1 Einleitung

Welche Veränderungen bringt eine Vergrößerung einzelner Wahlkreise, die durch die angestrebte Verkleinerung der Wahlkreisanzahl für die nächste Bundestagswahl bedingt sein wird, für das Verhältnis von Wählenden und Gewählten mit sich? Weniger Wahlkreise bedeuten zum einen, dass die Fläche jedes verbleibenden Wahlkreisgebiets sich im Schnitt vergrößert und zum anderen, dass die Anzahl von Wahlberechtigten pro Wahlkreis anwächst. Im März 2022 wurde im Deutschen Bundestag auf Antrag der Regierungsfraktionen die „Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit“ eingesetzt. Gemäß dem Bundeswahlgesetz (BWahlG) § 55 soll die Reformkommission sich mit Fragen des Wahlrechts befassen und entsprechende Empfehlungen zu dessen Veränderung erarbeiten. Der konkrete Arbeitsauftrag dieser Kommission beinhaltet unter anderem Vorschläge, um den Bundestag in Richtung der gesetzlichen Regelgröße von 598 Sitzen zu verkleinern. Herausragende mathematische, juristische, politikwissenschaftliche und parteipolitische Expertisen wurden bereits eingeholt, welche den Wahlrechtsreformprozess seit Jahren aktiv begleiten. Dennoch gibt es über die Wirkung einiger Vorschläge und Charakteristiken des bundesdeutschen Wahlrechts auf die Wähler*innen nur viele Vermutungen, die wissenschaftliche Evidenz dazu ist häufig dünn (für eine ähnlich lautende Kritik, siehe Jankowski et al. 2019, S. 223). Das wollen wir beginnen zu ändern, und so ein zentrales Argument der aktuellen Wahlrechtsreformdebatte im Hinblick auf die angestrebte Verkleinerung des Bundestages versachlichen.

Unser Beitrag geht der Frage nach, ob und welche möglichen Konsequenzen es für Wähler*innen hätte, wenn die Anzahl der deutschen Bundestagswahlkreise von bisher 299 verkleinert würde. Für unsere Analyse nutzen wir Daten der GLES Nachwahlstudie für alle Bundestagswahlen von 2002–2021 in Kombination mit Strukturdaten aller Wahlkreise des Bundeswahlleiters. Unser Forschungsdesign umfasst drei Schritte. In einem ersten Schritt interessieren wir uns für den Effekt von Bevölkerungsgröße bei gleichbleibender Fläche des Wahlkreises. Im zweiten Schritt interessieren wir uns für den Effekt von geografischer Wahlkreisgröße, also der Fläche, bei gleichbleibender Bevölkerungsgröße des Wahlkreises. Da eine Reduzierung der Wahlkreise im Durchschnitt aber zwangsweise zu einer Vergrößerung von sowohl der Bevölkerungsgröße als auch der Fläche des Wahlkreises führt, schätzen wir im dritten Schritt den Effekt beider Faktoren zusammen.

Die Ergebnisse zeigen, dass größere Wahlkreise weder hinsichtlich der Zunahme der Bevölkerung noch der Fläche des Wahlkreisgebietes einen (negativen) Einfluss auf Demokratiezufriedenheit und Bürgerkompetenz („political efficacy“) von Wähler*innen hat. Unsere Analysen können somit nicht die von manchen Parteien geäußerte Sorge bestätigen, dass eine Vergrößerung der Wahlkreise mit zuwachsender Politikferne einherginge. Wenn also die Zusammenlegung von Wahlkreisen dazu beiträgt, die Größe des Bundestags zu verkleinern, so gibt es keine erkennbaren Gründe seitens der Wählenden gegen eine jene Reform.

2 Hintergrund

Ein, wenn nicht sogar der Schwerpunkt der aktuellen Reformdebatte ist die Größe des Parlaments. Der Bundestag ist insbesondere in letzter Zeit aufgrund von Überhang- und Ausgleichsmandaten beständig angewachsen: auf derzeit 736 Sitze anstelle der regulären 598 Sitze. Das wird zumeist als Problem gesehen. Neben den Mehrkosten für die Steuerzahler*innen und der beeinträchtigten Arbeitsweise eines aufgeblähten Parlaments sieht die Politikwissenschaft (etwa Decker und Jesse 2017; Lembcke und Heber 2018) insbesondere den demokratietheoretisch wichtigen Sanktionscharakter von Wahlen ad absurdum geführt, wenn entsprechende Stimmenverluste von Parteien nicht zu Mandatsverlusten führen, nur weil die Größe des Bundestags aufgrund von Ausgleichsmandaten zunimmt.

In der Reformdiskussion geraten zwei Aspekte in den Fokus. Zum ersten geht es darum, den Bundestag dadurch zu verkleinern, dass man das Bundesgebiet in weniger Wahlkreise unterteilt. Durch jene Maßnahme können die Möglichkeiten für Überhang- und Ausgleichsmandate von vornherein eingeschränkt werden. Damit einher geht jedoch auch eine Veränderung bestimmter Wahlkreischarakteristika, etwa vergrößerte Wahlkreise: Zum einen vergrößert sich die Fläche des Wahlkreisgebiets und zum anderen gibt es durchschnittlich mehr Wahlberechtigte pro Wahlkreis. Das kann unterschiedliche und möglicherweise nichtintendierte Konsequenzen für Wähler*innen haben, die im öffentlichen Diskurs häufig kritisiert werden. So wird in der aktuellen Diskussion zur Bundesdeutschen Wahlrechtsreform die Sorge geäußert, vergrößerte Wahlkreise könnten nicht nur geografisch, sondern auch politisch zu weniger Nähe zwischen Abgeordneten und Bürger*innen führen (Krings 2019) und so die „Distanz der Bundespolitik zum Bürger nur vergrößern“ (Frieser 2019, S. 8).Footnote 1 Wir wollen in diesem Beitrag beleuchten, ob jene Kritik auch empirisch zu belegen ist.

Im Oktober 2020 hat sich der damalige Bundestag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD auf eine Änderung des Bundeswahlgesetzes geeinigt, wonach die Anzahl der Wahlkreise von 299 nun mit Wirkung zum 1. Januar 2024 auf 280 gesenkt werden soll (Bundestag, Drucksache 19/22504). Vorausgegangen war ein weitergehender Gesetzesvorschlag der damaligen Oppositionsfraktionen FDP, Grüne und die Linke, der die Anzahl der Wahlkreise sogar auf 250 senken wollte.

Die Bundestagswahlkreise variieren in der Größe der Bevölkerung und in ihrer Fläche. Der durchschnittliche deutsche Wahlkreis der Bundestagswahl 2021 war 1959 km2 groß und zählte eine Bevölkerung von gerundet 278.147 Bürger*innen.

Abb. 1 zeigt diese Variation zwischen den deutschen Bundestagswahlkreisen, deren Fläche jeweils auf der horizontalen Achse, und Bevölkerungszahl auf der vertikalen Achse abgetragen ist. Die entsprechenden Häufigkeitsverteilungen der Wahlkreise, die hinsichtlich der Fläche oben und hinsichtlich der Bevölkerungszahl auf der rechten Seite des Streudiagramms zusätzlich abgebildet sind, verdeutlichen diese Variation. Zur besseren Orientierung teilen wir jede Verteilung in Quartile ein, um Bereiche zu identifizieren, in denen die Wahlkreise ähnlich groß sind. So sehen wir etwa, dass kleinflächige Wahlkreise des ersten Quartils (in dunkelgrau) sich weniger größenmäßig voneinander unterschieden als die flächenmäßig größten Wahlkreise des vierten Quartils (in hellgrau). So ist beispielsweise Johannes Arlts Wahlkreis (Mecklenburgische Seenplatte II – Landkreis Rostock III) im Flächenland Mecklenburg-Vorpommern der bundesweit größte – mit 6278 km2 bei einer Bevölkerungszahl von nur 251.300. Am anderen Extrempunkt der Skala gibt es auch Wahlkreise, in denen man problemlos von Termin zu Termin mit dem Fahrrad kommt, wie etwa in Berlin-Mitte, im Bundestag vertreten durch Hanna Steinmüller: Auf lediglich 39 km2 verteilten sich dort im Jahr 2021 circa 377.400 Bürger*innen.

Abb. 1
figure 1

Deskriptive Verteilung der deutschen Bundestagswahlkreise 2021 nach Fläche in Quadratkilometern und Bevölkerungszahl in 1000.

Wahlkreisvariation in Hinblick auf Fläche und Bevölkerung ist in Deutschland evident. Jedoch ist dies kein einzig deutsches Phänomen, sondern ergibt sich zwangsläufig, wenn ein Wahlgebiet in mehrere Wahlkreise eingeteilt wird. Um Fairness der individuellen Einflussnahme Wahlberechtigter durch ihr Stimmgewicht auf politische Entscheidungsprozesse sicherzustellen, werden in vielen Demokratien Wahlkreise entsprechend der Bevölkerungszahl eingeteilt oder die zu vergebende Mandatszahl im Wahlkreis jeweils angepasst. In der Bundesrepublik hat man sich für den ersten Weg entschieden. Indem jeder Wahlkreis ungefähr gleich viele Wahlberechtigte zählt, soll ermöglicht werden, dass die Stimmabgabe von Wähler*innen in unterschiedlichen Wahlkreisen gleich viel Einfluss auf das Ergebnis von Wahlen hat. Durch ungleichmäßige Bevölkerungsentwicklung, auch als demografische Heterogenität bekannt, übersetzt sich diese Vorgehensweise der Wahlkreiseinteilung langfristig jedoch in eine nichtintendierte Ungleichheit der Wahlkreise. Während schnell wachsende Städte immer dichter besiedelt werden und so der Fläche nach kleineren Wahlkreisen bedürfen, entwickeln sich Wahlkreise in ländlichen Gebieten in die entgegengesetzte Richtung und werden bei Anpassungen stetig flächenmäßig vergrößert. Im aktuellen Bundeswahlgesetz (BWahlG) § 3,3 stehen explizite „Soll“- (15 %) und „Muss“-Grenzen (25 %) für die Abweichung der Bevölkerungszahl eines Wahlkreises (nichtdeutsche Bevölkerung ist davon ausgenommen) vom jeweiligen Durchschnitt. Werden jene Grenzen überschritten, ist eine Neuabgrenzung vorzunehmen. Ein solches Kriterium hinsichtlich der geografischen Fläche des Wahlkreisgebietes findet sich im Bundeswahlgesetz nicht.

Zusammenfassend gibt es somit bereits vor der anstehenden Reform der Wahlkreiseinteilung hinsichtlich Fläche und Bevölkerung vieler Wahlkreise große Abweichungen vom Durchschnitt, welche in beide Richtungen ausgeprägt sind. Steigende Differenzen der Bevölkerungsentwicklung berücksichtigend, ist es deswegen unabdinglich, zu verstehen, ob und wie sich der politische Prozess in kleinen Wahlkreisen von jenem in großen Wahlkreisen unterscheidet.

Die Literatur in der Politikwissenschaft zum Einfluss der Wahlkreisgröße – meist zurückgehend auf den Klassiker von Dahl und Tufte (1973) – liefert ein zentrales Argument für potenzielle Kontexteffekte: Eine Vergrößerung des Wahlkreises erschwert die Wahlkreisarbeit der Kandidierenden und Abgeordneten, beeinträchtigt aber auch die Kommunikation zwischen den Wähler*innen untereinander sowie mit den Kandidierenden. Zum einen erschwert eine Vergrößerung von Wahlkreisen die Wahlkreisarbeit, weil es die Erreichbarkeit der Kandidierenden bzw. Abgeordneten einschränkt. Nicht nur aufgrund der vergrößerten Geografie, sondern auch, weil bei einer höheren Bevölkerungszahl mehr Interaktion mit der Bevölkerung und daher mehr Vorgänge, die bearbeitet werden müssen, zu erwarten sind. Dies könnte sich als nachteilig für die politische Willensbildung erweisen (etwa Behnke 1,2,a, b; Grzeszick 2020), Politikverdrossenheit und Politikferne fördern und letztlich Akzeptanz und Legitimation der parlamentarischen Demokratie beschädigen.

In der Literatur gibt es bisher lediglich ein paar wenige Studien, die sich allerdings allgemeiner mit dem Effekt der Größe von verschiedensten Gebietskörperschaften auf politische Einstellungen und Verhalten der Bürger*innen beschäftigen. Zum einen gibt es Evidenz zum Wählerverhalten in den US-Bundesstaaten, dass Befragte in Staaten mit im Durchschnitt größeren Wahlkreisen systematisch die jeweilige Regierung der Bundesstaaten schlechter bewerten (Bowen 2022) und ihr weniger vertrauen (Wolak 2020). Für Kanada findet sich kein systematischer Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsgröße eines Wahlkreises und der Demokratiezufriedenheit von Befragten in diesen Wahlkreisen bzw. ob sie von Politiker*innen im Wahlkampf kontaktiert wurden (Thomas et al. 2013). In Dänemark finden Lassen und Serritzlew (2011) hingegen bei einer Analyse auf Stadtebene, dass sich Befragte in bevölkerungsreicheren Städten systematisch weniger in der Lage sehen, die lokale Politik zu verstehen und sich an ihr zu beteiligen („internal political efficacy“). Für Deutschland schließlich untersuchen Zabler et al. (2020) den Einfluss der Größe von anderen Gebietskörperschaften, nämlich Landkreisen, auf deren Wahlbeteiligungsrate und die AfD-Stimmenanteile, ohne jedoch einen systematischen Effekt hierfür zu finden. Allerdings werden hierfür keine Individualdaten benutzt.

Für die Bundesrepublik gibt es bisher keine Studie zum Einfluss der Wahlkreisgröße auf individuelle politische Einstellungen. Auch scheint die genaue Kausalkette, wie der Effekt wirksam werden soll, nicht immer genau spezifiziert. Allerdings scheint zumindest implizit die Annahme zu unterliegen, dass erschwerte politische Willensbildung zu Unzufriedenheit und Vertrauensverlusten mit den handelnden Akteuren, dem politischen System und letztlich seiner Legitimität führen. Dieses Argument ist mit den vorhandenen Daten schwer systematisch zu testen. Allerdings sollten Bürger*innen, sofern diese Argumente stimmen, in größeren Wahlkreisen folglich weniger zuversichtlich sein, selbst Einfluss auf politische Prozesse nehmen zu können und daher auch weniger zufrieden mit der Demokratie sein. Wenn dem tatsächlich so ist, sollten wir systematische Unterschiede zwischen Wähler*innen in kleinen und großen Wahlkreisen hinsichtlich bekannter Charakteristiken der politischen Partizipationsforschung beobachten können. Es wäre, dem Argument folgend, daher erwartbar, etwa niedrigere „political efficacy“ (Bürgerkompetenz) oder auch niedrigere Demokratiezufriedenheit bei Befragten in größeren Wahlkreisen zu finden. Solche Items, hingegen, werden in zahlreichen Survey-Instrumenten abgefragt, die zudem erlauben, diese Befragten auch ihren Bundestagswahlkreisen zuzuordnen.Footnote 2

3 Daten, Methoden und Operationalisierung

Um potenzielle Effekte von Wahlkreisgröße zu untersuchen, nutzen wir alle Wellen der Nachwahlstudie der German Longitudinal Election Study (GLES) bzw. anderer akademischer GLES-Vorgängerstudien seit 2002. Durch diesen zeitlichen Rahmen ist die letzte große Reform der Wahlkreise vor der Wahl 2002 der Startpunkt der Daten, was die Vergleichbarkeit der einzelnen Erhebungswellen steigert. So beinhaltet der von uns gewählte Analysezeitraum akademische Nachwahlstudien für die Wahlen 2002, 2005, 2009, 2013, 2017 sowie 2021.

Die Größe der Stichproben variiert von Jahr zu Jahr, von einem Minimum von 1864 im Jahr 2013 bis zu einem Maximum von 3424 Befragten im Jahr 2021. Da die Teilnehmenden der Studie mithilfe randomisierter Stichprobenziehung ausgewählt wurden, können wir gewährleisten, dass die Daten Personen aus verschiedensten Wahlkreisen beinhalten. Jene Variation in der Verteilung Befragter über Wahlkreise hinweg ist für die Analyse von Wahlkreisgrößeneffekten entscheidend.

Über den Vorteil der Befragtenverteilung hinaus eignen sich diese Daten ebenfalls für die empirische Untersuchung des Arguments, da die Umfrage zum einen relevante Items zu „political efficacy“ und Demokratiezufriedenheit enthält, aber auch spezifische Informationen zur Wahlkreisangehörigkeit aller befragten Wähler*innen beinhaltet.

Letzteres erlaubt es uns, die Individualdaten der Nachwahlstudien mit Strukturdaten des Bundeswahlleiters für alle Bundestagswahlen zu verbinden. Diese enthalten Variablen zu strukturellen Merkmalen aller Wahlkreise, wie beispielsweise Fläche, Anzahl der Einwohner*innen, oder Wirtschaftsindikatoren. Mithilfe dieser zweiten Datenquelle auf Wahlkreisebene können wir ermitteln, wie groß die Fläche und Bevölkerung des Wahlkreises jeder befragten Person der Nachwahlstudien sind. Darauf aufbauend analysieren wir anschließend, ob und, wenn ja, welche Auswirkungen Wahlkreisgröße auf politische Einstellungen hat.

Wie testet man nun aber Größeneffekte einer Wahlkreisreform? Wir vermerkten bereits zuvor, dass eine Verkleinerung der Anzahl aller Wahlkreise (a) zu einer Vergrößerung der Fläche jedes verbleibenden Wahlkreisgebiets und (b) zu einer Vergrößerung der deutschen Wahlkreisbevölkerung und damit auch zu einer Vergrößerung der Anzahl von Wahlberechtigten pro Wahlkreis führt. Eine solche, zunächst eindeutig wirkende Reform kann aber drei unterschiedliche Effekte mit sich bringen: Erstens kann die Vergrößerung der geografischen Fläche der Wahlkreise Auswirkungen haben. Zweitens könnte eine Vergrößerung der Bevölkerung pro Wahlkreis negative Konsequenzen zur Folge haben. Und drittens könnte aber ebenso das Zusammenspiel beider diskutierter Faktoren Auslöser für ein verändertes Bild der Bürger*innen von Politik und ihrer Rolle in dieser sein. Wir analysieren die Daten dementsprechend in einem Dreischritt, in welchem wir zunächst isolierte Effekte der Fläche und der BevölkerungsgrößeFootnote 3 bei Konstanthaltung des jeweils anderen Maßes testen, und anschließend beide Analysen zusammenführen und den gemeinsamen Zusammenhang zwischen der Fläche eines Wahlkreisgebiets und der Bevölkerungsgröße des Wahlkreises testen.

In der nachfolgenden Analyse liegt der Fokus auf der Betrachtung der potenziellen Effekte der Fläche und Bevölkerungsgröße auf politische Einstellungen. Wie zuvor diskutiert, beschäftigte sich die bisherige Forschung (siehe beispielsweise Zabler et al. 2020) mit Wahlbeteiligung und Protestwahl. Wir argumentieren aber, dass es bereits Faktoren vor der Entscheidung zur Nichtwahl (oder Protestwahl) gibt, welche es sich lohnt, zu betrachten. Da eine Entscheidung zur Nichtwahl aufgrund größerer Wahlkreise (und ihrer politischen Effekte) ein Ergebnis einer längeren Kette der (1) Wahrnehmung der Größeneffekte und (2) daraus resultierender individueller politischer Unzufriedenheit sein kann, ist es wichtig, potenzielle Reformeffekte früh in der Kausalkette zu identifizieren. Nur so können wir sicherstellen, dass wir seitens der politikwissenschaftlichen Forschung alle potenziellen Langfristeffekte der Wahlkreisreform abschätzen können. Deswegen legen wir den Fokus auf Items, welche Wahl und Wahlentscheidung betroffener Bürger*innen beeinflussen können. Konkret umfassen die abhängigen Variablen somit „political efficacy“ sowie die Demokratiezufriedenheit. „Political efficacy“ wird durch zwei Items operationalisiert. Beide Items messen die ordinal skalierte Zustimmung zu den Aussagen „Wer an der Regierung ist, kann einen Unterschied machen“ und „Was die Leute wählen, kann einen Unterschied machen“ und reichen von 1–5. Hierbei geben niedrigere Werte ein geringeres Maß an „political efficacy“ an, und höhere Werte zeigen ein höheres Maß an wahrgenommener politischer Wirksamkeit. Die Zufriedenheit mit der Demokratie wird mit der Frage „Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert, alles in allem sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, nicht sehr zufrieden oder überhaupt nicht zufrieden?“ gemessen und reicht ebenfalls von 1–4. Basierend auf diesen Daten präsentieren wir im nächsten Abschnitt unsere Ergebnisse.

4 Ergebnisse

Um die potenziellen Effekte der Wahlkreisreformen zu bestimmen, betrachten wir zunächst durchschnittliche Veränderungen der zwei von einer Vergrößerung einzelner Wahlkreise betroffenen Charakteristika: Geografische Fläche und Bevölkerungsgröße. Tab. 1 zeigt durchschnittliche Werte für beide Faktoren, gegeben, dass einer der hier präsentierten Reformvorschläge umgesetzt wird. Während die Anzahl von 280 Wahlkreisen die geringste aber gesetzlich festgelegte Änderung widerspiegelt (Bundestag, Drucksache 19/22504), sind Reformvorschläge mit noch niedrigeren Wahlkreiszahlen mit wesentlich größeren Änderungen verbunden: Im Fall von 180 anstelle der 299 Wahlkreise könnte dies etwa zu einer Vergrößerung der geografischen Fläche sowie einem Bevölkerungsanstieg um über 66 % führen. In den folgenden Abschnitten werden wir potenzielle Effekte dieser Reformvorschläge und die damit verbundenen Veränderungen der Wahlkreischarakteristika genauer untersuchen.

Tab. 1 Durchschnittliche Veränderung der Wahlkreise nach Reformvorschlag. (Basierend auf Strukturdaten der Bundestagswahl 2021)

4.1 Effekt von Bevölkerungsgröße in flächenmäßig ähnlichen Wahlkreisen

In diesem Teil der Studie untersuchen wir, ob für Wähler*innen aus Wahlkreisen mit größerer Bevölkerung tendenziell niedrigere „Political efficacy“- und Demokratiezufriedenheitswerte beobachtbar sind. Zu diesem Zweck vergleichen wir Wähler*innen aus Wahlkreisen, die sich in ihrer Bevölkerungsgröße unterscheiden, unter Konstanthaltung der geografischen Fläche.

Wir schätzen auf Basis der Daten jeder einzelnen Nachwahlbefragung eine Reihe von Mehrebenenmodelle und kombinieren anschließend die Ergebnisse aller Befragung in einem integrierenden Mehrebenenmodell (Metaanalyse). Die abhängigen Variablen dieser Modelle sind die Antworten auf die oben genannten drei Frageitems. Jedes Mehrebenenmodell beinhaltet sogenannte „Random intercepts“ für Bundesland und Wahlkreisebene. Die zentrale unabhängige Variable ist die Bevölkerungsgröße des Wahlkreises (in Hunderttausend), und somit ein Prädiktor auf Wahlkreisebene. Damit dieser Prädiktor nicht von der Wahlkreisfläche konfundiert wird, fügen wir zudem Kontrollvariablen für Wahlkreisfläche ein. Hierbei handelt es sich um Indikatorvariablen, die angeben, in welchem Quartil sich die Wahlkreisfläche eines bestimmten Wahlkreises befindet (siehe Abb. 1).

Diese Analysestrategie resultiert in 3 × 6 verschiedenen Mehrebenenmodellen (Anzahl abhängiger Variablen × Anzahl unterschiedlicher Wahljahre). Zur Zusammenfassung dieser Ergebnisse über alle Wahljahre hinweg adaptieren wir Techniken der Metaanalyse. Hierfür integrieren für jede abhängige Variable alle Mehrebenenmodelle in ein gemeinsames Mehrebenenmodell. Dieses integrierende Mehrebenenmodell beinhaltet nun eine zusätzliche Ebene für das Wahljahr. Die Intercepts und Effektkoeffizenten von Bevölkerungsgröße variieren in diesen Modellen als „Random intercept“- und „Random slope“-Koeffizienten auf Wahljahrebene. Folgende Gleichungen formalisieren das Mehrebenenmodell:

  • Individualebene: \(y_{i}=\alpha _{d[i]}+\epsilon _{i}\)

  • Wahlkreisebene: \(\alpha _{d}\sim N(\alpha _{s\left[d\right]}+\beta _{w\left[i\right]}x_{d}+Z_{d}\gamma {,}{\sigma }_{\alpha _{d}}^{2})\)

  • Bundeslandebene: \(\alpha _{s}\sim N(\alpha _{w\left[s\right]}{,}{\sigma }_{\alpha _{s}}^{2})\)

  • Umfragejahrebene: \(\binom{\alpha _{w}}{\beta _{w}}\sim N\left(\left(\begin{array}{c} \mu _{{\alpha _{w}}}\\ \mu _{{\beta _{w}}} \end{array}\right){,}\left(\begin{array}{cc} {\sigma }_{\alpha _{w}}^{2} & \rho \sigma _{{\alpha _{w}}}\sigma _{{\beta _{w}}}\\ \rho \sigma _{{\alpha _{w}}}\sigma _{{\beta _{w}}} & {\sigma }_{\beta _{w}}^{2} \end{array}\right)\right)\)

yi gibt die Antwort einer befragten Person i an (je nach Modell „political efficacy“ oder Demokratiezufriedenheit). d indiziert Wahlkreise, s indiziert Bundesländer, w indiziert Umfragejahre. xd gibt die Populationsgröße (in Hunderttausend) in Wahlkreis d an. Zd ist eine Matrix mit Indikatorvariablen für die Quartile der Wahlkreisfläche von Wahlkreis d. Unser Hauptinteresse richtet sich auf die Schätzgröße \(\mu _{{\beta _{w}}}\), dem durchschnittlichen Effekt der Bevölkerungsgröße.

Abb. 2 zeigt 16 geschätzte Koeffizienten und deren 95 % Konfidenzintervalle der individuellen Regressionsmodelle, sowie den geschätzten Koeffizienten der integrierenden „Random effects“-Metaanalyse für jede der drei abhängigen Variablen.Footnote 4 Die gestrichelte Referenzlinie gibt an, dass der entsprechende Regressionskoeffizient systematisch von Null verschieden ist, sofern sie außerhalb des Konfidenzintervalls liegt. Grau unterlegt ist der Unsicherheitsbereich des Koeffizienten, der mit der „Random effects“-Metaanalysegeschätzt wurde. Es ist nicht verwunderlich, dass dieser meist präziser geschätzt wird als die einzelnen Koeffizienten, da die „Random effects“-Metaanalyse auf Basis der Daten aller Nachwahlbefragungen geschätzt wird. Wir zeigen die einzelnen Regressionskoeffizienten der Mehrebenenmodelle nur, um einerseits die mögliche Heterogenität zwischen den Wahljahren transparent zu machen und anderseits, um zu zeigen, dass es kein systematisches Muster gibt, was den Schätzwert der zusammenfassenden Metaanalyse infrage stellen würde.

Abb. 2
figure 2

Ergebnisse der „Random effects“-Metaanalyse der Effekte von Bevölkerungsgröße auf „political efficacy“ (ab) und Demokratiezufriedenheit (c). Die mit Jahreszahlen gekennzeichneten Koeffizienten bilden die Ergebnisse von Mehrebenenmodellen auf Basis einzelner Umfragejahre ab. Jeder Koeffizient zeigt den geschätzten Effektkoeffizienten von Bevölkerungsgröße im jeweiligen Umfragejahr. Die mit „Random effects“-Metaanalyse gekennzeichneten Koeffizienten bilden den Effektkoeffizienten von Bevölkerungsgröße aus dem Mehrebenenmodell ab, das alle Umfragewellen integriert

Unsere Metaanalyse zeigt, dass Wähler*innen aus Wahlkreisen mit größerer Bevölkerung weder zu niedrigeren „Political efficacy“- noch zu niedrigeren Demokratiezufriedenheitswerten tendieren. Im Gegenteil, wir beobachten mit Bezug auf alle Frageitems sogar einen statistisch signifikanten positiven Koeffizienten (\(\alpha =0{,}05\)). Diese legen nahe, dass Wähler*innen aus Wahlkreisen mit größerer Bevölkerung zu höheren Zustimmungswerten tendieren. Die Effektkoeffizienten sind jedoch so klein, dass wir trotz der statistischen Signifikanz nicht zu dem Schluss kommen, dass es sich hierbei um substanziell bedeutungsvolle Zusammenhänge handelt. Diesbezüglich lohnt sich eine konkrete Betrachtung der Effektstärke. Wird etwa die Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert, dann vergrößert sich jeder verbleibende Wahlkreis im Schnitt um etwa 20.000 Einwohner. Das entspricht 0,2 Einheiten der Variablen Bevölkerungsgröße. Unser statistisch signifikant positiv geschätzter Koeffizient für die Frage, ob es einen Unterschied macht, wer in Berlin regiert, liegt bei 0,16 (mit einem Standardfehler von 0,06). Dies bedeutet demnach, dass ein*e typische*r Wahlberechtigte*r in einem um 20.000 Einwohner*innen größeren Wahlkreis einen im Schnitt (0,2 × 0,16 =) 0,032 Skalenpunkte höheren Wert aufweist. Gegeben der 5‑Punkte Skala schätzen wir diesen Unterschied trotz seiner statistischen Signifikanz als inhaltlich unbedeutend ein. Gleiches gilt für die Frage, ob es einen Unterschied macht, wen man wählt. Hier würde der entsprechende Wert um durchschnittlich (0,2 × 0,11 =) 0,023 Skalenpunkte steigen. Und auch mit Bezug auf Demokratiezufriedenheit kommen wir zu diesem Schluss. Hier liegt der entsprechende Wert bei (0,2 × 0,07 =) 0,014 (hier allerdings relativ zu einer 4‑Punkte-Skala).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Wähler*innen aus Wahlkreisen mit unterschiedlich großer Bevölkerung in ihren Einstellungen zu „political efficacy“ oder Demokratiezufriedenheit nur marginal unterscheiden. Der erste Teil der Analyse liefert somit keine empirische Unterstützung für das Argument, dass sich eine Vergrößerung der Bevölkerung innerhalb von Wahlkreisen negativ auf Wähler*innen auswirkt.

4.2 Effekt von Flächengröße eines Wahlkreises bei ähnlicher Bevölkerungsgröße

Im zweiten Schritt untersuchen wir, ob für Wähler*innen aus geografisch größeren Wahlkreisen tendenziell niedrigere „Political efficacy“- und Demokratiezufriedenheitswerte beobachtbar sind. Dazu vergleichen wir nun Wähler*innen aus Wahlkreisen, die sich in ihrer Fläche unterscheiden, jetzt unter Konstanthaltung der Bevölkerungsgröße. Die Vorgehensweise erfolgt analog zum ersten Teil der Analyse: Wir schätzen auf Basis der Daten jeder einzelnen Nachwahlbefragung Mehrebenenmodelle für jede der drei abhängigen Variablen. Die abhängigen Variablen sind die bereits zuvor verwendeten Maße für „political efficacy“ und Demokratiezufriedenheit. Jedes Mehrebenenmodell beinhaltet variierende „intercepts“ auf Bundesland und Wahlkreisebene. Die zentrale unabhängige Variable ist nun die geografische Wahlkreisgröße (in Tausend km2), also die Fläche des Wahlkreises. Damit dieser Prädiktor nicht von der Bevölkerungsgröße des Wahlkreises konfundiert wird, fügen wir zudem Kontrollvariablen für die Bevölkerungsgröße hinzu. Hierbei handelt es sich um Indikatorvariablen, die angeben, in welchem Quartil sich die Bevölkerungsgröße eines bestimmten Wahlkreises befindet (siehe Abb. 1).

Erneut fassen wir die Schätzergebnisse der individuellen Regressionsmodellen mithilfe von Mehrebenenmodellen zusammen, in dem die Effektkoeffizienten der Wahlkreisfläche als „random effects“ zwischen Umfragewellen variieren. Die Modellgleichung folgt analog zu den Gleichungen im vorherigen Analyseteil. xd gibt nun die Wahlkreisfläche in Wahlkreis d an, während Zd eine Matrix mit Indikatorvariablen für die Quartile der Bevölkerungsgröße von Wahlkreis d beschreibt.

Abb. 3 zeigt die Ergebnisse der Analyse analog zu unserer vorhergehenden Abbildung. Unsere Metaanalyse ergibt, dass sich Wähler*innen auch aus flächenmäßig größeren Wahlkreisen mit Bezug auf „political efficacy“ und Demokratiezufriedenheit nicht bedeutend von Wähler*innen aus flächenmäßig kleinen Wahlkreisen unterscheiden. Der Koeffizient mit Bezug auf die Frage, ob es einen Unterschied macht, wer in Berlin reagiert, ist negativ und erneut statistisch signifikant (−0,046; bei einem Standardfehler von 0,015; \(\alpha =0{,}05\)). Dies legt nahe, dass Menschen aus größeren Wahlkreisen zu niedrigeren Antworten tendieren. Wie bereits im vorherigen Analyseteil betrachten wir die substanzielle Größe dieses Koeffizienten, um einzuschätzen, ob es sich um einen substanziell bedeutungsvollen Unterschied handelt. Wir kommen zu einem ähnlichen Ergebnis wie zuvor. Wird etwa die Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert, dann vergrößert sich jeder verbleibende Wahlkreis im Schnitt um etwa 80 km2 (das entspricht 0,08 Einheiten der Variablen Wahlkreisfläche). Unser statistisch signifikant positiv negativ geschätzter Koeffizient bedeutet demnach, dass ein*e typische*r Wahlberechtigte*r im Schnitt einen um (0,08 × 0,046 =) 0,0037 Skalenpunkte niedrigeren Wert hinsichtlich der Frage hat, ob die eigene Stimme einen Unterschied für die Politik macht. Wir schätzen dies als substanziell unbedeutend ein.

Abb. 3
figure 3

Ergebnisse der „Random effects“-Metaanalyse der Effekte von geografischer Fläche auf „political efficacy“ (ab) und Demokratiezufriedenheit (c). Die mit Jahreszahlen gekennzeichneten Koeffizienten bilden die Ergebnisse von Mehrebenenmodellen auf Basis einzelner Umfragewellen ab. Jeder Koeffizient zeigt den geschätzten Effektkoeffizienten von Bevölkerungsgröße im jeweiligen Umfragejahr. Die mit „Random effects“-Metaanalyse gekennzeichneten Koeffizienten bilden den Effektkoeffizienten von Bevölkerungsgröße aus dem Mehrebenenmodell ab, das alle Umfragewellen integriert

Der entsprechende Koeffizient mit Bezug auf die Frage, ob die eigene Stimme einen Unterschied für die Politik macht, ist ebenfalls bedeutungslos klein (−0,042; bei einem Standardfehler von 0,017). Dasselbe gilt für den geschätzten Koeffizienten bezüglich der Demokratiezufriedenheit der Wahlberechtigten in Abhängigkeit von einer größeren Fläche eines Wahlkreises. Dieser ist ebenfalls negativ und statistisch signifikant (\(\alpha =0{,}05\)), substanziell aber ähnlich klein wie die anderen Koeffizienten (−0,038; bei einem Standardfehler von 0,011).

4.3 Simultaner Effekt von Bevölkerungsgröße und geografischer Wahlkreisgröße

Der dritte Schritt der Analyse kombiniert die zwei vorhergegangenen Analyseteile. Im ersten Teil waren wir am Effekt von Bevölkerungsgröße unter Konstanthaltung von Wahlkreisfläche interessiert. Im zweiten Teil untersuchen wir den Effekt von der Fläche in Wahlkreisen unter Konstanthaltung von Bevölkerungsgröße. Eine Reduktion der Wahlkreise führt allerdings zwangsweise zu einer durchschnittlichen Vergrößerung von sowohl der Fläche als auch der Bevölkerung eines Wahlkreises. Im dritten Analyseteil tragen wir dieser Gegebenheit Rechnung und untersuchen den gemeinsamen Effekt von großer Wahlkreisfläche und Bevölkerungsgröße auf „political efficacy“ und Demokratiezufriedenheit.

Hierzu spezifizieren wir lineare Mehrebenenmodelle, die sowohl Bevölkerungsgröße als auch Wahlkreisfläche als unabhängige Prädiktoren auf Wahlkreisebene beinhalten, sowie einen multiplikativen Interaktionsterm zwischen den beiden Variablen.Footnote 5 Wie in den vorherigen Analyseschritten schätzen wir Regressionsmodelle für drei abhängige Variablen zu „political efficacy“ und Demokratiezufriedenheit und kontrollieren dabei für das Bundesland, in dem Wähler*innen leben. Folgende Gleichungen formalisieren die Modelle:

  • Individualebene: \(y_{i}=\alpha _{d[i]}+\epsilon _{i}\)

  • Wahlkreisebene: \(\alpha _{d}\sim N(\alpha _{s\left[d\right]}+\beta _{1w\left[i\right]}x_{d}+\beta _{2w\left[i\right]}z_{d}+\beta _{3w\left[i\right]}x_{d}z_{d}{,}{\sigma }_{\alpha _{d}}^{2})\)

  • Bundeslandebene: \(\alpha _{s}\sim N(\alpha _{w\left[s\right]}{,}{\sigma }_{\alpha _{s}}^{2})\)

  • Umfragejahrebene: \(\left(\begin{array}{c} \alpha _{w}\\ \beta _{1w}\\ \beta _{2w}\\ \beta _{3w} \end{array}\right)\sim N\left(\left(\begin{array}{c} \begin{array}{c} \mu _{{\alpha _{w}}}\\ \mu _{{\beta _{1w}}}\\ \mu _{{\beta _{2w}}} \end{array}\\ \mu _{{\beta _{3w}}} \end{array}\right){,}\left(\begin{array}{ccc} {\sigma }_{\alpha _{w}}^{2} & \cdots & \rho \sigma _{{\alpha _{w}}}\sigma _{{\beta _{3w}}}\\ \vdots & \ddots & \vdots \\ \rho \sigma _{{\alpha _{w}}}\sigma _{{\beta _{3w}}} & \cdots & {\sigma }_{\beta _{3w}}^{2} \end{array}\right)\right)\)

yi gibt die Antwort eine*r Befragte*n i an (je nach Modell „political efficacy“ oder Demokratiezufriedenheit). xd gibt die Populationsgröße (in Hunderttausend) in Wahlkreis d an. zd gibt die Wahlkreisfläche (in Tausend km2) von Wahlkreis d an.

Wir präsentieren die Regressionsergebnisse in Tabellenform im Online-Anhang. Wir sehen davon ab, einzelne Regressionskoeffizienten der Modelle mit Interaktionseffekten zu interpretieren (Brambor et al. 2006). Stattdessen nutzen wir Simulationstechniken (King et al. 2000), um die Schätzergebnisse und deren Unsicherheit mithilfe greifbarer Szenarien zu interpretieren. Hierzu fragen wir uns, wie sich die durchschnittliche Bevölkerungsgröße und Wahlkreisfläche im Zuge verschiedener Reformvorschläge verändern würde. Tab. 1 liefert bereits die entsprechenden Werte. Wir nutzen diese Werte und simulieren auf Basis unserer geschätzten Modelle „political efficacy“ und Demokratiezufriedenheitswerte in hypothetischen Wahlkreisen mit der durchschnittlicher Populationsgröße und Fläche, wenn es insgesamt jeweils 299, 280, 250, 200 und 180 gibt (vgl. Tab. 1). Dadurch erhalten wir vom Modell erwartete Werte sowie dazugehörige Unsicherheit für alle drei abhängigen Variablen unter der aktuellen Regelung (299 Wahlkreise) und nach einer Verringerung der Gesamtzahl an Wahlkreisen auf 280, 250, 200 und 180. Um zu testen, ob eine Verringerung der Gesamtzahl der Wahlkreise und die damit einhergehende Vergrößerung der durchschnittlichen Bevölkerungsgröße und Wahlkreisfläche zu einer bedeutenden Veränderung von „political efficacy“ und Demokratiezufriedenheitswerten führen würde, berechnen wir die Differenz dieser Werte zwischen der aktuellen Regelung, und nach einer hypothetischen Vergrößerung. Die Ergebnisse zeigen wir in Abb. 4.

Abb. 4
figure 4

Simulation von erwarteten Einstellungsänderungen bezüglich „political efficacy“ (a, b) und Demokratiezufriedenheit (c) in Abhängigkeit hypothetischer Wahlkreisreduzierungen. Die Abbildung zeigt Punktschätzungen (Rauten) sowie 95%-Äquivalenz-Konfidenzintervalle. (Hartman und Hidalgo 2018)

Das Ergebnis des dritten Teils der Analyse bestätigt die vorhergegangenen Ergebnisse. Abb. 4 visualisiert Einstellungsänderungen, die wir auf Basis unserer statistischen Modelle erwarten würden, wenn sich Wahlkreise entsprechend vier verschiedener Reformen sowohl geografisch auch als in Bezug auf die Bevölkerungsgröße vergrößern würden – als Folge einer Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf jeweils 280, 250, 200 und 180. Alle Punktschätzungen finden sich nahe Null und legen damit nahe, dass wir auf Basis des Modells mit keinen Änderungen hinsichtlich „political efficacy“ oder der Demokratiezufriedenheit rechnen, wenn es durch eine Neueinteilung der Wahlkreise zu einer Reduzierung der Wahlkreise kommt. Dies gilt für alle hier betrachteten Anzahlen von Wahlkreisen und alle abhängigen Variablen.

Neben den Punktschätzungen zeigen wir in Abb. 4 die Unsicherheit, die mit diesen Schätzwerten einhergeht. Die grauen Balken zeigen Äquivalenzintervalle,Footnote 6 die wie folgt zu interpretieren sind: Mit einem 95 %-Konfidenzniveau können wir ausschließen, dass die wahre Meinungsverschiebung außerhalb der Intervalle liegt. Hier ist zu betonen, dass die Ergebnisse zum Teil mit nicht unerheblicher Unsicherheit verbunden sind. Grundsätzlich gilt, dass unsere Ergebnisse mit mehr Unsicherheit einhergehen, je größer die Reduktion der Wahlkreise ist. Dies ist eine logische Konsequenz, da größere Reduktionen weiter von der aktuellen Realität entfernt und deren Folgen dadurch schwerer einzuschätzen sind.

Zur Veranschaulichung greifen wir erwartete Einstellungsänderungen auf Demokratiezufriedenheit heraus. Hier können wir bei einer Reduktion der Wahlkreise von 299 auf 180 – dem extremsten aller diskutierten Eingriffe – auf Basis unserer Ergebnisse folgende Aussagen treffen: Die Punktschätzung von 0,15 unterscheidet sich nicht signifikant von Null. Aufgrund der Größe dieser Schätzung legen die Ergebnisse nahe, dass eine Reduktion der Wahlkreise auf 180 zu keinerlei inhaltlich relevanter negativer Veränderung der Einstellung in der Bevölkerung führt. Da unsere Berechnungen mit Unsicherheit einhergehen, ist trotzdem zu betonen, dass kleine Veränderungen nicht auszuschließen sind. Basierend auf einem 95 %-Konfidenzniveau, dargestellt mit den grauen Balken am unteren Ende der Abbildung des rechten Panels, können wir jedoch festhalten, dass diese minimalen Effekte mit Bezug auf Demokratiezufriedenheit eine positive oder negative Veränderung von höchstens 0,33 Skalenpunkten nicht überschreiten. Mit Bezug auf die Frage, ob es einen Unterschied macht, wer in Berlin regiert, liegt dieser Wert bei 0,52 Skalenpunkten; bezüglich der Frage, ob es einen Unterschied macht, wen man wählt, bei 0,38 Skalenpunkten der zugrunde liegenden 4‑Punkte-Skala.

5 Fazit

Bisher ist wenig bekannt, ob und welche Auswirkungen Veränderungen des Wahlsystems auf Einstellungen und Verhalten der Wahlbevölkerung haben. Die Ergebnisse unserer Analysen legen nahe, dass sich Wähler*innen in Deutschland, die in flächen- und bevölkerungsmäßig größeren Wahlkreisen leben, in Bezug auf „political efficacy“ und Demokratiezufriedenheit nicht von Wähler*innen aus kleineren Wahlkreisen unterscheiden. Das widerspricht Befürchtungen und Argumenten, die gegen eine Reform der Anzahl der Wahlkreise ins Feld geführt werden. Eine Verkleinerung der Anzahl an Wahlkreisen führt im Durchschnitt notwendigerweise zu größeren Wahlkreisen. In größeren Wahlkreisen, so das Argument, wird die Wahlkreisarbeit der Kandidierenden und Abgeordneten und insbesondere die Kommunikation zwischen ihnen und der Wahlkreisbevölkerung erschwert. Empirisch konnten wir potenzielle Folgen einer solchen Kausalkette in Bezug auf „political efficacy“ und Demokratiezufriedenheit nicht nachweisen.

Wie jede empirische Untersuchung bringt unsere Studie Schwächen mit sich, die wir an dieser Stelle diskutieren möchten. Unsere Analyse ist vergleichender Natur: Wir vergleichen Wähler*innen aus unterschiedlich großen Wahlkreisen, um auf mögliche Einstellungsänderungen zu schließen. Unser Ziel ist herauszufinden, ob Wähler*innen aus größeren Wahlkreisen zufriedener oder unzufriedener mit Bezug auf „political efficacy“ und das Funktionieren der Demokratie in Deutschland sind. Wir tun dies, um eine Debatte in Deutschland zu informieren, in der regelmäßig behauptet wird, dass eine Vergrößerung der Wahlkreise zu einer höheren Unzufriedenheit führt. Wir haben keine idealen Messinstrumente, um dieses Argument in jeder seiner Facetten zu testen, konnten aber Information zu drei sehr relevanten Einstellungen identifizieren, die, falls das Argument gelten sollte, ebenfalls betroffen sein sollten. Unsere Analyse zeigt jedoch eindeutig, dass Wähler*innen in vergleichsweise großen Wahlkreisen nicht unzufriedener oder zufriedener sind als Wähler*innen in vergleichsweise kleinen Wahlkreisen. Es ist wichtig zu betonen, dass wir trotzdem keine sicheren Aussagen darüber treffen können, was passieren würde, wenn man die Größen bestehender Wahlkreise, beispielsweise im Zuge einer Reduktion der Wahlkreise, tatsächlich verändert.

Wenn wir diese Ergebnisse trotz ihres vergleichenden Charakters kausal interpretieren und dazu nutzen, um mögliche Einstellungsverschiebungen abzuschätzen, die wir durch Vergrößerungen der Wahlkreise als Folge verschiedener Wahlkreisreduktionen erwarten könnten, dann kommen wir zu einem eindeutigen Ergebnis. Basierend auf den verfügbaren Daten – und hier haben wir systematisch nur drei Einstellungen in gleichzeitig mehreren Studien identifizieren können – erwarten wir keine relevanten Verschiebungen dieser Einstellungen. Allerdings können wir aufgrund von Schätzungsunsicherheit weder sehr kleine positive noch sehr kleine negative Einstellungsänderungen sicher ausschließen. Relevante Verhaltens- bzw. Einstellungsunterschiede sehen wir aber trotz dieser Schätzungsunsicherheit nicht gegeben. Die Nachricht unserer Analyse für die bundesdeutsche Reformdebatte ist damit klar: Argumente, die nahe legen, dass Wähler*innen unzufriedener sind, wenn sie in größeren Wahlkreisen leben und wählen, sind durch unsere Analyse empirisch nicht gestützt.

Ein Faktor, der jedoch unbeantwortet bleibt, ist die Rolle des Wahlmodus, durch welchen Abgeordnete ins Parlament einziehen. Sollten Wähler*innen einen Unterschied zwischen direkt gewählten Abgeordneten und jenen, welche ein Listenmandat oder durch ein zusätzliches Ausgleichsmandat in den Bundestag einziehen, machen, so könnte eine Verkleinerung der Anzahl der Wahlkreise dennoch negative Effekte mit sich bringen.