Bitte stellen Sie sich als Gedankenexperiment vor, nicht soziologisch geschulte Menschen würde man nahebringen wollen, worum es in unserem Aufsatz „Struktur? Physis? Situation? Zur Erklärung von Gewalt“ (Kron und Verneuer 2020) und dem unter dem Titel „Aspektverluste“ veröffentlichten Einwurf dazu von Thomas Hoebel (2021) geht. Das Ergebnis könnte kurz gefasst so lauten: Da wurde ein Vorschlag unterbreitet, wie man eine langjährige Diskussion in der soziologischen Gewaltforschung strukturieren und dadurch voranbringen könnte. Dieser Vorschlag ist aber absurd und führt nicht weiter.

Wäre es so, wie Hoebel schreibt, müssten wir die Leser:innen des „Berliner Journals für Soziologie“, deren Herausgeber:innen sowie die Gutachter:innen unseres Artikels um Entschuldigung bitten. Obwohl intensiv begutachtet und bearbeitet, scheint unser Artikel zur Erklärung von Gewalt gar nichts beitragen zu können – so das vernichtende Resümee in der Lesart von Hoebel (S. 542)Footnote 1: „Sollte der Aufsatz der beiden diese Debatte weiter anregen, wäre mehr erreicht, als sie sich selbst auf die Fahnen geschrieben haben.“ Schon alleine aufgrund der insgesamt sehr heftigen Gegenwehr lohnt es sich aus unserer Perspektive gleichwohl, sich Hoebels Argumente genauer anzusehen und am Ende zu schauen, was man daraus allgemein und auch für den Gewaltforschungsdiskurs lernen kann. Wir werden im Folgenden auf Hoebels Kritik (1) an der begrifflichen Festlegung durch die Modellwahl, (2) an einer – absichtlich – selektiven Literaturauswahl sowie (3) an der Übersetzung von Collins’ Ansatz in das Modell soziologischer Erklärung eingehen.Footnote 2

(1) Der erste Kritikpunkt von Hoebel ist, dass wir uns von einem Erklärungsmodell ausgehend dem zu erklärenden Gewaltphänomen zuwenden. Unser Vorschlag ist, dafür auf das bekannte Modell der soziologischen Erklärung (im folgenden MSE) zurückzugreifen, wie es in der deutschsprachigen Soziologie insbesondere von Hartmut Esser (1993) vertreten und später von diesem und Clemens Kroneberg (2011) theoretisch um das Modell der Frame-Selektion erweitert wurde. Hoebel unterstellt nun, wir würden mit der Wahl dieses Erklärungsmodells gleichzeitig festlegen, was begrifflich Gewalt „ist“: „Kron und Verneuer meinen, die methodischen Regeln des Modells der soziologischen Erklärung leisteten gleichsam die Begriffsexplikation, was als Gewalt gelten soll“ (S. 532). Zugleich streitet auch Hoebel nicht ab, dass man das kollektive Phänomen, über das man sprechen möchte und das man sich als Explanandum vorknöpfen will, zunächst einmal „definieren“ muss. Dies geschieht immer mit „Begriffen“. Wenn es verschiedene Phänomene gibt, die man beobachtet oder über die man forscht, oder auch, die man sich noch ausdenken kann, dann müssen diese unterscheidbar benannt werden. Danach kann das „reverse engineering“ (S. 536), die Erklärung des Phänomens im Rahmen des MSE, völlig unproblematisch starten. Das hat weder etwas mit Begriffsrealismus zu tun, noch mit einer Festlegung des Begriffs durch das Modell. Man darf nur tatsächlich nicht das tun, was Hoebel macht, der selbst das tut, was er uns vorwirft, nämlich den Unterschied zwischen „Begriff“ (eines kollektiven Phänomens) und „Erklärung“ (des damit bezeichneten kollektiven Phänomens) vermengen.

Wie kann es zu dieser Vermengung kommen? Hoebel (S. 538) geht davon aus, dass die Umstrittenheit ein konstitutives Merkmal von Gewalt und deren Definition sei und dass wir mit unserem Vorschlag eben diese Umstrittenheit „abqualifizieren“ und „beiseite wischen“ wollten. Letzteres zu behaupten ist insofern paradox, als dass wir ja gerade auf diese Begriffsdebatte eingehen und einen Vorschlag zum Umgang mit der begrifflichen und phänomenologischen „Umstrittenheit“ von Gewalt machen. Dass der von ihm als Gewährsmann angeführte Dietrich Schotte (2020) einen anderen Vorschlag macht, nämlich die Anwendung eines engen Gewaltbegriffs anrät, passt hier gar nicht in Hoebels Argument (aber zu unserem Vorschlag, da man einen engen Gewaltbegriff im Rahmen der Selektionslogik einführen kann). Daran kann man sehen, dass jene Umstrittenheit, was Gewalt ist, vor allem konstitutiver Bestandteil des Gewaltdiskurses ist. Unser Vorschlag beinhaltet, sich weniger auf den Streit um den angemessenen Begriff von „Gewalt“, als auf die Erklärung der als Gewalt bezeichneten Phänomene zu konzentrieren (siehe Kron und Verneuer 2020, S. 398 ff.). Wir sind nicht so naiv zu glauben, dass damit die Begriffsdebatten enden würden. Zugleich ist der Streit um den Gewaltbegriff ja so heftig geführt worden, dass nahezu niemand über Gewaltforschung schreiben kann, ohne dieser Auseinandersetzung einen gewichtigen Platz einzuräumen (Stichwort: Mainstreamer vs. Innovateure) – auch Hoebel geht immer wieder in seinen Schriften darauf ein. Unser Vorschlag zielt also weder auf die Eliminierung von Diskursen zum Gewaltbegriff, noch wollen wir behaupten, es gäbe keine guten Erklärungen von Gewaltphänomenen. Durch den Rückgriff auf das MSE bieten wir jedoch eine Strukturierung sowie Integration der bestehenden Debatte an, welche die scheinbar unvereinbaren Perspektiven in einem übergreifenden heuristischen Rahmen lokalisieren und damit ihre möglichen Anknüpfungspunkte untereinander sichtbar werden lässt.

Hoebel glaubt nicht, dass man mit dem MSE eine gute Erklärung von Gewaltphänomenen leisten könnte, dafür handle es sich zu sehr um ein „formalisiertes Sprachsystem“ (S. 535, mit Verweis auf Stegmüllers Ausführungen zum modernen logischen Empirismus). Er plädiert – scheinbar im Gegensatz zum MSE – dafür, den Sinngehalt von Gewalt in seiner Kontextabhängigkeit und symbolischen Vermittlung zu erarbeiten (S. 538). Genau dies ist es allerdings, was das MSE leisten kann (siehe Esser 2001)! Die Darlegung der Definition der Situation durch die Akteure als ersten Erklärungsschritt bewerkstelligt genau das, was Hoebel hier so vehement einfordert und so gar nicht in dem MSE erkennen mag: das Erschließen des Sinngehalts (siehe dazu Esser 1999, 2010). Die Akteure als Beobachter erster Ordnung definieren die Situation, nicht die Wissenschaftler:innen als Beobachter zweiter Ordnung. Diese Differenz ignoriert Hoebel.

(2) Die Kritik von Hoebel bezieht sich nicht nur auf die sachliche Dimension unseres Vorschlags, sondern auch auf die soziale Dimension: Hätten wir uns doch nicht nur auf jene Autor:innen konzentriert, die uns „gut in den Kram passen“ (S. 537), dann hätten wir die Mängel unseres Beitrags wohl sofort erkennen müssen. Hier formuliert Hoebel als zweiten Kritikpunkt den äußerst harten Vorwurf des unwissenschaftlichen Vorgehens durch eine „selektive Lektüre des Forschungsstands“ (S. 535, der Vorwurf wird wiederholt auf S. 536 f., 538 sowie im Abstract). „Selektive Lektüre“ darf man sicher gleichsetzen mit dem Vorwurf, im mildesten Fall, der Verletzung der normativen Spielregeln der Wissenschaft, im härtesten Fall, der Unwissenschaftlichkeit. Ein solch harter Vorwurf müsste u.E. ausführlich begründet werden, ansonsten eröffnet sich die Frage, warum jemand derartige Vorwürfe vorbringt. Systemtheoretisch gesprochen bedarf eine solche Kommunikation einer besonderen Begründung des Informationsgehalts, ansonsten kann die Mitteilung als Information verstanden werden.

Mit den von uns genannten vier Fällen (gemeint sind die in unserem Artikel genannten Einlassungen zur o.g. Begriffsdebatte von Endreß 2004; Imbusch 2004, 2017; Nunner-Winkler 2004 und Schroer 2004) seien laut Hoebel nicht nur zu wenige, sondern intendiert auch nur solche Autor:innen ausgewählt worden, die das Bild einer in der Begriffsdebatte verharrenden Gewaltforschung bestätigen. Nähme man nur acht weitere Arbeiten des aktuellen, deutschsprachigen Forschungsfeldes hinzuFootnote 3, würde man sehen, dass es vor allem empirische Arbeiten gibt, die deutende und erklärende Konzepte formulieren, „um den interessierenden Gegenstand begreiflich zu machen“ (S. 537). Hoebels Vorwurf eines „absurd-verifikationistischen Standpunkt[es]“ (S. 538) bezieht sich insofern indirekt auch auf die Verwendung des MSE als erklärungstheoretischer Rahmen – denn erklärende Konzepte gibt es ja bereits in der Empirie, und unser (argumentativer) Ausgangspunkt für die Verwendung des MSE sei somit hinfällig. An dieser Stelle sei nur vermerkt: Bekanntlich und von uns sehr deutlich schon durch den Aufsatztitel „Zur Erklärung von Gewalt“ expliziert, hat das MSE allerdings einen höheren Anspruch, als Phänomene „begreiflich zu machen“: es möchte soziale Phänomene wie Gewalt erklären.Footnote 4

Was immer man von der schlichten Kritik, man habe quantitativ nicht genug wissenschaftliche Texte berücksichtigt, grundsätzlich halten mag: wir hätten uns gewünscht, dass wenigstens an einem der von Hoebel genannten alternativen Forschungen einmal demonstriert würde, inwiefern diese als Argument gegen die Verwendung des MSE taugen. Dies gebietet an und für sich schon die Härte des Vorwurfs. Da Hoebel dies unterlässt, gehen wir selbst darauf ein. Hier ist allerdings nicht der Platz, um sich mit der kompletten Auflistung von Hoebel dezidiert auseinanderzusetzen. Wir gehen deshalb, wiederum selektiv, auf Hoebels Hinweise zur weiteren Gewaltforschung ein und sehen die Bringschuld – der Nachweis für den Vorwurf, dass diese Selektivität schädlich ist – bei den zukünftigen Kritiker:innen.Footnote 5

Als erstes übersieht Hoebel, dass wir die von ihm (S. 537) als Gegenbeispiel angeführten Arbeiten von Ferdinand Sutterlüty (2004, 2015, 2020) in unsere Argumentation mit einem expliziten Hinweis eingebunden haben.Footnote 6 Aus unserer Perspektive wendet dieser das MSE mit seinen drei Schritten am Beispiel der Erklärung von „urbanen riots“ implizit an, verzichtet aber auf explizite Hinweise (siehe Kron und Verneuer 2020, S. 408 ff., insbesondere S. 413, Fn. 26). Die Arbeiten von Sutterlüty bezüglich der Gewaltkarrieren jugendlicher Intensivgewaltäter:innen sind ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie hilfreich das MSE als Bezugsrahmen ist. Sutterlütys Arbeiten zu den Gewaltkarrieren und den von ihm aufgezeigten gewaltaffinen Interpretationsregimes sind ein Paradebeispiel dafür, wie (biographische) Randbedingungen (Situationslogik) dazu führen können, dass sogar in alltäglichen Situationen (etwa Straßenbahn fahren) ein Blick genügen kann, um Gewalthandlungen zu provozieren (Selektionslogik). In diesem Sinne findet hier – um das Modell der Frame-Selektion als handlungstheoretischen Bezugsrahmen zu bemühen – ein automatisch-spontanes Framing mit direkter, d.h. unhinterfragter Handlungsselektion statt, und das alles auf Basis von vorangegangenen Erfahrungen, die sich über die Situationslogik er- und einschließen lassen.

Auch wenn wir uns zwei weitere von Hoebel empfohlene Beiträge genauer anschauen, sehen wir keinen Widerspruch zu unserem Vorschlag. Vincent Leuschner etwa kritisiert unter Einbezug der Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen die unterschiedlichen Erklärungsansätze für „school shootings“ dafür, dass diese lediglich viele erklärende Einzelfaktoren heranziehen, die jeweils als ursächlich behauptet werden. Er dagegen betont insbesondere die Relevanz der „Vorfeldentwicklung“ dieser Taten (Leuschner 2013, S. 33 ff.). Dieses empirisch nachgewiesene Faktum widerlege erstens alle Einschätzungen, die davon ausgehen, dass es sich bei solchen Taten um einen spontanen, eruptiven Gewaltausbruch handelt. Zweitens wird deutlich, „dass eine solche Vorfeldentwicklung von einer Vielzahl ursächlicher und ermöglichender Bedingungen und Faktoren beeinflusst wird, sodass es kaum möglich erscheint, einen dieser Faktoren allein als Erklärung heranzuziehen.“ (ebd., S. 36) Wir würden dies so deuten: Die im Collins’schen Sinne notwendige Bedingung der Überwindung der Konfrontationsanspannung ist keine hinreichende Erklärung für „school shootings“; hierfür muss die Logik der Situation inklusive der Definition der Situation durch die relevanten Akteure rekonstruiert werden. Ähnliche Rekonstruktionen der hinreichenden Bedingungen lassen sich für terroristische Akte darlegen (siehe Kron und Winter 2018). Die weitere Modellierung der Selektionslogik muss auch hier ohne die „Zweck-Mittel-Relation“ auskommen, in der „exzessive Gewalttaten von Einzeltätern immer wieder [...] gedacht“ werden (Leuschner 2013, S. 38), und andere Selektionsalgorithmen abgleichen.

Auch Leuschner kommt nicht ohne Begriffsdebatte aus: Im Fall von extremen Gewalttaten von Einzeltätern ließe sich eine „begriffliche Verrätselung“ konstatieren (ebd., S. 38 f.; Hervorheb. weggel.). Noch arger sei das Forschungsdefizit hinsichtlich der täter:innenorientierten Ursachenperspektive entlang möglicher Motive oder sozialer Attribute der Täter:innen. Man müsse vielmehr die Taten selbst in den Mittelpunkt stellen, es gelte, „ihre Eigenarten herauszuarbeiten und die Situationen zu bestimmen, in denen sie tatsächlich eskalieren“ (ebd., S. 39). Hierzu verweist Leuschner explizit wie wir auf Collins, dessen Ansatz – wie ebenfalls von uns vorgeschlagen – aber erweitert werden müsse: „Im Hinblick auf School Shootings und terroristische Einzeltaten stellt sich somit die Frage, auf welche Weise die emotionale Energie, die diese Taten erfordern, aufgebracht wird. Die Antwort ist in relationaler Perspektive im Vorfeld der Taten zu suchen.“ (ebd.) Anders formuliert: Mittels der Rekonstruktion der Logik der Situation (inklusive solcher Randbedingungen wie die Selbstradikalisierung via Internet) sowie der Selektion, zu der dann auch „soziale Drehbücher“ (Esser 2000b, S. 199 ff.; am Beispiel der Ehescheidung Esser 2002) bzw. „kulturelle Skripte“ wie die des „einsamen männlichen Rächers“ gehören können (Leuschner 2013, S. 45), lassen sich die beiden extremen Gewaltformen Amok und Terror in ihren Gemeinsamkeiten erforschen.Footnote 7 Und der öffentliche Raum, in dem diese Taten durchgehend stattfinden, ebenso wie die Begleitung durch massenmediale Aufmerksamkeit sind Elemente der Aggregationslogik, dessen wechselwirkende Wirkweisen (etwa als „symbolische Orte“; ebd., S. 40, Hervorheb. weggel.) entschlüsselt werden können (siehe z. B. am „Fall Heße“ Kron und Laut 2019). Auch die Analysen von Leuschner bestätigen also unseren Vorschlag mehr, als dass sie in einem Gegensatz dazu stehen.

Auch für die von Hoebel ins Feld geführte Analyse über „Folterbarkeit“ von Frithjof Nungesser (2019)Footnote 8 gilt wie schon für Leuschner, dass diese Forschung nicht nur als Kritik nicht trifft, sondern sogar auf der Linie unserer Argumentation liegt: Nungesser identifiziert sechs „Kanäle“, über die Folter eine Wirksamkeit entfachen kann. Es geht also nicht um die Erklärung von Folter als soziales Phänomen, sondern um die Klärung der Möglichkeiten, über den Zugriff auf den Körper das „Spektrum menschlicher Verletzungsoffenheit in seiner gesamten Breite auszunutzen“ (ebd., S. 378). Eine solche Klärung von Vorbedingungen für Folter ist eben noch keine Erklärung von Folter als soziales Phänomen, wie man mit dem MSE leicht sehen kann. Vielmehr geht es um die für die Soziologie typische Klärung der Bedingungen von Handlungsmöglichkeiten. Diese Klärung beantwortet nicht, weshalb Folter als soziales Phänomen in der ganzen Menschheitsgeschichte vorkommt, sondern erörtert verschiedene Bedingungen, die jeweils notwendig sind, damit Folter überhaupt wirken kann. Das sind wichtige Überlegungen zur Frage, warum – als Handlungsselektion – so gefoltert wird, wie dann de facto gefoltert wird, und nicht anders. Explizit nimmt Nungesser damit eine „Umkehrung der üblichen Forschungsperspektive“ vor: „Für gewöhnlich betrachten sozialwissenschaftliche Studien das Gewalthandeln. Im Hinblick auf die Folter wird dann gefragt, wie Menschen zu solch grausamen Handlungen fähig sind, welche Situationsdynamiken, Organisationsstrukturen oder sozialen Klassifikationsschemata Folter befördern. Deutlich seltener kommt das Gewalterleiden, also die ‚Kehrseite der Vita activa‘ [...], in den Blick.“ (ebd., S. 379)

Es geht Nungesser also nicht um eine soziologische Erklärung von Gewalt (in Form von Folter), sondern um die Vorklärung ihrer Möglichkeit. Dies ist ihm sicherlich nicht vorzuwerfen, sondern eine wertvolle Analyse, die zweifelsohne „analytische Generalität“ besitzt (so Hoebel S. 537), weshalb Nungesser auch in der Konsequenz die sozialtheoretischen Implikationen seiner Analyse hervorhebt. Diese Forschung als Gegenbeispiel zu unserem Angebot einer Erklärung von Gewalt (im oben angeführten Sinne, siehe Fn. 4) aufzuführen, dürfte dennoch in den Bereich der logical fallacy aufgrund anekdotischer Ähnlichkeiten fallen. Zur Wiederholung: Damit soll nicht gesagt sein, dass derartige Untersuchungen wertlos seien, im Gegenteil. Sie treffen aber nicht das Anliegen, Gewaltphänomene im Sinne des MSE zu erklären – sofern man bereit ist anzuerkennen, dass die Klärung von Vorbedingungen keine Erklärung darstellt und aus den verschiedenen Möglichkeiten, die Verletzungsoffenheit von Menschen zu nutzen, alleine nicht erklärt werden kann, warum und wie gefoltert wird – denn glücklicherweise ist Verletzungsoffenheit keine hinreichende Bedingung für Gewaltopfer- bzw. Foltererfahrungen. Nungessers Arbeit widerspricht der Erklärung mittels des MSE nicht, sondern kann als Beschreibung (der Vorbedingung von Gewalterleiden) geradezu ein Teil davon sein – sie ersetzt aber nicht alle drei Erklärungsschritte des MSE. Im Ergebnis diskutiert Nungesser (2019, S. 390 ff.) denn auch die Systematisierung der Verletzbarkeit im Zusammenhang mit jenen im Pragmatismus erarbeiteten Bedingungen für die Möglichkeit des Handelns (den „Konstitutionsachsen der Handlungsfähigkeit“). Man mag dies als Vorarbeiten für die Darlegung der Logik der Selektion verstehen, welche damit zugleich noch nicht hinreichend konkret modelliert ist, weil eben wiederum Vorbedingungen für Folter und Handlung in Zusammenhang gebracht werden. Offen bliebe, wie es zur tatsächlichen Handlungsentscheidung kommt (als Logik der Selektion), was bei Anwendung des MSE als Blaupause zumindest sichtbar wird. Wertvoller scheinen uns diese Untersuchungen weiterhin für die Ausgestaltung der Aggregationslogik, etwa um darzulegen, weshalb das Explanandum in „vollkommener Macht“ resultiert, die ein ganz bestimmtes Widerstandshandeln erlaubt – und anderes (je nach aktualisiertem Muster der Verletzbarkeit, Folterkonjunktur, organisationaler Einbettung oder übergreifender politischer Orientierung) eben nicht (ebd., S. 391). Kurz: Nungessers Arbeit – von Hoebel als unseren Vorschlag entkräftendes Beispiel angeführt – hat weder dasselbe Erkenntnisinteresse wie unser Beitrag an der Erklärung von Gewalt, noch schließen sich unsere beiden Abhandlungen aus, weil die differenzierte Analyse der Verletzungsoffenheit relevante Anhaltspunkte für die fallspezifischen Ausgestaltungen der Logiken der Selektion sowie der Aggregation liefern kann, weshalb Nungesser (ebd., S. 395 ff.) am Ende eine Reihe von Vergleichsoptionen hierfür anführt. Zugleich wird diese im Sinne des MSE für Erklärungen notwendige Konkretisierung der Aggregationslogik bei Nungesser noch nicht mitgeliefert.

(3) Vermutlich missverstanden hat Hoebel (S. 541 ff.) weiterhin unseren Vorschlag, den situationalistischen Ansatz zur Erklärung von Gewalt von Randall Collins in das MSE einzupassen. Die von uns vorgetragene Idee ist, dass Collins Gewalt im Sinne eines „automatischen Reagierens“ (siehe Esser 2000a, 2006; Kron und Verneuer 2020, S. 406 f.) beschreibt, bei der eine bestimmte Definition der Situation zur Selektion von Gewalthandlungen (statt beispielsweise von Flucht im Sinne des Verlassens der Situation) führt. Collins’ Hinweis auf die notwendige Überwindung von Konfrontationsanspannung passt als Selektionslogik in das MSE. Als eine Form automatischen Reagierens ist es durch die angenommene Verknüpfung zwischen Situation und Selektion zugleich Bestandteil der Situationslogik. Die Zuschreibung ausschließlich zur Logik der Situation, wie sie Hoebel (S. 539) uns unterstellt, ist demnach schlicht falsch.

Ebenso ist Hoebels Kritik unangebracht, wir hätten uns nicht mit Collins’ Kritik am klassischen, d.h. engen Verständnis der Rational-Choice-Argumente befasst (siehe etwa Opp 1999), „die das Arbeiten an und mit dem Modell der soziologischen Erklärung vielerorts überhaupt erst motivieren“ (S. 540). Hoebel hat überlesen, um was wir die Leser:innen explizit gebeten haben: „Das Erklärungsmodell darf hier nicht mit der in diesem Modell häufig verwendeten Handlungstheorie verwechselt werden.“ (Kron und Verneuer 2020, S. 403)

Abgesehen davon, dass wir also in unserem Text explizit darauf hinweisen, dass Collins nicht von rationalen Handlungsentscheidungen ausgeht (ebd., S. 404): Diese von Hoebel vorgenommene Gleichsetzung des MSE mit der Rational-Choice-Theorie dürfte spätestens (!) mit Hartmut Essers vieldiskutiertem Modell der Frame-Selektion passé sein. Doch schon vorher kann man zur Kenntnis genommen haben, dass der methodologische Individualismus zwar häufig mit Rationalansätzen einhergeht, diese aber keinesfalls – und schon gar nicht zur Modellierung der Logik der Selektion – notwendig sind: Das MSE erzwingt keinen Rationalansatz, und die Selektionslogik im MSE benötigt nicht zwingend einen nutzenmaximierenden Selektionsalgorithmus!Footnote 9 Genau deshalb kann man Collins’ Idee der mikrosoziologischen Gewalterklärung in den theoretischen Rahmen des MSE fruchtbar einfügen – so unser Vorschlag.Footnote 10 Dies alles hat Hoebel ignoriert. Er kann deshalb nicht sehen, dass es uns also nicht darum geht, wie er (S. 541) suggeriert, Collins mit der kompletten „Makro-Mikro-Makro-Ebenenlogik“ abzugleichen. Hoebel ignoriert, dass wir Collins dafür kritisieren, ausschließlich auf die notwendige Bedingung von Gewalt zu zielen und die hinreichenden Bedingungen zu vernachlässigen.Footnote 11 Wir haben damit genau das getan, was Hoebel bei uns nicht gefunden haben will, nämlich zu prüfen, „ob und wie Collins’ Mikrosoziologie und das Modell der soziologischen Erklärung eigentlich kausalitätstheoretisch zueinander passen“ (S. 540). Nochmal: Die kausale Komplexität von Gewalt (siehe dazu Kron 2019) wird bei Collins nicht vollständig erfasst, sein Ansatz lässt sich zugleich in das vollständigere und allgemeinere MSE integrieren.

Diese von Collins betonte Notwendigkeit der Überwindung der Konfrontationsanspannung bleibt bei Hoebel vermutlich deshalb unbemerkt, weil er sich auf die „sich sukzessive entwickelnde Anspannung“ (S. 541) fokussiert. Das Anspannungsmoment an sich ist aber nicht zentral – die Anspannung kann auch wieder abflauen, nach Collins sogar willentlich etwa qua Langeweile herbeigeführt –, sondern der Ausbruch in Form von Gewalt. Hoebel (S. 540) selbst zitiert diesen Punkt in Bezug auf die Vorwärtspanik bei Collins und verkennt zugleich die Pointe, die darin liegt, dass die Anspannung in „bedingungslose Aktivität“ umschlagen und „sich Anspannung und Angst auf einen Schlag Luft“ machen können (Collins 2011, S. 133).

Insgesamt verfestigt sich der Eindruck, dass Thomas Hoebel weder das Modell der soziologischen Erklärung noch unseren Vorschlag verstehen will. Das MSE mit einem „formalisierten Sprachsystem“ gleichzusetzen, das sogar einen „vergleichsweise hohen Grad der Formalisierung“ (S. 535 und 539) aufweise, hinterlässt bei uns mehr Fragen als es der Klärung dient, weil damit völlig offen bleibt, was hier mit Formalisierung gemeint sein soll (vgl. Ziegler 1972). Man könnte dieses Missverstehen von Hoebel kaum besser vorführen als er selbst mit seiner rhetorischen Frage am Ende seines Statements, ob „gute, erfahrungsgesättigte Beschreibungen, die sensibel für viele Aspekte eines Geschehens sind, nicht oftmals schon die besten Erklärungen“ seien (S. 542). Die Antwort lautet eindeutig: Nein, sofern man geneigt ist, Beschreibungen von Erklärungen unterscheiden zu wollen.

Stefan Kühl (2021, S. 515) hat in seiner Analyse des u.a. von Hoebel ausgerufenen neuen und letztlich als unfruchtbar bewerteten „turns“ angemerkt, dass die Vertreter:innen der Prozesssoziologie sich einer für seinen Geschmack „häufig zu heftigen“ Kritik bedienen. Es ist auffällig, dass sich Hoebel auch in seiner Erwiderung zu unserem Beitrag einer gewaltvollen anstatt einer wertschätzenden Kommunikation (im Sinne von Rosenberg 2001) bedient. Diese „kommunikative Gewalt“ könnte man wiederum mit dem Modell der soziologischen Erklärung darlegen (erklären!).

Auffällig ist, dass in der Wissenschaft, in der keine Asymmetrie zwischen Leistungsnachweis- und Publikumsrollen besteht (Dickel und Franzen 2015), zu derartig gewaltvoller Kommunikation dann gegriffen wird, wenn andere Vorschläge die eigene Anschauung im Fundament erschüttern. Ein Bespiel hierfür ist Talcott Parsons, der Georg Simmel einen „Dilettanten“ genannt hatte (1998, S. 48), weil Simmel Vergesellschaftung ganz ohne die Notwendigkeit normativer Randbedingungen beschreiben konnte, was überhaupt nicht zu Parsons’ Vorstellung in Structure of Social Action (1937) und der dort entwickelten Konvergenzthese passte (siehe dazu Kron 2010, S. 190 ff.). Trotz vieler Konvergenzoptionen passt der analytische Status der sozialen Formen bei Simmel fundamental nicht zu dem, was Parsons’ analytische Theorie impliziert, nämlich die Annahme, dass es ein überindividuelles Element geben müsse, das er als „institutional element“, als normativen Bezugsrahmen identifiziert (vgl. Alexander 1993). Insgesamt kommt Parsons zu der heftigen Kritik, dass „Simmel’s formula, far from being acceptable, ‚throws out the baby with the bath‘“ (1998, S. 42). Wegen dieses fundamentalen Widerspruchs wollte Parsons Simmel nicht in seine Theorie integrieren: „Parsons’ theory would not have changed if he had included Simmel as an object of his interpretative ambition. For Parsons did not ignore Simmel; he disagreed with him in a fundamental way. This is the reason he excluded Simmel from Structure.“ (Alexander 1993, S. 103) Aus heutiger Sicht darf man sich diesbezüglich der Bewertung Birgitta Nedelmanns anschließen: Es „ist auf die Tatsache hinzuweisen, die man ‚Parsons’ Sündenfall‘ nennen könnte. Damit ist das explizite Übergehen des Simmelschen Ansatzes in Talcott Parsons’ 1937 erschienenem Werk ‚The Structure of Social Action‘ gemeint; Parsons stellt dort beiläufig die Behauptung der Unhaltbarkeit des Simmelschen soziologischen Ansatzes auf, ohne jedoch weitere Mühe darauf zu verwenden, diese Behauptung näher zu begründen.“ (Nedelmann 1980, S. 560)

Offenbar gibt es solche Sündenfälle öfter. Unter der Bedingung theoretischer Fundamentalkonflikte im konkurrenzorientierten Wissenschaftsbetrieb könnte die Logik der Selektion für gewaltvolles Kommunikationshandeln mit dem Modell der Identitätsbehauptung (Schimank 2015, 2010, S. 128 ff.) gut beschrieben werden. Als aktuelle Randbedingungen deutscher Universitäten dürften hochgradige Unsicherheiten aufgrund befristeter Anstellungsverträge im Zuge eines verwaltungsrechtlich als „New Public Management“ getarnten Neoliberalismus (Münch 2007, 2009, 2011; Schimank 2015, 2018; Schimank und Volkmann 2017) gelten, was im Extremfall unter bestimmten Aggregationsbedingungen auch in einem Gewaltgeschehen wie etwa Campus Schootings enden kann (Braun 2015).

Hoebels (2014, 2019c) eigener Vorschlag der prozessorientierten „Erklärung“ von Gewalt – als neuer „turn“ proklamiert und als die Alternative zu Collins präsentiert (Hoebel und Knöbl 2019), der vorgeblich seinen Zenit in der Gewaltforschung überschritten habe (Hoebel und Malthaner 2019) – stellt kein Alternativ- oder gar Gegenmodell zum Modell der soziologischen Erklärung dar, insofern diese prozessorientierte Perspektive sehr einfach im MSE abbildbar ist, inklusive der bei ihm stets betonten Verstrickungen mit Dritten (Hoebel 17,18,a, b). Es genügt an dieser Stelle auf das Thema „soziale Prozesse“ als Teil des Lehrbuchs zu den allgemeinen Grundlagen der Soziologie von Hartmut Esser (1993, S. 102 ff.) zu verweisen. Was bleibt von der viel gepriesenen, zu der alternativen Erklärung von Gewalt (Hoebel und Knöbl 2019) stilisierten prozessorientierten Herangehensweise, wenn diese als „genetische Erklärung“ in einem hinlänglich bekannten Erklärungsmodell bereits vollständig integriert ist, welches zugleich weitere Probleme zu lösen in der Lage ist?

Dass uns Hoebel vor diesem Hintergrund einen „absurden Verifikationismus“ (S. 536, 538) vorwirft, wenn die von ihm vorgeschlagene Methode der Prozesssoziologie dem Beobachter der Situation selbst überlässt, was in den Blick genommen wird, ist ein (im MSE gelöstes) erklärungstheoretisches Problem und der Vorwurf des „Verifikationismus“ vermutlich selbst absurd im Hoebel’schen Sinne. Ob der von Hoebel gewählte Weg des Kritisierens fruchtbar für eine wissenschaftliche Debatte ist, möchten wir nicht gänzlich anzweifeln – auch an Negationen von Negationen kann man lernen. Allerdings muss die Frage gestellt werden, ob die wohlwollende, auf Erkenntnisgewinn ausgerichtete Lektüre anderer Autor:innen und die wertschätzend kommunizierte Kritik daran insgesamt nicht zielführender wäre als eine gewaltvolle Kommunikation, hinter der eine fachliche und inhaltlich interessante Kritik kaum sichtbar wird. Um es mit dem berühmt gewordenen Bonmot von Christian Drosten zu formulieren: „Auf diesem Niveau kommen wir nicht ins Gespräch.“