1 Anomie, Kontrollüberzeugungen und Rechtspopulismus: empirische Befunde und offene Fragen

Anomie gilt in der Soziologie seit Langem als ein zentrales Konzept in der Analyse gesellschaftlicher Phänomene. In der ursprünglichen Fassung, wie sie von Emile Durkheim (1897/1973) und in modifizierter Form von Robert K. Merton (1957) vorgelegt wurde, ist das konstitutive Element von Anomie die Störung der normativen Ordnung. Wo dies der Fall ist, gar gesellschaftliche Normenlosigkeit besteht, gilt Orientierungslosigkeit als bedeutsame Folge: Die Menschen sind auf sich gestellt und müssen Orientierungen und Handlungsstrategien entwickeln, um der Ungewissheit zu entgehen. Normenlosigkeit und Orientierungslosigkeit gelten dementsprechend als die beiden zentralen Erscheinungsformen von Anomie (Thome 2016, S. 275). Anomie kann sich dabei sowohl auf der Mikroebene – als subjektives Erleben von Anomie (Anomia)Footnote 1 – als auch auf der Makroebene widerspiegeln und entsprechend operationalisiert werden (wobei die Makroebene je nach Erklärungsansatz und verfügbaren Indikatoren entweder als kollektives Merkmal oder als Aggregation anomischen Erlebens auf der Individualebene gefasst wird).

Für nicht wenige Autoren ist Anomie in der modernen Gesellschaft geradezu endemisch. Sie ist die Folge sowohl des raschen gesellschaftlichen Wandels als auch der Veränderungen in den ökonomischen Verhältnissen, in denen neoliberale Strömungen an Bedeutung gewonnen haben. Charakteristisch für einen derartigen Ansatz sind z. B. die Arbeiten von Wilhelm Heitmeyer (2018), in denen argumentiert wird, dass sich Anomie infolge des sozialen, politischen und ökonomischen Wandels zusehends ausbreitet und dies von den Bürgern als subjektiver Kontrollverlust erlebt wird. Für Heitmeyer schreitet das Gefühl des Kontrollverlusts in der Gesellschaft immer weiter voran und begünstigt so die Entstehung rechtspopulistischer Bewegungen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Aus Kontrollverlusten wachse das Autoritäre (Heitmeyer et al. 2020, S. 16).

Mit etwas anderer Argumentation und Akzentuierung ist von anderen Autoren die Ansicht vertreten worden, dass Individualisierungsprozesse im Gefolge gesellschaftlicher Modernisierung die Menschen frei setzen von traditionellen, normativ geprägten Rollenvorgaben und -zwängen, diese Entwicklung aber als Kehrseite hat, dass die Freisetzung nicht immer als Entlastung, sondern oftmals als neue Belastung wahrgenommen wird. Denn die Menschen müssen nun selbst Leitlinien ihres eigenen Lebens entwickeln (vgl. Beck 1986). Ob sich Verunsicherung und Orientierungslosigkeit ausbreiten oder nicht, ist danach eine Funktion individueller Ressourcen und Fähigkeiten, sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Ob der subjektive Kontrollverlust für den Einzelnen an Bedeutung gewinnt oder nicht, ist kein Automatismus, sondern von den verfügbaren Ressourcen, Gewöhnungsprozessen und Handlungsstrategien abhängig.Footnote 2

Anomie, verstanden als Orientierungslosigkeit, hat sich in der deutschen Wahl- und Partizipationsforschung als ein relativ wenig beachtetes Konstrukt erwiesen. Es gibt kaum empirische Untersuchungen, die sich mit den Auswirkungen von Anomie explizit auseinandersetzen (Kühnel et al. 2009, S. 69). Dass es gelegentlich welche gibt, in denen eine Variable für Anomie in den Satz unabhängiger Variablen mit eingeht, schließt dies nicht aus. Doch bleibt deren Stellenwert in der Diskussion der Befunde dann oft eher marginal. Dabei liegen inzwischen zahlreiche Untersuchungen vor, die gezeigt haben, wie sehr Anomie einen bedeutsamen Einfluss auf Einstellungen und Verhalten ausüben kann. So etwa in der kriminologischen Forschung, derzufolge Anomie Kriminalitätsfurcht und punitives Strafverlangen beeinflusst (Reuband 1999, 2010a; Hirtenlehner 2006, 2010). Oder in der politikbezogenen Forschung, wo sich zeigte, das Anomie Populismus, Fremdenfeindlichkeit, AfD-Wahlneigung und autoritäre Orientierungen begünstigt (Krebs 1995, S. 348, Hermann und Schmidt 1995, S. 312; McCutcheon 2000, S. 100; Hermann 2001, S. 115; Kühnel und Schmidt 2002, S. 90; Rippl 2005, S. 375; Hüpping 2006, S. 93–96; Kühnel et al. 2009, S. 77; Heyder und Gaßner 2012; Fehser 2013, S. 91; Spruyt et al. 2016, S. 343; Droste 2019, S. 343; Küpper et al. 2019, S. 279; Berning und Ziller 2022, S. 330; Best und Salheiser 2022, S. 349). Die Anomie erwies sich in manchen Studien innerhalb des gewählten Erklärungsmodells selbst gegenüber anderen politischen und sozialen Schlüsselvariablen – wie dem Links-Rechts-Schema oder den sozialen Merkmalen – als besonders erklärungskräftig (vgl. Kühnel und Schmidt 2002, S. 90; Küpper et al. 2019, S. 279; Berning und Ziller 2022, S. 330).Footnote 3

Gedeutet wird der Zusammenhang zwischen Anomie, Fremdenfeindlichkeit und autoritären Einstellungen üblicherweise als ein Zeichen für den Stellenwert subjektiv erlebten Kontrollverlusts: Menschen, die in ihren existenziellen Lebensgefühl verunsichert seien, würden nach einem Halt suchen. Und diese Sehnsucht nach einem Halt schlage sich in einer Anfälligkeit für Autoritarismus und in einem Schwarz-Weiß-Denken nieder, das empfänglich mache für Personen und Gruppen, die einfache Lösungen propagieren. Die Grenzen gegenüber Fremden würden enger gezogen, „Law and Order“-Orientierungen gewännen an Popularität und Rechtspopulismus werde begünstigt.

Aber bedeutet der Zusammenhang zwischen Orientierungslosigkeit und Rechtspopulismus, dass sich auch die Teilnehmer von rechtspopulistischen Bewegungen und Protesten im Vergleich zur Bevölkerung in ihrer persönlichen Handlungsautonomie generell besonders stark eingeschränkt sehen und meinen, keine hinreichende Kontrolle über ihr Leben (mehr) zu haben? Ist die PEGIDA-Teilnahme eine Reaktion auf dieses subjektive Erleben: der Versuch, den „gefühlten Verlust“ der bisherigen Ordnung durch Selbstaufwertung und Abgrenzung gegenüber Fremden wiederherzustellen (vgl. u. a. Heitmeyer 2018, S. 141; Küpper et al. 2019, S. 275)?

Andererseits, so könnte man argumentieren, zeigen die Teilnehmer am Protest doch durch ihr Handeln, dass sie sich nicht dem Rückzug hingeben – sie sich nicht als völlig hilflos wahrnehmen, sie ihre Teilnahme am Protest mit der Vorstellung verbinden, etwas zu bewirken. Angesichts dessen sind ihre individuellen Kontrollüberzeugungen von besonderem Interesse. Kontrollüberzeugungen sagen etwas über die Ansicht der Befragten aus, Kontrolle über das eigene Leben auszuüben. Es handelt sich dabei um über Situationen und Lebensbereiche generalisierte Erwartungen (Krampen 1987, S. 197). Kontrollverlust auf der individuellen Ebene besteht danach dann, wenn man meint, selbst keine Kontrolle (mehr) auf den eigenen Lebensbereich ausüben zu können und primär von externen Zwängen abhängig zu sein.

Die wenigen empirischen Untersuchungen zur Bedeutung persönlicher Kontrollüberzeugungen für politisches Handeln und politischen Aktivismus helfen in dieser Frage nicht weiter; sie sind in ihrer Aussagekraft aufgrund ihres methodischen Vorgehens begrenzt: Beschränkung auf Studenten, kleine Fallzahlen, und oft eine suboptimale Operationalisierung der abhängigen Variablen.Footnote 4 Ob subjektiv erlebte Anomie mit der Wahrnehmung von persönlichem Kontrollverlust und eingeschränkten Kontrollüberzeugungen gleichgesetzt werden kann oder zumindest ein enger Zusammenhang besteht, ist zudem keineswegs sicher. Der empirische Zusammenhang ist weitgehend ungeklärt. Die Autoren, die sich des Anomie-Konzepts in ihren empirischen Arbeiten bedienen, unterlassen es nahezu durchweg, der Frage nach dem Erleben eingeschränkter oder fehlender individueller Handlungsmöglichkeiten – operationalisiert über Kontrollüberzeugungen – nachzugehen. Und die Autoren, die sich den Kontrollüberzeugungen in ihren empirischen Arbeiten annehmen (sie beschränken sich auf eine spärliche Minderheit), unterlassen es den Zusammenhang mit der Anomie zu ermitteln.Footnote 5

Die Beschränkungen im Vorgehen haben maßgeblich etwas mit disziplinspezifischen, unterschiedlichen Traditionen zu tun: Das Anomie-Konzept fand nahezu ausschließlich Eingang in die Soziologie und (partiell) in die Politikwissenschaft, das Konzept der Kontrollüberzeugungen hingegen in die Psychologie. Dort war es zeitweise das populärste Konzept, das in der Erklärung individuelles Handeln eingesetzt wurde (Krampen 1987, S. 196). Hinzu kommen methodische Aspekte: der Tradition in der Psychologie folgend handelt es sich bei den Messinstrumenten für Kontrollüberzeugungen traditionell um ziemlich umfassende Itembatterien (mit mehr als 20 Items), die in den üblichen Bevölkerungsumfragen einen zu hohen Zeitaufwand erfordern und deshalb nicht praktikabel sind. Erst seit relativ kurzer Zeit steht eine Kurzskala mit lediglich 4 Items zur Verfügung, die auch für den Einsatz in Umfragen gedacht ist und sich methodisch bewährt hat (Kovaleva et al. 2012).Footnote 6

Anomie-Skalen gibt es demgegenüber seit Langem mit einer moderaten Zahl an Items, und entsprechend wurden sie auch in Bevölkerungsumfragen wiederholt eingesetzt. Die häufigste Verwendung hat paradoxerweise die Srole-Skala gefunden (so auch im ALLBUS) – paradox deshalb, weil sie vom Autor selbst als eine vorläufige, explorative Skala verstanden wurde (Srole 1956) und sie in ihrer Operationalisierung nicht unproblematisch ist. Sie ist besonders dort problematisch, wo es darum geht, politische Orientierungen und politisches Verhalten zu erklären: Denn in ihr handelt ein Item bereits davon („Die meisten Politiker interessieren sich in Wirklichkeit gar nicht für die Probleme der einfachen Leute“). Dieses Item als Bestandteil der Anomie-Skala zu verwenden und politische Einstellungen oder Verhalten damit zu erklären, beschwört die Gefahr tautologischer Erklärungen. Man läuft im extremsten Fall Gefahr, Politikverdrossenheit aus Politikverdrossenheit zu erklären.

Gemeinsam ist der Srole-Skala und den meisten anderen Operationalisierungen von Anomie, dass der Akzent der Items auf gesellschaftliche Verhältnisse und nicht auf das individuelle Erleben des Befragten ausgerichtet ist (vgl. Online Anhang, A1). Das ist theoretisch durchaus legitim, man sollte sich nur dessen bewusst sein – denn je nach individuellem oder gesellschaftlichem Bezug der Frage können sich, wie aus der Forschung zu anderen Themen bekannt ist, unterschiedliche Beziehungen ergeben. Dass sich je nach Art des Bezugs unterschiedliche Beziehungen ergeben können, belegen Umfragen zur Kriminalitätsfurcht, denen zufolge die soziale Kriminalitätsfurcht anderen sozialen Bedingungen unterliegt und andere Entwicklungen durchlaufen kann als die persönliche Kriminalitätsfurcht (Reuband 1994). Und es belegen Umfragen, in denen die relative Deprivation getrennt als soziale und als persönliche Deprivation operationalisiert wurde (vgl. Rippl und Baier 2005). Nur wenige der in der Forschung verwendeten Anomie-Skalen rekurrieren auf das individuelle Erleben; und wenn sie es tun, lassen sie andererseits das gesellschaftliche Pendent – die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse – aus. Wie sich die wahrgenommene Anomie in der Gesellschaft und die persönlichen Kontrollüberzeugungen zueinander verhalten, stand bisher nicht im Fokus der Forschung, Ergebnisse aus empirischen Untersuchungen liegen dazu daher nicht vor.

Im Folgenden soll der Frage der Effekte von Anomie – verstanden als Orientierungslosigkeit – und von subjektiven Kontrollüberzeugungen am Beispiel der Teilnehmer des PEGIDA-Protests nachgegangen werden. PEGIDA gilt in der Geschichte rechten Protests in Deutschland als eine Ausnahmeerscheinung: als Bewegung, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs den höchsten Mobilisierungsgrad rechter Proteste – mit rund 20.000 Teilnehmern – erreichte (Rucht 2018, S. 235), und am längsten, über acht Jahre, Protest mehr oder minder regelmäßig zu organisieren vermochte. Frühzeitig griff PEGIDA die Themen auf, derer sich später die AfD verstärkt annahm, und wurde so zu einer der frühesten Erscheinungsformen des neuen Rechtspopulismus in Deutschland. Dabei trug sie – wie vielfach argumentiert wird – maßgeblich zur Radikalisierung des Flüchtlingsdiskurses und des Rechtspopulismus bei (Sundermeyer 2015, S. 177; Küpper et al. 2015, S. 21). Für manche Autoren hatte sie ferner einen bedeutsamen Anteil daran, dass sich die AfD zu einer Anti-Immigrations-Partei entwickelte (Weisskircher et al. 2022, S. 14). Und für nicht wenige Autoren verkörpert PEGIDA geradezu „lehrbuchartig“ das, was in der Wissenschaft unter Rechtspopulismus verstanden wird (Küpper et al. 2015, S. 23).

Im Folgenden geht es zunächst darum, die Konjunkturen des PEGIDA-Protests im Kontext gesellschaftlicher Herausforderungen und Entwicklungen zu beschreiben: Es geht um den zeitlichen Verlauf unter den Einfluss von Ereignissen und bewegungsspezifischen Dynamiken sowie um den rechtspopulistischen Charakter des Protests. Dies ermöglicht zugleich, den Stellenwert der vorliegenden Erhebung im Zusammenhang mit der PEGIDA-Entwicklung etwas näher einzuordnen. In einem folgenden Teil, dem Hauptteil, steht die Frage im Vordergrund, wie sehr sich die PEGIDA-Teilnehmer von der Allgemeinbevölkerung in Bezug auf Anomie und Kontrollüberzeugungen unterscheiden. Und es steht die Frage im Vordergrund, wie sich Anomie und Kontrollüberzeugungen unter den PEGIDA-Teilnehmern wie auch in der Bevölkerung auf rechtspopulistische Einstellungen auswirken. Zu diesem Zweck greifen wir auf repräsentative Umfragen in der Dresdner und der Düsseldorfer Bevölkerung zurück.

Dresden und Düsseldorf bieten sich in diesem Zusammenhang in mehrfacher Hinsicht untereinander für einen Vergleich an: Es handelt sich um Städte, die über annähernd die gleiche Einwohnerzahl verfügen, Hauptstadt des jeweils größten Bundeslandes in Ost- bzw. Westdeutschland sind und, im längeren historischen Bezug gesehen, eine Geschichte als Residenzstadt aufweisen. Dresden kommt dabei eine besonders zentrale Stellung zu: nicht nur weil es der Ort der PEGIDA-Kundgebungen ist, sondern vor allem weil ein Großteil – rund die Hälfte – der Teilnehmer von dort stammt (Reuband 2022a, S. 266). Zwar bestehen zwischen den einheimischen und den auswärtigen Teilnehmern im politischen Einstellungsprofil zum Teil Unterschiede (Patzelt 2022, S. 489–491), doch sind diese eher graduell als grundsätzlich. Und bei einer Vielzahl von Themenbereichen gibt es sie nicht. Das ist z. B. beim subjektiven Erleben von Anomie und bei den Kontrollüberzeugungen der Fall,Footnote 7 weswegen die PEGIDA-Teilnehmer im Folgenden als Gesamtheit und nicht auf die Dresdner Teilnehmer beschränkt in die Analyse eingehen.

Mit der Düsseldorf-Umfrage sind wir in Kombination mit der Dresden-Umfrage in der Lage zu klären, inwieweit sich in dem rechtspopulistischen PEGIDA-Protest auch ein spezifisch ostdeutsches Erleben subjektiver Anomie und Hilflosigkeit widerspiegelt (wie es durch gesellschaftliche Zwänge in der Zeit der DDR und des gesellschaftlichen Umbruchs im Gefolge der Wende geprägt worden sein könnte). Im extremsten Fall wäre denkbar, dass sich die PEGIDA-Teilnehmer von der Dresdner Bevölkerung in den hier als relevant erachteten Fragen überhaupt nicht unterscheiden und sich im spezifischen Profil der PEGIDA-Teilnehmer lediglich der Ost-West-Unterschied widerspiegelt.Footnote 8

2 Konjunkturen des Protests: PEGIDA als rechtspopulistische Bewegung

Die Geschichte von PEGIDA ist die einander abwechselnder Konjunkturen, gekennzeichnet durch Phasen des Aufschwungs, des Niedergangs und der Stagnation – und einer Dauerhaftigkeit, die für rechtspopulistische Bewegungen und Proteste in Deutschland bislang einzigartig ist.Footnote 9 Ereignisse und deren Deutung auf den PEGIDA-Kundgebungen sowie interne, bewegungsspezifische Dynamiken konstituieren zusammen die Momente, die den PEGIDA-Verlauf beeinflussten. Entstanden ist PEGIDA im Oktober 2014 ursprünglich aus einer Facebook-Gruppe, bestehend aus einem langjährigen Freundes- und Bekanntenkreis, die sich dem Selbstverständnis nach gegen die islamische Bedrohung formierte. Zu der ersten Kundgebung in Dresden am 20.10.2014 kamen nicht mehr als 350 Menschen. Doch in den folgenden wöchentlichen Kundgebungen explodierten die Zahlen geradezu (vgl. Berger et al. 2016, S. 120), erreichten am 15.12.2014 bereits 15.000 Teilnehmer und am 12.01.2015 – dem Höhepunkt in der Zahl der jemals mobilisierten Teilnehmer – rund 20.000 (je nach Schätzung – zwischen 17.000 und 25.000 Personen).

Inwieweit die hohe Teilnehmerzahl vom 12.01.2015 eine Reaktion auf islamistische terroristische Ereignisse war, die sich kurz zuvor in Frankreich in spektakulärer Weise ereignet hatten (vgl. Antifa Recherche Team Dresden 2017, S. 41), oder lediglich die Fortsetzung des bisherigen Aufwärtstrends bedeutete, sei dahingestellt. Manches spricht für letzteres.Footnote 10 Sicher ist jedenfalls: PEGIDA erreichte zu dieser Zeit auch im Netz den Höhepunkt. Ende Januar 2015 zählte PEGIDAS Fanseite auf Facebook mehr als 150.000 Personen, mit einem überproportionalen Anteil aus Dresden und Sachsen (Pleul und Scharf 2016, S. 334–338; Munzinger et al. 2016).

Der explosionsartige Aufschwung von PEGIDA, der sich in so wenigen Wochen vollzogen hatte, schuf bei vielen Beobachtern den Eindruck, als hätten „die Menschen seit langem auf diesen Anlass gewartet“ (Hennig 2015, S. 25). In ähnlicher Weise mutmaßten andere Autoren, PEGIDA wäre längst überfällig gewesen und verwiesen in diesem Zusammenhang u. a. auf die überproportional negativen Einstellungen der Ostdeutschen zu Ausländern (Heim 2017, S. 11; Fehser 2016, S. 57). Von der Entwicklung ethnozentrischer Ressentiments her hätte man eine solche Entwicklung jedoch nicht ohne Weiteres erwarten können. Denn längerfristig waren negative Einstellungen gegenüber Ausländern bundesweit (Rippl und Seipel 2023, S. 19) gesunken, ebenso in Dresden (Reuband 2020). Desgleichen kann man in der Bundesrepublik nicht von einer wachsenden Politikverdrossenheit in dieser Zeit sprechen.Footnote 11

Womöglich weitaus bedeutsamer für den Aufstieg von PEGIDA waren Veränderungen in den Bedrohungszenarien: Der Islamische Staat in Syrien und die mit ihm verbundenen terroristischen Gefährdungen für Europa und Deutschland gerieten im Herbst 2014 in den politischen und öffentlichen Fokus. Die Zahl der Berichte darüber stieg in den Medien dramatisch an (Reuband 2020, S. 149), und Politiker warnten verstärkt vor Terroranschlägen in Deutschland. Ebenso vervielfachte sich in etwa der gleichen Zeit – nach Anstieg der Asylbewerberzahlen – die Medienberichterstattung zu den Themen Asyl und Flüchtlinge (Reuband 2020, S. 150). Diese Entwicklungen wirkten, so unsere Vermutung, in der Bevölkerung wie ein Katalysator: Sie aktivierten bestehende Dispositionen und Ressentiments und trugen so zum massiven Anstieg der Teilnehmerzahlen innerhalb kurzer Zeit bei, die Gefährdung durch den Islam gewann konkretere Gestalt.

Der Höhenflug von PEGIDA, der in den Teilnehmerzahlen am 12.01.2015 seinen Zenit erreichte, war zur Überraschung vieler Beobachter, die an eine weitere Ausbreitung des Protests glaubten, nur von kurzer Dauer. Interne Querelen innerhalb des Organisationsteams und andere Ereignisse führten bereits wenig später zu einer erheblichen Schrumpfung der Teilnehmerzahlen und einer Stagnation auf niedrigem Niveau. Die meisten Beobachter hielten das Ende von PEGIDA daraufhin nur noch für eine Frage der Zeit. Doch die „Flüchtlingskrise“ im Herbst 2015 – geprägt durch hohe Zuwanderungszahlen und illegale Migration – veränderte grundlegend die Situation und verhalf PEGIDA zu neuem Aufschwung. So versammelten sich in Dresden ab Mitte September 2015, in der Regel am Montag jeder Woche, 6000–9000 Teilnehmer. Anlässlich des Jahrestages von PEGIDA am 19. Oktober 2015 waren es gar zwischen 15.000–20.000 (Berger et al. 2016, S. 120f.) – nahezu so viele wie in der Zeit des Höhepunkts der Massenmobilisierung im Januar 2015.

In dem Maße wie sich die öffentliche Wahrnehmung der Flüchtlingssituation im Oktober/November 2015 wieder entspannte (Institut für Demoskopie 2016; Reuband 2017, S. 112–113), die AfD in Parlamenten vermehrt vertreten war und sie sich der „Flüchtlingskrise“ verstärkt annahm – die Bedeutung von PEGIDA als Sprachrohr für dieses Thema also schwand –, sanken sukzessiv die Teilnehmerzahlen: Im November 2015 waren es noch 7000–8000, wenige Monate später nur 3000–4000 (Berger et al. 2016, S. 120–121). Kundgebungen fanden gleichwohl in der folgenden Zeit weiterhin relativ regelmäßig statt, selbst als die Coronapandemie in den Jahren 2020/2021 das öffentliche Leben beeinträchtigte (vgl. Volk 2022, S. 10). Im Herbst 2020 vermochte PEGIDA immerhin noch rund 1000 und mehr Menschen auf Kundgebungen zu mobilisieren (Schneider und Springer 2020). Und als coronabedingte Ausgangsbeschränkungen zeitweise den Demonstrationen enge Grenzen setzten, half man sich mit „virtuellen Spaziergängen“ im Netz (Volk 2021), und sorgte so für eine gewisse Kontinuität im kollektiven Protest-Erleben.

Die Übernahme von Querdenker-Positionen und die Selbststilisierung als Hüter von Demokratie und Rechtsstaat in der Zeit der Coronakrise verhalf PEGIDA zu einem zusätzlichen Thema und hätte eigentlich den Teilnehmerkreis erweitern müssen (zumal der Anteil der Gegner der Coronapolitik in der sächsischen Bevölkerung zu dieser Zeit überproportional groß war, vgl. Reuband 2022c). Doch die Ausweitung des Protestprofils änderte nichts daran, dass PEGIDA nur noch in begrenztem Maße Menschen zu mobilisieren vermochte. Dies hatte Konsequenzen auch für die Organisation des Protests. So fand am 10.04.2022 nach längerer Pause die 241. Kundgebung statt; und erst ein halbes Jahr später, am 24.10.2022, folgte die nächste. Als vorgeschobener Grund für die lange Zeit der Protest-Enthaltsamkeit mussten die Coronaproteste herhalten: Man wolle diese an anderen Orten am Leben erhalten und sich nicht verzetteln.Footnote 12

Seit Beginn des Jahres 2023 ist Corona in der Bundesrepublik kein aktuelles Thema mehr, der Krieg in der Ukraine bestimmt stattdessen den öffentlichen Diskurs. Noch ein weiteres Mal versuchte PEGIDA das eigene Profil zu verbreitern und sich als Opposition zum Regierungshandeln zu profilieren: nun als Bewegung, die sich für „Frieden“, „Völkerverständigung“ und gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine ausspricht. Zusammen mit Vertretern der AfD hielt sie am 24.02.2023 in Dresden den „1. Großer Dresdner Friedensspaziergang“ ab. Anstelle der angekündigten 3000 Teilnehmer kamen zwischen 800 (Locke 2023) und 1200 (MDR 2023). Bedenkt man, dass nicht nur PEGIDA, sondern auch die AfD mobilisierte und es mit Björn Höcke zudem einen prominenten Redner gab, kann man von beeindruckenden Teilnehmerzahlen, die man der Attraktivität von PEGIDA zuschreiben könnte, nicht sprechen.

Dass sich diese Situation angesichts erneut steigender Flüchtlingszahlen und Beunruhigung in der Bevölkerung (Köcher 2023; FAZ 2022, S. 4) in der Zukunft ändern wird – das ursprüngliche Thema von PEGIDA also eine erneute Aktualität erfahren und PEGIDA einen neuen Aufschwung bescheren könnte –, ist freilich nicht gänzlich ausgeschlossen. Die Zahl der lokalen Kundgebungen und Proteste gegen Flüchtlingsheime hat auch in Sachsen inzwischen wieder zugenommen (TAZ 2023). PEGIDA existiert derzeit (April 2023) bislang allerdings nur virtuell. Die Kommunikation erschöpft sich auf den wechselseitigen Austausch von Meldungen und Meinungen auf einschlägigen Web-Plattformen (mit begrenzter Zahl an Followern).Footnote 13 Und die PEGIDA-Webseite begnügt sich damit, die vergangenen Kundgebungen aufzulisten, und verheißt eine rechtzeitige Ankündigung für den Fall zukünftiger Veranstaltungen.

PEGIDA gilt in der Literatur als geradezu exemplarisch für rechtspopulistischen Protest und rechte soziale Bewegungen (so z. B. Küpper et al. 2015, S. 23). Was alles unter den Begriff des Rechtspopulismus subsummiert wird – welche Dimensionen als bedeutsam angesehen werden –, variiert zwar in gewissem Umfang in der Literatur. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen jedoch, dass sie Populismus und Fremdenfeindlichkeit als die beiden zentralen Dimensionen des Rechtspopulismus bezeichnen (vgl. u. a. Wolf 2017, S. 13; Lewandowski 2017; Minkenberg 2018, S. 341; Decker 2018, S. 360–361): Populismus verstanden als Anti-Establishment-Orientierung, einer Kontrastierung von Volk und Elite und der Forderung nach direktem Einfluss des Volkes. Und Fremdenfeindlichkeit verstanden als Nativismus und Ausgrenzung von Ausländern und Fremden.Footnote 14

Als ein weiteres bedeutsames Merkmal gelten „Law and Order“-Orientierungen, denen zufolge Abweichung und Kriminalität strenger Strafen bedürfen (Hartleb 2005, S. 20; Küpper et al. 2015, S. 27; Zick et al. 2016, S. 114–115; Lewandowsky et al. 2016; Wolf 2017, S. 16). Ob diese Orientierungen als inhärenter, logischer Bestandteil des Rechtspopulismus verstanden werden können – etwa als Ausdruck „autoritärer Aggression“ (Decker et al. 2016, S. 56) – oder als Begleiterscheinung der Fremdenfeindlichkeit, weil die Fremden als Bedrohung wahrgenommen werden, muss an dieser Stelle offenbleiben.

Populismus und Fremdenfeindlichkeit spiegeln sich bei PEGIDA in den öffentlichen Reden wider, die von Mitgliedern des Organisationsteams und von Gastrednern gehalten werden, und in denen auch vor radikalen Aussagen und Ausdrücken nicht zurückgeschreckt wird (vgl. u. a. Giudice et al. 2020; Knopp 2017; Boonen et al. 2018). Sie spiegeln sich ebenfalls in den sich selbst vergewissernden kollektiven Zwischenrufen der Teilnehmer, wie „Wir sind das Volk“ wider. Und sie finden sich aufseiten der Teilnehmer in der Forderung nach mehr Einfluss auf Regierungsentscheidungen und direkter DemokratieFootnote 15 sowie in der strikten Abgrenzung gegenüber Migranten und Ablehnung von Flüchtlingen, besonders solchen muslimischen Glaubens (vgl. u. a. Daphi et al. 2015; Patzelt 2016; Reuband 2022a). Dass es strengerer Strafen bedürfe, um der Kriminalität Einhalt zu gebieten, zählt ebenfalls zu den verbreiteten Einstellungen der PEGIDA-Anhänger und hebt sie von der Bevölkerung ab. Das gilt einschließlich der Einstellung zur Todesstrafe, die zwar nur bei einer Minderheit der PEGIDA-Teilnehmer Zuspruch findet, aber der Anteil ist immerhin doppelt so hoch wie in der Dresdner Bevölkerung, aus der sich ein Großteil der Teilnehmer rekrutiert (Reuband 2022a, S. 285).

In Bezug auf manche der anderen Einstellungsbereiche – auch solchen, die in der Literatur häufig dem Rechtspopulismus zugerechnet werden –, sind die Unterschiede zur Bevölkerung hingegen eher gering. So gibt es z. B. in Fragen der Kindererziehung keinen Hinweis auf einen größeren Autoritarismus der PEGIDA-Anhänger im Vergleich zur Dresdner Bevölkerung, und ebenfalls bei Fragen der Geschlechterrollen erweisen sich die Unterschiede als minimal (Reuband 2022a, S. 285). Was deutlich macht: Soziale Bewegungen, die sich in zentralen Dimensionen als rechtspopulistisch erweisen, müssen es nicht ebenso in (allen) anderen Dimensionen des Rechtspopulismus sein. Welche Einstellungskonfigurationen in welcher Stärke zu einem Zeitpunkt überwiegen, ist eine empirische Frage und keine, die man dem idealtypischen Bild des Rechtspopulismus in der Literatur entnehmen kann.

Angesichts dessen ist es auch denkbar, dass der rechtspopulistische Charakter einer sozialen Bewegung nicht stabil ist, sondern sowohl Schwankungen als auch mittel- oder längerfristigen Entwicklungstrends unterliegen kann. Dies scheint in gewissem Umfang auf PEGIDA zuzutreffen. So schreiben Hans Vorländer und Koautoren, dass bei PEGIDA in den ersten Monaten der Existenz eine eher „diffuse Gemengelage“ bestanden hätte, die im Sommer und Frühherbst 2015 in eine thematische Fokussierung auf die Flüchtlingspolitik überging und mit einer Radikalisierung einher lief (Vorländer et al. 2017, S. 134–134). In der Tat nahm das Ausmaß rechtspopulistischer Auskristallisation und Radikalisierung in dieser Zeit zu – bei den auf den Kundgebungen gehaltenen Reden (Currle et al. 2016, S. 113; Del Giudice et al. 2020, S. 124; Bitschenau et al. 2021, S. 378) und bei den Kundgebungsteilnehmern selbst.Footnote 16 Bei ihnen zeichnete sich dies in einem (zunächst eher moderaten) Anstieg asylkritischer Einstellungen im Verlauf des Jahres 2015 ab (Patzelt 2022, S. 468–469), im Frühjahr 2016 dann verstärkt sowohl in einer Verschiebung der politischen Selbsteinstufung nach rechts als auch einer ausgeprägten Zunahme ausländer- und muslimfeindlichen Einstellungen (Reuband 2017). Dass sich diese Entwicklung in der Folgejahren fortgesetzt und weiter verstärkt hat, ist anzunehmen.Footnote 17

3 Empirische Datengrundlage

PEGIDA ist im Lauf der Zeit Gegenstand verschiedener Umfragen geworden. Die ersten größeren ErhebungenFootnote 18 fanden am 12.01.2015 statt – wenige Wochen, nachdem sich PEGIDA formiert und einen rasanten Aufschwung durchlaufen hatte und mit rund 20.000 Teilnehmern den Höhepunkt der Entwicklung erreichte. Es waren bemerkenswerterweise gleich drei Forscherteams, die – unabhängig voneinander und mit unterschiedlichem methodischen Zugang – an diesem Tag aktiv wurden: Hans Vorländer und Mitarbeiter (Vorländer et al. 2016), eine Gruppe des Instituts für Demokratieforschung der Universität Göttingen (Geiges et al. 2015) sowie eine Gruppe um Dieter Rucht (Daphi et al. 2015).

Zu einer Wiederholung dieser Erhebungen durch die Autoren zu einem späteren Zeitpunkt kam es nicht, sodass es offenbleibt, wie sehr deren damalige Ergebnisse von zeitspezifischen Effekten überlagert sind. Eine mangelnde Vergleichbarkeit besteht ebenfalls für eine spätere Studie vom Herbst 2015 des Instituts für Demokratieforschung (2016), da diese einen anderen methodischen Zugang als die frühere Studie des Instituts wählte. Einzig Werner Patzelt, der seine Erhebungen am 25.01.2015 – kurz nach dem Höhepunkt des PEGIDA-Protests – begann, baute seine Umfragen zu einer vergleichend angelegten Serie aus, die bis zum Januar 2016 reicht und Aussagen zum längerfristigen Wandel des Teilnehmerprofils erlaubt (Patzelt 2016, 2022).

Unsere eigene PEGIDA-StudieFootnote 19 überschneidet sich zeitlich partiell mit den Patzelt-Studien und reicht zugleich über sie hinaus. Sie besteht aus drei Teilerhebungen: vom 14.12.2015, vom 06.02.2016 und vom 25.04.2016. Unsere Erhebung vom 25.04.2016 stellt in der Historie der PEGIDA-Forschung die letzte Umfrage dar, die unter den PEGIDA-Teilnehmern durchgeführt wurde. Neuere Befunde zur Zusammensetzung und dem Profil der PEGIDA-Teilnehmer gibt es – von qualitativen, ethnografischen Studien abgesehen (Volk 2021, 2022) – nicht. Zur Zeit unserer Erhebungen war in Deutschland die „Flüchtlingskrise“ nach wie vor ein aktuelles Thema im öffentlichen Diskurs, und die Teilnehmerzahlen bei den drei PEGIDA-Kundgebungen lagen noch im mittleren bis hohen Bereich (5600, 8800, 3300 Teilnehmer).

Die Interviewer, einem vorgegebenen, mehr oder minder festen Auswahlrhythmus folgend, kontaktierten die Teilnehmer persönlich an den Zugängen zum Kundgebungsort und baten sie, an der schriftlichen Befragung teilzunehmen. Rund zwei Drittel der angesprochenen Personen nahmen den Fragebogen (in einem Umschlag mit Anschreiben und portofreien Rücksendeumschlag) entgegen, und rund 40 % von ihnen sandten ihn ausgefüllt zurück. Gemessen an den bei Demonstrationsbefragungen üblichen Ausschöpfungsquoten ist dies ein überdurchschnittlicher Wert. Von einer mangelnden Auskunftsbereitschaft der PEGIDA-Teilnehmer kann in dieser – ebenso wie in den anderen PEGIDA-Befragungen – nicht die Rede sein.Footnote 20 Bei den Befragten, die im Verlauf der drei Kundgebungen wiederholt Eingang in unsere Befragung fanden, legen wir hier die Antworten aus der für sie ersten Erhebung zugrunde (N = 931). Die Fragen zu den Kontrollüberzeugungen wurden nur in der ersten und zweiten Welle der PEGIDA-Befragungen gestellt, sodass sich bei den Analysen, in welchen die Kontrollüberzeugungen einbezogen sind, die Zahl der Befragten auf 784 reduziert.

Zu Vergleichszwecken stützen wir uns auf eine Dresdner Bevölkerungsumfrage vom Mai bis Juni 2014 (N = 760) sowie auf eine Düsseldorfer Bevölkerungsumfrage vom Dezember 2013 bis Februar 2014 (N = 1274).Footnote 21 Die Erhebungen gründen sich auf eine systematische Zufallsauswahl aus dem Melderegister von Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit ab 18 Jahren. Bei beiden Erhebungen handelt es sich – wie bei der PEGIDA Erhebung – um eine schriftliche Befragung, basierend auf einem umfangreichen 11-seitigen Fragbogen. Die Erhebung erfolgte im Fall der beiden Städte postalisch, den professionellen Standards gemäß (vgl. Reuband 2022d). Die Fragemodule zum Ethnozentrismus und zu „Law and Order“-Orientierungen beinhalteten innerhalb des Fragebogens nur einige wenige Fragen und Items. Von einer Überrepräsentation von Personen, die an diesen Themen ein besonderes Interesse haben, kann daher nicht ausgegangen werden. Nach zwei bis drei Erinnerungsschreiben wurden Ausschöpfungsquoten (nach Abzug neutraler Ausfälle) von über 50 % erreicht (Dresden 55 %, Düsseldorf 54 %). Derartige Quoten sind für Bevölkerungsumfragen, auch gemessen an professionellen Face-to-face-Umfragen (wie dem ALLBUS) und an CATI-Telefonbefragungen, als überdurchschnittlich hoch zu werten.

Die Indikatoren für Anomie, die verschiedenen Anomie-Skalen entnommen sind (vgl. Online Anhang A2), erfassen die Orientierungslosigkeit mit einem gesellschaftlichen Bezug: „So wie die Zukunft aussieht, kann man es kaum noch verantworten, Kinder auf die Welt zu bringen“, „In diesen Tagen ist alles so unsicher geworden, dass man auf alles gefasst sein muss“, „Das Leben ist heute so kompliziert geworden, dass man sich fast nicht mehr zurechtfindet.“Footnote 22 Die Indikatoren sind als Bestandteil eines gemeinsamen Konstrukts anzusehen. Fasst man die drei Items zusammen, ergibt sich eine Skala mit einer – auch im Vergleich zu anderen Anomie-Skalen – durchaus akzeptablen Skalenqualität.

So sehr die Anomie-Indikatoren aktuelle Bezüge aufweisen und die Antworten durch Ereignisse mitbeeinflusst werden können, sind die Ausprägungen auf der individueller Ebene doch keineswegs instabil oder gar erratisch. Sie zeichnen sich – wie die von uns verwendeten Indikatoren – in gewissem Umfang durch zeitliche Stabilitäten auf (vgl. Online-Anhang A3) Und dies ist nicht verwunderlich: Das Ausmaß erlebter Anomie ist schließlich nicht nur eine Funktion wahrgenommener gesellschaftlicher Ereignisse und Veränderungen, sondern ebenso eine Funktion sozialer LebensumständeFootnote 23 und psychologischer Dispositionen. Ändern sich diese nicht, ist Kontinuität des Anomie-Erlebens in hohem Maße wahrscheinlich. Und selbst wenn sich die Umstände und die Anomie-Neigung ändern sollten, relativ zu anderen Personen kann aufseiten der Befragten dennoch die Tendenz bestehen bleiben, in überproportionalem Maße Anomie zu empfinden.

Die Kontrollüberzeugungen wurden mit einer Kurz-Skala gemessen (Kovaleva et al. 2012), in welcher zwei Items die internale und zwei Items die externale KontrollüberzeugungenFootnote 24 erfassen: „Ich habe mein Leben selbst in der Hand“, „Wenn ich mich anstrenge, werde ich auch Erfolg haben“, „Egal ob privat oder im Beruf. Mein Leben wird zum großen Teil von anderen bestimmt“, „Meine Pläne werden oft vom Schicksal durchkreuzt“.Footnote 25 Gemeinsam ist den Indikatoren, dass – im Gegensatz zu den oben genannten Anomie-Indikatoren – vom eigenen Empfinden statt von allgemein gesellschaftlichen Bezügen die Rede ist. Erfasst wird das Ausmaß individuell erlebter eigener Handlungsmöglichkeiten, während bei den Anomie-Indikatoren der allgemeine Zustand der Gesellschaft das Thema ist.

Die internalen und die externalen Skalen korrelieren negativ miteinander. In der Düsseldorfer Bevölkerungsbefragung korrelieren sie r = −0,39 (p < 0,001), in der Dresdner Bevölkerungsbefragung r = −0,34 (p < 0,001) und unter den PEGIDA-Befragten r = −0,47 (p < 0,001). Die relativ schwache Korrelationsstärke verweist darauf, dass in nennenswertem Maße Befragte sowohl internale als auch externale Kontrollüberzeugungen aufweisen. Ein Mischungsverhältnis ist also keine Rarität.Footnote 26 Womöglich ist dies zum Teil auch dem Tatbestand geschuldet, dass bei den externalen Kontrollüberzeugungen kein Ausschließlichkeitsanspruch formuliert ist: In der Frageformulierung ist die Rede von „zum großen Teil von anderen bestimmt“ sowie „oft vom Schicksal durchkreuzt“. Unter diesen Bedingungen kann jemand meinen, dass er bei entsprechender Anstrengung Erfolg haben werde, aber nicht ausschließt, dass die eigenen Pläne dennoch oft vom Schicksal durchkreuzt werden. Es käme letztlich darauf an, um was für einen Handlungsbereich es sich handelt und welche Handlungsoptionen zur Verfügung stehen.

Dass die Kontrollüberzeugungen eine eindimensionale Struktur aufweisen, war ursprünglich die Annahme von Julian B. Rotter (1966), der das Konzept der Kontrollüberzeugungen entwickelte und in die Psychologie einbrachte. Spätere Entwicklungen haben zu einer Diversifikation geführt. Die Einteilung in internale und externale Kontrollüberzeugungen stellt die heutzutage am häufigsten verwandte Variante dar. Geht man davon aus, dass die internalen und externalen Kontrollüberzeugungen partiell ein Mischungsverhältnis eingehen – sich die Befragten in gewisser Hinsicht als selbstbestimmt, in anderer Hinsicht als fremdbestimmt wahrnehmen – so könnte man meinen, dass die Kombination der beiden Skalen unter Umständen ein realistischeres Bild der Kontrollüberzeugungen abgeben als die Beschränkung auf die einzelnen Komponenten. Allerdings können die Effekte der Subskalen – wie später dargelegt wird – unterschiedliche Effekte bewirken, was dafür spricht, diese in der Regel doch nicht zusammenzufassen.

4 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen PEGIDA-Anhängern und Bevölkerung

Wie man Tab. 1 entnehmen kann, sind die PEGIDA-Anhänger mehrheitlich – zu 90 % – der Ansicht, dass man heutzutage auf alles gefasst sein müsse. Und eine Mehrheit von 64 % bekundet, dass man es kaum noch verantworten könne, Kinder in die Welt zu setzen. Dass man sich heutzutage kaum mehr zurechtfindet, äußert demgegenüber nur eine Minderheit von 35 %. Aber auch dies ist noch eine Zahl, die mehr als doppelt so hoch liegt wie bei den Dresdnern.Footnote 27 Nennenswerte Ost-West-Unterschiede lassen sich auf Bevölkerungsebene nicht erkennen; die Dresdner und Düsseldorfer ähneln einander in ihrem anomische Erleben. Noch in den frühen 1990er-Jahren war dies nicht der Fall gewesen. Die Umbruchsituation in der Nachwendzeit hatte die Werte in Ostdeutschland überproportional in die Höhe getrieben.Footnote 28

Tab. 1 Verbreitung von Anomie bei PEGIDA-Teilnehmern, Bevölkerung in Dresden und Bevölkerung in Düsseldorf (in %)

Weil zwischen den Dresdner/Düsseldorfer-Erhebungen und der PEGIDA-Erhebung ein Zeitraum von mehr als einem Jahr liegt – die beiden Bevölkerungsumfragen vor Beginn der „Flüchtlingskrise“ und der Entstehung von PEGIDA durchgeführt wurden –, ist nicht ausgeschlossen, dass ein Teil des überhöhten anomischen Erlebens aufseiten der PEGIDA-Befragten eine Reaktion auf zwischenzeitliche Ereignisse darstellt. Untersuchungen, welche sich auf die Reaktion auf aktuelle Krisensituationen beziehen – den Terroranschlag auf das World Trade Center in New York (2001) oder die EHEC-Krise (2011) – ließen zwar in bundesdeutschen Studien nur partielle Ausschläge aufseiten der hier verwendeten Indikatoren erkennen (Reuband 2010b, 2021b). Ob dies ebenfalls im vorliegenden Fall zutrifft, kann mangels entsprechender Daten hier nicht geklärt werden. Nicht unwahrscheinlich ist, dass die Unterschiede zwischen den PEGIDA-Befragten und der Bevölkerung zum Zeitpunkt unserer Erhebung realiter etwas geringer sind, als es der Vergleich dokumentiert.

Betrachtet man die Sorgen und Zukunftsängste der Befragten näher (sie gibt es auf der Grundlage einer Liste mit ausgewählten Themen, vgl. dazu auch Online-Anhang A4), so zeichnet sich ab – wie man der Tab. 2 entnehmen kann –, dass sich die aktuelle Verunsicherung der PEGIDA-Befragten weniger auf Bereiche des eigenen Alltagslebens bezieht (wie Krankheit, Wohnungsfragen) als auf Bereiche ethnischer Zuwanderung und Kriminalität. Letzteres wird in einem engen Zusammenhang gesehen: Wer sich um den Zustrom von Asylbewerbern sorgt, der fürchtet überproportional häufig eine Zunahme der Kriminalität und fühlt sich auf den Straßen unsicherer.Footnote 29 Alles in allem legen die Befunde nahe, dass es sich bei der überproportionalen Verunsicherung der PEGIDA-Befragten weniger um eine generalisierte, als um eine bereichsspezifische Verunsicherung handelt, und dass diese weniger an persönlichen als an gesellschaftsbezogenen Lebensbedingungen und Ereignissen ansetzt.Footnote 30

Tab. 2 Zukunftssorgen, interpersonales Vertrauen und Zufriedenheit mit dem Leben bei PEGIDA-Teilnehmern, Bevölkerung in Dresden und Bevölkerung in Düsseldorf (in %)

Für diese Deutung spricht ebenfalls, dass sich in anderen Schlüsselvariablen für Anomie – wie das Misstrauen in andere MenschenFootnote 31 – die PEGIDA-Befragten von den Dresdnern und Düsseldorfer Befragten nicht unterscheiden. Dass es mehr gutwillige als böswillige Menschen gebe, meinen bei ihnen gar 86 %.Footnote 32 Dass sich die Teilnehmer der PEGIDA-Kundgebungen – zum Zeitpunkt unserer Erhebungen – durch ausgeprägte Misanthropie auszeichnen, sie die Welt und ihre Mitmenschen allgemein als wenig vertrauenswürdig wahrnehmen, ist nicht erkennbar.

Demgegenüber hatten in der Vergangenheit Untersuchungen erbracht, dass Befragte mit geringem Vertrauen in andere Menschen überproportional zu Ethnozentrismus, Autoritarismus und Rechtspopulismus neigen (vgl. u. a. Spier 2010, S. 243, Reinhardt und Frings 2020, S. 716; Heller et al. 2022, S. 467). Desgleichen hatten sie gezeigt, dass im Gegensatz zur Bevölkerung und den Wählern der anderen Parteien unter den AfD-Wählern nur eine Minderheit der Ansicht ist, dass man den meisten Menschen vertrauen kann (RTL 2019; Pickel et al. 2020, S. 112; Pokorny 2020, S. 56). Dass bei den PEGIDA-Teilnehmern, obwohl sie mehrheitlich die AfD präferieren,Footnote 33 kein solcher Zusammenhang besteht, legt nahe, dass das anomische Erleben bei einer Vielzahl der Teilnehmer eher partieller als generalisierender, allumfassender Natur ist.

Des Weiteren unterscheiden sich die PEGIDA-Befragten (im Gegensatz zu den AfD-Wählern) nicht von den anderen Befragten in ihrer Lebenszufriedenheit.Footnote 34 Unterschiede im persönlichen Erleben ergeben sich allenfalls in der Einschätzung der eigenen Zukunft: Die PEGIDA-Befragten äußern sich seltener optimistisch als die Dresdner und die Düsseldorfer. Dass sie „optimistisch“ oder „eher optimistisch“ seien, meinen 40 % von ihnen, während es bei den Dresdnern und Düsseldorfern 74–75 % sind. Würde man diejenigen dazu addieren, welche sich für die Mittelkategorie der Antwortskala entscheiden („weder pessimistisch noch optimistisch“), käme man bei den PEGIDA-Befragten auf einen Anteil von 73 %, bei den Dresdnern auf 95 % und bei den Düsseldorfern von 93 %. Die Unterschiede bleiben von ihrer Grundstruktur her also bestehen.

Des Weiteren zeigt sich, dass die PEGIDA-Befragten ihre eigene wirtschaftliche Zukunft sowie die wirtschaftliche Zukunft der Bundesrepublik pessimistischer einschätzen. So wurde die eigene wirtschaftliche Lage in einem Jahr von 57 % der PEGIDA-Befragten als „wesentlich besser“, „etwas besser“ oder „gleich“ beurteilt, von den Dresdnern hingegen von 89 %. Dass die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik in einem Jahr „wesentlich besser“, „etwas besser“ oder „gleich“ sei, meinten von den PEGIDA-Befragten nur 13 % (für Dresden gibt es dazu keine Vergleichsdaten). Bezogen auf die eigene aktuelle wirtschaftliche Situation erwiesen sich die PEGIDA-Befragten hingegen nicht als pessimistischer: 69 % werteten ihre eigene wirtschaftliche Lage als „sehr gut“ oder „gut“, die Dresdner Befragten taten dies zu 61 %.

Dass die PEGIDA-Befragten über ihre eigene Zukunft pessimistischer urteilen als die Befragten in Dresden und Düsseldorf ist vermutlich weniger die Folge eines generell größeren Pessimismus ihrerseits als vielmehr die Folge der von ihnen wahrgenommenen gesellschaftlichen Verhältnisse, denen eine Rückwirkung auf die eigene Lebensführung unterstellt wird (wie realistisch oder unrealistisch diese Vorstellungen auch sein mögen). Dabei ist es weniger die „Flüchtlingskrise“, die einen Anteil daran hat,Footnote 35 als die Wahrnehmung der zukünftigen wirtschaftlichen Lage und die Zweifel am Staat – dass „man sich, wenn notwendig, auf ihn verlassen“ könne.Footnote 36

Der Blick auf die geäußerten Kontrollüberzeugungen (Tab. 3) zeigt, dass eine große Mehrheit aller Befragter von sich sagt, sie hätten ihr Leben selbst in der Hand, und dass sie Erfolg hätten, wenn sie sich anstrengen würden. Dass ihr Leben zum größten Teil von anderen bestimmt und ihre Pläne oft vom Schicksal durchkreuzt würden, äußerte lediglich eine Minderheit. Im Vergleich der PEGIDA-Befragten mit den Dresdnern wird deutlich, dass sowohl die internalen als auch die externalen Kontrollüberzeugungen nur minimale Unterschiede zwischen ihnen erbringen. Die PEGIDA-Befragten zeichnen sich zwar etwas häufiger durch geringer eingeschätzte Handlungsmöglichkeiten aus, doch die Differenzen betragen nicht mehr als 7–8 Prozentpunkte. Desgleichen lassen sich keine größeren Unterschiede zur Düsseldorfer Bevölkerung erkennen. Ebenso wenig, wie dies zwischen den Dresdnern und den Düsseldorfern der Fall ist.

Tab. 3 Verbreitung von internalen und externalen Kontrollüberzeugungen bei PEGIDA-Teilnehmern, Bevölkerung in Dresden und Bevölkerung in Düsseldorf (in %)

Besonders der Befund zu PEGIDA erstaunt – erscheint es doch auf den ersten Blick naheliegend, zu vermuten, dass das subjektiver Kontrollerleben und das anomische Erleben eng miteinander korrelieren, ja nahezu gleichzusetzen sind. Dass beides miteinander korreliert, trifft zwar zu, doch halten sich die Korrelationen sehr in Grenzen: Unter den PEGIDA-Teilnehmern korreliert die Anomie mit den internalen Kontrollüberzeugungen r = −0,14 (p < 0,001) und mit den externalen Kontrollüberzeugungen r = 0,32 (p < 0,001). Würde man beide Kontrollüberzeugungen in einer Skala zusammenfassen, würde sich am Grundbefund nichts ändern, man käme auf ein r = −0,27 (p < 0,001). Die Beziehung bliebe nach wie vor relativ schwach.

In dieser Hinsicht unterscheiden sich die PEGIDA-Befragten in nichts von der Bevölkerung in Dresden und Düsseldorf. So korreliert in der Dresdner Bevölkerung die Anomie mit den internalen Kontrollüberzeugungen r = −0,13 (p < 0,001) und mit den externalen r = 0,27 (p < 0,001). Und, wenn man beide Sub-Skalen zu einer zusammenfasst, mit r = −0,26 (p < 0,01). Ähnlich die Situation unter den Düsseldorfer Befragten. Unter ihnen korreliert die Anomie mit den internalen Kontrollüberzeugungen r = −0,17 (p < 0,001) und mit den externalen r = 0,28 (p < 0,001). Und, wenn man beide Sub-Skalen zusammenfasst, mit r = −0,28 (p < 0,01). Offenbar sind Anomie, die auf wahrgenommene gesellschaftliche Veränderungen rekurriert, und das Gefühl, über das eigene Leben selbstständig entscheiden zu können, analytisch und empirisch voneinander zu unterscheiden. Wer meint, die Welt sei in Unordnung, muss nicht notwendigerweise der Ansicht sein, das eigene Leben sei fremdbestimmt und jenseits eigener Handlungsmöglichkeiten.

Ein Grund für den geringen Zusammenhang zwischen Anomie und Kontrollüberzeugungen könnte darin liegen, dass sich der zeitliche Bezugsrahmen unterscheidet: dass die aktuellen Ereignisse, die sich im anomischen Erleben ausdrücken, einen kürzeren Zeithorizont aufweisen als die Kontrollüberzeugungen. Und dass die Befragten aufgrund dessen der Ansicht sind, dass vieles, was aktuell in der Gesellschaft Anlass zur Sorge ist, einen vorübergehenden Charakter hat und man eine Kontrolle – wenn auch womöglich nicht vollständig – über die eigenen Lebensumstände beibehält. Die Erfahrungen der Vergangenheit mögen das ihre dazu beigetragen haben: Wer die größte Zeit des bisherigen Lebens das Gefühl hatte, über das eigene Leben selbst zu bestimmen, wird ein entsprechendes Selbstbildnis entwickelt haben, das auch durch kurzfristige Ereignisse nicht nachhaltig beschädigt wird.

5 Einfluss von Anomie und Kontrollüberzeugungen auf Ethnozentrismus und „Law and Order“-Orientierungen

Wie verhält es sich mit den Auswirkungen von anomischem Erleben und Kontrollüberzeugungen auf rechtspopulistische Einstellungen? Man kann der Frage in unserer Untersuchung am besten nachgehen, wenn man zwei Schlüsselindikatoren für Rechtspopulismus – Ethnozentrismus und „Law and Order“-Orientierungen – der Analyse zugrunde legt. Damit ist zwar nur ein Teil der Dimensionen erfasst, die in ihrer jeweiligen Konstellation Rechtspopulismus konstituieren, aber es ist ein durchaus zentraler Teil.Footnote 37 Per se müssen diejenigen, welche einzelne Statements bejahen, zwar nicht zwingend rassistisch bzw. punitiv im aggressiven Sinne sein,Footnote 38 aber je größer bei ihnen das Ausmaß der Zustimmung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit dafür. Der Ethnozentrismus wird hier erfasst über drei Items,Footnote 39 die „Law and Order“-Orientierung über ein Item, welches die Forderung nach härteren Strafen beinhaltet („Um Kriminalität zu verhindern, brauchen wir in Deutschland strengere Strafen“).

Auf der Basis bisherigen Bevölkerungsumfragen würde man erwarten, dass hohe Grade an Anomie mit ethnozentrischen und mit „Law and Order“-Einstellungen einhergehen (vgl. u. a. Hermann 2001; Kühnel et al. 2009; Reuband 2010a; Heyder und Gaßner 2012). Und wählt man das Kontrollverlust-Argument als Maßstab, würde man davon ausgehen, dass die internalen Kontrollüberzeugungen rechtspopulistische Einstellungen dämpfen, während die externalen sie begünstigen: Wer glaubt, gegenüber den gesellschaftlichen Veränderungen mehr oder minder hilflos zu sein, sich nicht dagegen wehren zu können, wird rigider werden, und Zuflucht in sozialer Abgrenzung und Punitivität suchen.

Betrachtet man zunächst die Verhältnisse in der Dresdner und der Düsseldorfer Bevölkerung (Tab. 4), so ergibt sich – unter Kontrolle der Merkmale Geschlecht, Alter und BildungFootnote 40 – in beiden Städten ein statistisch signifikanter Effekt der Anomie auf den Ethnozentrismus – auf die Einstellung zu Ausländern und Asylbewerbern –, und die Forderung nach strengeren Strafen. Dies trifft im letzteren Fall selbst dann zu, wenn man die Kriminalitätsfurcht als mögliche intervenierende Variable – gemessen an der Sorge um die Zunahme der Kriminalität – in der Analyse kontrolliert. Der Anomie-Effekt erweist sich relativ zu den Effekten der anderen Variablen in seiner Stärke als durchaus beachtenswert – er ist gleich stark oder gar stärker als der Bildungseffekt (dem in der Literatur gewöhnlich ein besonders herausgehobener Stellenwert zugeschrieben wird).

Tab. 4 Ethnozentrismus und Punitivität in Abhängigkeit von Anomie, Kontrollüberzeugungen und sozialen Merkmalen bei PEGIDA-Teilnehmern, Bevölkerung in Dresden und Bevölkerung in Düsseldorf (Beta-Koeffizienten der OLS-Regressionsanalyse)

Was die Kontrollüberzeugungen in der Dresdner Bevölkerung angeht, so lässt sich im Hinblick auf das „Law and Order“-Statement lediglich bei den internalen Kontrollüberzeugungen ein leichter Effekt konstatieren, nicht aber bei den externalen Kontrollüberzeugungen. Anders als erwartet, ist der Effekt der internalen Kontrollüberzeugungen aber keiner, der das punitiven Strafverlangen eindämmt – im Gegenteil, es wird gestärkt.Footnote 41 Diese Tendenz lässt sich bereits auf der Ebene der bivariaten Korrelation feststellen, und sie tritt ebenfalls hervor, wenn man die beiden einzelnen Items getrennt der Analyse zuführt.Footnote 42 Im Fall der Düsseldorfer Bevölkerung ist der Einfluss der internalen Kontrollüberzeugungen ähnlicher Art wie in Dresden – nur ist davon nun nicht allein das Strafverlangen betroffen, sondern ebenso die Einstellung zu Ausländern. In beiden Fällen gilt, dass rechtspopulistische Einstellungen umso häufiger sind, je mehr die Befragten glauben, über ihr Leben selbst zu bestimmen.

Bei den PEGIDA-Befragten – die ohnehin schon mehrheitlich meinen, es gebe zu viele Ausländer und es bedürfte strengerer Strafen, und die selbst hohe Anomie-Werte innehaben – erweist sich ebenfalls die Anomie als eine bedeutende Einflussgröße, sowohl im Hinblick auf den Ethnozentrismus als auch auf die „Law and Order“-Orientierungen. Demgegenüber üben die internalen Kontrollüberzeugungen einen schwachen Effekt aus auf den Ethnozentrismus – in der gleichen Weise wie in der Bevölkerung –, die externalen Kontrollüberzeugungen jedoch üben keinen Effekt aus. Damit wird das Muster, das sich schon in der Bevölkerung fand, reproduziert.Footnote 43 Die Unterschiede zwischen den PEGIDA-Befragten und der Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland in den Einflussgrößen für Rechtspopulismus sind eher gradueller als grundsätzlicher Natur.

Warum aber begünstigt die Einschätzung, die eigenen Lebensumstände wären allein eine Folge eigenen Handelns und nicht externen Umständen geschuldet, punitive Einstellungen? Womöglich spiegelt sich darin ein bestimmtes Menschenbild, das über die eigene Person hinausreicht und anderen Menschen ähnliche Ausgangs- und Rahmenbedingungen für ihr Handeln unterstellt. Der Rechtsbrecher wäre aus dieser Sicht eigenverantwortlich für sein Handeln und kann sich nicht auf widrige Umstände und externe Zwänge berufen. Umso mehr erscheinen harte Strafen als angemessene Reaktion. Die Reaktion auf die Devianz unterläge einer Art Rational-Choice-Perspektive.

Gegenüber Ausländern, vor allem gegenüber Asylbewerbern, könnte ebenfalls ein solches Menschenbild zeitweise das Urteil mitbestimmt haben: Sofern die seinerzeit in der Öffentlichkeit verbreitete Deutung von den Befragten infrage gestellt wurde, die Flüchtlinge kämen allein unter dem Einfluss externer Zwänge – etwa des Syrienkrieges nach Deutschland.Footnote 44 Wird die Entscheidung für Deutschland (anstelle anderer Länder in Europa) als die Folge freier Wahlentscheidungen und nicht externer Zwänge gedeutet, könnte sich – so die Hypothese – die Empathie und Sympathie für die Flüchtlinge in Grenzen halten.Footnote 45 Leider ist es nicht möglich, dieser Hypothese nachzugehen. In der PEGIDA-Befragung gab es zwar ein Statement, das sich auf die Motive der Migration bezog, aber dieses als Grundlage für die Replikation der oben durchgeführten Regressionsanalysen zu nehmen, unterliegt Grenzen der Analysemöglichkeiten.Footnote 46

6 Schlussbemerkungen

PEGIDA hat seit der Gründung mehrere Konjunkturen durchlaufen, die im Lauf der Zeit mit unterschiedlichen hohen Teilnehmerzahlen, unterschiedlichen gesellschaftlichen Herausforderungen und Profilen des PEGIDA-Protests einhergingen. Blieb auch die Kritik am Islam und die Ablehnung des Flüchtlingszuzugs ein dauerhaftes Thema, so traten doch im Zeitverlauf wiederholt andere Aspekte dazu und bestimmten mal stärker und mal weniger stark mit über die Selbstwahrnehmung und Außendarstellung. Inwieweit die Integration neuer Themen in das eigene Profil – wie Coronapolitik oder Ukraine-Krieg – aus der prinzipiellen Ablehnung des Regierungshandelns heraus erwuchs oder als Mittel des Selbsterhalts immer dann bevorzugt gewählt wurde, wenn das eigene Thema – Islam und „Flüchtlingskrise“ – in der sozialen Realität an Bedeutung verlor, sei dahingestellt.

Sicher jedoch ist: Jede dieser Herausforderungen, die zum Thema wurden, ist mit Fragen gesellschaftlicher Unsicherheit und möglichem subjektivem Kontrollverlust verbunden. Es bedarf nicht eines gesellschaftlich inhärenten Anstiegs von Anomie, um zu verstehen, dass Menschen durch die Ereignisse in unterschiedlichen Graden Verunsicherung erfahren und darauf mit Bewältigungsstrategien reagieren, die sich in politischen Orientierungen und Handeln niederschlagen können. Dass Ereignisse Anomie in stärkerem oder schwächerem Maße begünstigen können, steht außer Zweifel. Desgleichen steht außer Zweifel, dass es in der Gesellschaft stets einen Anteil von Personen gibt, denen das anomische Erleben aufgrund der persönlichen und sozialen Lebensumstände eigen ist. Dass sich Anomie aufgrund des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels kontinuierlich in der Gesellschaft ausgebreitet hat und sich auch weiter ausbreiten wird, Angst und Unsicherheit gar das Kennzeichen der Moderne sei, wie manche Autoren meinen (u. a. Hüpping 2006, S. 97; Bude 2014; Heitmeyer 2018, S. 121–125, 278), ist empirisch hingegen höchst fragwürdig. Es gibt keine Belege für einen längerfristigen Anstieg von Orientierungslosigkeit und allgemeiner Verunsicherung.Footnote 47 Das Gegenteil ist der Fall, die Werte sind stabil oder rückläufig (vgl. Lübke und Delhey 2019; R+V Versicherung 2022). Dass ein Anstieg selbst in den Erhebungen der Autoren nicht erkennbar ist, die von einer gegenteiligen Entwicklung ausgehen (vgl. z. B. Heitmeyer 2018, Abb. auf S. 140), zeugt von einer allzu großen Faszination des eigenen Arguments auch jenseits der sozialen Wirklichkeit.

Unsere Untersuchung bezog sich auf eine Phase in der Historie von PEGIDA, in der die zentrale Frage der PEGIDA-Existenz – hoher Zustrom von Personen muslimischer Herkunft und illegale Migration – die öffentliche Auseinandersetzung noch nachhaltig bestimmte und PEGIDA in großem Umfang Menschen zu mobilisieren vermochte. Damals überschlugen sich noch Ereignisse im Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“, und davon machten die Redner bei PEGIDA auch gern Gebrauch: Indem sie diese in den Bezugsrahmen des PEGIDA-Protests setzten, die negativen Aspekte des Geschehens dramatisierten, Schuldzuweisungen daran anknüpften und so aufseiten der Teilnehmer Verunsicherung und Empörung in gewissem Umfang verstärkt haben dürften.

Die Ergebnisse der Analyse zeigten, dass sich die Teilnehmer des PEGIDA-Protests gegenüber der Bevölkerung durch ein höheres Ausmaß an Anomie auszeichneten, nicht aber durch eine geringer eingeschätzte persönliche Wirkungsmächtigkeit. Die Unterschiede auf der Ebene der Kontrollüberzeugungen erwiesen sich als minimal. Womöglich, so könnte man mutmaßen, waren die eigenen wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten mit ein Grund dafür, warum trotz anomischen Erlebens kein Rückzug, sondern im Gegenteil politischer Aktivismus – die mehr oder minder regelmäßige Teilnahme an den PEGIDA-KundgebungenFootnote 48 – typisch ist. So meinten 82 % der von uns befragten PEGIDA-Teilnehmer auf eine entsprechende Frage, dass die Kundgebungen von PEGIDA etwas zum Besseren ändern würden. Der Glaube an eine Wirksamkeit des eigenen Handelns war also zumindest auf kollektiver Ebene vorhanden. Und der symbolische Bezug auf die Montagsdemonstrationen der Wendezeit der DDRFootnote 49 und die ihnen zugeschriebene Wirkungsmächtigkeit – als Todesstoß für das DDR-Regime – mögen das Ihrige dazu beigetragen haben.

Dass sich die PEGIDA-Teilnehmer gegenüber der Bevölkerung als anomischer erwiesen, bedeutet nicht, dass sie in generalisierter Weise verunsichert sein müssen. Das erfragte Sorgenspektrum deutet vielmehr darauf hin, dass es sich eher um bereichsspezifische Verunsicherungen handelte, und dass diese weniger an persönlichen als an gesellschaftsbezogenen Lebensbedingungen und Ereignissen ansetzten. In bedeutsamen Orientierungen, die dem anomischen Erleben und dem Rechtspopulismus oftmals zugerechnet werden – wie dem generalisierten Vertrauen in andere Menschen –, unterschieden sie sich zudem nicht von der Bevölkerung, weder der in Ost- noch in Westdeutschland.

Anomie prägt nicht nur die Teilnehmer des PEGIDA-Protests im Vergleich zur Bevölkerung. Sie nimmt ebenfalls Einfluss auf die Verbreitung rechtspopulistischer Einstellungen, gemessen am Ethnozentrismus und „Law and Order“-Orientierungen, sowohl in der Bevölkerung als auch unter den PEGIDA-Teilnehmern. Von der Effektstärke ist die Anomie dem Einfluss der Bildung gar überlegen. Die internalen Kontrollüberzeugungen wiesen in der Bevölkerung ebenso wie bei PEGIDA im Vergleich zur Anomie einen deutlich schwächeren Effekt auf. Dass die internalen Kontrollüberzeugungen in der Bevölkerung einen Effekt ausübten, der konträr zu den Annahmen über die Wirkungen von subjektiver Handlungskontrolle ausfiel – höhere und nicht etwa niedrige Selbstwirksamkeit begünstigte punitive Orientierungen und partiell Ethnozentrismus –, erwies sich dabei als ein unerwarteter Befund. Vergleichsdaten aus anderen Erhebungen fehlen, sodass es nicht möglich ist, die Generalisierbarkeit dieses Befundes einzuschätzen.

Anders verhält es sich mit den externalen Kontrollüberzeugungen. Dass diese keinen Effekt ausüben, ist kein Spezifikum unserer Untersuchung. Befunde gleicher Art finden sich in einer bundesweiten Studie, in der es um die Haltung gegenüber der AfD ging. Hier zeigte sich, dass das wahrgenommene (externale) Kontrolldefizit („Was auch immer ich mir vornehme, mein Leben wird zum großen Teil von anderen Menschen und zufälligen Ereignissen bestimmt“) nicht den Zusammenhang zwischen populistischen Orientierungen und AfD-Präferenz verstärkte. Ein Effekt der Kontrollüberzeugungen ließ sich nicht nachweisen (Giebler et al. 2019, S. 97). Dass in einer Untersuchung von Richard Hilmer und Koautoren hingegen das wahrgenommene (externale) Kontrolldefizit („Über mein Leben wird irgendwo draußen in der Welt entschieden“) die AfD-Wahl begünstigte (Hilmer et al. 2917, S. 47) dürfte im Wesentlichen damit zu tun haben, dass die Frage in einem sehr spezifischen Fragekontext – dem der Arbeitswelt – gestellt wurde. Damit dürfte der Bezugsrahmen bei der Beantwortung ein anderer sein als in unserer Untersuchung und in der oben zitierten Untersuchung von Heiko Giebler und Koautoren.

Dass die Anomie nur sehr schwach mit den Kontrollüberzeugungen korreliert, war ein weiterer bedeutsamer Befund. Offenbar führt die Wahrnehmung von ungeordneten, im Einzelnen nicht vorhersehbaren Ereignissen in der Gesellschaft nicht zwingend dazu, sich selbst als handlungsohnmächtig wahrzunehmen. Die eigenen Lebenserfahrungen, die zeitlich umfassender sind als die wahrgenommenen aktuellen anomischen Zustände, relativieren vermutlich den Einfluss des anomischen Erlebens.Footnote 50Aus dieser Sicht ist der wahrgenommene Kontrollverlust auf der Gesellschaftsebene nicht mit einem Kontrollverlust auf der Ebene des persönlichen Erlebens gleichzusetzen.

Als erwähnenswert ist schließlich noch der Befund zu werten, dass sich die ost- und westdeutschen Befragten – in Dresden und in Düsseldorf – in ihren persönlichen Kontrollüberzeugungen nicht unterschieden.Footnote 51 Und dies obwohl die Ostdeutschen mit der Wende einen grundlegenden Systemwechsel erlebten, der ihre bisherigen Selbstverständlichkeiten infrage stellte und sie massiven Brüchen in der eigenen Biografie aussetzte. Inwieweit früher Unterschiede im Anomie- und subjektiven Kontrollerleben bestanden, in welchen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und in welchem Umfang, ist im vorliegenden Fall ungewiss. In den in der Familie erfahrenen Erziehungspraktiken, denen für die Prägung der Persönlichkeit eine herausgehobene Rolle zukommt, gab es sie nicht.Footnote 52