine gleichermaßen leichte Situationsauswahl (geringe kognitive Belastung) ermöglicht werden (H1a) (Callens und Elen 2011; Lüken et al. 2020). Zudem sollten die gewählten Situationen gruppenübergreifend als authentisch und repräsentativ für das eigene Handeln erlebt werden (H1b) (Göbel et al. 2022; Kleinknecht und Schneider 2013).

  2. 2.

    Bei videobasierter Reflexion sollte die Möglichkeit, Theorie-Praxis-Bezüge herzustellen, höher eingeschätzt werden (H2) (Gröschner et al. 2019; Kleinknecht und Schneider 2013).

  3. 3.

    Durch die strukturierende Instruktion sollten die schriftlichen Reflexionen aller Studierenden eine Breite an Situationsbeschreibungen abbilden (H3a) (Callens und Elen 2011; Calkins et al. 2020; Kücholl und Lazarides 2021), bei videobasierter Reflexion jedoch ein Schwerpunkt auf die eigene Perspektive als handelnde Lehrkraft gelegt werden (H3b) (Göbel et al. 2022; Kleinknecht und Gröschner 2016; Seidel 2022).

  4. 4.

    In der Phase der Fokussierung sollten videobasierte Reflexionen, aufgrund der Befunde zu vermehrter Freude und höherer Motivation (Syring et al. 2015), häufiger affektiv begründet werden (H4a), konkreter und differenzierter formuliert werden (H4b) (Krammer 2014), auch in dieser Phase die Perspektive der Lehrkraft fokussieren (H4c) (Göbel et al. 2022; Kleinknecht und Gröschner 2016; Seidel 2022) und häufiger positiv konnotiert sein (H4d) (Syring et al. 2015).

  5. 5.

    Schlussfolgerungen sollten sich bei videobasierter Reflexion konkreter auf die Selbstreflexion des eigenen Lehrhandelns beziehen (H5) (Gröschner 2021).

4 Methode

4.1 Studiendesign und Stichprobe

Die Rekrutierung erfolgte durch Vorstellung des Forschungsvorhabens in den Seminarkursen zum Unterrichtspraktikum im BA-Lehramtsstudium Sekundarstufe I im Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER). Dieses stellt im Potsdamer Modell der Lehrerbildung das dritte Praktikum in der BA-Phase dar. Die Studierenden absolvierten dieses Praktikum an allen weiterführenden Schularten Brandenburgs, in Gruppengrößen von vier bis sechs Studierenden. Sie unterrichteten in dem Zeitraum regulär (!) erstmalig aktiv jeweils zwei Schulstunden à 45 min (Schulstunde), wobei die Mitstudierenden der Gruppe und Dozent:innen ohne aktive Beteiligung hospitierten. An der Studie nahmen 22 ausschließlich weibliche Studentinnen aus zwei Semestern (54,5 % WS 16/17, 45,5 % WS 18/19) teil (100 % weiblich, M = 23,4 Jahre alt, SD = 2,6, Fachsemester M = 5,7, SD = 2,0, Praktikumstage M = 9,35, SD = 7,11, aktive Unterrichtspraxis M = 2,20, SD = 0,62). Vergleiche der quasi-experimentellen Gruppen ergaben eine durchschnittlich höhere Studiendauer der Gruppe oV, t = 2,84, p = 0,013, d = 1,20, jedoch nicht für deren unterrichtspraktische Erfahrung (s. Tab. 1). Daher wurde die Vergleichbarkeit der Gruppen im Hinblick auf unterrichtspraktische Erfahrungen als hinreichend gegeben angenommen. Die Studierenden nahmen freiwillig teil und gaben ihr informiertes Einverständnis, unter Beachtung der geltenden Datenschutzbestimmungen. Die (Nicht‑)Teilnahme an der Studie hatte keine Konsequenzen für die Beurteilung der Seminarleistung.

Tab. 1 Deskriptive und t‑Statistiken soziodemographische Variablen und Angaben zur unterrichtspraktischen Erfahrung

Die Probandinnen wählten, unabhängig der Seminarzugehörigkeit, ob sie anhand von Erinnerungsprotokollen (oV, n = 11), bzw. von Videoaufzeichnungen ihres Unterrichts (mV, n = 11) reflektieren wollten. Alle Teilnehmerinnen erhielten die schriftliche Instruktion, drei ausgewählte Situationen aus dem selbst durchgeführten Unterricht schriftlich zu reflektieren (s. Tab. Anhang A). Da je eine Teilnehmerin pro Gruppe nur zwei Situationen reflektierte, lagen insgesamt 64 schriftliche Reflexion, 32 pro Gruppe, vor (s. Tab. 4 für deskriptive Statistiken zur Wortanzahl pro Situation und Leitfrage). Eine Woche vor Start der Praxisphase machten die Teilnehmerinnen Angaben zu soziodemographischen Merkmalen (Alter, Fachsemester, Geschlecht) und ihren schulpraktischen Erfahrungen (absolvierte Praktikumstage, durchgeführte Unterrichtsstunden). Die schriftliche Reflexion wurde von allen Teilnehmenden, anschließend an die Unterrichtspraxis, individuell bearbeitet. Die durch zufällige Codes pseudonymisierten schriftlichen Reflexionen wurden drei Wochen nach Abschluss der Unterrichtsphase im Seminarkurs eingereicht.

4.1.1 Instruktion und schriftliche Reflexion

Die Instruktion wurde zwischen den Gruppen parallelisiert (s. Tab. Anhang A), um der allgemeinen Schwierigkeit zu begegnen, dass Video und Text als Medien unterschiedlichen Aufforderungscharakter aufweisen (Salomon 1984). Alle Teilnehmenden reflektierten daher anhand von fünf Leitfragen (s. Tab. 2) orientiert am ALACT-Modell: (1) Beschreibung (looking back on action), (2) Fokussierung (awareness of essential aspects) (3) Schlussfolgerung (creating alternative methods). Alle Studentinnen wurden gebeten, „irritierende Situationen“ auszuwählen, d. h. solche an denen sie, mit ihrem bisherigen, subjektiv eingeschätzten Wissen und Können, an eine professionelle Grenze gerieten (Ludwig 2003) und in denen sie, anhand ihrer nonverbalen Kommunikationsstrategien, diese Irritationen festmachen konnten. So sollte ein übergreifendes Auswahlkriterium, unabhängig vom Reflexionsmedium, umgesetzt werden. Es wurden nonverbale Kommunikationsstrategien gewählt, da gezeigt werden konnte, dass diese Analyse die Beziehungsqualität zwischen Akteur:innen im Klassenraum widerspiegeln (Gröschner 2007; Kosinár 2012). Ferner stellt die Wahrnehmung der eigenen nonverbalen Kommunikation ein Indikator für Wissen über Klassenführungsstrategien und Klassenführungskompetenz dar (vgl. Bönte et al. 2019, S. 251; Kosinár 2012). Zugleich greifen wir mit der Integration nonverbaler Merkmale das Desiderat der Forschung zur reflexiven Praxis auf, Lehrkräfte ganzheitlicher zu begreifen (vgl. Beauchamp 2015, S. 132).

Tab. 2 Übersicht Leitfragen und Zuordnung zu Phasen des ALACT Modells

4.1.2 Videografie

Für die Videoaufnahmen gaben Teilnehmende und Sorgeberechtigte der Schüler:innen ihr informiertes Einverständnis. Schüler:innen ohne Einverständnis wurden außerhalb des Aufnahmebereichs platziert. Eine Prüfung und Genehmigung der Studie erfolgte durch das MBJS Brandenburg im Rahmen des Projekts „PSI-Potsdam“. Die Zweitautorin begleitete die technische Umsetzung vor Ort. Es wurden zwei feststehende Kameras im hinteren Teil des Klassenraumes platziert, mit einer Überblickseinstellung und einem Fokus auf den Tisch der Lehrkraft. Die Aufzeichnungen wurden der unterrichtenden Person direkt nach dem Unterricht auf einem gesicherten Speichermedium zur Verfügung gestellt und niemand anderem zugänglich gemacht. Die Teilnehmerinnen der Gruppe mV verwendeten diese Unterrichtsvideos selbständig als Grundlage für die schriftliche Reflexion.

4.2 Erhebungsinstrumente

4.2.1 Selbsteinschätzungen

Kognitive Belastung

Inwiefern die Reflexionsgelegenheit als angemessene Unterstützung bei der Situationsauswahl erlebt wurde, gaben die Teilnehmenden auf einem Item an, wie leicht ihnen die Situationsauswahl fiel.

Subjektive Situationswahrnehmung

Um zu erfassen, wie die zur Reflexion ausgewählten Situationen subjektiv erlebt wurden, gaben die Teilnehmerinnen in Anlehnung an Kleinknecht und Gröschner (2016) an, wie repräsentativ (Item: „Mein Verhalten in den ausgewählten Situationen würde ich als typisch für mich beschreiben“) und wie authentisch (Item: „Mein Verhalten in den ausgewählten Situationen würde ich als authentisch beschreiben“) sie ihr Lehrhandeln in den ausgewählten Situationen empfanden.

Theorie-Praxis-Bezüge

Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Bezügen der Reflexionsgelegenheit zur professionellen Entwicklung von Lehrkräften gaben die Teilnehmenden zum einen an, inwiefern sie Bezüge zur eigenen professionellen Entwicklung (Item: „Die ausgewählten Situationen sind dafür geeignet, damit ich etwas über meine Rolle als Lehrkraft lerne“), bzw. zu allgemeinen Fragen professionellen Lehrhandelns (Item: „Die ausgewählten Situationen sind dafür geeignet, damit andere etwas über ihre Rolle als Lehrkraft lernen“) herstellen konnten.

Alle Einschätzungen erfolgten auf einer vierstufigen Likert-Skala von 1 = trifft überhaupt nicht zu bis 4 = trifft voll und ganz zu.

4.2.2 Kodierung schriftlicher Reflexionen

Der Inhalt der 64 schriftlichen Reflexionen wurde inhaltsanalytisch anhand deduktiver Kategorien ausgewertet (Kuckartz 2018). Die Kategorien wurden im Kern aus der Arbeit von Korthagen und Vasalos (2005) abgeleitet und durch Modelle der Sichtstruktur von Unterricht (Meyer 2011; Oser und Sarasin 1995), reflexiver Praxis (Beauchamp 2015), videobasierter Reflexion (Brouwer 2014) und sozial-emotionalen Kompetenzfacetten von Lehrkräften (Krauskopf und Knigge 2017) ergänzt. Als Einheit wurde die gesamte Antwort pro Leitfrage gewählt und die Kodierung erfolgte mithilfe der Software MAXQDA 2018. Zur Reliabilitätsprüfung wurden 36 % des Materials von einer unabhängigen Person doppelt kodiert. Die Übereinstimmungen waren bei einem Cohens 𝜅 zwischen 0,42 und 0,88 insgesamt nicht ausreichend. Die Nicht-Übereinstimmungen wurden diskutiert und die Kodierregeln samt Ankerbeispielen und Grenzfällen durch die Autor:innen überarbeitet. Eine weitere Person kodierte anhand des aktualisierten Kategoriensystem erneut 36 % des Materials doppelt, mit mindestens ausreichender Übereinstimmung, 𝜅 zwischen 0,63 und 1,0 (s. Tab. Anhang B). Anschließend wurde die Kodierung des restlichen Materials auf Basis des überarbeiteten Manuals erneut geprüft. Die Interrater-Reliabilität der emotionalen Differenziertheit war mit Werten um 0,64 am geringsten und Ergebnisse zu diesem Aspekt werden besonders vorsichtig interpretiert.

4.2.2.1 Umsetzung der Instruktion

Zur Überprüfung, inwiefern die Teilnehmenden die Instruktion zur Situationsauswahl umsetzten, wurden die Reflexionsprotokolle daraufhin kodiert, ob nonverbale Merkmale explizit genannt (= 1) und Irritationen im Sinne einer subjektiv erlebten Abweichung von der Unterrichtsplanung beschrieben wurden (= 1).

4.2.2.2 Beschreibung (looking back on action, Phase 2 ALACT-Modell)

In den Beschreibungen der Situationen wurden die Unterrichtsphasen (Stundeneinstieg, Arbeitsphase/Erarbeitung, Abschluss; Meyer 2011; Oser und Sarasin 1995), die Beteiligten (Interaktion Lehrkraft–Schüler:innen, Lehrkraft, Schüler:innen) und die dabei vordergründig eingenommene Perspektive (Erleben und Verhalten Lehrkraft vs. Erleben und Verhalten Schüler:innen) kodiert.

4.2.2.3 Fokussierung (awareness of essential aspects, Phase 3 ALACT-Modell)

Zur Operationalisierung der Verbindung affektiver und kognitiver Aspekte (vgl. Beauchamp 2015, S. 136; vgl. Korthagen und Vasalos 2005, S. 51) wurden die Begründungen der Auswahl (zweite Leitfrage: „Warum habe ich diese Situation ausgewählt?“) der reflektierten Situationen als kognitiv, affektiv oder gemischt kategorisiert.

Zur Vertiefung kognitiver Aspekte wurden Antworten zur dritten Leitfrage („Was habe ich in der Situation gedacht?“) im Hinblick auf die Differenziertheit der formulierten Gedanken (vgl. Korthagen und Vasalos 2005, S. 58) und ihrer Valenz (vgl. Korthagen und Vasalos 2005, S. 61 ff.) kodiert. Zusätzlich wurde die Bezugnahme auf das eigene professionelle Handeln auf Basis der fokussierten Perspektive, Lehrkraft (Selbstreflexion) vs. Schüler:innen (Fremdreflexion im Sinne von Perspektivübernahme, vgl. Beauchamp 2015, S. 131; Brouwer 2014, S. 185; Korthagen und Vasalos 2005, S. 68), und des reflexiven Fokus, aktuelle pädagogische Handlung vs. Konsequenzen der Handlung (vgl. Korthagen und Vasalos 2005, S. 66) kategorisiert.

Die Kodierung affektiver Aspekte wurde, Kleinknecht und Poschinski aufgreifend (vgl. 2014, S. 487), anhand der emotionalen Differenziertheit (Levels of Emotional Awareness, LEA; Krauskopf und Knigge 2017, 2019; Subic-Wrana et al. 2001) der Antworten zur vierten Leitfrage (Wie habe ich mich in dieser Situation gefühlt?) erfasst.

4.2.2.4 Schlussfolgerungen (creating alternative methods, Phase 4 ALACT-Modell)

Basierend auf empirischen Befunden, gemäß denen die Ableitung von Handlungsalternativen einen relevanten Prädiktor der tatsächlichen Änderung von Unterrichtshandeln darstellt (Brouwer 2014; Gröschner 2019; Kleinknecht und Gröschner 2016; Krammer 2014), wurden die Schlussfolgerungen (fünfte Leitfrage „Was leite ich aus dieser Situation für mich ab?“) im Hinblick auf den jeweiligen Fokus, Handeln der Lehrkraft vs. Veränderung der Lernumgebung, kodiert (Beauchamp 2015, S. 131; Gröschner 2021; Kelchtermans 2009, S. 269; Korthagen und Vasalos 2005, S. 60). Mit Verweis auf frühere Arbeiten zum ALACT Modell (Lohse-Bossenz und Krauskopf 2017) wurde zusätzlich unterschieden, inwiefern die Schlussfolgerungen konkret vs. allgemein formuliert waren.

4.3 Datenanalyse

Zur Analyse der Selbsteinschätzungen wurden t-Tests für verbundene Stichproben und 𝜒2-Tests für kategoriale Daten durchgeführt. Basierend auf Ergebnissen vergleichbarer Studiendesigns wurden maximal mittlere Effekte (z. B. Kleinknecht und Gröschner 2016) und, aufgrund der kleinen Stichprobe dieser ökologisch validen Feldstudie, weniger inferenzstatistisch signifikante Ergebnisse erwartet. Statistische Signifikanz betrifft jedoch die Generalisierbarkeit der Befunde, nicht die Größe der Effekte in der konkreten Stichprobe (Lakens 2013), weshalb durchgängig Cohens d, bzw. Cohens w für Häufigkeitstabellen berichtet und Effekte ab mittlerer Größe (d > 0,20, bzw. w > 0,10) beschrieben werden (Cohen 1992). Das Alpha-Fehler Niveau wurde auf 0,05 festgelegt.

5 Ergebnisse

5.1 Selbsteinschätzungen

5.1.1 Situationsauswahl und subjektive Wahrnehmung der Reflexionsgelegenheit

Entsprechend der Erwartungen empfanden beide Gruppen eine geringe kognitive Belastung und die gewählten Situationen als authentisch sowie für das eigene Lehrhandeln repräsentativ (H1a und b). Deskriptiv zeigten sich jedoch z. T. Unterschiede mittlerer Effektstärke. Videobasiert fiel die Auswahl leichter (M = 2,73, SD = 0,47 vs. oV: M= 2,18, SD = 1,08), t (13,62) = −1,54, p = 0,15, d = 0,69 [−0,18; 1,54] und die Teilnehmenden empfanden ihr Handeln als Lehrkraft weniger authentisch (M = 3,00, SD = 0,63 vs. oV: M = 3,36, SD = 0,50), t (19,06) = 1,49, p = 0,15, d = −0,67 [−1,52; 0,20] (deskriptive Statistiken s. Tab. 3).

Tab. 3 Deskriptive und t‑Test-Statistiken für Einschätzungen der kognitiven Belastung bei der Situationsauswahl, subjektiven Bedeutsamkeit und Theorie-Praxis-Bezüge

5.1.2 Theorie-Praxis-Bezug

Es ergab sich ein deskriptiv großer Effekt entsprechend der Erwartung, dass bei videobasierter Reflexion subjektiv verstärkt Theorie-Praxis-Bezüge für die das eigene professionelle Handeln abgeleitet wurden (H2). Dieser war jedoch nicht statistisch signifikant, t (16,49) = −1,86, p = 0,08, d = 0,83 [−0,05; 1,70] (s. Tab. 3).

5.2 Kodierung der Reflexionsprotokolle

Die Reflexionsprotokolle umfassten pro Situation je Teilfrage durchschnittlich 25,29 Worte (SD = 16,45) ohne statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen (s. Tab. 4). Deskriptiv zeigte sich ein mittlerer Effekt, dass bei videobasierter Reflexion Schlussfolgerungen etwas ausführlicher beschrieben wurden (M= 35,88 Worte, SD = 26,13 vs. oV: M= 24,18 Worte, SD = 14,17), t (15,76) = −1,29, p = 0,21, d = −0,55.

Tab. 4 Deskriptive Statistiken und Welch-t-Test Statistiken für mittlere Wortanzahlen pro Situation und Leitfrage

5.2.1 Umsetzung der Instruktion

Die Prüfung der Umsetzung der Instruktion ergab, dass nonverbale Merkmale insgesamt selten (mV: 28,1 %, vs. oV: 6,2 %), 𝜒2 (1, N = 64) = 3,95, p = 0,047, w = 0,29, und das Auswahlkriterium der Irritation im eigenen Lehrhandeln insgesamt in über der Hälfte der Situationen (54,7 %) genannt wurden. In protokollbasierten Reflexionen wurde die Orientierung an Irritationen signifikant häufiger genannt (68,8 %, vs. mV: 40,6 %), 𝜒2 (1, N = 64) = 4,04, p = 0,04, w = 0,29 (Tab. 5).

Tab. 5 Deskriptive und Chi-Quadrat Statistiken für Gruppenvergleich der Merkmale der Umsetzung der Instruktion in den schriftlichen Reflexionen

5.2.2 Beschreibung (looking back on action)

Entsprechend der Annahmen waren Situationen aus allen Unterrichtsphasen Gegenstand der Reflexionen (H3a), 𝜒2 (3, N = 64) = 2,03, p = 0,57, w= 0,18. Situationen aus der Erarbeitungsphase wurden insgesamt am häufigsten betrachtet (mV: 50,0 % vs. oV: 62,5 %). Zwar ergaben sich in den Beschreibungen kleine deskriptive Unterschiede in Richtung der angenommenen Fokussierung der Lehrkraft und der Interaktion mit Schüler:innen sowie der Perspektive der Lehrkraft bei videobasierter Reflexion (H3b), die jedoch nicht statistisch signifikant waren, 𝜒2 (2, N = 64) = 2,36, p = 0,31, w= 0,19, bzw. 𝜒2 (1, N = 64) = 1,57, p = 0,21, w= 0,19 (deskriptive Statistiken s. Tab. 6).

Tab. 6 Deskriptive und Chi-Quadrat Statistiken für Gruppenvergleich Kodierung der Phase Beschreibung (looking back on action) der schriftlichen Reflexionen

5.2.3 Fokussierung (awareness of essential aspects)

Beide Gruppen begründeten die Situationsauswahl, entgegen der Erwartung (H4a), gleichermaßen am häufigsten kognitiv (oV: 68,8 %, mV: 62,5 %) und deutlich weniger affektiv (oV: 15,6 %, mV: 15,6 %) oder gemischt (oV: 15,6 %, mV: 21,9 %), 𝜒2 (2, N = 64) = 0,43, p = 0,81, w= 0,08.

Entsprechend der Annahmen (H4b) waren die reflektierenden Kognitionen in videobasierten Reflexionen häufiger konkret (56,3 % vs. oV: 28,1 %), 𝜒2 (1, N = 64) = 4,01, p = 0,04, w= 0,28, und bezogen sich häufiger unmittelbar auf die beschriebenen Handlungen (93,8 % vs. mV: 68,8 %), 𝜒2 (1, N = 64) = 5,03, p = 0,02, w = 0,32. Die Differenziertheit der benannten Emotionen (LEA) unterschied sich entgegen der Annahme (H4b) jedoch nicht zwischen den Gruppen, 𝜒2 (3, N = 64) = 2,49, p = 0,48, w = 0,20.

Entgegen der Erwartung (H4c) zeigten beide Gruppen eine klare Fokussierung auf sich als Lehrperson (Selbstreflexion) (oV: 81,3 % vs. mV: 84,4 %), 𝜒2 (1, N = 64) = 0, p = 1, w = 0,04. Widererwarten ergaben sich ebenfalls keine signifikanten Unterschiede im Hinblick auf die positive versus negative Valenz der reflektierten Situationen (H4d), 𝜒2 (3, N = 64) = 4,11, p = 0,25, w = 25. Insgesamt waren die Reflexionen beider Gruppen häufiger neutral oder ambivalent getönt (deskriptive Statistiken s. Tab. 7).

Tab. 7 Deskriptive und Chi-Quadrat Statistiken für Gruppenvergleich Kodierung der Phase Fokussierung (awareness of essential aspects) der schriftlichen Reflexionen

5.2.4 Schlussfolgerungen (creating alternative methods)

In videobasierten Reflexionen formulierten Teilnehmende insgesamt zwar deskriptiv häufiger konkrete Schlussfolgerungen (71,9 %, vs. oV: 53,1 %), die sich erwartungsgemäß deskriptiv auch vermehrt auf das eigene Handeln (H5) als Lehrkraft bezogen (62,5 % vs. oV: 40,6 %). Die Unterschiede waren zwar von mittlerer Größe jedoch nicht statistisch signifikant 𝜒2 (3, N = 64) = 6,31, p = 0,11, w = 0,31 (deskriptive Statistiken s. Tab. 8).

Tab. 8 Deskriptive und Chi-Quadrat-Statistiken für Gruppenvergleich Kodierung der Phase Schlussfolgerungen (creating alternative methods) der schriftlichen Reflexionen

6 Diskussion

6.1 Zusammenfassung der Ergebnisse

Ausgehend von dem Desiderat, evidenzbasierte Prinzipien für weniger betreuungsintensive strukturierte Reflexionsgelegenheiten unterrichtspraktischer Erfahrungen in der universitären Lehrkräftebildung zu konzipieren, wurden in der vorliegenden Studie zwei Gruppen von Lehramtsstudierenden während eines Unterrichtspraktikums untersucht. In einem quasi-experimentellen Design wurden protokollbasierte (oV) und videobasierte (mV) schriftliche Reflexionen des eigenen Unterrichts mit einem gemischt-methodischen Ansatz anhand von Selbsteinschätzungen und inhaltsanalytischen Kodierungen der Reflexionen verglichen.

Insgesamt zeigten sich vor allem deskriptive Unterschiede, wobei die fehlende statistische Signifikanz vor dem Hintergrund der kleinen Stichprobe und damit geringen Power einzuordnen ist (0,20 im Falle mittlerer Effekte der Selbsteinschätzungen, zwischen 0,50 und 0,67 im Falle mittlerer Effekte der Kodierungen der schriftlichen Reflexionen). Darüber hinaus lassen sich die eher geringen Unterschiede zwischen den Gruppen auch als Anlass verstehen, die übergreifende Bedeutung strukturierender Instruktionen für Unterrichtsreflexionen insgesamt zu bedenken (vgl. Kleinknecht und Gröschner S. 53) und darauf zu verweisen, dass sich sowohl protokoll- als auch videobasierte Reflexionen empfehlen (vgl. Kücholl und Lazarides 2021, S. 1003). Einige der deskriptiven Effekte weisen eine mittlere bis große Stärke in Richtung der Hypothesen auf, können jedoch aufgrund der fehlenden Signifikanz nur vorsichtig und beschränkt auf die untersuchte Stichprobe interpretiert werden.

Die Auswahl entscheidender Momente des eigenen Unterrichts wurde erwartungskonform von beiden Gruppen als kognitiv wenig belastend (H1a) und authentisch sowie repräsentativ für das eigene Handeln (H1b) eingeschätzt. Allerdings ergaben sich in der Stichprobe deskriptive Unterschiede von mittlerer Größe dahingehend, dass den Teilnehmenden videobasiert die Auswahl relevanter Momente leichter fiel, sie ihr Handeln in diesen Situationen jedoch als weniger authentisch einschätzten. Zwar ergab sich ein großer deskriptiver Effekt, dass videobasierte Reflexion subjektiv als besser geeignet zur Ableitung von Theorie-Praxis-Bezügen eingeschätzt wurde (H2). Dieser war widererwarten nicht statistisch signifikant und bedarf einer Replikation, um über die lokale Stichprobe hinaus interpretiert werden zu können. Für die Phase der Beschreibung ergaben sich erwartungskonforme, aber nur deskriptiv kleine bis mittlere Unterschiede. Alle Lehramtsstudierenden betrachteten ähnlich häufig unterschiedliche Unterrichtsphasen (H3a). In videobasierten Reflexionen thematisierten die Teilnehmenden deskriptiv häufiger sich selbst in Interaktion mit Schüler:innen und die eigene Perspektive, im Vergleich zur deskriptiv häufigeren Beschreibung der Perspektive der Schüler:innen bei protokollbasierter Reflexion (H3b). Für die Phase der Fokussierung zeigte sich widererwarten keine größere affektive Involviertheit (H4a). Erwartungskonform ergaben sich mittelgroße signifikante Effekte, dass die reflektierenden Kognitionen bei videobasierter Reflexion konkreter und differenzierter auf die beschriebenen Situationen bezogen wurden, die emotionale Differenziertheit unterschied sich jedoch nicht (H4b). In unerwarteter Weise stellten beide Gruppen in den Kognitionen die Selbstreflexion in den Vordergrund (H4c). Diese waren in videobasierten Reflexionen jedoch nicht, wie erwartet, häufiger von positiver Valenz (H4d). Schlussfolgerungen bei videobasierter Reflexion beschrieben erwartungsgemäß konkretere Alternativen, die sich vermehrt auf das eigene Handeln als Lehrkraft bezogen; diese Unterschiede waren jedoch durch deskriptiv (H5).

6.2 Subjektives Erleben der Reflexionsgelegenheit

Die vorgelegte Instruktion stellt, basierend auf dem ALACT-Model, einen Ansatz für eine selbständig in schulpraktischen Phasen durchführbare Reflexionsgelegenheit dar, die eine hohe Lernendenzentrierung (learner control) mit klarer Strukturierung (linear approach) kombiniert (Beauchamp 2015; Callens und Elen 2011). Die in der Literatur beschriebene kognitive Überforderung und Schwierigkeit, anhand von Videoaufnahmen Situationen für die Reflexion auszuwählen (Seidel 2022; Syring et al. 2015), zeigt sich in der vorliegenden Studie bei dieser Instruktion nicht. Es ergibt sich deskriptiv sogar, dass videobasiert die Auswahl von relevanten Momenten im eigenen Unterricht leichter fällt. Für die Erwartung, dass ein ganzheitlicher Blick auf nonverbales Verhalten die Studierenden bei der Auswahl leiten könnte (Gröschner 2007; Kosinár 2012), ergab sich keine empirische Unterstützung.

Die Überprüfung der Umsetzung der Instruktion erbrachte, dass Lehramtsstudierende protokollbasiert signifikant häufiger das vorgegebene Kriterium der Irritation im eigenen Lehrhandeln (Ludwig 2003) angaben, im Kontrast zur videobasierten Reflexion jedoch kaum auf nonverbale Aspekte eingingen. Gleichzeitig ergab sich für die videobasierte Reflexion in dieser Stichprobe deskriptiv, dass die Teilnehmenden ihr Handeln in den Situationen als weniger authentisch einschätzten. Zusammen genommen gibt es in beiden Gruppen Hinweise, dass eher herausfordernde Situationen gewählt wurden. Dabei bleibt offen, inwiefern dies eher eine diffuse Einschätzung darstellt, nicht explizit an Irritation in den Situationen konkretisiert werden konnte. Protokollbasiert konnte die Instruktion, auf nonverbale Aspekte zu achten. kaum umgesetzt werden. Dies kann als Hinweis gedeutet werden kann, dass Noviz:innen durch die starke kognitive Belastung durch das Unterrichten schwer in der Lage sind, in-action nonverbale Aspekte (ohne Videomaterial) bewusst wahrzunehmen und dabei Irritationen zu bemerken. Videobasiert könnte also die Wahrnehmung von unauthentischem (nonverbalen) Verhalten im Sinne einer Irritation eher zugänglich gemacht werden.

Diese Befunde stehen im Gegensatz zu der von Kücholl und Lazarides (vgl. 2021, S. 1003 f.) formulierten Implikation, Noviz:innen zunächst positive Beispielsituationen reflektieren zu lassen. Die in der vorliegenden Studie untersuchte Instruktion wäre also im Hinblick auf die Fokussierung positiver Situationen zu überarbeiten, um in weiteren Studien die Wahl von positiven vs. irritierenden Situationen bei video- vs. protokollbasierter Reflexion zu untersuchen.

Deskriptiv zeigt sich bei videobasierter Reflexion in dieser Stichprobe, dass das eigene Lehrhandeln in den gewählten Situationen einerseits als weniger authentisch, andererseits die Möglichkeit, Theorie-Praxis-Bezüge für die eigene professionelle Entwicklung abzuleiten, als höher eingeschätzt wird. Dies wirft die Frage auf, inwiefern das Lernen über die eigene Rolle als Lehrkraft mit der Reflexion von den Momenten, in denen das eigene Handeln als weniger authentisch, bzw. irritierend erlebt wird, in Verbindung steht (Kelchtermans 2009; Korthagen und Vasalos 2005; Ludwig 2003). Dieser deskriptive Befund verweist ebenfalls auf die Notwendigkeit, Auswahlprozesse von Situationen zur Reflexion bei hoher Lernendenzentrierung genauer zu untersuchen.

Zusammengenommen können die geringen Unterschiede in der Wahrnehmung der Reflexionsgelegenheit vor allem als Hinweis auf die Bedeutung strukturierender Instruktionen für Unterrichtsreflexionen überhaupt verstanden werden (Kleinknecht und Gröschner 2016).

6.3 Selbständige strukturierte Reflexion anhand des ALACT-Modells

Die eindeutigsten Befunde ergeben sich für die Formulierung konkreterer Gedanken und der stärkeren Fokussierung auf den Moment des Handelns (awareness of essential aspects) bei der videobasierten Reflexion. Der Aufforderungscharakter videobasierter Reflexion scheint auch bei standardisierter Instruktion, wie in der vorliegenden Studie, eine höhere Differenziertheit (Krammer 2014) und stärkere Vergegenwärtigung der Situation nahezulegen (Seidel 2022). Somit kann videobasierte Reflexion bei entsprechender Instruktion auch im Selbststudium die Vernachlässigung fokussierter Beschreibung der erlebten Situationen bei Noviz:innen kompensieren (Brouwer 2014; Gröschner 2019, 2021; Wyss 2013).

Deskriptiv steht bei den videobasierten Reflexionen dieser Studie häufiger die Lehrkraft in Interaktion mit Schüler:innen, sowie die eigene Perspektive, d. h. die Teilnehmenden selbst, im Zentrum von Beschreibungen und Reflexionen. Gleichzeitig wird die Perspektive der Schüler:innen bei protokollbasierter Reflexion deskriptiv eher fokussiert. Wenngleich bei der videobasierten Reflexion ein klarer durchgängiger Fokus auf das Erleben der handelnden Lehrkraft erwartet wurde (Kleinknecht und Poschinski 2014), lassen sich die nur deskriptiven Befunde auch so verstehen, dass zwar videobasierte Reflexion das Nachdenken über Interaktionen zwischen Lehrkraft und Schüler:innen unterstützen könnte (Blomberg et al. 2014; Gröschner 2007; Kleinknecht und Schneider 2013), es aber auch hier vielmehr Ähnlichkeiten bezüglich der Aufforderung zur Selbstreflexion zu geben scheint. Dies legt vor allem der Befund nahe, dass sowohl protokoll- als auch videobasiert die Fokussierung der Lehrkraft (Selbstreflexion) im Vordergrund steht. Mit Bezug zu Untersuchungen zur Perspektivübernahme, als sozial-emotionale Facette professioneller Lehrkraftkompetenzen (Knigge et al. 2019; Krauskopf und Knigge 2017, 2019), stellt sich jedoch die Frage, inwiefern auch eine Integration von Selbstreflexion und Perspektivübernahme als Ziel professioneller Reflexion zukünftig genauer zu betrachten wäre.

Die affektive Komponente der Reflexionen ist in der vorliegenden Studie wenig ausgeprägt. Entgegen der Annahmen (Beauchamp 2015; Korthagen und Vasalos 2005; Syring et al. 2015) waren die videobasierten Reflexionen weder häufiger affektiv begründet noch positiver getönt. Die Differenziertheit der reflexionsbegleitenden Emotionen ist auf einem erwartbaren mittleren Niveau (Krauskopf und Knigge 2017; Subic-Wrana et al. 2001), unterscheidet sich aber nicht zwischen video- und protokollbasierter Reflexion. Angesichts der noch wenig ausgeprägten Erforschung affektiven Erlebens in der Lehrkräftebildung (Syring et al. 2015) bleibt zu berücksichtigen, inwiefern die Beschreibung affektiver Zustände überhaupt den erwarteten Anforderungen von Studierenden im Rahmen universitärer Reflexionsgelegenheiten entspricht. Es erscheint generell kontextkonform, sich auf die Reflexion kognitiver Aspekte zu fokussieren. Daher bleibt zu prüfen, inwiefern es spezifischerer Instruktionen bedarf, um die Reflexion affektiver Aspekte der Unterrichtspraxis von Noviz:innen zu fördern.

Schlussfolgerungen wurden in videobasierten Reflexionen deskriptiv konkreter formuliert, was im Einklang mit den signifikant konkreter formulierten Gedanken in den Reflexionen ist und insofern der Erwartung entspricht, dass bei der videobasierten Reflexion differenzierte Beschreibung auch mit zielführenden Schlussfolgerungen zusammenhängen (Brouwer 2014; Gröschner 2019, 2021; Wyss 2013).

Ähnlich wie bei den Selbsteinschätzungen sind die Ergebnismuster für die Kodierung der schriftlichen Reflexionen insgesamt gering ausgeprägt. Video- oder protokollbasierte Reflexion unterrichtspraktischer Erfahrungen von Noviz:innen weisen in dieser Studie vor allem viele Ähnlichkeiten auf. Mit Bezug zu der Erkenntnis, dass Noviz:innen sich durch geringeres Professionswissen und fehlende Erfahrung in der Anwendung ihres vorhandenen Wissens auszeichnen (Blomberg et al. 2014; Seidel 2022), kann dies auch im Sinne eines überlagernden Top-Down-Effekts verstanden werden. Es ist vorstellbar, dass bei Stichproben von Lehramtsstudierenden insgesamt eine hohe mittlere (kognitive) Belastung bezüglich der Anforderung systematischer Reflexion vorliegt (Syring et al. 2015). Dies wäre mit Rückgriff auf die Frage der Begleitung durch Dozierende und der Rolle zunehmenden Wissens, sowie wachsender praktischer Erfahrung, in anschließenden Studien zu klären.

6.4 Grenzen der Studie und Ausblick

Methodisch ist vor allem die kleine Stichprobe kritisch zu bemerken, so dass die dennoch gefundenen deskriptiven Effekte nur lokal auf die vorliegende Stichprobe von Studierenden beschränkt zu sehen sind. Das Kodiermanual konnte im Laufe der vorliegenden Studie bereits überarbeitet und optimiert werden. Die vermerkten Grenzfälle (s. Anhang A) verweisen allerdings auf weiteren Optimierungsbedarf und sollten in künftiger Forschung geklärt und zur weiteren Validierung auch auf anderes Datenmaterial schriftlicher Reflexionen angewendet werden. Sie stellen eher Ansatzpunkte für fokussierte Betrachtungen in Folgestudien dar. Auch der Fokus auf ein geisteswissenschaftliches Fach (LER) lässt offen, inwiefern die hier formulierten Leitfragen auch im Kontext von MINT-Fächern anwendbar wären, bzw. sich ein ähnliches Befundmuster einstellen würde. Allerdings liegt der Fokus der aktuellen Studie auf der Entwicklung von Reflexionsfähigkeit als Teil professioneller Kompetenzen von Lehrkräften (Seidel 2022). Daher steht weniger die Anbindung konkreter fachwissenschaftlicher Inhalte im Fokus, sondern vielmehr die Frage, inwiefern Studierende Theorie und Praxis fachübergreifend überhaupt als aufeinander beziehbar erleben (Gröschner 2019).

Eine weitere Einschränkung bezieht sich auf die quasi-experimentelle Zuordnung, bei der sich zwar zeigt, dass Vorerfahrungen ähnlich verteilt waren, es aber Unterschiede im Fachsemester gab. Es ist auch möglich, dass zumindest das theoretische Vorwissen in der Gruppe der protokollbasierten Reflexion höher war oder auch, dass sich in dieser Gruppe Studierende häuften, die aus unbekannten, aber möglicherweise relevanten Gründen, dieses unterrichtspraktische Seminar erst später im Studienverlauf absolvierten. Ein weiterer Aspekt im Hinblick auf die praktischen Rahmenbedingungen, Unterricht in verschiedenen Schulen und Klassen, sollte in weiterführenden Studien durch vergleichbare Bedingungen z. B. in Praktikumsschulen kontrolliert werden.

Im Hinblick auf die Umsetzung der Instruktion ergeben sich zwar keine Hinweise auf fehlende Adhärenz. Es liegen allerdings keine Angaben vor, wie intensiv sich die Teilnehmenden bei videobasierter Reflexion mit den Videoaufnahmen auseinandergesetzt haben. Die größere Konkretheit der videobasierten Reflexionen deutet zwar auf die Arbeit am Video hin, die geringen Unterschiede zwischen den Gruppen insgesamt könnten aber auch auf eine eher oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Videomaterial hinweisen. In einem kontrollierten Setting würde evtl. die Kontrolle durch die Lernenden sinken, was aber in einer weiteren Studie systematisch zu prüfen wäre.

Bei der geringen, expliziten Fokussierung nonverbaler Elemente ist zu beachten, dass eine solche Instruktion für den universitären Kontext ungewohnt sein könnte. Inwiefern sich die Natur, der zur Auswahl führenden Irritationen, zwischen video- und protokollbasierten Reflexionen evtl. qualitativ unterscheidet, kann aus dieser Studie nicht abgeleitet werden.

Die vorliegende Studie ist mit ihrem aufwändigen ökologisch validen Setting durch die kleine Stichprobe und das quasi-experimentelle Design im Hinblick auf generalisierbare Befunde eingeschränkt. Doch entsprechen die vorliegenden Befundmuster denen anderer und größerer Studien. Auch hier finden sich wiederholt nur geringe bis ausbleibende Unterschiede zwischen video- und protokollbasierter Reflexion (z. B. Kramer et al. 2017). Daraus lässt sich auch als praktische Implikation für die universitäre Lehrkräftebildung ableiten, dass die Verwendung von Videoaufnahmen zwar die Einübung konkreter Beschreibung und Fokussierung eher befördern kann, die Begleitung durch klar strukturierte Abläufe, z. B. anhand des ALACT-Modells, jedoch auch protokollbasierte Reflexionen in ähnlicher Weise anleiten. Die selbständige, videobasierte Reflexion kann die gemeinsame Reflexion mit Peers oder Dozierenden sowie universitäre Reflexionsgelegenheiten unterrichtspraktischer Phasen fokussiert ergänzen.