Nils Berkemeyer vertritt in der Replik „Über die Schwierigkeit, das Leistungsprinzip im Schulsystem gerechtigkeitstheoretisch zu begründen“ (Berkemeyer 2020 in diesem Heft; im Folgenden abgekürzt als SLS) die Position, dass ein Großteil der im Artikel „Leistung als Kriterium von Bildungsgerechtigkeit“ (Nerowski 2018; im Folgenden: LKB) angeführten Argumente die Probleme, die sie zu bearbeiten vorgeben, nicht oder nur scheinbar bearbeiten. Die in ungewöhnlich harschem Ton vorgebrachte Kritik erweist sich bei näherer Betrachtung, wie im Folgenden anhand ausgewählter Passagen gezeigt wird, in ihrer Argumentation als ungenau und oberflächlich.

An einigen Stellen gibt Berkemeyer die in LKB angeführte Argumentation nicht angemessen wieder:

  1. 1.

    Die Annahme, dass in LKB die Positionen vertreten würden, dass das Leistungsprinzip das einzige Prinzip schulischer Verteilungsgerechtigkeit (SLS, Abs. 2; SLS, Abs. 3) oder sogar das einzige Prinzip schulischer Gerechtigkeit (SLS, Abs. 2) sei, ist falsch. Bereits in der Einleitung wird verdeutlicht, dass die Frage nach der Gerechtigkeit von Schule eine Präzisierung erfordert, für welchen Bereich von ‚Schule‘ das jeweilige Prinzip Gültigkeit beansprucht (LKB, S. 443). Die Gültigkeit des Gerechtigkeitskriteriums ‚Leistung‘ wird in LKB auf die Frage nach der Verteilung schulischer Zertifikate jenseits des Bildungsminimums begrenzt (LKB, S. 446 ff.; vgl. S. 451 u. 461). Für andere Aspekte von ‚Schule‘ mögen andere Prinzipien Gültigkeit beanspruchen können.

  2. 2.

    Berkemeyers Annahme, dass in LKB die Position vertreten werde, dass die Vergütung von Leistungen im Schulsystem deswegen gerecht wäre, „weil es dort schon passiere“ (SLS, Abs. 4.1; vgl. SLS, Abs. 3), ist falsch. Sowohl Berkemeyers Vorwurf des „Sein-Sollensfehler“ (SLS, Abs. 3) als auch der Vorwurf der institutionellen Rechtfertigung (SLS Abs. 4.2) laufen ins Leere, da in LKB das normative Verdienst- bzw. Leistungsprinzip nicht aus der Deskription des schulischen Zertifizierungsgeschehens abgeleitet (vgl. Tenorth i. d. H., Abs. 1), sondern explizit vorinstitutionell, also „unabhängig von institutionellen Regelungen“ (LKB, S. 450) gerechtfertigt wird (vgl. dazu auch die Unterscheidung von desert und entitlement bei Feldman und Skow 2015, Abs. 1).

  3. 3.

    Dem in LKB entfalteten Verdienstprinzip zu Folge ist der Grund für die Vergabe schulischer Zertifikate an Schülerinnen und Schülern nicht, wie Berkemeyer annimmt, dass diese „besonders intelligent“ (SLS, Abs. 4.1) wären und auch nicht, dass sie sich „in Bezug auf ihre Vorteile“ (SLS, Abs. 4.3) verhielten. Der Grund besteht darin, dass sie durch ihr Handeln bzw. Lernen einen Beitrag zur Erreichung der Ziele des Zweckverbandes Schule leisten (LKB, S. 450 f.). Diese Ziele sind in Unterrichtsgesetzen, Bildungsstandards und Lehrplänen dargelegt. Die Tatsache, dass diese Ziele in der Schulpraxis aktiv verfolgt werden, macht Berkemeyers Position, wonach die Ziele „quasi außerhalb der Organisation“ (SLS, Abs. 4.3) lägen, wenig plausibel.

An anderen Stellen scheint Berkemeyer Referenzen nicht angemessen zu rezipieren:

  1. 4.

    Unter vermeintlicher Berufung auf Miller (2008) postuliert Berkemeyer (SLS, Abs. 4.3) die Erfüllung des Äquivalenzpostulats („gleiche Vergütung bei gleicher Leistung“) als Voraussetzung für die Gültigkeit des Verdienstprinzips. Da das Äquivalenzpostulat in der Schule nicht erfüllt sei, könne das Verdienstprinzip in der Schule keine Gültigkeit beanspruchen. Mit Miller ist das Verhältnis von Verdienstprinzip und Äquivalenzpostulat jedoch genau anders herum: Nur unter der Voraussetzung, dass das Verdienstprinzip gilt, kann sinnvoll über die Erfüllung des Äquivalenzpostulats gesprochen werden (ebd., S. 188). Die Erfüllung des Äquivalenzpostulats sieht Miller als eine Anforderung an Verdiensturteile unter der Voraussetzung der Gültigkeit des Verdienstprinzips, wobei er das Postulat nicht wie Berkemeyer als „hartes Kriterium“ (SLS, Abs. 4.3) versteht, sondern sich der Schwierigkeiten der vollen Entsprechung des Äquivalenzpostulats insbesondere bei kardinalen Verdiensturteilen durchaus bewusst ist (ebd., S. 199 ff.).

  2. 5.

    Berkemeyer weist das in LKB unter Berufung auf Strawson (1999) vorgebrachte Argument zurück, dass die vollumfängliche Verantwortung für eine Handlung unmöglich sei, da in dem Artikel das meta-ethische Problem von Determinismus und Indeterminismus verhandelt würde und daraus „keinerlei Auskunft“ (SLS Abs. 5) für das normativ-ethische Problem der Verantwortungszuschreibung möglich wäre. Abgesehen von dem Umstand, dass die Frage nach der Handlungsfreiheit des Menschen auch bei dem von Berkemeyer angeführten Frankena (2017, S. 68 ff.) für die Frage nach der Zuschreibung von Verantwortung eine grundlegende Rolle spielt, ist festzuhalten, dass das metaethische Problem Strawson lediglich als thematische Einbettung dient: „It makes no difference whether determinism is true or false. We cannot be truly or ultimately morally responsible for our actions in either case“ (Strawson 1999, S. 114 f.; Herv. CN). In dem Artikel argumentiert Strawson, dass Personen in keiner metaethischen Position für ihre Handlungen vollumfänglich verantwortlich sein können.

Wieder an anderen Stellen überzeugen die von Berkemeyer angeführte Kritik bzw. seine Gegenpositionen nicht:

  1. 6.

    Für den Diskurs um Bildungsgerechtigkeit bringt Berkemeyer die Perspektive auf die „Schule als Institution“ (SLS, Abs. 7) gegen die Perspektive auf die individuellen Schülerinnen und Schüler bzw. als Alternative zu den „Lernsubjekten“ (SLS Abs. 7) ins Spiel. Eine gerechtigkeitstheoretische Perspektive wird damit jedoch verfehlt: „Justice has to do with how individual people are treated“ (Miller 2017, Abs. 1.1; vgl. Walzer 1994, S. 30). Selbst bei Rawls kommt Institutionen als „öffentliches Regelsystem“ (Rawls 1979, S. 74) oder als „soziale Verfahrensweisen“ (Rawls 1979, S. 75) die Rolle zu, die Ansprüche von und Erwartungen an Individuen zu regulieren (Rawls 1979, S. 76; vgl. Miller 2008, S. 185). Ein Ansatz, der eine Perspektive auf die Schule als ‚Institution‘ gegen die Perspektive auf die Schülerinnen und Schüler in Stellung bringt, kann kein gerechtigkeitstheoretischer Ansatz sein.

  2. 7.

    Berkemeyer insistiert, dass Bildungsresultate „nicht nur von den Leistungen der Schülerinnen und Schüler“ (SLS, Abs. 3), sondern auch „vom Schulsystem“ (SLS, Abs. 3) abhingen bzw. dass im Schulsystem „sozialer Status und nicht Leistung [die] Verteilung [von Zertifikaten] zumindest moderiert“ (SLS, Abs. 4), weswegen die Frage nach der Verantwortung der Schülerinnen und Schüler bloße „Zurechnungsspekulation“ (SLS, Abs. 5) sei. Diese Persistenz überrascht insbesondere angesichts der Tatsache, dass die darauf bezogene Argumentation in LKB (S. 452–457) ignoriert wird. Es wird dort befunden, dass „die individuelle Verantwortung für den Bildungserfolg […] weder gemessen […], noch auf der Basis von Korrelationen zwischen Kompetenzpunkten und sozioökonomischen Indizes adäquat erörtert“ (LKB, S. 454) werden kann (dazu auch Brinkmann 2018, S. 146). Bedeutsam erscheint dabei, dass die Frage nach der Verantwortungszuschreibung auf einer handlungstheoretischen Ebene durchaus handhabbar und fruchtbar erscheint (Heidbrink 2017) und die von Berkemeyer angesprochenen Probleme durch die statistizistische Interpretation von ‚Verantwortung‘ überhaupt erst entstehen: Wenn Schülerinnen und Schüler ihre Prüfungsarbeiten selbst erbracht haben, spricht einiges dafür, dass sie für diese Arbeiten auch die Verantwortung tragen. Eine Gesellschaftsordnung, in der die Leistungen von Personen – sei es in der Schule, im Sport oder in der Wissenschaft – erst hinsichtlich ihrer statistisch feststellbaren „Einflussfaktoren“ befragt und dann zu bestimmten Anteilen den Personen selbst und zu weiteren Anteilen deren Elternhaus und den Organisationen, in denen sie agieren, zugeschrieben werden, ist nicht gerecht, sondern absurd. Damit weist der in LKB vertretenen Ansatz durchaus das von Berkemeyer angemahnte „sozialkritische Potential“ (SLS, Abs. 2) auf; aber eben nicht nur der Schulpraxis gegenüber, sondern auch gegenüber einer vorschnellen Interpretation schulstatistischer Daten mittels gerechtigkeitstheoretischer Konzepte.

Folgt man Wittgenstein, so ist die Aufgabe der Philosophie die „logische Klärung der Gedanken“: „Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen“ (Wittgenstein 1963, § 4.112). Eine Beherzigung dieser Maxime ist vor allem im normativ und mancherorts auch ideologisch aufgeladenen Diskurs um Schule, Leistung und Gerechtigkeit ratsam. Selbst wenn dieses umkämpfte Feld „innerhalb der Pädagogik neu behandelt“ (Tenorth 2020 i. d. H., Einleitung) werden sollte, steht ein Erkenntnisgewinn nur zu erwarten, wenn die Argumente sachlich, nüchtern und präzise vorgebracht werden. Berkemeyers Replik wird diesem Anspruch nicht gerecht. Sie weist zu viele Ungenauigkeiten, Oberflächlichkeiten und Verzerrungen auf, um die Debatte um Schule, Leistung und Gerechtigkeit produktiv weiterführen zu können. Einen Mangel an sprachlicher und argumentativer Genauigkeit kann rhetorische Vehemenz nicht kompensieren.