1 Einleitung

Die Höhe der Wahlbeteiligung gilt als wichtiger Indikator für den Zustand einer Demokratie (Dahl 1998; Franklin 1999). Ferner gibt es Hinweise darauf, dass die politischen Interessen von Gruppen mit niedriger Wahlbeteiligung in der Gesetzgebung unzureichend berücksichtigt werden (Elsässer et al. 2017; Schäfer 2015). Bei Kommunalwahlen ist die Beteiligung besonders niedrig. In der Literatur wird dies häufig auf ihre Eigenschaft als nationale Nebenwahl zurückgeführt (z. B. Cuter 2008; Reif und Schmitt 1980; Webber et al. 2014). Die Nebenwahlthese ist der dominierende Erklärungsansatz zu Wahlverhalten und Wahlbeteiligung bei subnationalen Wahlen (Marsh und Mikhaylov 2008), zu denen auch Kommunalwahlen zählen. Sie besagt, dass bei subnationalen ebenso wie bei supranationalen Wahlen weniger auf dem Spiel steht als bei nationalen Hauptwahlen, wie z. B. Bundestagswahlen. Hieraus resultiert ein vermindertes Interesse der Wähler*innen. Die kommunale Wahlbeteiligung sollte daher niedriger sein als bei nationalen Hauptwahlen.

Tatsächlich weisen Studien zu unterschiedlichen Ländern niedrigere Wahlbeteiligungen bei Kommunalwahlen als bei nationalen Hauptwahlen nach (z. B. Gendźwiłł und Kjaer 2020; Górecki und Gendźwiłł 2021; Holtkamp und Garske 2021; Vetter 2014). Diese Beteiligungsdifferenz variiert jedoch stark über Kommunen und Länder hinweg. In dänischen Kommunen liegt der Unterschied zwischen nationaler und lokaler Wahlbeteiligung bei rund 13, in Island hingegen bei nur knapp sechs Prozentpunkten. In Rumänien, Polen und Portugal ist die kommunale Wahlbeteiligung in sehr vielen Kommunen sogar höher als die bei nationalen Wahlen (Gendźwiłł und Kjaer 2020, S. 6–9). Dies deutet darauf hin, dass verschiedene Kontextbedingungen die Beteiligung an Kommunalwahlen beeinflussen könnten. So zeigen jüngere Arbeiten einen negativen Zusammenhang zwischen der Gemeindegröße einer Kommune auf der einen Seite und der kommunalen Wahlbeteiligung auf der anderen Seite auf (z. B. Cancela und Geys 2016; Gendźwiłł und Kjaer 2020; McDonnell 2020). Ferner gibt es auch bei Kommunalwahlen Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Wahlsystem und der Wahlbeteiligung. So weisen Ladner und Milner (1999) eine höhere Wahlbeteiligung in Kommunen mit Verhältniswahlsystem nach. In den USA werden zudem Unterschiede bei der kommunalen Wahlbeteiligung auch auf die Einführung des Kumulierens von Stimmen zurückgeführt (Bowler et al. 2001). Nyhuis (2014) schreibt den Rückgang der kommunalen Wahlbeteiligung in hessischen Großstädten u. a. der Einführung von freien Listen zu. Schäfer und Schoen (2013) stellen in ihrer Analyse zu Kommunalwahlen in Bremen und Hamburg eine zunehmende Selektivität der Wahlbeteiligung aufgrund der Einführung von Kumulieren und Panaschieren fest. Holtkamp und Garske (2021) konnten hingegen für Gemeinderatswahlen in Deutschland keine Auswirkung des Wahlsystems auf die kommunale Wahlbeteiligung nachweisen. Überdies sind lokale Parteiensysteme weniger nationalisiert und enthalten vielfach lokale Listen (e.g. Dodeigne et al. 2021; Kjaer und Elklit 2010), wodurch weitere Variation zwischen Kommunen erklärt werden könnte.

In Anbetracht dieser Faktoren argumentieren Kjær und Steyvers (2019), dass die Fokussierung der Nebenwahlperspektive auf nationale Einflussfaktoren zu einer Unterbewertung lokaler Heterogenität führt. Diese sollte stärker in den Blick genommen werden. Hier setzt der vorliegende Beitrag an. So wurde zum einen der mögliche Einfluss von Kontextfaktoren auf die Höhe der kommunalen Wahlbeteiligung in Deutschland bislang kaum systematisch über mehrere Bundesländer untersucht. Vorliegende Studien sind dementsprechend in der Regel Fallstudien zu einzelnen oder mehreren Städten (u. a. Schmitt-Beck et al. 2008; Schmitt-Beck und Mackenrodt 2010). Zum anderen basieren die meisten Studien ausschließlich auf Aggregatdaten (Kjær und Steyvers 2019, S. 408; Holtkamp und Garske 2021; Vetter 2014). Die vorliegende Arbeit versucht diese Forschungslücken zu schließen, indem sie den Einfluss lokaler Kontextfaktoren auf die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen untersucht. Konkret stellen wir die These auf, dass lokale Kontextfaktoren einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung von Beteiligungsunterschieden zwischen Kommunalwahlen leisten. Zur Überprüfung dieser These werden sowohl Aggregat- als auch Individualdaten der Kommunalwahlen 2014 in Deutschland herangezogen. Aggregatdaten erlauben dabei die Untersuchung kommunaler Wahlbeteiligung auf Basis offizieller Wahlstatistiken und somit ohne Verzerrungen durch individuelle Selbstauskünfte, wie z. B. „Overreporting“ (Ranney 1962). Die Aggregatdaten ermöglichen eine Analyse des Einflusses der Gemeindegröße, des Wahlsystems sowie des lokalen Parteiensystems auf die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen 2014. Mithilfe eines zweiten Untersuchungsschritts auf Individualebene begegnen wir anschließend der Gefahr eines ökologischen Fehlschlusses. Die Analyse von Individualdaten ermöglicht zudem eine Überprüfung der Nebenwahlthese sowie die Kontrolle von Drittvariablen, wie z. B. individuellen demographischen Eigenschaften und Einstellungen.

Die Ergebnisse zeigen, dass Wahlsysteme freier Listen einen negativen Einfluss auf die Wahlbeteiligung haben.Footnote 1 Dieser Befund ist in Einklang mit der Literatur zu den Auswirkungen von personalisierten Wahlsystemen bei nationalen Hauptwahlen (Söderlund 2017). Die Erwartung, dass die kommunale Wahlbeteiligung mit steigender Gemeindegröße abnimmt, kann hingegen nur mit Einschränkung bestätigt werden. Auch kann ein Einfluss des lokalen Parteiensystems nur unter Vorbehalt nachgewiesen werden. Gemeinden mit nationalisiertem Parteiensystem genießen zwar eine höhere Wahlbeteiligung, aber der Effekt ist nur von geringem Umfang und kann lediglich auf der Aggregatdatenebene geschätzt werden. In Einklang mit der Nebenwahlthese (Reif und Schmitt 1980) zeigt sich zudem, dass die Wahrscheinlichkeit der individuellen Wahlteilnahme mit der wahrgenommenen Bedeutung der Kommunalwahlen steigt.

2 Kommunale Wahlbeteiligung: Bisherige Befunde, theoretische Erwartungen und Hypothesen

Die Analyse der Wahlbeteiligung stellt neben der Parteiwahl das zentrale Forschungsfeld der empirischen Wahlforschung dar. Auch wenn der*die Nichtwähler*in ein immer noch „unbekanntes Wesen“ (Althoff 2020) sein mag, liegen mit den mikro- (u. a. Lazarsfeld et al. 1944) und makrosoziologischen Ansätzen (u. a. Lipset und Rokkan 1967), dem sozialpsychologischen Modell (u. a. Campbell et al. 1954) sowie Rational-Choice-Modellen in der Tradition von Downs (1968) etablierte Konzepte und Theorien zur Analyse von Wahlbeteiligung vor (Cabarello 2014). Empirische Studien zur Erklärung der Wahlteilnahme zielen sowohl auf soziodemographische Merkmale als auch auf politische Einstellungen als mögliche Erklärungsansätze ab. Zum einen steigt mit zunehmendem Bildungsgrad (u. a. Sondheimer und Green 2010) und Alter (u. a. Konzelmann et al. 2012) die Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme. Zum anderen weisen Wähler*innen im Vergleich zu Nichtwähler*innen tendenziell eine stärkere Parteiidentifikation (u. a. Stövsand und Roßteutscher 2019) sowie eine Verinnerlichung der Wahlnorm (u. a. Goerres 2010) auf. Weitere Studien nehmen den Einfluss von institutionellen Rahmenbedingungen, wie z. B. Wahl- und Parteiensysteme, in den Blick (siehe u. a. Pardos-Prado et al. 2014; Grofman und Selb 2010). Zunächst weisen Wahlen, die Verhältniswahlsysteme nutzen, im Vergleich zu Wahlen mit Mehrheitswahlsystemen tendenziell eine höhere Wahlbeteiligung auf (Ladner und Milner 1999). Weitere Studien legen einen Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung und der Anzahl an Parteien nahe (u. a. Grofman und Selb 2010). Ebenfalls wichtige Einflussfaktoren sind eine gesetzliche Wahlpflicht (u. a. Martinez i Coma 2016) sowie Vorschriften zur Registrierung der Wähler*innen (u. a. Cancela und Geys 2016).

Im Vergleich zu nationalen Wahlen ist die Forschung zur Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen bisher deutlich weniger umfassend und detailliert. Vorliegende Studien sind zum großen Teil Fallstudien zu Kommunalwahlen in einzelnen oder mehreren Städten (u. a. Schmitt-Beck et al. 2008; Schmitt-Beck und Mackenrodt 2010) oder basieren ausschließlich auf Aggregatdaten (Kjær und Steyvers 2019, S. 407–409; Holtkamp und Garske 2021). Bei der Analyse der kommunalen Wahlbeteiligung ist es jedoch essentiell, neben politischen Variablen auf der Individualebene die unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, unter denen Kommunalwahlen stattfinden. Nach Oliver (2012, S. 12–52) beeinflussen drei zentrale Kategorien die kommunale Politik: Bevölkerungsgröße, Kompetenzbereich und (un)gleiche Ressourcenverteilung. Mit zunehmender Bevölkerungsgröße ist ein größeres Spektrum an politischen Themen verbunden. Darüber hinaus nimmt die soziale Heterogenität der Gesellschaft zu; die Dichte der persönlichen Verflechtungen nimmt hingegen ab. In Demokratien mit einem größeren Kompetenzbereich sind Wahlen eher ideologischer Natur und werden zum Austragungsort einer Vielzahl von Konflikten. In Demokratien mit einem kleineren Zuständigkeitsbereich hingegen haben Wahlen eher einen verwaltungstechnischen Charakter. Zuletzt unterscheiden sich Demokratien, indem Ausmaß, indem Kosten und Ressourcen ungleich auf die Bürger*innen verteilt sind. Je ungleicher die Ressourcenverteilung, desto ausgeprägter ist der Einfluss von spezifischen Interessengruppen. Während diese Überlegungen darauf hindeuten, dass die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen unter dem Einfluss lokaler Kontextbedingungen zustande kommt, ergeben sich daraus noch keine überprüfbaren Erwartungen. In Anlehnung an theoretische Vorarbeiten von Kjær und Steyvers (2019) konkretisieren wir daher im Folgenden unsere Erwartungen zu den Einflüssen der Gemeindegröße und der lokalen Wahl- und Parteiensysteme auf die kommunale Wahlbeteiligung.

Unter dem Schlagwort „Size and Democracy“ wird in der empirischen Wahlforschung der Einfluss der Bevölkerungsgröße auf die Wahlbeteiligung diskutiert. Allgemein wird ein negativer Zusammenhang zwischen Bevölkerungsgröße und der Höhe der Wahlbeteiligung erwartet. Zum einen sinkt mit steigender Bevölkerungsgröße der Einfluss der eigenen Stimme auf das Wahlergebnis (u. a. Geys 2006, S. 642), zum anderen ist der höhere Grad an Anonymität in Großstädten mit einem geringeren Grad an sozialem Druck verbunden, an Wahlen teilzunehmen (u. a. Cancela und Geys 2016, S. 268). Bisherige Studien stützen diese Erwartungen. Cancela und Geys (2016) können in ihrer Metaanalyse von 83 Studien einen negativen Effekt der Bevölkerungsgröße eines Landes auf die Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen nachweisen.

Die Gemeindegröße ist auch ein wichtiger Faktor in lokalen Demokratien (Holtkamp und Garske 2021; Pollex et al. 2021; Górecki und Gendźwiłł 2021). In der Literatur werden vier Argumente für einen möglichen negativen Zusammenhang von Gemeindegröße und kommunaler Wahlbeteiligung genannt. Erstens nimmt mit steigender Gemeindegröße die persönliche Distanz zur eigenen Nachbarschaft zu (Fischer 1982) und damit die Rekrutierungsfunktion des sozialen Umfeldes ab (Oliver 2000; Ross und Levine 2001). Hingegen stammen in kleinen Gemeinden die lokalen Kandidierenden mit einer größeren Wahrscheinlichkeit aus dem eigenen privaten Umfeld und sind möglicherweise sogar Nachbarn oder Bekannte aus dem örtlichen Sportverein. Hinzu kommt zweitens eine effektivere Mobilisierung von Wähler*innen durch die engere Beziehung zwischen Kandidierenden und Wählenden in kleineren Kommunen (Oliver 2012; Vetter 2008). Hier sind die Wähler*innen besser mit den Kandidierenden vertraut. Drittens scheinen Wähler*innen in kleinen Gemeinden sowohl politisch interessierter an lokaler Politik als auch besser informiert zu sein. Beide Faktoren sollten sich positiv auf die Mobilisierbarkeit auswirken (Denters et al. 2013; Oliver 2000, 2012; Oliver und Ha 2007). Und viertens ist eine höhere Wahlbeteiligung in kleineren Gemeinden auch deshalb zu erwarten, weil mit steigender Bevölkerungszahl die Wahrscheinlichkeit sinkt, die entscheidende Stimme abzugeben (Breux et al. 2017; Downs 1968). In größeren Gemeinden sollten Wähler*innen daher weniger bereit sein, an Kommunalwahlen teilzunehmen; die kommunale Wahlbeteiligung sollte dementsprechend niedriger ausfallen. Dies führt uns zu unserer ersten Hypothese:

H1

Je größer die Gemeinde, desto niedriger ist die kommunale Wahlbeteiligung.

Ein weiterer kontextueller Faktor, der die Wahlbeteiligung beeinflussen könnte, ist das Wahlsystem. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang häufig auf den Einfluss von Mehrheits- und Verhältniswahlsystemen eingegangen (u. a. Cabarello 2014, S. 452–453). Wahlen in Verhältniswahlsystemen weisen in der Regel höhere Beteiligungsraten auf, weil kleinere Parteien größere Chancen haben, in Parlamente einzuziehen, und deren Anhänger daher leichter mobilisiert werden können (Ladner und Milner 1999; Blais und Aarts 2006). Generell kommt in Verhältniswahlsystemen einem größeren Anteil von Stimmen einen höherer Erfolgswert zu als in Mehrheitswahlsystemen. Neben der Unterscheidung in Mehrheits- und Verhältniswahlen lassen sich innerhalb der Verhältniswahlsysteme verschiedene Arten von Listensystemen unterscheiden, die bei Kommunalwahlen zur Anwendung kommen. In Ländern mit einem kommunalen Wahlsystem der geschlossenen Listensysteme (z. B. Portugal) haben die Wähler*innen eine Stimme und wählen mit dieser Stimme eine Partei. In offenen Listensystemen (z. B. Dänemark) können die Wähler*innen eine feste Anzahl von Stimmen auf mehrere Kandidierende auf einer Liste verteilen. In einigen Bundesländern Österreichs sowie bei Kommunalwahlen in den meisten deutschen Bundesländern ist es auch möglich, einem Kandidierenden mehr als eine Stimme zu geben (Kumulieren). In Ländern mit einem freien Listensystem (z. B. Norwegen) sowie bei Kommunalwahlen in den meisten deutschen Bundesländern ist es darüber hinaus möglich, für Kandidierende verschiedener Listen zu stimmen (Panaschieren; vgl. Van der Kolk 2007, S. 163–173).

Die beiden zentralen Argumente für einen Zusammenhang von Wahlsystem und kommunaler Wahlbeteiligung zielen auf die unterschiedliche Mobilisierungsfähigkeit der Wähler*innen und die Komplexität der lokalen Wahlsysteme ab. Laut Vetter und Kuhn (2013) sind Wahlkampagnen in Kommunen mit einem Wahlsystem von geschlossenen Listen stärker parteizentriert und die Parteien effektiver in der Mobilisierung von Wähler*innen. In Kommunen mit freien Wahllisten sind die Kampagnen hingegen stärker kandidatenorientiert. Die Parteien sind folglich weniger sichtbar und daher in der Mobilisierung potenzieller Wähler*innen weniger effektiv. Das Wahlsystem der freien Listen ist darüber hinaus recht komplex (u. a. Nyhuis 2014). Eine unter Umständen sehr hohe Anzahl an Stimmen kann auf mehrere Kandidierende auf verschiedenen Listen verteilt werden (Van der Kolk 2007, S. 162–163). Je nach Bundesland und Kommune variiert die Zahl der Stimmen zwischen drei und 60. Wenngleich viele Wähler*innen von der Möglichkeit Gebrauch machen, ihre Stimmen im Paket an komplette Listenvorschläge zu vergeben, anstatt zu kumulieren und/oder panaschieren, ist der Entscheidungsprozess dennoch mit potenziell höheren Kosten verbunden und dürfte daher mobilisierungshemmend wirken (Downs 1968, S. 162–163). Folglich ist zu erwarten, dass potenzielle Wähler*innen in Kommunen mit freien Wahllisten mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit an Kommunalwahlen teilnehmen. Die kommunale Wahlbeteiligung sollte in diesen Kommunen daher geringer ausfallen:

H2

In Kommunen mit einem Kommunalwahlsystem freier Listen ist die kommunale Wahlbeteiligung niedriger als in Kommunen mit geschlossenen Listen.

Der dritte und letzte kontextuelle Einflussfaktor ist das Parteiensystem. Zahlreiche Studien legen einen Zusammenhang zwischen dem Parteiensystem und der Höhe der Wahlbeteiligung nahe. Ein Argument lautet, dass sich mit einer steigenden Anzahl von Parteien das politische Angebot vergrößert und Wähler*innen leichter eine für sie passende Partei finden (u. a. Blais 2006, S. 118; Cabarello 2014, S. 453–454). Während die Befunde mehrerer Studien diesen Zusammenhang unterstützen (u. a. Ladner und Milner 1999), zeichnen Analysen von Wahlen in Lateinamerika (Boulding und Brown 2015) sowie Metaanalysen (Stockemer 2017) ein differenzierteres Bild. Einer Untersuchung von Wilford (2017) in 26 OECD-Ländern zufolge wirkt sich eine hohe Anzahl an Parteien mit einem geringen Ausmaß an Polarisierung sogar negativ auf die Höhe der Wahlbeteiligung aus. Einige Autoren führen den Rückgang der kommunalen Wahlbeteiligung auf einen sinkenden Einfluss nationaler Parteien in den Kommunen und eine damit verbundene schwindende Mobilisierungskraft zurück (Klein 2018, S. 149–150; Vetter 2019, S. 12). Für die kommunale Ebene erwarten wir, dass insbesondere der Grad der Nationalisierung des Parteiensystems von Bedeutung ist. In Anlehnung an Jones and Mainwaring (2003) und Kasuya und Moenius (2008) verstehen wir unter dem Nationalisierungsrad des lokalen Parteisystems das Ausmaß, in dem ein lokales Parteiensystem das nationale Parteiensystem widerspiegelt. Der Nationalisierungsrad ist dementsprechend von der Präsenz sowie dem Stimmenanteil nationaler und lokaler Parteien und Wählergruppen abhängig. Je stärker die Übereinstimmung von lokalem und nationalem Parteiensystem, desto höher ist der jeweilige Nationalisierungsrad eines lokalen Parteiensystems in einer Gemeinde (Kjaer und Elklit 2010, S. 431; Kuhn und Vetter 2013, S. 100). Der Nationalisierungsgrad des lokalen Parteiensystems hängt zudem mit den ersten beiden Prädiktoren – Gemeindegröße und Wahlsystem – zusammen (Dodeigne et al. 2021; Kjaer und Elklit 2010). Bislang ist der Einfluss der Nationalisierung des Parteiensystems auf die Höhe der Wahlbeteiligung jedoch weitgehend unerforscht.

Aus der Literatur ergeben sich mehrere Erwartungen bezüglich des Zusammenhangs zwischen der Nationalisierung von lokalen Parteiensystemen und der kommunalen Wahlbeteiligung. Zum einen sollte die Präsenz von nationalen Parteien die individuelle Wahlentscheidung erleichtern. Bei Kommunalwahlen ist die Informationsumgebung der Wähler*innen schlechter als bei nationalen Hauptwahlen. Bei derartigen „Niedriginformationswahlen“ („low information elections“) können Parteien, insbesondere nationale Parteien, mit ihren ideologischen Profilen den Wähler*innen Hinweise bezüglich der politischen Positionen der Kandidierenden geben (vgl. Schaffner und Streb 2002). Die Wahlentscheidung in einem System ausschließlich lokaler Listen wäre hingegen mit höheren Informationskosten für die Wähler*in verbunden und die individuelle Wahlteilnahme folglich unwahrscheinlicher (vgl. Downs 1968, S. 260–261). Umgekehrt sollten sich nationalisierte lokale Parteiensysteme positiv auf die kommunale Wahlbeteiligung auswirken, weil die Präsenz der nationalen Parteien die Kosten des Wählens reduziert und nationale Parteien, im Vergleich zu lokalen Listen, in der Wählermobilisierung effektiver sind. Unsere dritte Hypothese lautet daher:

H3

Je stärker die Nationalisierung des lokalen Parteiensystems, desto höher ist die kommunale Wahlbeteiligung.

In den letzten vier Jahrzenten hat sich die Nebenwahlthese von Reif und Schmitt (1980) zu einem wichtigen Modell zur Analyse von Wahlen in Mehrebenensystemen entwickelt. Nach Ansicht der Autoren zählen neben den Wahlen zum Europäischen Parlament auch Landtags- und Kommunalwahlen zur Kategorie der nationalen Nebenwahlen (Reif und Schmitt 1980, S. 8–9, 1997, S. 117). Das Hauptmerkmal von nationalen Nebenwahlen besteht darin, dass aus Sicht der Wähler*innen weniger auf dem Spiel steht. Ihr Interesse an den Wahlen fällt daher niedriger aus als bei nationalen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen (den nationalen Hauptwahlen). Ferner wird das Wahlverhalten neben Faktoren der jeweiligen Systemebene auch auf Einflüsse der nationalen Ebene zurückgeführt. Nationale Nebenwahlen sind dementsprechend auch Abstimmungen über nationale Themen, Kandidierende und Parteien (Reif und Schmitt 1980, S. 9). Daraus folgt, dass sich bei nationalen Nebenwahlen ein geringerer Anteil der Wahlberechtigten beteiligt als bei Hauptwahlen. Nebenwahlen sind nicht nur aus der Perspektive der potenziellen Wähler*innen weniger wichtig, sondern auch aus der Sicht von Medien und Parteien (z. B. Lefevere und Van Aelst 2014, S. 160–161). Die Mobilisierungsbemühungen der Parteien fallen daher ebenfalls geringer aus als bei Hauptwahlen. Die wahlberechtigten Bürger*innen sind infolgedessen nicht nur per se weniger interessiert an nationalen Nebenwahlen, sondern werden auch weniger zur Stimmabgabe mobilisiert. Die Konsequenz ist eine geringe Wahlbeteiligung. Darauf aufbauend lässt sich erwarten, dass mit abnehmender Bedeutung einer Wahl aus Sicht von Wähler*innen, Parteien und Medien auch die Wahlbeteiligung sinkt.

Mehrere Studien zu verschiedenen Ländern stützen die Nebenwahlthese, indem sie eine niedrigere Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen im Vergleich zu den jeweiligen nationalen Hauptwahlen belegen (z. B. Heath et al. 1999; Lefevere und Van Aelst 2014; Mjelde et al. 2016; für Deutschland: Holtkamp und Garske 2021; Vetter 2014). Während einige Fallstudien die Unterschiede von nationaler und kommunaler Wahlbeteiligung auf der Aggregatebene analysieren (u. a. Mjelde et al. 2016), untersuchen andere Studien die Nebenwahlthese auch auf der Individualebene (u. a. Lefevere und Van Aelst 2014; Faas 2013). Lefevere und Van Aelst (2014) können für die Kommunalwahlen in den Niederlanden einen Zusammenhang zwischen der geringen wahrgenommenen Bedeutung der Gemeinderäte und der niedrigeren kommunalen Wahlbeteiligung nachweisen. Eine Untersuchung von Thorsten Faas (2013) zu kommunaler Wahlbeteiligung in Deutschland weist einen positiven Zusammenhang mit dem Interesse an kommunaler Politik nach. In beiden Studien wird auch der Einfluss der Bundesebene kontrolliert. In beiden Analysen ist kein Effekt der wahrgenommenen Bedeutung der Bundesebene auf die kommunale Wahlbeteiligung feststellbar. Die individuelle Teilnahme an den Kommunalwahlen in Duisburg 2004 führen Schmitt-Beck et al. (2008) ebenfalls u. a. auf das geringe Interesse an Kommunalpolitik zurück. Vor diesem Hintergrund sollten wahlberechtigte Bürger*innen nicht an Kommunalwahlen teilnehmen, insofern sie diesen eine geringe Bedeutung zuschreiben. Jedoch ist auch in Bezug auf diesen Faktor Variabilität zu erwarten. Unsere vierte Hypothese lautet daher:

H4

Je größer die wahrgenommene Bedeutung von Kommunalwahlen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme.

3 Daten, Messung und Auswertungsmethoden

3.1 Daten

Zur Überprüfung der Hypothesen analysieren wir die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen 2014 in Baden-Württemberg, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die gleichzeitige Abhaltung von Kommunalwahlen in neun Bundesländern ermöglicht die Untersuchung möglicher Wahlsystemeffekte. Ferner wurden in diesen Bundesländern im Rahmen einer Nachwahlbefragung zu den gleichzeitig stattfindenden Europawahlen (Neu und Konrad-Adenauer-Stiftung 2018) auch Individualdaten zu kommunalem Wahlverhalten erhoben. Dies ermöglicht ein Untersuchungsdesign, in dem die Auswertung von Aggregat- und Individualdaten kombiniert wird. Der Vorteil offizieller Aggregatdaten besteht darin, dass sie keinen Verzerrungen durch falsche Selbstauskünfte der Probanden unterliegen (Ranney 1962), wohingegen Individualdaten Informationen über den Einfluss demographischer und sozioökonomischer Merkmale (z. B. Einkommen, Bildung, Alter) sowie subjektiver Einstellungen und Wahrnehmungen auf das individuelle Wahlverhalten liefern (Schoen 2014, S. 112–113).

Deutschland verfügt im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern über kein einheitliches kommunales Wahlsystem (Van der Kolk 2007). In Abhängigkeit vom jeweiligen Bundesland unterscheiden sich die Systeme in Bezug auf das verwendete Listensystem, die Anzahl der zu vergebenden Stimmen, das Wahlalter, das Sitzzuteilungsverfahren sowie den Wahlzyklus. Kommunalwahlen finden in den meisten Bundesländern alle fünf Jahre statt (vgl. Holtmann et al. 2017, S. 93).Footnote 2 Dies trifft auf alle neun Fälle in unserer Untersuchung zu. Das Elektorat unterscheidet sich dabei von dem bei Bundestagswahlen. So sind bei Gemeinderatswahlen auch EU-Ausländer*innen wahlberechtigt. Mit Ausnahme von Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Sachsen liegt die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht bei 16 Jahren; das passive Wahlrecht liegt bei allen Flächenländern bei 18 Jahren. Auch das Wahlsystem variiert zwischen den einzelnen Bundesländern. Mit der Ausnahme von Nordrhein-Westfalen, dem Saarland sowie Schleswig-Holstein wird in allen Flächenländern nach dem Prinzip der Verhältniswahl mit freien Listen gewählt. Zur Wahl stehen dabei Kandidierende auf Basis von Listen der teilnehmenden Parteien und Wählervereinigungen. Dabei dürfen bis zu drei Stimmen auf eine Kandidierende fallen (Kumulieren). Des Weiteren können die zu vergebenden Stimmen auf mehrere Listen verteilt werden (Panaschieren). Die Zahl der Stimmen reicht von drei Stimmen (u. a. Niedersachsen) bis zu der Zahl der zu vergebenden Sitze im jeweiligen Gemeinderat (u. a. Baden-Württemberg). Deren Größe hängt in den Bundesländern von der Größe der Gemeinde ab. Wähler*innen in Baden-Württemberg in Gemeinden mit weniger als 1000 Einwohnern haben insgesamt „nur“ acht Stimmen, in Gemeinden mit mehr als 400.000 Einwohnern sind es hingegen 60 Stimmen. In Hessen variiert die gesetzlich vorgegebene Stimmanzahl zwischen 15 in Gemeinden mit weniger als 3000 Einwohnern und 105 Stimmen in (aktuell nicht existierenden) Gemeinden mit mehr als einer Million Einwohnern. In Nordrhein-Westfalen wird hingegen die personalisierte Verhältniswahl mit geschlossenen Listen angewendet. Die Wähler*innen wählen mit einer Stimme eine*n Kandidat*in und eine geschlossene Reserveliste der Partei oder Wählergruppe. Im Saarland wird nach dem Prinzip der Verhältniswahl mit geschlossenen Listen gewählt (vgl. Korte 2016, S. 22).

Die Aggregatdaten stammen aus den Datenbanken der statistischen Landesämter und umfassen 6501 Gemeinden. Die Datenlage zur individuellen Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen ist sehr begrenzt. Dementsprechend basieren nur sehr wenige Analysen auf Individualdaten (z. B. Lefevere und Van Aelst 2014; Marien et al. 2015). Für die Kommunalwahlen vom 25.05.2014 in den neun ausgewählten Bundesländern liegen jedoch Daten aus Nachwahlbefragungen vor (Neu und Konrad-Adenauer-Stiftung 2018). Die computergestützten Telefoninterviews (CATI) wurden im Zeitraum vom 26.05. bis 10.06.2014 durchgeführt. Obwohl 2014 auch im Stadtstaat Hamburg Kommunalwahlen stattfanden, werden diese Wahlen in unserer Analyse nicht berücksichtigt, da die Stadtstaaten (Berlin, Bremen und Hamburg) gleichzeitig die Aufgaben von Städten und Ländern wahrnehmen, die kommunalen Zuständigkeiten sich aber zwischen den Stadtstaaten und den Flächenländern dahingehend unterscheiden, dass einige kommunale Aufgaben in den Stadtstaaten vom jeweiligen Landesparlament übernommen werden. Aufgrund der Auswahl der (Flächen‑)Bundesländer mit Kommunalwahlen ergibt sich eine Fallzahl von 1765.

3.2 Abhängige Variablen

Die abhängige Variable auf Aggregatebene ist die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen 2014; die Untersuchungseinheit ist die Gemeinde. Die abhängige Variable auf der Individualebene ist die individuelle Wahlteilnahme an der Kommunalwahl 2014. Das dichotome Maß gibt an, ob ein*e Proband*in nach eigener Aussage an der Wahl teilgenommen hat oder nicht. In Tab. 1 ist die lokale Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen 2014 auf Aggregat- und Individualebene für die einzelnen Bundesländer aufgeführt. Ein Vergleich der Bundesländer deckt substantielle Unterschiede in der Wahlbeteiligung auf. Spitzenreiter ist das Bundesland Rheinland-Pfalz mit einer Wahlbeteiligung von 65,9 %. Auf den nächsten Plätzen folgen Thüringen (61,7 %) und Mecklenburg-Vorpommern (56,3 %). Das Schlusslicht ist Sachsen-Anhalt mit einer Wahlbeteiligung von 47,3 %.

Tab. 1 Offizielle Wahlbeteiligung und Selbstauskunft. (Quelle: statistische Landesämter und Neu und Konrad-Adenauer-Stiftung 2018)

Die durchschnittliche Differenz zwischen dem Anteil der Befragten, die nach eigener Aussage an der Kommunalwahl teilgenommen haben, und den offiziellen Wahlstatistiken beträgt 12,4 Prozentpunkte. Das Ausmaß an Overreporting (Ranney 1962) unterstreicht den Nutzen, bei der Analyse kommunaler Wahlbeteiligung neben umfragebasierten Individualdaten zugleich offizielle Aggregatdaten zu verwenden.

3.3 Unabhängige Variablen

Für die Gemeindegröße verwenden wir auf der Aggregatebene den dekadischen Logarithmus der Einwohnerzahl. Durch Logarithmieren wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Zusammenhang zwischen Gemeindegröße und kommunaler Wahlbeteiligung nicht linear ist (siehe z. B. Gendźwiłł und Kjaer 2020). Auf der Individualebene wurden die Daten zur Gemeindegröße in Form von Größenklassen erfasst. Die Einordnung in die Kategorien Landgemeinde, Kleinstadt, Mittelstadt und Großstadt erfolgt auf Basis der Definition des Bundesinstituts für Bau‑, Stadt- und Raumforschung (BBSR 2021). In der multivariaten Analyse wird die Gemeindegröße mithilfe von drei Dummy-Variablen gemessen (Referenzkategorie ist die Landgemeinde).

Die dichotome Variable Freie Liste gibt an, ob in einer Kommune das System der freien Listen genutzt wird (= 1) oder nicht (= 0). Trotz einer ungleichen Verteilung bilden die ausgewählten Länder die dargestellte Varianz der Wahlsysteme gut ab. In Nordrhein-Westfalen und dem Saarland kommen geschlossene Listen zum Einsatz, in den anderen sieben Ländern in unserem Datensatz freie Listen.

Das Maß für die Nationalisierung des lokalen Parteiensystems (NLPS) ist der Gesamtstimmenanteil derjenigen nationalen Parteien bei der Bundestagswahl 2013, welche auch bei den Kommunalwahlen 2014 in einer Gemeinde angetreten sind. Die Variable beschreibt somit den Anteil der Wähler*innen der nationalen Parteien, welche in ihrer Gemeinde auch bei der Kommunalwahl für eine dieser Parteien stimmen konnten, und wird wie folgt berechnet:

$$\mathrm{NLPS}_{i}=\frac{\mathrm{CDU}_{i}\times K_{\mathrm{CDU}}+\mathrm{SPD}_{i}\times K_{\mathrm{SPD}}+\mathrm{FDP}_{i}\times K_{\mathrm{FDP}}+\text{Gr{\"u}ne}_{i}\times K_{\text{Gr{\"u}ne}}+\text{Linke}_{i}\times K_{\text{Linke}}}{\mathrm{CDU}_{i}+\mathrm{SPD}_{i}+\mathrm{FDP}_{i}+\text{Gr{\"u}ne}_{i}+\text{Linke}_{i}}$$

Als nationale Parteien gelten alle im 18. Deutschen Bundestag (2013–2017) vertretenen Parteien sowie die Freien Demokraten (FDP). Die Einstufung der FDP als nationale Partei erfolgt aus zwei Gründen. Zum einen war die Partei von 1949 bis 2013 durchgehend Mitglied des Deutschen Bundestages sowie Mitglied zahlreicher Bundesregierungen und somit fester Bestandteil des deutschen Parteiensystems (Niedermayer 2015a). Zum anderen verfügte die FDP im Jahr 2014 mit rund 55.000 Mitgliedern über eine vergleichbare gesellschaftliche Verankerung wie Bündnis 90/Die Grünen oder die Linkspartei (Niedermayer 2015b). In einem Robustheitscheck replizieren wir unsere Analyse unter Auslassung der FDP aus der Berechnung der NLPS (Tab. 9 im Anhang). Die Ergebnisse sind davon im Wesentlichen unberührt.

Der Wertebereich dieser stetigen Variable reicht von null bis eins. Die Werte der Parteien entsprechen dem jeweiligen Stimmenanteil der Partei bei der Bundestagswahl 2013 in der Gemeinde i. K gibt an, ob eine Partei in einer Gemeinde bei Kommunalwahl 2014 angetreten ist (= 1) oder nicht (= 0). Die Variable misst die Stärke der nationalen Parteien auf der kommunalen Ebene in einer Gemeinde und ist somit ein Indikator für den Nationalisierungsgrad eines lokalen Parteiensystems. Je höher der Wert, desto nationalisierter ist das lokale Parteiensystem in einer Gemeinde. In einem vollständig „nationalisierten“ Parteiensystem (NLPS = 1) treten alle etablierten Parteien in einer Kommune zur Wahl an, in einem vollständig „lokalisierten“ Parteiensystem (NLPS = 0) keine einzige. Über die Nationalisierung des Parteiensystems können wir indirekt auch die Rolle lokaler Listen für die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen ansprechen. Lokale Listen stellen in den Kommunen eine Alternative zu den nationalen Parteien dar und könnten im Kontext von Kommunalwahlen durch ihre Selbstdarstellung als Anti-Establishment-Partei einen positiven Beitrag zur Mobilisierung leisten (u. a. Jankowski et al. 2022; Juen et al. 2021). Zwar liegen uns für eine Mehrheit der Gemeinden keine detaillierten Informationen über die Kandidatur von lokalen Listen vor. Die Literatur legt jedoch nahe, dass die Präsenz von lokalen Listen mit denen der nationalen Parteien stark korreliert (u. a. Vetter und Kuhn 2013). Je nationalisierter ein lokales Parteiensystem, desto geringer ist die Anzahl von lokalen Listen. Mit dem Nationalisierungsgrad der lokalen Parteiensysteme erfassen wir daher die Stärke der lokalen Listen. Auf der Individualebene liegen keine Informationen zur Nationalisierung der lokalen Parteiensysteme vor, da die Teilnehmer*innen der Befragung (Neu und Konrad-Adenauer-Stiftung 2018) nicht den jeweiligen Gemeinden zugeordnet werden können.

Die wahrgenommene Bedeutung von Kommunalwahlen wird mithilfe der Variable Bedeutung von Gemeinderatsentscheidungen erfasst und kann ausschließlich auf der Individualebene überprüft werden. Die Variable misst die wahrgenommene Bedeutung der Entscheidungen im Gemeinderat auf einer vierwertigen Ordinalskala. Je höher der Wert, desto größer ist die wahrgenommene Bedeutung.

3.4 Kontrollvariablen

Um den unterschiedlichen Zusammenhängen zwischen strukturellen Variablen und Wählerverhalten Rechnung zu tragen, kontrollieren wir für die Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern (Ostdeutschland = 1). Aufgrund der zugeschriebenen Mobilisierungsfähigkeit der Alternative für Deutschland (AfD; Hobolt und Hoerner 2020) und ihrer Beziehung zum Nationalisierungsgrad des lokalen Parteiensystems kontrollieren wir auf der Aggregatebene ferner für den jeweiligen Stimmenanteil dieser Partei in den einzelnen Gemeinden bei der Bundestagswahl 2013. Da der Herabsetzung des Wahlalters in der Literatur nachhaltige Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung zugeschrieben werden (Dalton 2015; Blais und Rubenson 2013; Franklin et al. 2004), kontrollieren wir für das Wahlalter. Um den zu schätzenden Effekt des Listensystemtyps um die konkretere Ausgestaltung des Systems freier Listen zu bereinigen, kontrollieren wir ferner für die Anzahl der Stimmen, die ein*e Wähler*in vergeben kann.

Auf der Individualebene berücksichtigen wir weitere Variablen, die in der Forschung als Prädiktoren von Wählerverhalten und politischer Beteiligung etabliert sind und den Zusammenhang zwischen Gemeindegröße, Wahlsystem oder Parteiensystem mit der Wahlbeteiligung beeinflussen können. So ist zu erwarten, dass persönliche Kontakte zu Politiker*innen die Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme erhöhen. Zum einen helfen derartige Kontakte, eine soziale Verbindung zum Wahlprozess aufzubauen (Green und Gerber 2008), zum anderen dienen sie als Erinnerung daran, an der Wahl teilzunehmen (Dale und Strauss 2009). Sofern wahlberechtige Bürger*innen Gemeinderatsmitglieder persönlich kennen, sollten sie daher mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an Kommunalwahlen teilnehmen. Die dichotome Variable Persönlicher Kontakt zu GR-Mitgliedern gibt an, ob ein*e Proband*in Mitglieder des örtlichen Gemeinderats persönlich kennt. Die Variable Lebenszufriedenheit bezieht sich auf die Zufriedenheit mit den Lebensbedingungen in der eigenen Gemeinde und wird mithilfe einer vierwertigen Ordinalskala gemessen. Lokales politisches Wissen wird mit der Frage erfasst, ob Proband*innen die Parteizugehörigkeit des eigenen (Ober‑)Bürgermeisters kennen. Ferner kontrollieren wir in Anlehnung an Lefevere und Van Aelst (2014) für die wahrgenommene Bedeutung von Entscheidungen des Deutschen Bundetages. Weitere Kontrollvariablen sind das Wahlpflichtgefühl, das politische Interesse, Parteiidentifikation sowie Alter, Geschlecht und Bildung. Tab. 6 im Anhang führt alle Variablen mit ihren Kodierungen und Datenquellen auf.

3.5 Auswertungsmethoden

In Abschn. 4.1 betrachten wir zunächst die Verteilungen der Variablen Gemeindegröße, Wahlsystem, lokales Parteiensystem und Wahlbeteiligung sowie Wahlteilnahme. In Abschn. 4.2 werden die Hypothesen zur Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen auf der Aggregatebene untersucht. Weil es sich bei der Wahlbeteiligung um eine Prozentvariable handelt, schätzen wir neben OLS-Regression (Ordinary Least Squares) zusätzlich ein fraktionales Logitmodell (Fractional Response Logit Model – FRLM; Papke und Wooldridge 1996). Die Befunde auf Basis dieses Schätzers finden sich am Anhang und unterstützen die des OLS-Modells. Zuletzt werden in Abschn. 4.3 die Hypothesen zur kommunalen Wahlbeteiligung auf der Individualebene mithilfe einer logistischen Regression untersucht. Regressionstabellen und Multikollinearitätstests befinden sich ebenfalls im Anhang (Tab. 8, 9, 1012 im Anhang).

4 Ergebnisse

4.1 Wahlbeteiligung und Wahlteilnahme nach Gemeindegröße, Wahlsystem, lokalem Parteiensystem

Wir betrachten zunächst die Verteilungen der kommunalen Wahlbeteiligung und der individuellen Wahlteilnahme in Abhängigkeit von den Prädiktoren. Tab. 2 zeigt die Wahlbeteiligung nach Gemeindeklassen. In Landgemeinden ist die Wahlbeteiligung, wie erwartet, am höchsten. Insgesamt ist die Wahlbeteiligung in Landgemeinden im Durchschnitt knapp 16 Prozentpunkte höher als in Großstädten. Auf der Individualebene sind die Ergebnisse weniger eindeutig. In Landegemeinden und Kleinstädten ist die Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme zwar größer als in Mittel- und Großstädten. Zwischen Mittel- und Großstädten besteht auf der Individualebene jedoch kein nennenswerter Unterschied.

Tab. 2 Wahlbeteiligung nach Gemeindegröße. (Quelle: statistische Landesämter und Neu und Konrad-Adenauer-Stiftung 2018)

In Tab. 3 wird die kommunale Wahlbeteiligung von Gemeinden mit freien und geschlossenen Listen gegenübergestellt. Entgegen der theoretischen Erwartung (Hypothese 2) ist die Wahlbeteiligung in den Kommunen mit freien Listen höher. Dieser unerwartete Befund unterstreicht die Notwendigkeit, mit multivariaten Verfahren die Einflüsse von Drittvariablen zu kontrollieren. Auf der Individualebene hingegen zeigt sich das entgegengesetzte Bild: Diesen Daten zufolge ist die Wahlbeteiligung in Kommunen mit geschlossenen Listensystemen höher. Diese Diskrepanz unterstreicht die Notwendigkeit, neben Individualdaten zugleich offizielle Aggregatdaten zu analysieren. Ferner bedeutet dieser Befund, dass Niveauschätzungen und -vergleich auf der Basis der Umfragedaten von eingeschränkter Validität sind.

Tab. 3 Wahlbeteiligung und Listensystem. (Quelle: statistische Landesämter und Neu und Konrad-Adenauer-Stiftung 2018)

Ferner lassen sich Unterschiede in der Wahlbeteiligung in Abhängigkeit vom lokalen Parteiensystem feststellen. In Tab. 4 vergleichen wir die Wahlbeteiligung von vollständig nationalisierten und vollständig lokalisierten Parteiensystemen. Bei vollständig lokalisierten Parteiensystemen ist die Wahlbeteiligung im Durchschnitt höher als bei vollständig nationalisierten Parteiensystemen. Auch dieser Unterschied widerspricht unseren theoretischen Erwartungen.

Tab. 4 Wahlbeteiligung nach lokalem Parteiensystem. (Quelle: statistische Landesämter)

In der Nachwahlbefragung zu den Europa- und Kommunalwahlen wurden die Probanden gefragt, welche Bedeutung sie den politischen Entscheidungen im Bundestag sowie dem Gemeinderat beimessen. Im Durchschnitt der neun Bundesländer sind die Unterschiede zwischen den beiden Parlamenten marginal. Insgesamt 82,5 % der befragten Bürger*innen betrachten die Entscheidungen des Deutschen Bundestages als wichtig oder sehr wichtig – kaum mehr als beim Gemeinderat, dessen Entscheidungen lediglich von 79,5 % der Befragten für wichtig erachtet werden.Footnote 3

4.2 Multivariate Aggregatdatenanalyse

Auf Aggregatebene führen wir zunächst eine multivariate lineare Regressionsanalyse durch. Weil es sich bei der Wahlbeteiligung um eine Prozentvariable handelt, schätzen wir zusätzlich ein fraktionales Logitmodell (Fractional Response Logit Model – FRLM). Die Verwendung dieses alternativen Schätzers bestätigt die Ergebnisse der OLS-Regression. Die numerischen Ergebnisse finden sich in Tab. 8 im Anhang. Abb. 1 zeigt unstandardisierte OLS-Koeffizienten mit 95 %-Konfidenzintervallen. Die Gemeindegröße weist demnach einen signifikanten und substantiellen negativen Zusammenhang mit der Höhe der Wahlbeteiligung auf. Hypothese 1 findet damit Unterstützung. Der Effekt der kommunalen Wahlsysteme ist im multivariaten Setting ebenfalls wie erwartet. In Kommunen mit einem Wahlsystem freier Listen ist die Wahlbeteiligung im Vergleich zu Gemeinden mit geschlossenen Listen um 4,6–11,4 Prozentpunkte geringer. Die Daten unterstützen soweit auch Hypothese 2.

Abb. 1
figure 1

Auswirkung der lokalen Kontextfaktoren auf die Wahlbeteiligung (Aggregatdatenanalyse). (Unstandardisierte OLS-Koeffizienten mit 95 %-Konfidenzintervallen. Die Standardfehler sind nach Bundesländern geclustert.) NLPS Nationalisierung der lokalen Parteiensysteme, BTW Bundestagswahl

Eine stärkere Nationalisierung des lokalen Parteiensystems ist hingegen nicht mit einer höheren kommunalen Wahlbeteiligung verbunden. In Gemeinden mit vollständig nationalisiertem Parteiensystem fällt die kommunale Wahlbeteiligung zwar im Durchschnitt etwas höher aus, die Effekte sind jedoch gering und nicht statistisch signifikant. Hypothese 3 findet somit keine Unterstützung.

Bezüglich der Kontrollvariable Ostdeutschland fällt auf, dass die kommunale Wahlbeteiligung um 6,7–0,4 Prozentpunkte niedriger ausfällt als in den westdeutschen Bundesländern. Der Stimmenanteil der AfD bei der vorherigen Bundestagswahl hat hingegen keinen Einfluss auf die Höhe der kommunalen Wahlbeteiligung in einer Gemeinde. In Übereinstimmung mit Franklin et al. (2004) wirkt sich die herabgesetzte Altersgrenze für das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre negativ auf die Höhe der kommunalen Wahlbeteiligung aus. In den entsprechenden Bundesländern ist die Wahlbeteiligung um 3,9–0,04 Prozentpunkte niedriger. Die Anzahl der zu vergebenden Stimmen hat hingegen keinen Einfluss auf die Wahlbeteiligung.

4.3 Multivariate Individualdatenanalyse

Abb. 2 zeigt Odds Ratios (mit 95 %-Konfidenzintervallen) der logistischen Regression der Individualdatenanalyse. Die Befunde bestätigen weitgehend die der Aggregatdatenanalyse. Die Gemeindegröße deutet den erwarteten Zusammenhang zur individuellen Kommunalwahlbeteiligung an. Die Effekte sind jedoch nicht signifikant. Somit findet Hypothese 1 auf der Individualebene keine Unterstützung. Die Effekte des Wahlsystems entsprechen hingegen den Erwartungen: In Kommunen mit einem Wahlsystem freier Listen sind die potenziellen Wähler*innen weniger geneigt an Kommunalwahlen teilzunehmen. Die Wahrscheinlichkeit der individuellen Wahlteilnahme in Kommunen mit geschlossenen Listen beträgt 0,88, in Kommunen mit freien Listen 0,83. Somit wird Hypothese 2 auch durch die Individualdaten unterstützt.

Abb. 2
figure 2

Auswirkung der lokalen Kontextfaktoren auf die Wahlbeteiligung (Individualdatenanalyse). (Odds Ratios einer logistischen Regression mit 95 %-Konfidenzintervallen. Die Standardfehler sind nach den Bundesländern geclustert.) GR Gemeinderat

Aufgrund der Nebenwahlthese (Reif und Schmitt 1980) erwarten wir, dass wahlberechtigte Bürger*innen Kommunalwahlen fernbleiben, insofern sie die Entscheidungen auf dieser Ebene als nicht sehr wichtig ansehen (H4). Die Ergebnisse entsprechen unseren Erwartungen. Je höher die wahrgenommene Bedeutung von Gemeinderatsentscheidungen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, an der Kommunalwahl teilzunehmen. Während Proband*innen, die Gemeinderatsentscheidungen überhaupt keine Bedeutung beimessen, eine prädizierte Teilnahmewahrscheinlichkeit von 0,78 aufweisen, steigt dieser Wert für Proband*innen, die Gemeinderatsentscheidungen für sehr wichtig halten, auf 0,88.

Bei den Kontrollvariablen ergibt sich ein überraschender Effekt hinsichtlich der wahrgenommenen Bedeutung von Bundestagsentscheidungen. Je höher die wahrgenommene Bedeutung von Entscheidungen des deutschen Bundestags, desto niedriger ist die Wahrscheinlichkeit, an der Kommunalwahl teilzunehmen. Darüber hinaus zeigt sich der erwartete statistische Zusammenhang zwischen der Teilnahme an Kommunalwahlen und dem persönlichen Kontakt mit lokalen Amtsträger*innen. Bürger*innen mit persönlichen Kontakten zu Mitgliedern des amtierenden Gemeinderates haben mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an den Gemeinderatswahlen 2014 teilgenommen. Die weiteren Kontrollvariablen weisen ebenfalls größtenteils die erwarteten Zusammenhänge zur Wahlbeteiligung auf. Lokales politisches Wissen ist positiv mit der individuellen Wahlteilnahme assoziiert: Personen, welche die Partei des amtierenden Bürgermeisters in ihrer Gemeinde kennen, nehmen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an Kommunalwahlen teil. Die Verinnerlichung einer Wahlpflicht und eine Parteiidentifikation erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme. Der Einfluss von politischem Interesse deutet in die erwarte Richtung, ist jedoch nicht statistisch signifikant.

Es gibt gute Gründe, ein gewisses Ausmaß an Multikollinearität in unseren Modellen zu erwarten. Zum einen hängt der Nationalisierungsgrad der lokalen Parteiensysteme mit der Gemeindegröße zusammen: Je größer eine Gemeinde, desto höher ist der Nationalisierungsgrad des kommunalen Parteiensystems (Dodeigne et al. 2021; Kjaer und Elklit 2010). Zum anderen gibt es Hinweise darauf, dass Wähler*innen in kleinen Gemeinden sowohl politisch interessierter an als auch informierter über Lokalpolitik sind (Denters et al. 2013; Oliver 2000, 2012; Oliver und Ha 2007). Korrelationsanalysen zeigen starke Zusammenhänge zwischen mehreren unabhängigen Variablen, insbesondere zwischen der Größe einer Gemeinde und dem Nationalisierungsgrad des lokalen Parteiensystems (Tab. 7 im Anhang). Tests auf Multikollinearität haben jedoch ergeben, dass keine hohen Ausmaße an Multikollinearität vorliegen (Tab. 10 und 12 im Anhang).

5 Diskussion

Im vorliegenden Papier haben wir die kontextuellen Prädiktoren kommunaler Wahlbeteiligung anhand der Gemeinderatswahlen 2014 in neun deutschen Bundesländern analysiert. Unsere Kernthese besagt, dass lokale Kontextfaktoren einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung von Beteiligungsunterschieden zwischen Kommunalwahlen leisten. Konkret haben wir die Erwartungen formuliert, dass die kommunale Wahlbeteiligung von der Gemeindegröße (Hypothese 1), dem Wahlsystem (Hypothese 2) und dem Parteiensystem (Hypothese 3) beeinflusst wird. Jenseits dieser strukturellen Faktoren haben wir in Anlehnung an die Nebenwahlthese argumentiert, dass die individuelle Wahlteilnahme von der Bedeutung abhängt, die eine Person den Kommunalwahlen zumisst. Zur Überprüfung der Hypothesen 1–3 haben wir sowohl Aggregatdaten verwendet, wobei die Hypothesen 1 und 2 auch anhand von Individualdaten überprüft wurden. Tab. 5 fasst die Befunde für die unterschiedlichen Hypothese und Untersuchungsebenen zusammen. Auf beiden Untersuchungsebenen zeigt sich Unterstützung für Hypothese 2. Hypothese 1 hingegen fand in den Aggregatdaten, nicht jedoch in den Individualdaten Unterstützung. Hypothesen 3 und 4 konnten aufgrund der Datenlage jeweils nur auf einer Untersuchungsebene überprüft werden. Dabei fand Hypothese 4 Unterstützung in den Daten, Hypothese 3 jedoch nicht.

Tab. 5 Überblick über die Befunde

Die Ergebnisse unterstützen folglich Argumente, nach denen Kontextfaktoren die kommunale Wahlbeteiligung beeinflussen. So weisen Kommunalwahlen mit einem Wahlsystem der geschlossenen Listen eine höhere Wahlbeteiligung auf. Dieser Befund bestätigt unsere Erwartungen sowie die Arbeit von Gendźwiłł und Kjaer (2020). In Kommunen mit Wahlsystemen freier Listen ist die Beteiligung substantiell niedriger als in Kommunen mit Wahlsystemen geschlossener Listen. In diesen Kommunen ist die Wahrscheinlichkeit der individuellen Wahlteilnahme ebenfalls signifikant niedriger. Dies bestätigt Vermutungen einer stärkeren Rolle der Parteien und deren effektiver Mobilisierung in Wahlsystemen mit geschlossenen Listen (Vetter 2013) ebenso wie Argumente bezüglich der höheren Komplexität von freien Wahllisten mit Kumulieren und Panaschieren (Van der Kolk 2007, S. 162–163).

Der Einfluss der Gemeindegröße auf die kommunale Wahlbeteiligung ist hingegen weniger eindeutig. Die entsprechende Hypothese findet nur auf der Aggregatdatenebene Unterstützung. Hier konnte die Rolle der Gemeindegröße als wichtiger Kontextfaktor in lokalen Demokratien, wie er bereits in mehreren Fallstudien (z. B. Górecki und Gendźwiłł 2021; Holtkamp und Garske 2021, Pollex et al. 2021) nachgewiesen wurde, bestätigt werden. Die unterschiedliche Operationalisierung erschwert jedoch insgesamt den Vergleich der gemessenen Effekte auf Aggregat- und Individualebene. Unsere Erwartung bezüglich des Einflusses der lokalen Parteiensysteme auf die kommunale Wahlbeteiligung konnte nicht unterstützt werden. Zwar weisen Gemeinden mit einem nationalisierten lokalen Parteiensystem eine höhere kommunale Wahlbeteiligung auf. Im multivariaten Modell gemeinsam mit Gemeinderatsgröße und Wahlsystem sind die Effekte jedoch gering und statistisch nicht signifikant.

Was bedeuten die Befunde insgesamt für den Nebenwahlcharakter von Kommunalwahlen? In Übereinstimmung mit der Nebenwahlthese (Reif und Schmitt 1980) legen die vorliegenden Ergebnisse einerseits die Einordnung von Kommunalwahlen als nationale Nebenwahlen nahe. In allen Bundesländern liegt die kommunale Wahlbeteiligung unter dem Niveau der Bundestagswahlen (Bundeswahlleiter 2013). Je weniger Bedeutung den Entscheidungen des Gemeinderats und damit den Kommunalwahlen zugeschrieben wird, desto geringer ist ferner die Wahrscheinlichkeit der individuellen Wahlteilnahme (Hypothese 4). Dies unterstützt die Implikation der Nebenwahlthese, dass Nebenwahlen von einigen Wähler*innen als weniger bedeutsam betrachtet werden als nationale Hauptwahlen und dass die Wähler*innen den Nebenwahlen aufgrund dieser Einschätzung fernbleiben.

Die Befunde zu den Kontrollvariablen bestätigen weitgehend den bisherigen Literaturstand zu den Determinanten der Wahlbeteiligung, sowohl an kommunalen (u. a. Faas 2013; Schmitt-Beck et al. 2008) wie auch an nationalen Hauptwahlen (z. B. Althoff 2020; Stövsand und Roßteutscher 2019). Lokales politisches Wissen und die Verinnerlichung einer Wahlpflicht, nicht jedoch politisches Interesse oder Parteiidentifikation sind mit einer höheren Wahrscheinlichkeit der Wahlteilnahme verbunden. In Übereinstimmung mit den Studien von Holtkamp und Garske (2021) sowie Vetter (2014) ist die kommunale Wahlbeteiligung in Kommunen in den neuen Bundesländern geringer. Zuletzt führt der persönlichere Kontakt zu Kandidierenden zu einer effektiveren Mobilisierung (Oliver 2012; Ross und Levine 2001).

Die Ergebnisse stützen ferner den bisherigen Forschungsstand zum Einfluss von Kontextfaktoren auf die Wahlbeteiligung (z. B. Cancela und Geys 2016, Ladner und Milner 1999; Blais und Aarts 2006). Insbesondere die Größe einer Gemeinde und das Wahlsystem verändern die Rahmenbedingungen einer Wahl und wirken sich dementsprechend auf die Höhe der Wahlbeteiligung aus.

Unsere Befunde haben sich ferner als stabil im Zusammenhang verschiedener Datenquellen, Messmethoden, Robustheitstests und alternativer Schätzer erwiesen. Auf der Individualebene haben wir für relevante Prädiktoren der individuellen Wahlteilnahme (z. B. Parteienidentifikation, Wahlpflichtgefühl) kontrolliert. Aufgrund unserer Kombination von Aggregat- und Individualdaten können insbesondere die Befunde zur Rolle der Listensysteme als Indiz für den Einfluss von kommunalen Wahlsystemen betrachtet werden. Der Preis für diese Triangulation besteht darin, dass sämtliche von uns analysierten Kommunalwahlen zeitgleich mit den Europawahlen abgehalten wurden. Die Literatur gibt klare Hinweise darauf, dass gleichzeitig stattfindende Wahlen mit einer erhöhten Wahlbeteiligung verbunden sind (u. a. Leininger et al. 2018, Marschall und Lappie 2011). Die gleichzeitig abgehaltenen Wahlen zum Europäischen Parlament sollten sich daher positiv auf die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen 2014 ausgewirkt haben. Die hierdurch erhöhte Mobilisierung könnte den statistischen Einfluss anderer Faktoren dämpfen. Unsere Hypothesentests sind insofern konservativ. Daher ist zu erwarten, dass sich vergleichbare Effekte auch bei den singulären Kommunalwahlen in Bayern, Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-WestfalenFootnote 4 (Holtmann et al. 2017, S. 121; Wahlrecht 2018) nachweisen ließen. Andererseits dürften die gleichzeitig stattfinden Europawahlen, möglicherwiese in Abhängigkeit von lokalen Kontextbedingungen, einen variierenden komobilisierenden Effekt haben. So konnten Leininger et al. (2018) einen stärkeren Mobilisierungseffekt von Bürgermeisterwahlen auf die Europawahlen in kleinen Gemeinden nachweisen. Dementsprechend könnte der von uns berichtete Effekt der Gemeindegröße aufgrund der Beschränkung auf Kommunalwahlen mit gleichzeitig stattfindenden Europawahlen überschätzt worden sein. Ferner ist der Vergleich von Wahlsystemen in wenigen Bundesländern nur begrenzt aussagekräftig und gibt lediglich einen Hinweis auf einen Einfluss der verwendeten Listensysteme.

Aus den genannten Gründen wäre es zielführend, die Analyse von kommunaler Wahlbeteiligung in Zukunft auf alle Flächenbundesländer auszuweiten. Darüber hinaus war es in der vorliegenden Arbeit nicht möglich, den Einfluss der lokalen Parteiensysteme auch auf der Individualebene zu überprüfen. Die Ergebnisse dieser Arbeit bieten weitere Anknüpfungspunkte für künftige Forschungsarbeiten. So erscheint es vor dem Hintergrund der Nebenwahlthese sinnvoll, diejenigen Wähler*innen zu identifizieren, die an nationalen Wahlen, aber nicht an Kommunalwahlen teilnehmen. Vergleichende Analysen mit anderen Kommunalwahlen (bspw. Bürgermeisterwahlen), Landtagswahlen und Europawahlen könnten dabei helfen, das jeweilige Ausmaß von Second Order zu bestimmen und die Wahltypen voneinander abzugrenzen.