„Lebendige“, klagt Rilke in der ersten Duineser Elegie (1953, S. 229), „machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden.“ Diese ursoziologische Klage ist auf irdische Verhältnisse im Allgemeinen gemünzt; doch suchte man ein Beispiel einer besonders verzichtbaren, ja verhängnisvollen Unterscheidung, wäre die Differenzierung verschiedener „Rassen“ eine naheliegende Wahl. Das ist das Thema von Loïc Wacquant: „Immer Ärger mit ‚Race‘. Eine Agenda für den Umgang mit einer heiklen Kategorie“ heißt sein Beitrag, der die vorliegende Ausgabe des Berliner Journals eröffnet.

Der heikle Charakter von Wacquants eigenem Unterfangen zeigt sich dabei schon in der Übersetzung der Überschrift dieses im Original unter dem Titel „Resolving the trouble with ‚race‘“ im US-amerikanischen New Left Review erschienenen Textes (Wacquant 2022). Im Sinne eines verantwortungsbewussten Sprachgebrauchs haben wir nicht nur die wörtliche Übersetzung des Titels vermieden, sondern auf die Übersetzung des zentralen Begriffs gleich ganz verzichtet.

Jedoch hat auch die gefundene Form ihren Preis. Die Entscheidung für „Race“ statt „Rasse“ verweist auf die gesellschaftliche Problematik in den Vereinigten Staaten und die dortige Debatte, wie sie jüngst im Anschluss an die „Black Lives Matter“-Bewegung mit neuer Vitalität geführt wurde. Doch diese Diskussion lässt sich, wie Wacquant selbst immer wieder erklärt, nicht ohne Weiteres in den hiesigen Raum übertragen. Das umso mehr, als das Sprechen von „Rassen“ – und glücklicherweise, muss man doch sagen! – aus dem deutschen wissenschaftlichen Sprachgebrauch weitgehend verschwunden ist. Warum also dieses Fass – oder gar: diese Büchse der Pandora – wieder aufmachen?

Zumal überhaupt: Hat sich nicht gerade am Fall des Rassebegriffs eindrücklich gezeigt, dass biologisierte Unterscheidungen in die Irre führen und in der Soziologie nichts zu suchen haben? Sollten wir nicht inzwischen gelernt haben, dass die Natur keine klaren Unterscheidungen kennt, allenfalls Übergänge? Müsste man nicht mit Brecht (gemäß den ursprünglich unter dem Titel „An die Menschenfresser“ erschienenen Versen, 1993, S. 256) konstatieren: „Zwischen Lehm und Schmirgel einen/Scharfen Unterschied finden/Das geziemt sich nicht./Ach/Wer von einem Sternenhimmel eine Vorstellung hat/Der/Könnte eigentlich sein Maul halten“?

Es ist uns kein Anliegen, dem Rassebegriff ein zweites Leben zu verschaffen. Aber das ist auch nicht Wacquants Ziel. Ihm geht es gerade darum, „Race“ als analytische Kategorie zu verabschieden – jedoch ohne gegenüber dem gesellschaftlich wirksamen Einsatz rassi(sti)scher Unterscheidungen mit leeren Händen dazustehen.

Das bedeutet zugleich, dass die von Wacquant angestoßene Diskussion über die „heikle Kategorie Race“ gewiss nicht ohne Belang ist für diesseits des Atlantiks diskutierte Fragen. Natürlich gibt es auch hier Rassismus, natürlich ist die stratifizierende Unterscheidung von Gruppen von Menschen, die zurückgeführt wird auf vermeintlich natürliche Merkmale, nach wie vor ein gesellschaftliches Problem – und natürlich sind auch die Grenzziehungen der Vergangenheit präsent; sie wirken nach und erfordern zu ihrem Verständnis ein einsatzfähiges sozialwissenschaftliches Arsenal. All das ruft nach konzeptueller Arbeit: Wir müssen verstehen, was passiert, wenn rassistisch argumentiert und gehandelt wird. Vor diesem Hintergrund ist „Maul halten“ keine überzeugende Option.

Noch darüber hinaus aber stellen sich allgemeinere Fragen zum Umgang mit „schwierigen“ Kategorien, zur Grundlage und Wirkungsweise von Klassifikationen, zum wissenschaftlichen Einsatz von Sprache und zur Überlebensfähigkeit sozialwissenschaftlicher Ausrüstung auf gesellschaftspolitischen Minenfeldern. Wie spricht – oder schreibt oder forscht – man über ein Denken, das es besser nicht geben sollte? Wir glauben, dass Wacquants Text Fragen aufwirft, die von allgemeinerer Relevanz für die Selbstverständigung soziologischer Praxis sind. Und haben deshalb Wacquants ambitionierte Agenda, den „Trouble“ zu „resolven“, gewissermaßen mit einem Fragezeichen versehen und zum Ausgang einer Debatte gemacht.

Um die Thematisierung von „Race“ in die richtigen Bahnen zu lenken, stellt Wacquant fünf Leitplanken auf und legt ein Modell vor, das über die Funktion rassifizierter Unterscheidungen aufklären will, indem es „Race“ als naturalisierte Ethnizität entlarvt.

Auf Wacquants Aufschlag reagieren Martina Löw und María do Mar Castro Varela in zwei Kommentaren, zu denen Wacquant selbst nochmals in einer Entgegnung Stellung bezieht. Die Diskussionswürdigkeit von Wacquants Ansatz zeigt sich dabei bereits darin, dass sich die beiden Kommentatorinnen keineswegs einig sind über die Theorieatmosphäre, die der Text erzeugtFootnote 1: Wo Löw einen „zornigen Text“ sieht, ist Castro Varela abgeschreckt von einer „technokratischen Kälte“. Davon unbesehen sind beide gleichermaßen animiert, ihrerseits leidenschaftlich mit Wacquants Vorschlag zu ringen.

Löw macht in ihrem Kommentar deutlich, dass es beim Ärger mit „Race“ eben nicht nur um „Race“ allein geht, sondern Unterscheidungen wie diese (wie andere Unglücke auch) selten allein kommen. Dabei steht sie Wacquants Anliegen, „Race“ nicht mehr zur Beobachtung von Wirklichkeit anzulegen, sondern lediglich noch die Wirklichkeit der Anlegung von „Race“ zu beobachten, grundsätzlich wohlwollend gegenüber. Doch hegt man „Race“ im Feld der Ethnizität ein, so fragt Löw, wie tangiert das dann benachbarte Kategorisierungen? Was ist, insbesondere, mit Geschlecht? Oder, allgemeiner gefragt: In welcher Beziehung stehen Kategorien zu den Körpern, die sie bezeichnen? Wacquant versteht Ethnizität als rein askriptive Einstufung; Geschlecht, Klasse und Alter gesteht er dagegen eine substanzielle Basis zu. Doch läuft eine derartige Kompartmentalisierung von Race in den Wänden der Ethnizität nicht auf einen falschen Gegensatz zwischen kultureller Ethnizität und vermeintlich natürlichem Geschlecht hinaus?

María do Mar Castro Varela ist noch grundsätzlicher in ihren Einwänden. Einigen von Wacquants fünf Grundsätzen (Historisieren! Dezentrieren! Schuldzuweisungen vermeiden! Distanzieren vom Alltagsverstand! Disaggregieren!) kann sie durchaus etwas abgewinnen, aber gerade mit Blick auf analytische Objektivierungsbestrebungen bleibt sie aus einer postkolonialen Perspektive heraus skeptisch – schließlich hätte genau diese Art des Denkens auch die Rassismen der Moderne und ihre katastrophalen Folgen hervorgebracht.

Zwischen Wacquant und Castro Varela geht es demzufolge vor allem um die Frage, welche Schlussfolgerung aus der Tatsache zu ziehen ist, dass „Denken […] grundsätzlich schuldhaft [ist]“ (Heiner Müller 1990, S. 682). Ist darauf mit immer elaborierterer begrifflicher Selbstkritik zu reagieren, oder geht es vielmehr um die Einhegung „sezierender“ Wissenschaft durch Narration und Empathie? Castro Varela will vor allem verdrängte und marginalisierte Stimmen der Debatte zu Wort kommen lassen, wogegen Wacquant nichts einzuwenden hat. Doch den Verzicht auf die analytischen Mittel wissenschaftlicher Kategorienbildung hält er für eine einseitige Abrüstung, die der rassistischen Mobilisierung der Gegenseite in die Hände spielt. Audre Lordes Formel „the master’s tools will never dismantle the master’s house“ sei „moralisch ansprechend und politisch erhebend“, doch hält sie Wacquant für „nachweislich falsch“: „Wenn es uns ernst damit ist, die sozialen Schädigungen und menschlichen Verheerungen der rassischen Herrschaft zu reduzieren, ist epistemologischer Populismus keine Option.“

Es geht also zur Sache zwischen unseren drei Kombattanten. Und wir sind damit ganz einverstanden. Denn wir halten die mit leidenschaftlicher Sachlichkeit, aber wechselseitigem Respekt geführte Auseinandersetzung, die konträre Positionen ins Gespräch bringt, für ein hohes Gut: Erst, indem Argumente in Bezug gesetzt werden, indem sie aufeinander eingehen, sich der kritischen Prüfung stellen und auf diese Weise zu Korrekturen, Differenzierungen und Synthesen einladen, kann Wissenschaft als kollektiver Erkenntnisprozess gelingen. Eben darin sehen wir die Aufgabe einer Fachzeitschrift, die mehr sein will als nur ein Repositorium für Forschungsversuchsnachweise zum Zwecke der Geldgeberberuhigung – oder gar ein bloßes Vehikel zur Generierung von Open-Access-Gebühren.

Und, nebenbei bemerkt: Eben darin sehen wir auch den Wert von Redaktionsarbeit. Texte und Argumente sprechen nicht von allein zueinander, auch Menschen ja nicht unbedingt. Auch die Proliferation von Geschriebenem, dessen Massenproduktion die immer knapper werdende Lesezeit noch zusätzlich verknappt, macht die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Gegenüber nicht wahrscheinlicher. Dafür, so unsere Überzeugung, braucht es kuratierte Zeitschriften und die sie auszeichnenden, aufwändigen Verfahren, mit denen sie Beiträge auswählen, in einen Zusammenhang stellen und so weit bearbeiten, dass die knappen Aufmerksamkeitsressourcen der Leser:innen sich auf das Wesentliche konzentrieren können.Footnote 2 Die Bedeutung dieser Arbeit wird wissenschaftspolitisch unterschätzt. Ohne sie aber ist eine Debattenkultur, wie wir sie im Berliner Journal anstreben und zuletzt u. a. mit Auseinandersetzungen zur Theoretisierung von Gewalt (Kron und Verneuer-Emre 2020, 2022; Kühl 2021; Hoebel 2021), zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine (Kagarlitsky et al. 2022) oder zur Einordnung der Corona-Pandemie (Seyd 2020; Dörre 2020; Lessenich 2020; Rosa 2020) herzustellen versucht haben, nicht zu realisieren.

Dabei kann das Ziel naturgemäß nicht sein, die jeweilige Kontroverse abzuschließen. Selbst wenn man das Maul nicht halten will und darf, bleibt doch, wie Heidegger feststellt, „für das Denken […] das Grenzenlose des Selben die schärfste Grenze“ (Heidegger 1992, S. 31 f.) – auch wenn das nicht viel mehr heißt, als „daß alles Denken […] schwierig bleibt“ (ebd., S. 72). Darauf Bezug nehmend konstatiert Jean-Luc Nancy, Denken bedeute nicht, „eine verfügbare Kategorie zu setzen“, sondern „ein Wort zu erproben, das in seiner vermeintlichen Bedeutung sofort zu schillern beginnt“ (Nancy und Tyradellis 2013, S. 15). Dass es am Ende der Auseinandersetzung zwischen Loic Wacquant, Martina Löw und María do Mar Castro Varela noch immer schillert, ist hoffentlich Indiz dafür, dass wir den Fallstricken der Kategorisierung, vor die die Kategorie „Race“ uns im Besonderen stellt, entgangen sind. Keine Anleitung dafür, was unter „Race“/„Rasse“ zu verstehen ist, ist das Ziel, sondern ein tastendes, bisweilen auch testendes Nachdenken darüber, was es auf sich hat mit dieser Kategorie, die so viel Schaden angerichtet hat und noch immer anrichtet.

Dem Anliegen, durch sensible kategoriale Reflexion das Niveau der Debatte zu heben, sind auch die weiteren Beiträge des Heftes verpflichtet. Nora Waitkus geht es dabei allerdings um „Klasse“ statt „Rasse“, genauer: um eine zentrale Leerstelle im Ungleichheitsdiskurs. Allzu oft wird gesellschaftliche Stratifizierung vor allem am Einkommen festgemacht, Vermögen dagegen außen vor gelassen – und das, obwohl in Gesellschaften, in denen immer mehr vererbt wird, die letztere Dimension unablässig an Gewicht gewinnt. Auch Vermögen aber ist als Kategorie nicht selbsterklärend – weshalb Waitkus untersucht, welchen Unterschied es macht, was je nach theoretischer Brille unter Vermögen verstanden wird. So zeigt sich nicht nur eine erhebliche Kluft zwischen Vermögenden und Unvermögenden, sondern es offenbaren sich auch wichtige Unterschiede in der Art des Vermögensportfolios. Bei alldem steht auch Waitkus Beitrag nicht isoliert für sich, sondern führt die Debatte um aktuelle Perspektiven auf Stratifizierung weiter, die wir zuletzt mit Heft 2/2022 (zu „Klassen ohne Bewusstsein“, s. zur Übersicht das Editorial von Westheuser und della Porta 2022) ausführlich in den Blick genommen haben.

Wenn es um heikle Kategorisierungen geht, liegt ein Brückenschlag zur Soziologie der Bewertung nicht fern – wobei besonders streitbare Bewertungen bekanntlich die Kunst hervorbringt, speziell dort, wo die Bewertung des vermeintlich Zweckfernen mit handfesten materiellen Konsequenzen verbunden ist. Am Beispiel der Auswahlverfahren zweier Kunsthochschulen zeichnen Gabriele Wagner, Juan S. Guse und Monika Hasenbruch allerdings nach, dass die Urteile der Auswahlkommissionen deren Mitgliedern weit weniger strittig erscheinen, als man gemeinhin erwarten würde – dass diese die Entscheidungen gar überwiegend für „sonnenklar“ halten. Von hier aus werfen die Autor:innen einen kritischen Blick auf den in der Bewertungssoziologie vorherrschenden „Situationismus“ und richten ihre Aufmerksamkeit auf die formale Organisation, die Auswahlkommission und Verwaltung „transsituativ“ verbindet. Wie sich zeigt, sorgt diese dafür, „dass nur bestimmte Entscheidungspfade überhaupt betreten werden können“ – um ihre eigene Spur sofort wieder zu verwischen, damit die meritokratische Fiktion erhalten bleibt.

Eine nicht ganz unverwandte Konstellation von Bewertungspraxen mit erhöhtem Ablehnungsrisiko nehmen Kathia Serrano Velarde, Kai Behrendt und Patrik Dahl in den Blick – nur, dass sie dabei nicht auf die Kunst, sondern auf die Wissenschaft, und nicht auf die Seite der Entscheider, sondern auf die der Entscheidungsempfänger blicken: Der Kampf um Drittmittel prägt nicht nur die Wissenschaft als Ganzes, sondern auch die Biografien ihrer Protagonisten. Auch hier lässt sich dem vielfältigen, nicht selten strittigen und fast immer undurchsichtigen Kategorisieren von Anträgen, Projekten und Personen als förderwürdig oder -unwürdig nicht entkommen. Wie gehen die Betroffenen mit dieser Tatsache um, wie erklären sie sich ihre Ergebnisse selbst? Zu lernen, „sinnvoll zu scheitern“, wird, so die Autor:innen, unter diesen Bedingungen zur wissenschaftlichen Schlüsselkompetenz schlechthin.

Als kategorial wie zeitlich stabiler als die durchschnittliche wissenschaftliche Drittmittelbiografie hat sich die EU erwiesen. Indessen lassen sich auch hier bisweilen Ansätze eines sinnvollen Scheiterns, gar einer ständig konstruktiv gewendeten „Dauerkrise“ entdecken. Dementsprechend gibt die Stabilitätsbeobachtung Anlass für weitere kategoriale Differenzierungen: Ist die EU, fragt Stefan Immerfall in seinem Essay zur „Krisenfestigkeit“ der Union, wirklich adäquat als „resilient“ zu beschreiben? Oder ähnelt sie, „überstabil“, vielmehr einem Panzer ohne Bremsen, an dem vieles abprallt, bis er von der Klippe stürzt und im Meer versinkt?

Resilienz ohne Überstabilität lässt sich gut und gerne auch dem Berliner Journal wünschen – verbunden mit der Hoffnung, dass es sich die Lust an der Debatte, das Gespür für Themen und den Willen zum bestmöglichen Argument bewahren möge. In diesem Sinne behutsamer Erneuerung freuen wir uns sehr, seit Jahresbeginn Philipp Staab als neuen Herausgeber an Bord zu haben. Andererseits – und der Anlass legt es nahe, an dieser Stelle in die erste Person Singular zu wechseln – wird für mich (B.S.) nach über sechs intensiven Jahren, in denen ich die Redaktion dieser Zeitschrift leiten durfte, am Ende des Sommers die Zeit gekommen sein, den Korrekturstift weiterzugeben. Die Herausforderungen der Redaktionsarbeit werde ich als Co-Sprecher des Netzwerks sozial- und geisteswissenschaftlicher Zeitschriften weiter begleiten. Zum Abschied möchte ich mich vor allem bedanken: bei den Autor:innen, die meine Hinweise über die Jahre meist mit großer Geduld und oft mit großer Wertschätzung aufgenommen haben; bei den Herausgeber:innen, den früheren wie den jetzigen, die mit mir am gleichen Strang gezogen haben; bei unserem nimmermüden Herstellungsleiter Andreas Vogel und seinen vielen Helfern in Satz und Vertrieb; und zuallererst bei meinen Redaktionskolleg:innen Ronja Bußmann, Marlen van den Ecker, Fabian Elbaky, Andreas Häckermann, Janina Puder und, als dem engsten Mitstreiter, Henri Band! Alle gemeinsam verkörpern mit ihrer Klugheit, ihrer Beharrlichkeit und ihrer Integrität, was gute Zeitschriftenarbeit ausmacht. Und zwar gerade dann, wenn sich die heiklen Fragen wissenschaftlichen Kategorisierens nicht vermeiden lassen.