1 Einleitung

Seit einiger Zeit werden das Narrative und das Affektive in politikwissenschaftlichen Ansätzen und Analysen zunehmend aufgegriffen. Doch auch wenn beide Begriffe mittlerweile breit(er) rezipiert werden und auf die Offenheit eines narrativistischen Zugangs zum Politischen gegenüber nichtrationalen Momenten wie Leidenschaften und Emotionen hingewiesen wird, ist ihr spezifisches Zusammenwirken bislang kaum konzeptualisiert. Dies verwundert, gerade angesichts zahlreicher politischer Praxen der Gegenwart, in denen Affekte und Narrative in ihrer Verschränkung eine zentrale Rolle einnehmen. Sei es die affizierende rechtspopulistische Erzählung von Donald Trumps „Make America great again“ oder das Narrativ von Wolodymyr Selenskyj als beherztem heldenhaften Verteidiger der Ukrainer*innen: Hier werden Gefühle und Erzählungen nicht nur bedient, sondern ganz offensichtlich auch hervorgebracht.

In diese Leerstelle der Verknüpfung beider Konzepte will unser Beitrag intervenierenFootnote 1. Wir schlagen den Begriff der affektiven Narrative vor, um das Zusammenspiel von Erzählen und Fühlen im Politischen zu bestimmen. In unserer Theoretisierung verstehen wir Narrative als Praktiken, die sich zwischen Erzähler*innen, Erzählung und Publikum entspannen und auf eben diesen drei Ebenen affektive Wirkmacht entfalten. Mit dem Begriff der affektiven Narrative zielen wir so auf die Scharnierfunktion des Erzählens als zugleich Stimmungen aufnehmende wie auch Affekte hervorbringende Praxis. Unsere politiktheoretische These ist, dass affektive Narrative einen zentralen Vermittlungsmodus im Politischen bilden, indem sie eine strukturierte wie auch strukturierende politische Praxis darstellen: Affektive Narrative sind Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und eine in gesellschaftliche Verhältnisse intervenierende Praxis. Was diese Theoretisierung affektiver Narrative, die auf das affektive Erzählen als politische Praxis blickt, analytisch herausstellen kann, führen wir exemplarisch anhand einer Selbsterzählung von Björn Höcke aus, in welcher ihm als populistischem leader, Erzähler und Affektträger eine zentrale Bedeutung zukommt.

Ziel ist es, einen Beitrag zu aktuellen theoretischen Auseinandersetzungen um Narrative und Affekte in der Politik zu leisten, indem wir gerade ihre wechselseitige Verwobenheit im Konzept der affektiven Narrative erfassen. Damit stellen wir politische Vermittlungsweisen als affektiv-narrative Praxis in den politiktheoretischen Fokus und schlagen zugleich eine Erweiterung gegenwärtiger Politikanalysen vor.

2 Politische Narrative

Der Begriff des Narrativs wird seit einiger Zeit in der politischen, medialen und wissenschaftlichen Debatte vielfach aufgegriffen, ohne dass er dabei immer klar konzeptuell umrissen ist. Während die Erzählung in den Literaturwissenschaften, der Linguistik und der Geschichtswissenschaft schon lange ein Kernkonzept bildete, blieb eine explizite Theoretisierung des Erzählens in den Sozialwissenschaften bis in die 1970er-Jahre weitgehend aus (Wagenaar 2011, S. 208). Mittlerweile wird zwar von einigen Autor*innen anschließend an den linguistic turn auch ein narrative turn ausgerufen (Czarniawska 2004, S. 1–16; Gadinger et al. 2014a, S. 88). Gegenüber Konzepten wie dem Diskurs oder der Praktik blieb die Erzählung hier jedoch lange untertheoretisiert und wurde kaum von anderen Formen sprachlichen Ausdrucks, wie etwa Argumenten, theoretisch unterschieden.Footnote 2 Nur einige wenige politiktheoretische Arbeiten intervenieren bislang mit dem Vorschlag eines narrativistischen Zugangs zum Politischen (Straßenberger 2005), einer Theorie politischer Mythen (Bizeul 2009; Münkler 2009) oder der Idee von „Verbindlichkeitsnarrativen“ (Llanque 2014) als Quellen politischer Legitimität in diese Leerstelle.

Die späte und noch immer zögerliche politiktheoretische Hinwendung zum Narrativen erstaunt vor allem, weil die Thematisierung des Erzählens in der Politik alles andere als neu ist. Sie lässt sich in ihrer spezifischen Bedeutung bis in die Antike zurückverfolgen und wird besonders in Hinblick auf Gründungsmythen politischer Gemeinschaften immer wieder hervorgehoben (u. a. Münkler 2009; Bizeul und Wodianka 2018). Jüngstens spielen erzähltheoretische Ansätze in politikwissenschaftlichen Analysen aber auch eine Rolle für die Frage, wie Politik legitimiert oder vermittelt wird (Arnold et al. 2012; Bergem 2014; Biegoń und Nullmeier 2014; Gadinger et al. 2014b; Hofmann et al. 2014; Llanque 2014). Dominika Biegoń und Frank Nullmeier (2014) unterscheiden hierbei systematisch zwischen (post)strukturalistischen Ansätzen, welche die soziale Bedeutungskonstitution durch Narrationen ins Zentrum stellen, und akteurszentrierten Ansätzen, die den individuellen Einsatz und die subjektive Deutung von Erzählungen fokussieren. Während in ersteren die Erzähler*innen selbst aus der Analyse ausgeklammert bleiben, neigen letztere dazu, die sozialen Kontexte des Erzählens zu vernachlässigen (Biegoń und Nullmeier 2014, S. 44). Weil aber Erzählungen weder als von ihren Erzähler*innen losgelöste, ahistorische Bedeutungssysteme zu betrachten sind noch beliebig durch ihre Erzähler*innen eingesetzt und verändert werden können, bedarf es einen Zugangs, der gerade die Struktur- und die Akteursebene miteinander ins Gespräch bringt. Unsere Theoretisierung politischer Narrative will in diesem Sinne Erzählen und Erzählungen als politische Vermittlungspraxis und zugleich als politischen Orientierungsrahmen fassbar machen.

Für eine solche Theoretisierung des Erzählens und die Herausarbeitung seiner Bedeutung im Politischen greifen wir den Erzählbegriff Paul Ricœurs (1988, 1989, 1991) auf, wie er ihn in seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung entwickelt hat (vgl. auch Eggers 2023). Dort versteht er Erzählen als mimesis der Handlung und hebt Narrative in ihrer spezifischen Zeitlichkeit als zentral für Identitätsbildungsprozesse heraus. Anders als im Strukturalismus, der mit der These vom „Tod des Autors“ (Barthes 2000 [1968]) die Erzählung als Ergebnis des Erzählprozesses sowie die Analyse ihrer Tiefenstruktur in den Blick nimmt, rückt Ricœur (1988, S. 87–135) das Subjekt wieder stärker in den Fokus. Dazu geht er von einem mimetischen Zirkel zwischen einem durch ein narratives Vorverständnis geprägten erzählendem Subjekt, der Erzählung als Text und ihrer deutenden Rezeption aus.

Im Anschluss an die Überlegungen Ricœurs kann zwischen dem Erzählen einer bestimmten Geschichte (Narration) und dem weiter gefassten Akt des Erzählens als soziale Handlung und Prozess (Narrativ) unterschieden werden. Während die Narration das Erzählen einer spezifischen Geschichte meint und damit ein zu einer bestimmten Zeit fixiertes Erzählmuster greifbar macht, umfasst das Narrativ auch den performativen Akt des Erzählens, der in die Gesellschaft und ihre Deutungsschemata eingebettet ist (Bergem 2014, S. 32; Eggers 2020, S. 180). Mit einem Narrativ ist dann mehr gemeint als mit einer story, also dem Inhalt einer bestimmten Geschichte, aber auch mehr als mit der Narration als dem Erzählen dieser Geschichte. Der Begriff des Narrativs verweist vielmehr auf Erzählen als eine in gesellschaftlich sedimentierte Erzählmuster eingebettete Handlung und zielt damit zugleich auf die Bedingungsgefüge, in denen sich Geschichten zwischen den Erzähler*innen und dem Publikum entspannen.

Die Erzählung selbst zeichnet sich – etwa im Gegensatz zu einem Argument – darin aus, dass sie in der Regel über ein veränderndes Ereignis (Plot) strukturiert ist und auf Erzählschemata mit wiederkehrenden Aktanten (z. B. die „Widersacher*in“ und die „Held*in“) zurückgreift (Arnold 2012; Eggers 2023). Für Ricœur (1988, S. 106) vollzieht sich im Erzählen eine „Synthesis des Heterogenen“: Durch die zeitliche Anordnung innerhalb eines Handlungsstrangs werden Ereignisse und Erfahrungen, die zunächst disparat erscheinen, in der Erzählung chronologisch angeordnet und in einen Sinnzusammenhang gebracht. So werden vergangene Ereignisse immer wieder mit neuen Bedeutungen versehen, indem sie angeeignet und in neuen Geschichten (weiter)erzählt werden. Anders herum gesagt, wird es Menschen überhaupt erst in diesem Prozess der narrativen Vergegenwärtigung möglich, das Vergangene zu erschließen. Erzählungen und ihre Erzähler*innen bilden Realität im Erzählen also nicht einfach ab, sondern können durch zeitliche Anordnung und Selektion Ereignisse neu und anders deuten. Ricœurs mimetischer Zirkel macht dabei das Publikum als Rezipient*innen von Geschichten zugleich zu Erzähler*innen neuer Geschichten.Footnote 3

Erzählen wollen wir sodann als Praktik verstehen, die einen spezifischen Zusammenhang zwischen Erzähler*innen, Publikum und den vermittelten Inhalten erzeugt. Erfahrungen der Einzelnen werden in einem kreativen Akt der (Re‑)Figuration zur Sprache gebracht und dabei mit kollektiv geteilten Vorstellungswelten in Beziehung gesetzt (Eggers 2020, S. 182–184). Dieser hier mit Ricœur vorgebrachte Narrativbegriff verweist auf einen narrativen Handlungsbegriff, wie er vor allem von Hannah Arendt (2010 [1958]; vgl. auch Straßenberger 2005) stark gemacht wurde. Arendt spricht von Narrativität, die einen öffentlichen Raum stiftet, in dem Subjekte handelnd in Erscheinung treten und sich verstehend die Welt erschließen. Dieses Handeln ist dabei stets in ein „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (Arendt 2010, S. 222) eingebettet. Erzählen lässt sich mit Arendt also auch performativ als „erinnerndes Handeln“ (Eggers 2023) fassen, das – auch wenn es stets die Möglichkeit des Bruchs durch einen Neuanfang birgt – zunächst einmal einen geteilten Erfahrungsraum durch eine kohärente Geschichte schafft (Arendt 2010, S. 115–116).

Mit diesem Ansatz des Erzählens als Handeln wird auch Ricœurs (1991, S. 396, 1996, S. 141–185) Idee der „narrativen Identität“ instruktiv. Denn darüber lässt sich der Fokus der Theoretisierung und damit auch der Analyse von der story auf die politische Subjektkonstitution verschieben. Dabei betonen wir mit Ricœur Erzählen als komplexen Prozess, in dem die Subjekte sowohl selbst (mit) hervorgebracht werden, wenn sie sich, sich gleichsam selbsterzählend, in die Erzählungen einschreiben, als auch Vergangenheit und Zukunft vergegenwärtigen, indem sie Ereignisse in eine Geschichte mit Anfang und Ende fassen. Gerade im Über-sich-Erzählen zeigen Subjekte sich als wandelbar, aber nicht gänzlich kontingent, als durch bestehende soziale Strukturen bedingt und doch gleichsam offen, wofür Ricœur den Begriff der narrativen Identität prägt. Ähnlich lassen sich mit Arendt die erzählten Geschichten als „Anknüpfung der Gegenwart an einen gemeinsamen Erfahrungshorizont“ (Straßenberger 2005, S. 117–118) verstehen, die das Handeln im Hier und Jetzt sinnhaft macht. Zugleich deuten sich Erzähler*innen im Erzählen selbst, wenn sie an bestehende, bereits sedimentierte Narrationen anknüpfen und sich dabei selbst als Charaktere ihrer Geschichten im Erzählen neu oder anders entwerfen.Footnote 4 Erzählungen und Erzählen sind so also Teile politischer Subjektkonstitution.

Allerdings greifen Konzepte der narrativen Identität für unsere politiktheoretische Konzeptualisierung des Erzählbegriffs auch zu kurz, da sie weitgehend auf die personale Identität fokussiert sind. So streift etwa Ricœur die Hervorbringung von Kollektiven nur fragmentarisch, wenn er von der narrativen „Zuweisung einer spezifischen Identität“ (Ricœur 1991, S. 395) auch an eine Gemeinschaft (z. B. „das deutsche Volk“, „die Franzosen“ etc.) spricht. Er deutet damit zwar an, dass auch Kollektive in Erzählungen als erzählte Charaktere benannt werden und so ein Identifikationsangebot geschaffen wird (Scharfenberg 2011, S. 347–349), ohne jedoch dieser Spur theoretisch weiter zu folgen. Bei Arendt wiederum dient Erzählen primär der Ausbildung der (individuellen) politischen Urteilskraft, über die letztlich die kollektivierende Dimension des Erzählens in den Hintergrund tritt.

Im Unterschied dazu wollen wir Narrative hier nicht nur als Deutungsrahmen für das Selbstverständnis der Subjekte betonen. Denn verstanden als performative Praktiken sind Narrative auch konstitutiv für politische Kollektive. Indem Menschen erzählen, rekonfigurieren sie immer auch in der Gesellschaft bestehende, latente oder manifeste Erzählungen (Eggers 2020, S. 182–184). Individuum und Gemeinschaft konstituieren sich, wie Ricœur (1991, S. 397) vereinzelt andeutet, aber nicht systematisch ausführt, durch die Rezeption bestimmter Erzählungen, die dadurch gleichsam zu ihrer tatsächlichen Geschichte werden. Dabei sind es gerade auch autobiografische Erzählungen, die verdeutlichen, wie im Erzählen das eigene Erleben und Erfahren mitunter mit bekannten Narrationen verknüpft und so zugleich die Geschichte der Person und die Geschichte eines Kollektivs erzählt wird.Footnote 5 Das Narrative kann, so Mieke Bal (2002, S. 118), das „Wechselspiel zwischen Subjektivität und kultureller Basis des Verstehens“ greifbar machen. Narrative lassen sich damit als grundlegende Formen gesellschaftlicher Selbstthematisierung und als Aspekte von Subjektivierung verstehen, gerade weil sie zwischen Erzähler*in und Publikum vermitteln. In diesem Sinne sind Narrative also nicht nur welt- und sinnerschließend, sondern bringen zugleich (Kollektiv‑)Subjekte hervor (Somers 1994; Bergem 2014, S. 33–34). Narrative sind damit auch politisch.

Auf diese politische Dimension des Erzählens verweisen insbesondere Gründungsgeschichten, etwa wenn nationale Mythen eine gemeinsame Vergangenheit von einem vermeintlichen Ursprung her auf ein Telos zulaufend erzählen. Im Erzählen als politisches Erzählen werden allerdings nicht nur nationale Identitäten, sondern auch klassisierte und vergeschlechtlichte Zugehörigkeiten verhandelt. Mit einem narrativen Ansatz kann die Pluralität von Erfahrungen herausgestellt werden, wie Margaret Somers (1994, S. 625) am Beispiel der englischen Arbeiter*innenklasse in der Mitte des 20. Jahrhunderts zeigt. So konstituiert sich ein Selbstverständnis als Arbeiter*in immer in Intersektionen mit weiteren Erfahrungen, die sich beispielsweise in Geschichten der lokalen Gemeinschaft oder vergeschlechtlichte Geschichten einschreiben. Die Geschichte vom stolzen, arbeitenden Mann etwa kann durch diese alternativen Erzählungen als eine unter mehreren Geschichten entziffert werden.Footnote 6

Für einen politischen Narrativbegriff, der Struktur- und Akteursebene miteinander verschränken will, gilt es schließlich, neben der Erzähler*innenposition auch die gesellschaftlichen Deutungsschemata und damit die strukturellen (Un‑)Möglichkeiten des Erzählens in den Blick zu nehmen. Als Frage des „Sprechen-Könnens“ (Spivak 2008 [1988]) und „narrativer Autorität“ (Bhabha 2000, S. 201) haben Schwarze feministische und postkoloniale Theoretiker*innen in diesem Sinne epistemische Gewalt, aber auch alternative Geschichten als Praktiken des Widerstandes der Subalternen hervorgehoben (Amoah 1997; Bhabha 2000; Spivak 2008).Footnote 7

Politische Narrative, so wollen wir resümieren, umfassen analytisch das Erzählen von Geschichten sowie ihre Erzähler*innen und ihr Publikum.Footnote 8 Sie sind ein offener Prozess der (gleichermaßen subjektiven wie kollektiven) Sinnbildung und – damit zusammenhängend – nicht nur eine strukturierte, sondern vor allem auch eine strukturierende und konstituierende Praxis. Als solche thematisieren sie Ereignisse, beschreiben Sachverhalte und entwerfen Handlungscharaktere, wodurch sie alltägliche Erfahrungen intelligibel machen und Orientierungsrahmen für politisches Handeln bieten. Als politische Praxis sind Narrative auch Teil, Ausdruck und Form politischer Machtverhältnisse. Indem sie eine „lineare Ordnung des Zeitlichen“ (Müller-Funk 2002, S. 29) vorschlagen und so (mitunter auch zufällige, häufig jedoch hegemonial verankerte) Ereignisse zu plausiblen und kohärenten Geschichten verdichten, stiften sie nicht nur neue temporäre und kausale Sinnzusammenhänge, die Denk- und Handlungsweisen strukturieren; sie reduzieren und abstrahieren auch die Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse, um politisches Handeln zu legitimieren und anzuleiten (Biegoń und Nullmeier 2014; Llanque 2014). Denn wie auch Marcus Llanque (2014, S. 16) betont, ist die politische Erzählung weder ein Privatmodell der Erzähler*in, noch eine Repräsentation der Wirklichkeit. Sie stellt vielmehr einen Versuch der Legitimation politischen Handelns dar, indem sie im Publikum bereits vorhandene Denkmuster anspricht, aufgreift und umarbeitet. Es ist überdies die Fähigkeit zur zeitlichen Strukturierung, in der sich Erzählen als politische Praxis offenbart: In Erzählungen werden Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig erfahr- und erlebbar. Narrative tragen zur (selektiven) Vergegenwärtigung von Vergangenem und Imagination von Zukünftigem, ebenso wie zur Selbstvergewisserung und politischen Legitimation bestimmter Handlungen und Entscheidungen bei.

Erzählen als narrative Praxis der Vergegenwärtigung kann also Legitimität für politisches Entscheiden erzeugen, aber auch Strukturen der Identifikation und der Zugehörigkeit hervorbringen, festigen oder auflösen und politische Subjekte hervorbringen oder verstetigen. Der erzählerische Entwurf politischer Subjekte oszilliert stets zwischen Fortschreiben und Neuschreiben, zwischen der Kontinuität des Vergangenen und dem Bruch mit tradierten Narrativen. Politische Subjekte sind eingebettet in eine materiell und symbolisch vorgeformte Welt, werden jedoch nicht vollends durch sie determiniert. Sie können – trotz aller Begrenztheiten durch ihre spezifischen Positionierungen im gesellschaftlichen Machtgefüge – Vergangenes und Zukünftiges und damit auch sich selbst anders (be)schreiben.

3 Das Politische zwischen gefühlten Erzählungen und erzählten Gefühlen

Nicht nur Erzähl(ung)en, auch Gefühle spielen politisch eine Rolle. Zwar hat die liberale Auffassung von Politik als objektiv, neutral und rational wesentlich dazu beigetragen, Gefühle als Störfaktor aus dem Politischen und mithin vielfach aus politiktheoretischen Abhandlungen auszuschließenFootnote 9 (kritisch z. B. Narr 1988; Sauer 1999; Walzer 1999; Straßenberger 2005; Nullmeier 2006; Mouffe 2007 [2005]; Bargetz und Sauer 2010; Heidenreich und Schaal 2012; Eggers 2015). Diese Engführung des Politikverständnisses auf rationale Interessen und Handlungsmodi wird in letzter Zeit jedoch zunehmend kritisiert: würden dadurch doch gesellschaftliche Verhältnisse und Bewegungen – von Faschismus und Populismus bis hin zu Neoliberalismus und Postdemokratie – nur unzureichend erfasst. Doch obschon das politikwissenschaftliche und politiktheoretische Interesse an Gefühlen nicht zuletzt mit dem Erstarken rechtspopulistischer Kräfte einen regelrechten Aufschwung erfahren hat, steht eine umfassende politiktheoretische Ausarbeitung einer „Politik der Gefühle“ (Sauer 1999) bzw. einer „Affektologie des Politischen“ (Marchart 2013, S. 437) noch aus. Interessant ist diese Beobachtung umso mehr, als sich seit einiger Zeit in den stärker kulturwissenschaftlich ausgerichteten Affect Studies gerade eine zunehmende Beschäftigung mit dem Politischen von Affekten beobachten lässt (Bargetz 2019). In den Affect Studies kommt allerdings häufig ein Affektbegriff zur Anwendung, der nur wenig Anschlussmöglichkeiten an einen politiktheoretischen Narrativbegriff bietet, da Affekte hier vielfach als dem Narrativen entgegengesetzt konzeptualisiert werden, wie wir im Folgenden skizzieren. Zugleich führen wir aus, wie und warum wir Affekte politiktheoretisch letztlich aber doch für unser Verständnis affektiver Narrative aufgreifen.

Die Politikwissenschaft wurde von der gegenwärtigen emotionalen bzw. affektiven Wende erst mit einiger Verzögerung erfasst (Clough und Halley 2007; Bargetz und Sauer 2010; Schaal 2010). Es ist daher kein Zufall, dass die Verständigung über die wissenschaftliche Bedeutung von Gefühl, Emotion und Affekt – ähnlich wie beim Narrativbegriff – lange Zeit in anderen wissenschaftlichen Zusammenhängen ausgehandelt wurde. Es sei „angebracht“, so erklärte Marie-Luise Angerer (2007, S. 6) vor 15 Jahren, „das Interesse am Affekt, an den Emotionen, an Gefühl und Pathos als ein Dispositiv zu betrachten, in dem philosophische, kunst- und medientheoretische Diskurse mit molekularbiologischen, kybernetischen und kognitionspsychologischen zu einer neuen „Wahrheit des Menschen“ verlötet“ würden. Gerade die kultur- und geisteswissenschaftliche Verankerung der neuen Aufmerksamkeit auf Gefühle legt dabei eine Verbindung zwischen erzähl- und affekttheoretischen Debatten nahe. Doch über die dort geteilte Affinität hinaus gibt es für eine Verbindung der affektiven und der narrativen Wende zur Erweiterung des politikwissenschaftlichen Instrumentariums kaum Anhaltspunkte.Footnote 10 Vielmehr werden in beiden turns meist unterschiedliche und mitunter sogar gegensätzliche Logiken für ein Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse stark gemacht. Nicht zuletzt ist ein wesentlicher Ausgangspunkt des affective turn die Kritik am cultural bzw. lingustic turn und damit verbunden an Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus. Dabei ging es vor allem darum, die Zentrierung auf Sprache, Diskurs und Epistemologie zu überwinden und mit Affekt gerade Körperlichkeit, Unmittelbarkeit, Materialität, Lebendigkeit und Nichtrepräsentierbarkeit wissenschaftlich zu betonen (Bargetz 2019). Ein solcher Zugang zu Affekten bedeutet demnach, über Erzählen und Erzählungen hinauszugehen.

Diese Gegensätzlichkeit von Affekt und Narration tritt insbesondere in jenen Ansätzen des affective turn zutage, in denen zwischen Affekt und Emotion unterschieden wird.Footnote 11 Federführend wird hier Brian Massumi (1995, S. 86, Übers. Autor*innen) rezipiert, der die Trennung zwischen Affekt und Emotion metaphorisch wie folgt beschreibt: „Die Haut ist schneller als das Wort“. Unter Affekt versteht Massumi (1995, S. 91) eine „a-soziale“ körperliche Intensität, die er von Emotionen als deren Ausdruck unterscheidet. Affekte würden jegliche lineare zeitliche Logik suspendieren, sie seien nicht an Bedeutung gebunden und stünden so gerade jenseits von Narration (Massumi 1995, S. 85). Ein solcher Affektbegriff, der Affekte als nicht fassbar und nicht erzählbar beschreibt und diese erst in ihrer Qualifikation als Emotion als narrativ erachtet, ist mit einem Konzept der Narrativität, das die erzählerische Konstruktion von Zeitlichkeit in den Blick nimmt, letztlich nur wenig anschlussfähig.

Allerdings ist diese strikte Trennung zwischen Affekt und Emotion auch umstritten. Andere nämlich erachten weniger die Verbindung von Narration und Affekt als unmöglich, als den Versuch, Affekt und Emotion überhaupt voneinander zu unterscheiden (z. B. Hemmings 2005; Wetherell 2012). Stattdessen betonen sie die gleichermaßen narrative wie körperliche Deutung von Affekten und damit stets auch deren gesellschaftliche Verfasstheit. Sara Ahmed (2004) etwa analysiert, wie Texte, die im öffentlichen Raum zirkulieren, Subjekte und Kollektive emotional miteinander verbinden. So würden Leser*innen gerade dadurch als Teil eines Kollektivs angerufen, dass „Andere“ zur Ursache der eigenen Gefühle gemacht werden. Eine andere Form der affektiv-narrativen Verschränkung bietet Arlie R. Hochschild (2016), wenn sie anhand sogenannter „deep stories“ der Frage nachgeht, welche Emotionen rechten Politiken zugrunde liegen. Deep stories beschreiben hier internalisierte Erzählungen, die die „gefühlte Sicht der Dinge“ (Hochschild 2016, S. 189) wiedergeben und Gefühle über diese Erzählungen zugleich zugänglich machen.Footnote 12 Narrative in ihrer „räumlich-affektiven Präsenz“ einzuordnen, schlägt Christine Hentschel (2021, S. 63) für ihre Analyse der Corona-Proteste vor. Dabei gehe es darum, die affektiven Dynamiken und Treiber zu erforschen, also „das, was Menschen und Kollektive mobilisiert, und wie in ihren Erzählungen eine Gerichtetheit, ein Antrieb oder eine Geschwindigkeit, aber auch ein Straucheln oder eine Umkehr zum Ausdruck kommen“ (Hentschel 2021, S. 66). Explizit in die Werkzeugkiste der Narrativanalyse greift Jochen Kleres, um den affektiven Dimensionen gesellschaftlicher Verhältnisse über qualitative Interviews auf die Spur zu kommen. Ausgehend von der Annahme, dass menschliche Erfahrungen eine zentrale narrative Dimension hätten und Emotionen zugleich fundamental für das soziale Leben seien, entwickelt er eine Auffassung „narrativer Emotionen“ (Kleres 2010, S. 183), die es ihm erlaubt, in Interviews unterschiedliche Gefühlsdimensionen herauszuarbeiten.

Diese bislang eher zaghafte Theoretisierung des Zusammenspiels des Affektiven und Narrativen überrascht mit Blick auf die enge Verschränkung von Gefühlen und der narrativen Struktur politischer Reden, wie sie bereits in der attischen Polis zu finden ist. Schon bei Aristoteles verweisen Affekte auf die Erfahrungsdimension und auf einen Ausdruck politischer Verhältnisse. Mit der politischen Rede als mimesis, die sich stets an ein Publikum richtet, könne, so Paula Diehl (2012, S. 162), der Zuhörer „in Affekt versetzt“ werden. Und auch die Erzeugung gewisser Stimmungen durch die Redner*in gilt als immanenter Teil von Politik, über den Zuschauer*innen als Publikum sowohl durch „leibliche Erfahrung“ als auch durch „Einbildungskraft“ zum Ort der Affizierung werden (Fischer-Lichte zit. nach Diehl 2012, S. 161). Vor allem aber scheint das Konzept der Narrativität selbst eine grundsätzliche Affinität für das Affektive aufzuweisen. Narrativen wird eine Kontingenz bewältigende Funktion zugestanden: Durch zeitliche und kausale Strukturierung, reduzieren sie Kontingenz und schaffen Sinn und Orientierung. Daher liegt es nahe, Narrative nicht nur in ihrer Affekte hervorbringenden, sondern auch in ihrer emotionsbindenden Funktion zu betrachten.Footnote 13 So betont auch Albrecht Koschorke (2012, S. 103), dass einerseits „Erregung […] vom erzählten Stoff auf Hörer und Leser über[springen kann, Erg. Autor*innen]; umgekehrt lassen sich individuelle oder kollektive Erregungszustände in ein Narrativ auslagern und bei Bedarf durch Aktivierung von Schlüsselsignalen abrufen – wie es im Kontext politischer Propaganda […], aber auch in rituellen Handlungen […] häufig geschieht“ (Koschorke 2012, S. 106). Grit Straßenberger (2005, S. 171–172) verbindet die narrativistische Reduktion von Kontingenz daher auch mit „leidenschaftlichen Überzeugungen“ und macht damit bereits früh eine explizite Verbindung eines narrations- und emotionstheoretischen Anliegens stark. Entscheidend ist für sie, dass narrativistische Theorien in Leidenschaften und Gefühlen eine gleichermaßen „handlungsmotivierende Rolle wie reflektierende Bedeutung“ erkennen und so „explizit“ über den „Rationalismus liberaler Theorie“ (Straßenberger 2005, S. 172) hinausweisen.

Vor dem Hintergrund dieser Debatten betonen wir die Narrativität von Affekten und argumentieren aus gesellschaftstheoretischer Perspektive in einem doppelten Sinn: dass Affekte und damit verbunden Gefühlsordnungen gesellschaftlich geprägt und vermittelt werden, aber auch, dass über Affekte gesellschaftliche Verhältnisse artikuliert und sichtbar werden (können) (vgl. Bargetz 2014). Erzähltheoretisch anschlussfähig sind Affekte also, weil wir für den Affektbegriff weder von bloß zur Sprache gebrachten körperlichen Ausdrücken noch von einer Auffassung affektiver Unmittelbarkeit ausgehen. Affekte sind somit gerade nicht vordiskursiv oder a‑sozial, wie zahlreiche Affekttheoretiker*innen im Anschluss an Massumi annehmen; vielmehr sind sie Teil und Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und werden nicht zuletzt auch narrativ hervorgebracht. Folglich sind sie auch kein subjektiver Ausdruck eines inneren Kerns. Affekte verbinden und bewegen, sie verweisen auf ein „Gefüge“ (Bargetz 2014, S. 124), das wirkmächtige, jedoch nicht linear wirkende Kräfte umfasst und damit auch Atmosphären und Stimmungen mit meint.

In diesem Sinne ist der Affektbegriff im Vergleich zum häufig stärker kognitivistisch orientierten Emotionsbegriff für uns auch instruktiv: Denn Affekte bringen mehr als Emotionen oder Gefühle die körperliche Dimension ins Spiel. Für das Konzept affektiver Narrative ist dies zentral, da deren Wirkmächtigkeit über einen kognitiven Erfahrungsgehalt hinausweist und sich darin zeigt, dass affektive Narrative auch unter die Haut gehen, wie es Sara Ahmed (2010, S. 216) in anderem Zusammenhang treffend umschreibt. Wir verschränken hier also die affektive Wende mit der narrativen Wende und somit konkret affektiv-körperliche Produktions‑, Vermittlungs‑, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen mit einem narrativen Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse und mithin von Erinnerung, Erfahrung und Subjektivierung (Bargetz und Eggers 2021). Damit wenden wir uns gegen die Überhöhung vermeintlich unverfälschter spontaner körperlicher Reaktionen, aber auch gegen die Überbetonung der kognitiven Dimension von Gefühlen. Beiden liegt die Gefahr zugrunde – wenngleich aus unterschiedlichen Perspektiven –, einen (er)neu(ert)en Dualismus zwischen spontanen Affekten und kognitiven Emotionen und mithin einen Körper/Geist-Dualismus zu reaktivieren (Bargetz 2019; s. a. Angerer 2007; Leys 2011). Unser Ziel ist es jedoch, über diese Trennung hinaus das Verständnis von Macht und Handlungsmächtigkeit auch auf die körperlichen und nichtbewussten Formen des Wissens, der Wahrnehmung und der Fortschreibung von Herrschaftsverhältnissen auszuweiten.

Um diese Auffassung eines narrativ anschlussfähigen Affektbegriffs im Folgenden zu präzisieren, gilt es zunächst, Affekte ins Verhältnis zum Politischen zu setzen. Dazu machen wir ein weites Politikverständnis stark, indem wir über den Bereich des Staates, seine Institutionen und Repräsentant*innen hinaus, eine doppelte Perspektive anlegen: Politik der Gefühle und Politik Fühlen (Bargetz 2014). Beide Perspektiven fragen danach, was Gefühle tun (Ahmed 2004) und dabei mehr noch, was Gefühle gerade politisch tun, und weisen damit über die für den politischen und politiktheoretischen Ausschluss von Gefühlen bis heute prägende Frage hinaus, ob Affekte, Gefühle und Emotionen politisch gut oder schlecht, aktivierend oder passivierend, inspirierend oder gefährlich sind.

Eine Politik der Gefühle meint, dass bestimmte Gefühle politisch aufgerufen oder gar hervorgerufen werden. Gefühle sind hier als Instrument und Motor des Politischen zu verstehen, es geht um den Einsatz von Gefühlen, also um das Regieren und Agieren über Gefühle. Dabei kommen nicht nur unterschiedliche Gefühle – wie etwa Angst, Solidarität oder Sentimentalität – als Modi des Politischen zum Einsatz; ebenso können diese Politiken sowohl emanzipativ als auch herrschaftsförmig sein. Wird also eine Politik der Gefühle fokussiert, ist die Frage, wie Gefühle, aber auch welche Gefühle politisch ins Spiel gebracht werden. Wenn beispielsweise emotionale Zuschreibungen und Topoi – der vermeintlich barbarische Mob oder die sexuell zügellose Schwarze Frau – zur Legitimation von Herrschaftsverhältnissen oder zur Begründung von Ein- und Ausschlüssen eingesetzt werden; oder wenn Ungleichheitsverhältnisse affektiv mobilisiert werden, etwa indem Rassismus über Angst, Ekel oder Hass gegenüber Schwarzen Menschen artikuliert wird (Fanon 1980 [1952]; Lorde 2007). Eine solche Politik der Gefühle wird auch über Narrative hervorgebracht und verfestigt: durch Geschichten über Gefühle, aber auch durch das Erzählen von Geschichten selbst, das im Spannungsfeld von Erzähler*in, Erzählung und Publikum verfestigte, neue oder spontane Gefühle evozieren und zugleich legitimieren kann.

Politik Fühlen hingegen verweist auf einen affektiven Erkenntnis‑, Wahrnehmungs- und Handlungsmodus. Politik wird auch gefühlt, im Fühlen können Machtverhältnisse angezeigt, übertragen und bearbeitet werden. Politik Fühlen meint dann ein affektives Register, insofern sich politische Machtverhältnisse auch in die Körper und damit in das alltägliche Handeln einschreiben und mithin körperlich-affektiv wahrgenommen werden. Denn historisch gewordene Strukturen und Verhältnisse werden stets auch affektiv aufgenommen und darüber gleichsam intelligibel. So können sich etwa Rassismus und Kolonialismus in Gefühlen der Hoffnungslosigkeit manifestieren und Depressionen damit auch als „Nachleben der Sklaverei“ (Hartman 2007 zit. n. Cvetkovich 2014, S. 67) begriffen werden. Affekte informieren in Form verkörperter „Erinnerungsspuren“ (Bargetz 2014, S. 120) über (aktuelle und vergangene) (Macht‑)Verhältnisse, ohne dass diese Verbindungen als lineare zu verstehen sind. Affekte können Machtverhältnisse reaktivieren und fortschreiben, aber auch Ausgangspunkt für eine Veränderung dieser Verhältnisse sein.

Politik Fühlen weist mit dieser Auffassung auf ein nichtpräsentistisches Verständnis von Zeitlichkeit hin, das ein Geworden-Sein artikuliert und Gegenwart als historische Gegenwart und diese folglich auch im Prozess ihrer affektiven Vergegenwärtigung fassbar macht. Aber nicht nur die Vergangenheit, auch die Zukunft wird affektiv in die Gegenwart geholt: Über Affekte werden Bedeutungen transportiert und damit zugleich vergangene und zukünftige Verhältnisse spür- und erfahrbar. Ein bedrohliches Zukunftsszenario kann über Angst – etwa vor einem Terroranschlag – imaginiert und aufgerufen werden und insofern affektive Fakten (Massumi 2010, S. 52) schaffen, als die Angst vor einer (vermeintlich) bedrohten bzw. drohenden Zukunft zu konkreten Handlungen im Hier und Jetzt führt. Massumi (2010, S. 54, Übers. Autor*innen) spricht in diesem Zusammenhang von „futures past“: „Eine Bedrohung, die sich nicht bewahrheitet, ist nicht falsch. Sie hat die ganze affektive Realität einer vergangenen, wirklich gefühlten Zukunft.“ Politik Fühlen meint also auch ein – imaginiertes oder ersehntes – Wohlfühlgefüge. Eine solche Feel-good-Politik (Bargetz 2014, S. 127) kann Orientierungen liefern und damit ein Gefühl der Geborgenheit und eine Einheit mit der Welt vermitteln. Auch hier, im Modus des Politik Fühlens, verbinden sich Narrative und Affekte: denn Vergegenwärtigungen politischer Verhältnisse sind immer zugleich narrativ und affektiv, es sind affektiv-narrative Vergegenwärtigungen, die Stimmungen und Gefühlszustände narrativ zugänglich und damit auch bearbeitbar machen.

4 Affektive Narrative

Wenn wir nun auf der Grundlage dieses erzähltheoretisch anschlussfähigen affektiven Politikverständnisses und des zuvor entwickelten narrativen Handlungsbegriffes unsere Auffassung der Verbindung von Narrativen und Affekten exponieren, geht es uns nicht bloß um Narrationen, also um das Erzählen von Geschichten über bestimmte Handlungsfolgen und Plotmuster. Indem wir von affektiven Narrativen sprechen, stellen wir die Praktiken des Erzählens als soziale und politische Praxis und damit einen affektiv-narrativen Handlungsbegriff in den Vordergrund. Uns interessiert folglich nicht nur, wie sich narrative Strukturierung vollzieht und Narrationen ihre Inhalte hervorbringen. Im Zentrum stehen ebenso die vielfältigen Anrufungen durch das affektive Erzählen. Unter affektiv-narrativen Praktiken fassen wir somit neben der Affizierung durch die spezifische story die Art und Weise des Erzählens als Vermittlung zwischen subjektiven Erfahrungen und kollektivem Verstehen (Bal 2002, S. 118; Eggers 2020, S. 184–185), zwischen Persönlichem und Politischen. Es geht also auch darum, wie um „affektive Zustimmung“ (Bargetz 2014) zu politischen Verhältnissen auch erzählerisch gerungen wird. Mit dieser Akzentuierung des Erzählprozesses von Geschichten rücken die Akteur*innen dieser Prozesse in den Blick, ohne damit die politischen und gesellschaftlichen Strukturen auszublenden, in die das Erzählen als soziale Praxis stets eingebettet ist. Konzeptuell bedeutet dies zum einen, die unterschiedlichen Erzähler*innen des Politischen selbst in das Verständnis affektiv-narrativer Wirkmacht miteinzubeziehen;Footnote 14 zum anderen spielen die Rezipient*innen eine Rolle, wie sie adressiert und imaginiert werden, aber auch wie sie Narrative affektiv aufgreifen. Verstanden als soziale und politische Praxis operieren diese affektiven Narrative dann nicht nur auf einer sprachlichen Ebene, sondern sind, wie durch unser Affektverständnis angezeigt, auch als körperliche und verkörperte performative Praktiken zu begreifen.

Um auf dieser Basis das dynamische Wechselspiel zwischen Erzählen und Affekten genauer zu beschreiben, unterscheiden wir analytisch drei Ebenen der Affektivität von Narrativen:

Erstens beziehen wir uns mit dem Ansatz affektiver Narrative auf die erzählten Geschichten, die selbst affektiv sind. Narrationen geben Gefühlen eine Form und einen Verlauf und evozieren Affekte, indem sie über die Verkettung von Handlungssequenzen und Ereignissen einen Spannungsbogen bilden. Durch ihre Zeitlichkeit können Erzählungen Verläufe von Affekten und Stimmungslagen beschreiben und somit auch greifbar machen, wie etwa das langsame Anschwellen einer Wut oder das plötzliche Einsetzen von Angst (Meuter 2007, S. 57–58). Geschichten schließen an vorhandene „Gefühlsrepertoires“ (Diehl 2012, S. 162) an und sind damit Teil von „Gefühlsstrukturen“ (Williams 1977 [1961], S. 128), die auch in Erzählungen zum Ausdruck gebracht, fort- oder auch umgeschrieben werden. Ebenso stellen Narrative Zugehörigkeitsstrukturen und Kollektive her. Sie sind dabei stets ambivalent, insofern sie auch Grenzen etablieren und symbolische wie materielle Ausschlüsse produzieren bzw. legitimieren (vgl. z. B. Ahmed 2004; Freistein et al. 2021, S. 107). Diese affektiv-narrativ erzeugten Ausgrenzungen können sich also auch materialisieren, indem sie durch Erzählungen affizieren und Politiken legitimieren oder delegitimieren. Nationen etwa binden ihre Staatsbürger*innen auch über narrativ vermittelte Gefühlsräume, in denen sich Menschen durch geteilte Erfahrungen, Erinnerungen und politische Imaginäre zugehörig fühlen. Zeitgleich können die so hergestellten Zugehörigkeiten zur Grundlage für Nationalismen werden, wenn eben diese Erfahrungs- und Gefühlsräume mit staatlichen Grenzen in Deckung gebracht werden.

Geschichten bieten den Adressierten und ihren (mitunter diffusen) Gefühlen und Stimmungen aber auch Orientierung sowie Rahmen der Intelligibilität an. So können bereits bestehende Unzufriedenheiten, Hoffnungen oder Wünsche narrativ organisiert und orientiert werden. Geschichten liefern damit den Gefühlen des Publikums ein Ventil: indem Sehnsüchte bedient werden und Mut gemacht, Ängste geschürt oder Abneigung hervorrufen wird. Ebenso sind Erzählungen affektiv, weil sie Identifikationsfiguren entwerfen, in die sich Zuhörer*innen hineinversetzen können, mit denen sie Freude, Liebe oder Verbundenheit, Hass und Zorn, Wut oder Neid, Ekel und Hass teilen können. Erzählungen beschreiben also nicht nur Gefühle, sondern stellen auch einen „affektiven Resonanzraum“ (Slaby 2018, S. 56; vgl. auch Fleig und von Scheve 2020, S. 14) dar und zugleich her. Weil die Identifikationsfiguren von politischen Erzählungen selten neutral sind, sondern gerne als Held*innen oder Opfer erzählt werden, werden Verhältnissen, Menschen und ihren Handlungen auch bestimmte Gefühle zugewiesen. Nicht zuletzt trägt gerade das wiederholte Erzählen von Geschichten dazu bei, dass zugeschriebene Gefühle – wie etwa Zorn, der häufig als wilde Raserei oder Hysterie diskreditiert wird – an manchen Körpern wie Schwarz und/oder weiblich positionierten Körpern eher „haften“ als an anderen (Ahmed 2004; Hemmings 2005). Geschichten machen Affekte also auch dazu, dass diese sich als zäh und beharrlich (Ahmed 2010, S. 29) erweisen. Kurz: Indem Erzählungen Gefühle adressieren, können sie Gefühle mobilisieren, aber auch provozieren; Gefühle stellen somit Bindungen zu den erzählten Geschichten her.

Zweitens betonen wir das Erzählpublikum als wesentlichen Aspekt affektiver Narrative. Narrationen sind gerade auch darüber affektiv, dass sie als Teil eines Gefüges dazu beitragen (können), die Gefühle der von ihnen Adressierten zu organisieren und zu orientieren. Narrative dienen dem Erzählpublikum als affektive Projektionsflächen, sie können Räume der Identifikation sowie (Selbst‑)Vergewisserung sein. Erzählen und Erzählungen sprechen also affektiv an, eröffnen Resonanzräume und stellen (Ver‑)Bindungen her. Dabei begreifen wir Narrative zugleich als Stimmungen aufnehmend und generierend. Über das Wahrnehmen von Erzählungen ordnen Menschen das Erzählte in ihre Erfahrungshorizonte auch affektiv ein und halten gerade in ihren eigenen Erzählpraktiken die dort formulierten Ideen und Vorstellungen affektiv aufrecht bzw. schreiben sie fort. Die Wirkmächtigkeit von Erzählungen hängt somit auch davon ab, wie sie von den Adressierten affektiv aufgenommen werden, wie sie angeeignet, intelligibel gemacht oder umgearbeitet werden. Affektive Narrative verweisen damit auf einen Modus und Prozess affektiv-narrativer Subjektivierung; zugleich sind die Rezipient*innen von Geschichten durch ihre Interpretationen und Affizierungen immer auch selbst Teil des Erzählprozesses. Mit einem solchen Begriff affektiver Narrative rücken auch die Modi der affizierenden Anrufung des Erzählpublikums in den Blick. So wird etwa über die beständige Anrufung von Menschen als „eine Nation“ eine Projektionsfläche für (nationale) Zugehörigkeiten geschaffen, welche die Selbstbeschreibungen der Menschen entlang ethnifizierter und rassifzierter Grenzen adressiert und mitunter zu deren gewaltenvollen Errichtung und Verteidigung motiviert.

Daran anschließend ist drittens das Erzählen affektiv an die Erzähler*innen gebunden. Denn im Akt des Erzählens werden die affektiven Resonanzräume performativ auch von den Erzählsubjekten hervorgebracht. Die Erzähler*innen können folglich aus diesem Prozess nicht ausgeklammert werden, denn sie bestimmen die Perspektivierung der Narration ebenso wie die Art und Weise des Erzählens entscheidend mit. Am deutlichsten wird dies in der autobiografischen Form des Erzählens, in der sich die Erzähler*innen im Erzählcharakter selbst entwerfen, ihre subjektiven Erfahrungswelten einbeziehen und durch die personifizierte Verkörperung ihrer Geschichten deren Wirkmacht (affektiv) verstärken. Aber auch aus dem Erzählen über die und von „den Anderen“ sind die Erzähler*innen in ihrer spezifischen Situiertheit, in ihren affektiven Verhaftungen und in ihrer eigenen Affizierbarkeit nicht auszunehmen, tragen sie doch dazu bei, vergangene und zukünftige Sehnsuchtsorte oder Schreckensszenarien hervorzurufen oder zu entwerfen. Wenn etwa Barack Obama als erster Schwarzer Präsident der USA in seiner Antrittsrede den Bogen von der Geschichte der Sklaverei über seine persönliche „American Story“ bis hin zur Zukunft der USA spannt, um für eine Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung zwischen Schwarz und weiß zu werben, affiziert seine Erzählung nicht zuletzt aufgrund ihrer Verkörperung durch den Erzähler selbst, der hier als Zeuge einer Schwarzen Erfolgsgeschichte den Gestus der Versöhnung auch über seine Person inszeniert. Affektive Narrative wirken also auch dadurch, dass sie eine (affektive) Identifikation mit den Erzähler*innen und den personifizierten Verkörperungen ihrer Geschichten ermöglichen.

Indem die Erzähler*innen im Erzählen auch Perspektivierungen vornehmen und so mal aus Sicht einer sich selbst erzählenden Person sprechen („ich“), mal in die Rolle des Kollektivs schlüpfen („wir“) und mal ein Kollektiv aus Sicht einer Dritten erzählen („die“), werden Subjekte affektiv konstituiert. Das Erzählen des Selbst ist also stark mit dem Erzählen des Kollektivs verwoben. Dabei sind die Erzähler*innen selbst nicht „frei“ in ihrem Erzählen und ihren affektiven Adressierungen, sondern in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebunden, die stets (auch affektiv) aktualisiert werden und so Erzählen zugleich ermöglichen und begrenzen. Und doch gibt der kreative Akt des Erzählens den Erzähler*innen die Möglichkeit, bestimmte Geschichten zu erzählen oder neue Zusammenhänge herzustellen, Ereignisse anders erzählerisch zu verknüpfen und bekannte Geschichten neu zu deuten; im Erzählen können die Erzähler*innen die affektive Zustimmung zumindest teilweise organisieren und vorhandene Stimmungen des Publikums gleichsam orientieren.

Erzähltheoretisch fassen wir Narrative also als Verschränkung von Erzählpraktik und Erzählung und stellen mit diesem Konzept der affektiven Narrative das affektive Zusammenspiel zwischen Erzähler*innen, erzählter Geschichte und Publikum in den Mittelpunkt. Damit öffnet sich, wie wir zeigen, ein neuer Ansatz, um Vermittlungsweisen im Politischen zu fassen.

5 Affektive Narrative in der Vermittlung rechter Politiken

Das Konzept affektiver Narrative will also affektiv-narrative Konstruktionen des Politischen theoretisieren. Zugleich bietet es damit einen Analyserahmen, um Inszenierungen und Manifestationen des Politischen greifbar zu machen, ohne ein instrumentalistisches Verständnis affektiv-narrativer Politiken zugrunde zu legen. Zur Exposition dieser Auffassung affektiver Narrative haben wir den 2018 veröffentlichten Interviewband Nie zweimal in denselben Fluss des rechten Politikers und Vorsitzenden des Thüringer Landtages Björn Höcke gewählt. In diesem, in Dialogform gestalteten erzählerischen Selbstentwurf zeigt sich eine vielfältige affektiv-narrative Konstruktion des Politischen, die sich nicht zuletzt als politische Selbstthematisierung artikuliert.Footnote 15

Basierend auf unserer These, dass affektive Narrative einen zentralen Vermittlungsmodus im Politischen bilden, führen wir im Folgenden anhand von Höckes Buch aus, was und wie über das affektive Erzählen politisch vermittelt wird. Dabei identifizieren wir Höckes Selbsterzählung als Teil einer Vermittlung zwischen Person, Erzählung und Publikum, über die er drei spezifische und zugleich miteinander verschränkte politische Brücken schlägtFootnote 16: Erstens verbindet seine Erzählung auf spezifische Weise Führungsfigur und adressiertes Publikum; zweitens schlägt sie eine Brücke zwischen persönlicher Männlichkeit und maskulinistischer Staatlichkeit, und drittens gelingt es darin, über eine affektiv-narrative Vermittlung rechtsextreme Inhalte in die gesellschaftliche Mitte hineinzuholen.

Das Konzept der affektiven Narrative erlaubt uns zu zeigen, wie Höckes Erzählung narrative Stimmungslagen aufgreift, politische Projektionsflächen anbietet, Identifikationen anregt und Zugehörigkeiten verhandelt und wie er sich als politischer Erzähler dabei affektiv selbst entwirft und sich selbst sowie seine Geschichten für das Publikum affektiv zugänglich macht. Entscheidend für unsere Analyseperspektive durch das Konzept affektiver Narrative ist, dass wir den Blick nicht nur auf die erzählten Geschichten, sondern auch auf die weiter gefassten Praktiken des Erzählens als politische Praktiken richten, denen Affekte auf mehrfache Weise eingeschrieben sind. Konzeptionell haben wir in unserer Theoretisierung der affektiven Narrative den Publikumsbegriff stark gemacht und damit unter anderem die Auffassung betont, dass die Rezipient*innen von Geschichten zugleich deren Interpret*innen sowie potenzielle Neuerzähler*innen von Geschichten sind. Wenn wir im Folgenden dieses Konzept für die Analyse von Höckes Interviewband nutzen, bedeutet dies, die affektiv-narrativen Adressierungen herauszuarbeiten und damit die Arten und Weisen, wie bestimmte Narrative an die alltäglichen Erfahrungen der Adressierten emotional anschlussfähig gemacht werden. Unsere Analyse der affektiven Narrative in Höckes Interviewband thematisiert also, wie durch das Erzählen als dynamisches Wechselspiel zwischen Erzähler*innen, Erzählungen und adressiertem Publikum zur Teilhabe an politischen Gefühlswelten eingeladen wird. Auch wenn wir damit nicht die konkrete (affektive) Rezeption des Erzählens analysieren, setzt diese Analyse an der gesellschaftstheoretischen Prämisse an, dass Narrative immer auch anders, obschon nicht völlig beliebig, angeeignet und umgedeutet werden können.

Erstens wollen wir herausstellen, wie Höckes Selbsterzählung über eine affektiv-narrative Vermittlung eine Verbindung zwischen Führungsfigur und adressiertem Publikum herstellt. Um unsere inhaltlichen Ergebnisse einordnen zu können, schließen wir an die Populismusforschung an und zeigen darüber auf, wie die Verkörperung „des Volkes“ durch den leader, die typisch für einen autoritären Populismus ist, gerade erzählerisch zu affizieren verspricht.

Wenn Höcke (2018, S. 108) vom „Gender-Irrsinn“ in der heutigen Gesellschaft erzählt, greift er vorgefundene Stimmungslagen und Verunsicherungen auf und bietet seine Geschichte vom Versagen der „politischen Klasse“ zur politischen Orientierung und affektiven Identifikation an. Diffuse Ängste werden hier als legitime Gefühle der Wut und Ohnmacht „des Volkes“ erzählt und damit nicht nur angesprochen, sondern auch emotional in Zorn umgearbeitet, indem sie auf rassifizierte Feindbild-Figuren gelenkt werden. Seine Geschichte ist allerdings eine doppelte: Höcke (2018, S. 23) erzählt sie zugleich als seine persönliche Lebensgeschichte, aus seiner eigenen Erfahrung und seinem politischen Werdegang heraus, und als Geschichte „unseres Volkes“, ergo „dem deutschen Volk“. Er tritt so als Erzähler eines Kollektivs, nämlich dem wieder erstarkenden „deutschen Volk“ auf, das er mit Gefühlsbildern wie der „Vaterlandsliebe“ (Höcke 2018, S. 227) anruft. Gerade indem er durch die erzählerische Darlegung seiner – als Erfolgsgeschichte gerahmten – Biografie aus einer ganz persönlichen Perspektive spricht, verbindet er die subjektive Erfahrung mit bekannten Deutungsmustern wie dem patriotischen Appell an die Verteidigung der Nation gegenüber den als fremd Markierten und baut so eine affektiv-narrative Brücke zwischen leader und Volk.

Die Populismusforschung macht deutlich, dass demokratische Repräsentationslücken in der populistischen Deutung selektiv auf den Machtmissbrauch liberaler Eliten verengt werden, gegen den das „authentische“ Volk als kollektives Subjekt Widerstand leisten soll (Jörke und Selk 2017, S. 67). Zugleich kommt der Beziehung des charismatischen leaders zum Volk eine zentrale Bedeutung zu (u. a. Mény und Surel 2002, S. 17), indem eine harmonische Beziehung zwischen Volk und der Führungsfigur angestrebt wird (Diehl 2011, S. 281). Im rechten bzw. autoritären Populismus übersetzt sich die Beziehung zwischen Volk und leader in eine Verkörperung des Volkes durch die Führungsfigur, wodurch zwischen Volkswillen und Willen des leaders nicht mehr unterschieden wird und damit eine demokratische Rückbindung der Regierung an das Volk obsolet zu werden droht.

In dieser typisch populistischen Ambivalenz changiert auch Höcke zwischen einem Volksnähe suggerierenden Gestus der Einfühlung und einem Modus der Resouveränisierung durch starke Führung. Die Antizipation der „wahren“ Empfindungen und das Erkennen des „eigentlichen“ Willens „des Volkes“ gegenüber der moralisch „degenerierten“ Elite sowie eine klar aufgezeigte ideale Genese zum „guten patriotischen Volk“ deuten wir als wirkungsvolle affektiv-narrative Vermittlung zwischen Persönlichem und Politischem. Indem ein populistisches Narrativ des betrogenen Volkes (Diehl 2011) angeboten wird, können Unsicherheiten adressiert und orientiert (Bargetz 2020) und so eine Identifikationsfläche geschaffen werden, die als politischer Anker dienen kann. Gerade durch das Aufrufen von Gefühlen wie Angst, Liebe, Schmerz und Stolz soll das Volk gegen die vermeintlich korrupte Elite affiziert werden.Footnote 17 Zugleich verkörpert Höcke mit der kontinuierlichen Darlegung seines persönlichen Lebens in einer „narrativen Selbstvergewisserung“ (Eggers 2020, S. 195) affektiv dieses ethnifiziert und heteronormativ begrenzte Volk, das zum vermeintlich wahren Volk wird und so wiederum mit Höcke als Führungsfigur zu verschmelzen scheint. Diese affektiv-narrative Vermittlung zwischen Führungsfigur und Volk bleibt stets ambivalent, da Höcke sich zugleich als souveräner Führer und Staatsmann erzählt, der die Gestaltungskraft letztlich in seinen eigenen Händen behält.

Zweitens erkennen wir in Höckes Erzählung eine affektiv-narrativ hergestellte Brücke zwischen Männlichkeit und maskulinistischer Staatlichkeit. Auch diese greift über einen affektiv-narrativen Vermittlungsmodus im Politischen. Männlichkeit als subjektiv angerufene Identität wird durch Höckes affektives Erzählen an die (kollektive) Identität von Volk und Nation gekoppelt. Damit knüpft sie an eine imaginierte heldenhafte Männlichkeit an, die zugleich als verloren sowie bedroht skizziert und zum Garanten für die Wiederherstellung der Nation gemacht wird. Höcke appelliert erzählerisch an das Volk als wahres Volk, das sich seiner Liebe zum Vaterland und zur Nation wieder bewusst werden soll und damit gleichermaßen an die Nation, die kollektiv durch liebevolle Hingabe an das Vaterland verteidigt werden müsse. Ebenso adressiert er die Einzelnen, denen eine wiedererwachende wehrhafte Männlichkeit über die Erzählung von der Entfaltung seiner eigenen Mannhaftigkeit affektiv nahegebracht wird.

Der Brückenschlag erfolgt über den Modus der narrativen Affizierung durch Verkörperung und Personalisierung im Ich-Erzähler und den erzählten Rückblick auf seine eigene Lebensgeschichte, die nachfühlbar geschildert und folglich emotional zugänglich wird. Höcke (2018, S. 115) möchte also nicht nur die „männlichen“ Tugenden „Wehrhaftigkeit, Weisheit und Führung beim Mann“ mit der emphatischen Betonung der vermeintlich authentischen eigenen Erfahrungen affektiv nahelegen, sondern damit auch einen starken männlichen Staat als zukünftige Politikform affektiv vergegenwärtigen. Militär und Mannhaftwerden werden affirmativ verschränkt, indem das Militär zugleich als persönliche und staatstragende verheißungsvolle Institution, als Ort männlicher und nationaler Identitätsbildung imaginiert wird. In diesem affektiven Narrativ offenbart sich das männerbündische Versprechen (Kreisky 1997) des Militärs: als Form männlicher Vergemeinschaftung, als Institution männlicher Subjektivierung und als positives männliches Bezugssystem.

Der in Höckes Erzählung von der eigenen Männlichkeit mitschwingende Appell an die Restituierung maskulinistischer Nationalstaatlichkeit artikuliert sich im affektiven Resonanzraum zwischen Erzähler, erzählter Geschichte und antizipiertem Publikum: Der offerierten kollektiven Selbststilisierung als Opfer in einer heraufbeschworenen Krise der Männlichkeit (vgl. auch Sauer 2017) werden über die Inszenierung als männlich-heldenhafte politische Führungsfigur Heilsversprechen, Handlungsmacht und nicht zuletzt eine brüderlich-nationale Gemeinschaft entgegengehalten. Zugleich wird mit diesem performativen Gestus von Stärke gerade in Zeiten von Verunsicherung vermeintlich natürliche Männlichkeit als vertrauter Raum affektiv zugänglich gemacht, der allerdings nur ein ganz bestimmtes männliches Subjekt affizieren soll, und zwar ein weißes und heterosexuelles.

Wenn Höcke auf diese Weise zur Teilhabe an seinen Gefühlswelten einlädt, bringt er eine Vermittlung zwischen Männlichkeit und maskulinistischer Nationalstaatlichkeit ins Spiel, die durch eine affektiv-narrative Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft bestärkt wird: indem die Sehnsucht nach einer brüderlichen Verbindung zwischen Freunden im „eigenen“ Land neu aufgerufen wird, die – so das Versprechen – „das Volk“ zu seiner eigentlichen Funktion im Staat zurückbringen soll. Erzählerisch imaginiert wird eine Krise der Männlichkeit als Bedrohungsszenario für das „eigene“ Volk und eine Vergangenheit als eine idealisierte Geschichte der „großen Männer“. Ein solches Narrativ der neuen heroischen Männlichkeit (Sauer 2017, S. 3) vermittelt affektiv, indem es alltägliche Erfahrungen und Empfindungen des Publikums berühren und an Stimmungslagen in der Bevölkerung anknüpfen will. Zugleich verspricht es damit, Gefühlsweisen durch Ordnungsvorstellungen zu sortieren, die vor allem vergeschlechtlicht und rassifiziert sind, und die damit auch auf die Legitimation von rassistischen und misogynen Politiken zielen.

Diese zwei Brücken tragen schließlich zum dritten Brückenschlag bei, nämlich zur Vermittlung rechtsextremer Inhalte in die gesellschaftliche Mitte hinein. Höckes Beispiel zeigt, wie in einem rechtsextremen Kontext über affektive Narrative in spezifischer Weise zwischen Erzähler und adressiertem Publikum vermittelt wird. Wir deuten diese affektiv-narrative Vermittlung auch als Mechanismus der Normalisierung rechtsextremer Positionen und Ideologeme (vgl. z. B. auch Wodak 2016; Heitmeyer 2018).

In der Regel wird Höcke ideologisch der extremen oder Neuen Rechten zugeordnet (Kemper 2016) und der kurze Einblick in seine Erzählung Nie zweimal in denselben Fluss unterstreicht diese Nähe: in der Thematisierung von Geschlechteridentitäten als wesensmäßig und der Legitimierung patriarchaler Herrschaftsverhältnisse qua Naturalisierung (Ajanovic et al. 2020); oder wenn er in seinem Appell an männliche Gründungsmythen, der Mobilmachung für eine „deutsche Wehrhaftigkeit“ und der gleichzeitigen Relativierung des Holocaust offen mit dem Faschismus sympathisiert (Höcke 2018, S. 106).

Als affektives Narrativ benennt sein Erzählen Stimmungen und übersetzt sie in Erzählzusammenhänge, die durch den männlichen Erzähler Höcke gleichsam verkörpert werden. Das Identifikationsangebot zeigt sich in der Verknüpfung gleichermaßen mitfühlender wie starker Männlichkeit und dem Aufgreifen von (angenommenen) Empfindungen in der Bevölkerung. Höckes Erzählen ist in diesem Sinne ein populistisches, aber auch ein spezifisches affektives Narrativ: Er erzählt seine Geschichte als die emotionale Geschichte eines selbstlosen, sich dem Wohl der Nation aufopfernden Mannes, der sich in die demokratische Arena der Politik begibt, um mit der AfD für „sein Volk“ einzustehen. Indem Höcke sich dabei im doppelten Sinne als Mann des Volkes und als Mann des Volkes erzählt, vermittelt er Anteilnahme und Stärke, aber auch Verantwortungsgefühl und Entschlossenheit. Affektiv nahegelegt wird so die Tendenz zur politischen Entscheidungsgewalt, sodass über dieses Narrativ schleichend autoritäre Politiken normalisiert und legitimiert werden. Möglich wird dies vor allem auch, indem mit der Wiederbelebung nationaler Souveränität gleichsam Handlungsmacht versprochen wird (Bargetz 2020) und dieses autoritäre Versprechen auf Souveränität zugleich als demokratisches Versprechen der Volkssouveränität und als maskulinistisches Versprechen hegemonial männlicher Resouveränisierung geframt wird (Bargetz und Eggers 2021). In diesem affektiven Erzählen von Krise, Nation und Männlichkeit können also rechtsextreme politische Deutungsangebote nah- und sprechbar gemacht werden und auf diese Weise auch in der gesellschaftlichen Mitte Anschluss finden.

Affektive Identifikation und Zustimmung kreiert Höcke in seiner Erzählung aber auch über Umdeutungen und Aneignungen. So etwa, wenn er die Stimmung im Feld der Politik, in das er sich nach der Aufgabe seines Lehrerjobs gewagt habe, als eine „pogromartige Atmosphäre gegen Rechts“ (Höcke 2018, S. 106) beschreibt und sich dabei mit der Rhetorik vom „coming out“ selbst als Opfer in Stellung bringt,Footnote 18 das diesem Opfersein zugleich mutig trotzt. Damit legitimiert Höcke in seiner Erzählung zuvor an den „rechten Rand“ verbannte Narrative, die aufgrund der deutschen Geschichte des Nationalsozialismus vielfach mit Scham belegt zurückgehalten wurden. Er hinterlegt sie affektiv mit einer Feel-good-Atmosphäre, in der das Rechtssein aus der Nische der Neonazis heraus in die gesellschaftliche Mitte geholt wird. Es geht also auch um eine gefühlte Normalisierung, die hier erzählerisch vermittelt wird und den Weg für rechte Politikangebote ebnet.

6 Fazit: Affektive Narrative als Vermittlungsweisen des Politischen

Das Narrative und das Affektive greifen im Politischen eng ineinander, so haben wir mit dem Konzept der affektive Narrative argumentiert. In unserem Beispiel haben wir ausgeführt, wie Höckes Erzählung zwischen der Darstellung der eigenen Biografie und der stetigen Ansprache des Volkes changiert und damit affektiv-narrativ wirkmächtig zwischen Erzähler und Publikum vermittelt. Gerade in der Verbindung des Persönlichen mit dem Politischen werden hier Brücken geschlagen, und zwar zwischen Führungsfigur und Volk, zwischen Männlichkeit und maskulinistischer Staatlichkeit sowie zwischen rechtsextremen Positionen und gesellschaftlicher Mitte.

Die Analyse der spezifisch affektiv-narrativen Vermittlung im Zirkel von Erzähler*in, Erzählung und Publikum erlaubt es, so zeigt unser Ansatz, politische Verhältnisse und Mechanismen umfassender zu erschließen: indem weder eine Reduktion auf die Analyse bestimmter emotional aufgeladener Geschichten noch auf den gezielten Einsatz von Narrationen und Affekten durch Akteur*innen vorgenommen wird, sondern affektive Narrative gerade als politische Praktiken analysiert werden, die dann das komplexe Zusammenspiel von subjektiven Erfahrungen und Deutungen und gesellschaftlich hervorgebrachten und verfestigten Strukturen umfassen.

In bisherigen Forschungen stellt die umfassende Theoretisierung des Zusammenspiels des Narrativen, Affektiven und Politischen noch einen Forschungslücke dar. Mit unserem Konzept der affektiven Narrative intervenieren wir hier, indem wir Narrative und Affekte nicht als getrennte bzw. trennbare Entitäten auffassen, sondern die Narrativität von Affekten und die Affektivität von Narrativen betonen und zeitgleich drei Ebenen der affektiven Wirkmächtigkeit von Narrativen starkmachen: erstens die Affektivität von Erzählungen, zweitens Erzähl(ung)en als affektive Projektionsfläche für deren Publikum und drittens einen Modus affektiv-narrativer Gestaltung und Orientierung durch die Erzähler*innen. Alle drei Ebenen basieren auf der affekttheoretischen Perspektive des Politik Fühlens, da wir die Wirkmächtigkeit affektiver Narrative gerade darin sehen, dass das Politische immer auch (wenngleich niemals nur) gefühlt wird und Erzählungen vom Publikum auch affektiv aufgenommen und folglich von ihren Erzähler*innen entsprechend ausgestaltet werden. Affektive Narrative bauen also zugleich auf der jeweils miteinander verschränkten Prämisse auf, dass Politik gefühlt und erzählt wird und dass es dabei sowohl um das Was als auch um das Wie und Wer des politischen Erzählens geht. Zugleich basieren affektive Narrative auch auf einer Politik der Gefühle, wenn sie in ihrer narrativen Dynamik konkrete Gefühle wie etwa Stolz, Hass, Stärke und Liebe adressieren und evozieren.

In affektiven Narrativen werden über beide Modi politische Zugehörigkeitsstrukturen hergestellt, die selbst wiederum affektiv und affizierend sind. Im Erzählen werden Kollektividentitäten wie etwa „das Volk“ oder die Nation affektiv angerufen und hervorgebracht. Zugleich können affektive Narrative auf Praktiken der Resouveränisierung verweisen, indem die Erzähler*innen sich selbst in und durch Machtverhältnisse hervor- und zum adressierten Kollektivsubjekt ins Verhältnis bringen. Dieser Modus des Politischen ist dabei als explizit zeitlicher Modus zu verstehen, da vergangene Geschichten sich auch affektiv in Narrative einschreiben. Erzählen und Erzählungen – wie etwa über die souveräne Nation oder das resouveränisierte Volk – übersetzen die Vergangenheit affektiv in die Gegenwart, oder nochmals anders formuliert: Vergangenheit wird über Narrative affektiv vergegenwärtigt. In der Verschränkung zwischen Affekten als Erinnerungspur (Bargetz 2014, S. 120) und dem Erzählen als erinnerndem Handeln (Eggers 2023) treten affektive Narrative als vergegenwärtigende Modi hervor, die nicht nur über die konkreten erinnerten Inhalte, sondern immer auch darüber wirkmächtig werden, dass Gefühle hervorgebracht oder reaktiviert werden. Ebenso werden über affektive Narrative Zukünfte emotional herbeigeschrieben, das heißt, dass die Zukunft in der Gegenwart erfahr- und erlebbar gemacht wird. Denn Erzählen kann Zukunftsängste schüren oder binden, politische Hoffnungen auf „eine Zeit danach“ oder eine unbestimmte Zukunft projizieren und das Vergangene so emotional auf das Kommende hinlenken. Affektive Narrative enthalten also auch utopische und dystopische Momente, sie können den Teufel an die Wand malen oder die Erlösung verheißen. Damit machen sie Zukunft fühlbar, sie lassen ihr Publikum einen Zustand der Welt vorausfühlen und generieren so affektiv Zustimmung oder Ablehnung für politische Visionen.

In all diesen Dimensionen erlauben affektive Narrative eine politiktheoretische Reflexion des Politischen und bieten zugleich einen Analyserahmen, um zu einem umfassenderen Verständnis – immer auch zeitlich zu denkender – politischer Verhältnisse und Vermittlungsweisen beizutragen.