1 Der soziologische Diskurs um Gewalt

Das aktuelle Interesse der soziologischen Gewaltforschung (siehe etwa Braun und Kron 2020; Equit et al. 2016; Hartmann 2013; Hoebel und Knöbl 2019; Hoebel und Malthaner 2019; Paul und Schwalb 2015; Staudigl 2014) gleicht einer zyklischen Wiederholung und Aufrechterhaltung derjenigen Argumente, wie sie die sogenannten „Mainstreamer“ und „Innovateure“ (siehe zur Debatte Hüttermann 2004; Imbusch 2004; Nedelmann 1997; von Trotha 1997) bereits seit den 1990er-Jahren austauschen. Die damals vorgebrachten und heute stets mitgeführten Argumente der sogenannten „neuen Gewaltsoziologie“ gegenüber der damals prominenten Gewaltursachenforschung beziehen sich – unter anderem – auf die theoretische wie empirische Konzentration auf die Ursachen und Motive von Gewalt: Diese als „körperlose[] Faktorenkombinatorik“ (Sutterlüty 2015, S. 249) oder als „blutleere[] Gewaltanalyse“ (Nedelmann 1997, S. 62) bezeichneten Forschungsarbeiten wurden als unzureichend für eine soziologische Gewaltforschung erachtet, insbesondere da sie den eigentlichen Gegenstand – Gewalt – durch die Fokussierung auf die zeitlich vorgelagerten Ursachen ausblenden würden (z.B. Nedelmann 1997; von Trotha 1997). Damit einher ging die Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff, dessen inflationäre Ausweitung auf alles, was potenziell geeignet ist, die Freiheit des Menschen einzuschränken, nicht im Sinne der neuen Gewaltsoziologie war (und ist).Footnote 1 Favorisiert wurde und wird daher von ihren Vertreter:innen ein enger Gewaltbegriff, der sich der Definition von Heinrich Popitz (1992) anschließt und die Physis, das Verletzen und Erleiden, in den Mittelpunkt stellt.Footnote 2

Die von Nedelmann (1997) als „Scheideweg“ markierte Abgrenzung zu den sogenannten „Mainstreamern“ wurde in unterschiedlicher Form aufgenommen und kritisch diskutiert – eine Debatte, die ob ihrer Kategorien-Unschärfe sowie der Zielrichtung als „kurios“ bezeichnet wurde (Imbusch 2004). Neben der Frage, ob und wen man welcher Gruppe überhaupt zuordnen kann und wieviel Gehalt ebendiese „Gegnerschaft“ (Hüttermann 2004, S. 108) mit sich bringt, bezieht sich ein fortlaufend diskutierter Aspekt auf die Auseinandersetzung mit der begrifflichen Engführung von Gewalt durch die „Innovateure“, die wiederum kritisch u.a. als „Radikalisierung der normativen Aufladung des Begriffs durch seine Einengung auf das Erleiden extremer physischer Gewalt“ (Nunner-Winkler 2004, S. 26) bezeichnet wurde und manchen Kritiker:innen der „neue Gewaltforschung“ wiederum als zu restriktiv im Angesicht möglicher „Erklärungsbegehren“ gilt (Reemtsma 2017). Im Geiste einer Erweiterung der Perspektive hat Peter Imbusch (2017) ein Plädoyer für die Nützlichkeit der Berücksichtigung von Phänomenen „struktureller Gewalt“ vorgelegt und den von Johan Galtung (1975) eingeführten Begriff sowohl kritisch begutachtet als auch für die aktuelle Debatte zu rehabilitieren versucht. Die mit diesem Begriff arbeitende Forschung lege zentrale Gewaltphänomene der Gegenwart inklusive ihrer Konstitutionsbedingungen frei, wie etwa die neoliberal verursachte „Multiexklusion“, und nähme „auch solche Schädigungen in den Blick [...], die jenseits durch konkrete Täter verübter Gewaltaktionen liegen und sich quasi unsichtbar aus den Sozialstrukturen und der sozioökonomischen Verfasstheit einer Gesellschaft ergeben“ (Imbusch 2017, S. 38). Gerade angesichts der zunehmenden unsichtbaren Verursachungen von Schädigungen sei der Begriff der „strukturellen Gewalt“ von „besonderer Bedeutung“, da er zur „Skandalisierung gesellschaftlicher Umstände“ geeignet sei, welche ansonsten übersehen würden. Auf diese Weise werde die durch „moralische Anprangerung“ notwendige Aufmerksamkeit erzeugt und politische Problemlösungen angemahnt (ebd.). Imbuschs Argumentationslinie bezüglich eines erweiterten Gewaltbegriffes schließt damit an die Kritik von Markus Schroer an einem engen Gewaltverständnis an: Schroer argumentiert, dass „die Gewaltsoziologie zentrale Gewaltphänomene der Gegenwartsgesellschaft nicht in den Blick bekommt, wenn sie sich einseitig auf den Begriff der physischen Gewalt kapriziert“ (Schroer 2004, S. 155). Er sieht in der Verengung des Gewaltbegriffs durch die „Innovateure“ ein Signum der zeitgenössischen Moderne, die nur das wahrnehme, was visuell erfassbar sei. Der Begriff der „strukturellen Gewalt“ sei für die Analyse „unsichtbarer“ Formen von Gewalt unverzichtbar.Footnote 3 Bei diesen könne die Gewaltanwendung nämlich nicht auf individuelle Personen zurückgeführt werden, z.B. bei Prozessen der Individualisierung und Globalisierung und der daraus folgenden sozialen Ungleichheit, welche Leid in großen Bevölkerungsteilen zur Folge habe. In den Gewaltanalysen der „Innovateure“ – z.B. in jenen dichten Beschreibungen von direkter Gewalt, wie sie etwa Wolfgang Sofsky (1996) vorgelegt hat – sieht Schroer vor allem eine Strukturvergessenheit: So versuche Sofsky nicht einmal, „eine Anbindung an gesellschaftsstrukturelle Gegebenheiten herzustellen, wodurch die Ausbrüche der Gewalt […] zu zeitlosen, kontextfreien Geschehnissen stilisiert würden“, das Phänomen Gewalt damit „gewissermaßen für sich selbst“ stehe, und die Rekonstruktion „durch keinerlei Erklärungen getrübt“ werden soll (Schroer 2004, S. 161 f.).

Kritisiert wird also von Imbusch, Schroer und anderen, dass das enge physische Gewaltverständnis, methodisch flankiert von ebenjenen dichten Beschreibungen, nicht kontextualisiert und in kein Erklärungsmodell eingepasst wird, welches strukturelle Randbedingungen einbezieht. Je mehr jegliche „Ursachenerklärung“ diskreditiert und dichte Beschreibungen der Gewaltphänomene als Königsweg der Gewaltforschung verkauft werde, desto weniger angemessen seien die Analysen den zeitgenössischen Gewaltformen (ebd., S. 162 f.): „Was die dichten Beschreibungen der Gewalt selbst nicht zu erfassen vermögen, sind die für moderne Gesellschaften gerade typischen Gewaltformen, die sich verstärkt zwischen Abwesenden abspielen. Darüber hinaus richtet sich ihr Augenmerk auf die Eruptionen der Gewalt, auf die Situationen, in denen es – für alle Augen sichtbar – zu Gewalttaten kommt. Blind aber sind sie für die sich in Institutionen, Organisationen und Funktionssystemen ablagernden Formen der Gewalt, die zwar weniger offensichtlich, deshalb aber nicht weniger nachhaltig Lebenschancen beeinträchtigen und Leben zerstören können.“ (ebd., S. 164) Es ist leicht zu sehen, dass eine solche begriffliche Erweiterung des Gewaltverständnisses immer auch eine zunehmende semantische Unschärfe mit sich bringtFootnote 4, welche dann wieder im Sinne der „Innovateure“ kritisiert werden kann. So muss Schroer durch seine Ausweitung des Gewaltbegriffs in Kauf nehmen, dass er u.a. die Unterscheidung von Gewalt und Zwang oder Gewalt und Leid unterläuft. Eine solche Vorstellung von Gewalt erweitert ihren Bezugsrahmen so weit, dass der Vorwurf einer Inflationierung des Gewaltbegriffs wieder möglich wird.

Wie in gebotener Kürze skizziert, dreht sich ein Teil der aktuellen Diskussionen innerhalb der deutschen soziologischen Gewaltforschung also darum, den Gewaltbegriff definitorisch ein- bzw. abzugrenzen (Nunner-Winkler 2004). Vordergründig geht es in diesen Diskursen darum herauszufinden, welche Ingredienzien der Gewaltbegriff beinhalten sollte. Die soziologische Gewaltforschung befindet sich so gesehen nach wie vor – so resümieren es Hoebel und Malthaner (2019, S. 7) – „in einer Phase des Probierens, Kritisierens und Sortierens“ –, eine fruchtbare Fortentwicklung ist allerdings nicht zu erkennen. Anders formuliert, „eine kuriose Debatte wiederholt sich“ (Koepp und Schattka 2020; siehe zusammenfassend Braun 2020). Nach wie vor lässt sich eine Diskussion um die Verengung und Erweiterung des Gewaltbegriffes beobachten, die in aktuellen Veröffentlichungen als „analytisch unfruchtbare Begriffsoszillation“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 29) oder als „zirkulär“ (Hoebel und Koloma Beck 2017, S. 2) charakterisiert wird. Diese Oszillation um einen vermuteten Bedeutungskern wird von den Protagonisten des Diskurses durchaus selbst gesehen, etwa wenn Imbusch (2017, S. 38) dem Begriff der „strukturellen Gewalt“ die Bedeutung für die Gewaltforschung zuspricht, „gleichsam in Umkehrung des Vorwurfs einer Überdehnung des Gewaltbegriffs [...] eine nicht zu rechtfertigende Engführung des Gewaltverständnisses“ auf physische Gewalt zu vermeiden. Derartige Diskussionen um eine eher mikro- oder makroskopische Betrachtung von Gewaltphänomenen führen „regelmäßig in unfruchtbare Begriffsdebatten“, so Hartmann und Hoebel (2020, S. 67), „die dem Erkenntnisstand über Gewaltphänomene in der Regel kaum etwas hinzufügen“.

Der soziologische Gewaltforschungsdiskurs mag sich einig sein über den unfruchtbaren Zustand der begrifflichen Klärungsversuche. Die mittlerweile zwei Jahrzehnte andauernden Auseinandersetzungen haben gezeigt, dass das Unterfangen der Begriffsklärung allein für sich nicht viel Hoffnung auf einen Erkenntnisgewinn macht, denn im Kampf um die „richtige“ begriffliche Fassung von Gewalt kommt man höchstens darauf, dass zur gewünschten Beseitigung semantischer Differenzen weitere Begriffe fehlen (Endreß 2014, S. 100 f.) – und für diese Begriffe würden vermutlich, wenn sie doch gefunden würden, wiederum semantische Unklarheiten auftauchen und derart für sie dasselbe gelten.

Zugleich ist der Gegenstandsbezug nach wie vor ungeklärt. Es gibt keine Einigung darüber, welche sozialen Phänomene mit dem Begriff „Gewalt“ adressiert werden sollen: Ist Gewalt auf die Verletzung der Physis zu begrenzen oder können bzw. sollten oder müssen strukturelle und kulturelle Einschränkungen von Handlungsfreiheiten in den Gewaltbegriff integriert werden? Sind normative Elemente konstitutiver Bestandteil des Begriffs? Sind die Intentionen vonseiten des Täters konstitutiv oder muss der Sinngehalt jeder Gewalt in der wechselseitigen Erzeugung durch Täter und Opfer gesehen werden? Geht es bei Gewalt im Kern um Verletzungen durch direkte körperliche Angriffe und Übergriffe oder auch um (irgendwie geartete) Verletzungen als Folge auch nicht-körperlicher Einwirkungen? Sind Verletzungen das indikatorische Merkmal von Gewalt oder das damit verbundene oder auch anders entstandene Leid? Geht es um das Erleiden von Schmerzen? Ist ausschließlich der Körper von Gewalt betroffen oder der Leib? Sind Gewaltsituationen analytisch hinreichend als dyadische Situationen begriffen oder muss „der Dritte“ notwendig einbezogen werden?

Diese Fragen, die nicht mal annähernd das ganze Spektrum an diskutierten Unterscheidungs- und Definitionsfragen wiedergeben, zeigen: Die Klärung des Gegenstandsbezugs ohne eine klare Kopplung an eine Erklärungsdimension ist blind und damit unendlich in dem Bemühen, mehr zu sehen. Die Klärung des Gegenstandsbezugs muss, so unsere These, begleitet werden durch die Erörterung einer angemessenen Erklärungsheuristik. In dem Diskurs der soziologischen Gewaltforschung wird stattdessen – wie gezeigt – um den Gewaltbegriff in Bezug auf spezifische Gegenstände gerungen in der Hoffnung, dadurch uno actu die Erklärungsleistung zu kondensieren (dazu auch Hoebel und Knöbl 2019, S. 24 ff.). „Strukturelle Gewalt“ erkläre folglich jene Gewalt, die sich als Reduktion von Lebenschancen darstelle, was eben ein enger Gewaltbegriff nicht leiste. Schroer etwa ist zwar um die Betrachtung des Zusammenspieles beider Gewaltzugänge – via Physis und Struktur – bemüht, unterlässt es allerdings, diese Verbindung anhand möglicher Erklärungsmodelle zu suchen, und bleibt stattdessen bei dem Versuch der Entwicklung eines integralen Gewaltbegriffs stehen – den es aber, so Schroer (2004, S. 165) selbst, nicht geben könne. Der Eindruck entsteht, dass Fragen nach der Erklärung von Gewalt und nach der angemessenen Begrifflichkeit bis zur Unkenntlichkeit ineinander verwoben werden: Wer wie die „Innovateure“ den Schlüssel zur Gewalterklärung in der Gewalthandlung selbst und damit mittels eines engen Gewaltbegriffs zu finden sucht und sich auf dichte Beschreibungen zur Rekonstruktion von Gewalt fokussiert, wird sich gleichzeitig primär auf die Wie-Frage konzentrieren. Zugleich haben große Teile der Soziologie und auch der Gewaltforschung – implizit oder explizit – ein Interesse an der Warum-Frage. In dem Diskurs der Gewaltforschung entscheidet einerseits die meist unreflektiert mitlaufende Frage zur Erklärungsheuristik darüber, was in der Gegenstandsdimension als Gewalt in den Blick kommt. Und vice versa: Was als Gewalt definiert wird, hegt andererseits das ein, was als Erklärungsfaktoren für die mit diesem Begriff verbundenen Phänomene in Betracht gezogen wird.

Insgesamt zeichnet sich dieser Gewaltforschungsdiskurs durch eine weitgehende Erklärungsvergessenheit aus. Es ist bis in die jüngste Gegenwart praktisch unterlassen worden, die Frage nach der Erklärung von Gewalt analytisch separat zu behandeln, um in diesem Zuge die irreführende Diskussion um einen geeigneten Gewaltbegriff aus ihrer Zirkularität zu führen. Dies ist durchaus kurios, wie bereits Imbusch deutlich gemacht hat, denn die „grundsätzliche Überlegenheit einer Perspektive, die die ‚Was‘- und ‚Wie‘-Frage stellt, gegenüber den sich aus der ‚Warum‘-Frage ergebenden Einsichten scheint nun ebensowenig geklärt zu sein, wie die exklusive Entgegensetzung unschlüssig ist, da man beide Aspekte durchaus unter Komplementaritätsgesichtspunkten betrachten kann“ (Imbusch 2004, S. 130). Konkrete Hinweise (siehe etwa von Trotha 1997, S. 21 f.), wie man diese Komplementarität zustande bringt, sind selten (vgl. Hüttermann 2004; Knöbl 2017; Nedelmann 1997). Es bleibt in der Regel bei Hinweisen, dass jene Theorieansätze, die sich eher den Wie-Fragen verpflichtet sehen, durchaus auch Erklärungskraft innehaben. Endreß (2004) bemüht sich in diesem Sinne um das Aufzeigen der Nützlichkeit eines phänomenologischen Ansatzes für die Gewaltforschung – was dann für den Gewaltbegriff bedeutet, der subjektiven Erfahrung der Gewalt einen hohen Stellenwert einzuräumen, was wiederum zumindest auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Leiblichkeit und eines Dritten hinweise (Staudigl 2014, 2015; vgl. Koloma Beck 2017, S. 66 f.; Lindemann 2015, S. 504 ff.) und sich somit von dem engen Gewaltbegriff der „Innovateure“ verabschiedet, zugleich aber die grundlegende Kritik am engen Gewaltbegriff nicht beseitigt. Knöbl meint, man könne zunächst phänomenologisch beginnen, gewinne dann aber mit der ethnografischen Fortsetzung „ein schärferes Bild und damit letztlich auch eine bessere Erklärung als lediglich der scheinbare illusionslose Blick auf die nackte Gewalt“ (Knöbl 2017, S. 11). Erklärungen in der Ethnografie zielten zwar nicht auf Aussagen, die die Gültigkeit von Kausalgesetzen für sich in Anspruch nehmen würden, aber: „Wenden wir diesen Befund nun auf die Debatte innerhalb der Gewaltforschung an, so können wir durchaus sagen, dass ethnografische Beschreibungen von Gewalt sehr wohl in der Lage sind, Erklärungsleistungen zu erbringen, ohne auf klare Kausalitäten – und schon gar nicht auf Kausalität durch Motive! – zurückgreifen zu müssen.“ (ebd., S. 9)

An dieser exemplarischen Beschreibung einer anderen, nämlich ethnografischen Erklärungsleistung wird deutlich: Die Ableitung von Gewalt als Gegenstand aus der Theorie heraus ist für die Erklärung von Gewalt wenig instruktiv, sofern die verwendete Theorie überhaupt einen Erklärungsanspruch hat: Die Theorie wählt denjenigen Gewaltbegriff, welcher die ihr zumutbare Erklärungsleistung gewährleistet. Weder der Kampf um die „richtige“ Begrifflichkeit von Gewalt, noch die einseitige Orientierung an einer bestimmten Theorie und deren Gewaltzugang (was immer dann Gewalt in der verwendeten Theorie bedeutet) hilft bei der Erklärung von Gewalt wirklich weiter. Ein Grund für die verfahrene Lage könnte darin liegen, dass der Begriff der „Erklärung“ unglücklicherweise ebenso von „fuzzyness“ (Reemtsma 2017, S. 81) geprägt ist wie der Begriff der Gewalt (vgl. Endreß 2014, S. 91). Was benötigt wird, ist zunächst eine Vorstellung darüber, wie erklärt werden soll, um sodann mögliche Theorien für ein solches Erklärungsmodell anzubringen, welches dann wiederum einen entsprechenden Gewaltbegriff mitführt.

Das von Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl (2019) veröffentlichte Buch Gewalt erklären! ist angetreten, diese Lücke zu schließen, bietet aber nur bedingt Lösungsansätze. Das Werk beinhaltet eine Nachzeichnung der Begriffsdebatten innerhalb der soziologischen Gewaltforschung inklusive der Schieflagen eben dieser Debatten. Hoebel und Knöbl schlagen zur Systematisierung drei Heuristiken unter den Stichworten Motive, Situationen, Konstellationen als – wenngleich partiell defizitäre – Ordnungskategorien vor, um die jeweils adressierte Erklärungsleistung der aktuellen Ansätze innerhalb der soziologischen Gewaltforschung zu verdeutlichen (ebd., S. 61 ff.). In einer tour de force werden hierbei gängige Ansätze für ungeeignet erklärt. Insbesondere wird angedeutet, dass Collins’ Vorschlag einer „situationalen Gewaltforschung“, der innerhalb der aufgeführten Diskussion eher der „neuen Gewaltforschung“ zugerechnet wird als den „Mainstreamern“Footnote 5, „über dem Zenit“ (Hoebel und Malthaner 2019) sei. Zum Ausweg erklären Hoebel und Knöbl den eigenen, von Hoebel (2019a, 2019b, 2014) präferierten Ansatz einer auf „Verkettungen und Verstrickungen“ zielenden „prozessorientierten Erklärung von Gewalt“. Wir können hier nicht detailliert auf diesen Vorschlag eingehen. Abgesehen von einigen erklärungstheoretischen Unzulänglichkeiten (mangelnde Unterscheidung zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen, fehlende Integration der Dynamiken von Prozessen in das Modell, fehlende Darlegung handlungstheoretischer Parameter etc.), stimmen wir der Kernaussage von Hoebel und Knöbl zu, dass die Berücksichtigung des Handlungsablaufs für die Erklärung von Gewalt relevant ist. Time matters – allerdings muss deutlich werden, an welcher Stelle der Erklärung die Historie des Geschehens relevant wird und an welcher Stelle nicht, da ansonsten die soziologische Erklärung zur puren Nacherzählung von Ereignissen verkommt.

Wir möchten im Unterschied zum prozesssoziologischen Ansatz in diesem Beitrag den erklärungstheoretischen Bezugsrahmen des sogenannten struktur-individualistischen Grundmodells der soziologischen ErklärungFootnote 6 (Coleman 1991; Esser 1993, S. 91 ff.; 1999) heranziehen, um die Diskussionslinien bzgl. des angemessenen Gegenstandsbezugs der Gewaltforschung zu vereinen. Zum einen handelt es sich dabei um ein Erklärungsmodell, das trotz aller bereits dargelegten Kritik daran den Nachweis der Erklärungskraft vielfältig erbracht hat. Man kann dieses Modell zur soziologischen Erklärung diverser sozialer Phänomene heranziehen – dies wird auch von den Kritiker:innen kaum bezweifelt.Footnote 7 Zum anderen hat der Gewaltforschungsdiskurs dieses Modell bislang erstaunlicherweise mehr oder weniger komplett ignoriertFootnote 8, was sich etwa an der von Hartmann und Hoebel referierten These von Hoebel und Knöbl ablesen lässt, jene Ansätze, die sich unter die Stichworte Motive, Situationen und Konstellationen einordnen lassen, würden „jeweils einen Aspekt von Gewalt hervorheben – was jedoch zulasten anderer Gesichtspunkte geht“ (Hartmann und Hoebel 2020, S. 76). Es ist leicht zu sehen, dass bei Hoebel und Knöbl weiter keine sorgfältige Auseinandersetzung mit diesem Erklärungsmodell erfolgt istFootnote 9 und deshalb übersehen wurde, dass die gewünschte Integration dort bereits vorliegt – inklusive der von ihnen präferierten Prozessorientierung.

Wir schließen dabei an Randall Collins’ (2011) Vorschlag an, Gewaltforschung im Sinne einer Analyse von Gewaltsituationen zu betreiben, und zeigen an diesem prominenten Beispiel des aktuellen Gewaltforschungsdiskurses, dass die Klärung der Frage, wie soziologische Erklärungen generell aussehen könnten, hilft, verschiedenen Ansätzen der soziologischen Gewaltforschung einen entsprechenden epistemologischen „Platz“ zuzuordnen.

Collins’ situationistischer Ansatz wird, wie gesagt, üblicherweise eher den Vertreter:innen eines engen Gewaltbegriffs zugeschlagen, da Collins sich gegen die Berücksichtigung symbolischer und sozialstruktureller Faktoren zur Erklärung von Gewalt ausspräche. Durch seine mikrosituative Fokussierung auf „auslösende Momente der Gewalt“ (Collins und Hartmann 2019, S. 63) klammert er situationsübergreifende Ursachen und Motive jedoch vor allem methodologisch aus. Zu erkennen ist allerdings zum einen – und deshalb gehen wir von diesem Ansatz aus –, dass Collins seine Kritik an ätiologischen und multifaktoriellen Ansätzen erklärungstheoretisch und nicht begrifflich begründet. Zum anderen expliziert Collins zwar kein elaboriertes Erklärungsmodell, verortet sich aber selbst – teils explizit, teils implizit – im Makro-Mikro-Makro-Gefüge des Grundmodells soziologischer Erklärung (auch wenn Collins als Handlungstheorie keinen Rational-Choice-Ansatz verwendet). Beispielsweise bewertet er den Einwand einer „große[n] Erklärungslücke“ seiner situationistischen Perspektive als durchaus legitim und führt weiter aus: „Neben dem, was die situationistische Analyse offenlegt, müssen wir natürlich auch die Hintergrundbedingungen, die sozialen Bedeutungen und das Handlungsrepertoire berücksichtigen, die Menschen dazu bringen, sich feindselig zu begegnen.“ (ebd., S. 63 f.)

Im Folgenden wird der situationistische Ansatz von Collins aus seiner erklärungstheoretischen Kritik an den „Mainstreamern“ heraus vorgestellt und gezeigt, dass sich sein Ansatz einer struktur-individualistischen Erklärungsheuristik zuordnen lässt. Diese Zuordnung erfolgt entlang der drei „Logiken“ (der Logik der Situation, der Selektion und der Aggregation) des Grundmodells soziologischer Erklärung und verdeutlicht, an welchen Stellen dieses Erklärungsmodells die Warum- und die Wie-Fragen der „Mainstreamer“ und „Innovateure“ ihren Platz finden, sie folglich also keine sich ausschließenden Zugriffe auf Gewaltphänomene darstellen. Zum Schluss wird angedeutet, welche Konsequenzen dies für den Gewaltbegriff hat.

2 Situationistische Gewaltforschung und das Grundmodell soziologischer Erklärung

Randall Collins’ Vorschlag, die Gewaltforschung müsse sich den „Dynamiken der Gewalt“ widmen, hat die aktuelle Gewaltforschung stark beeinflusst (siehe etwa die Beiträge in Mittelweg 36, Heft 1–2, 2019; Equit et al. 2016; Nassauer 2015a, 2015b, 2015c, 2016). Collins’ (2011, S. 10 ff.) Behauptung ist, dass Gewaltsituationen nicht hinreichend durch gewaltvorgängige Faktoren – Motive der Täter, strukturelle Faktoren wie Armut, Herkunft etc. – erklärt werden können. Diese Kritik an der explanatorischen Kraft der ätiologischen Forschung begründet Collins’ Konzentration auf die Situationen der Gewalt, seine analytische Bevorzugung jener Faktoren, die zeitlich nahe an den Gewalthandlungen liegen und eine unmittelbare Bedeutung für die Interaktionsdynamik haben – was vor allem von den ursachenkritischen Forscher:innen Zuspruch erhielt. Collins’ These ist, dass jede Erklärung der Gewalt daran anzusetzen habe, die situative Überwindung der Konfrontationsangst zu untersuchen, weil deren Überwindung notwendig zur Gewaltausübung ist: „Gewalt läuft gegen eine Barriere aus konfrontativer Anspannung und Angst. Damit Gewalt geschieht, müssen Situationsbedingungen vorhanden sein, die es zumindest einer Seite ermöglichen, diese Barriere zu überwinden.“ (Collins 2016, S. 18) Mit der Barriere der Konfrontationsanspannung und -angst ist gemeint, dass Akteure grundlegend ein anthropologisch verankertes Bedürfnis nach Verbundenheit und damit an der Aufrechterhaltung der Interaktionsordnung haben (vgl. Collins 2004). Gewalthaltige Situationen gefährden in dieser Perspektive die „normale“ Interaktionsordnung.Footnote 10 Deshalb scheuen Akteure eher die Konfrontation, entwickeln zudem bei einer Intensivierung der Anspannung die Emotion Angst und erweisen sich selbst dann als überraschend gewaltinkompetent, wenn der strukturelle Kontext eigentlich auf Gewaltanwendung ausgerichtet ist und die Akteure sich zudem mehr oder weniger freiwillig in diesen Kontext begeben haben, um Gewalt auszuüben (etwa im Krieg). Zur Gewaltanwendung sei also die Überwindung der Konfrontationsangst notwendig, was – unter anderem – dadurch erreicht werden kann, dass einer der Akteure emotionale Dominanz gegenüber den anderen Akteuren erzeugt, d.h. „die emotionale Situation zu seinen Gunsten wendet“ (Collins 2011, S. 36). Dieser „pathway“ wird von Collins als „emotional domination, attacking the emotionally weak“ (Collins 2017, S. 2) bezeichnet und meint, dass die bereits bestehende emotionale Energie der Interaktion – Anspannung und Angst – in eine emotionale Dominanz überführt werden kann. Collins empfiehlt damit einen Erklärungsansatz, welcher an der aus seiner Sicht notwendigen Bedingung für Gewalt ansetzt: die Erzeugung situativer, d.h. emotionaler Dominanz durch bzw. zwecks Überwindung der Konfrontationsangst. Er geht davon aus, dass diese Prozesse durch „mikro-situative Mechanismen“ bestimmt werden.Footnote 11

Wir bereits weiter oben angedeutet, schließt sich Collins mit seinem situationistischen Ansatz implizit einer struktur-individualistischen Perspektive an, dessen explanatorisches Grundmodell bekanntlich mit dem Modell der soziologischen Erklärung in einer allgemeinen Version bereitgestellt wird. Bedeutsam ist an dieser Stelle, dass dieses Modell häufig im Rahmen von (erweiterten) Rational-Choice-Ansätzen eingeführt, d.h. den Akteuren grundsätzlich ein nutzenmaximierender Handlungsalgorithmus unterstellt wird. In unserem Beitrag soll es allerdings weder primär darum gehen, mit welchen Algorithmen die Akteure wahrnehmen oder zu einer Handlungsentscheidung kommen, noch um die Frage, an welcher Stelle eine „Gesetzmäßigkeit“ vorliegen könnteFootnote 12, sondern ausschließlich um die analytische Differenzierung der Erklärung in drei unabhängige Erklärungsschritte, um die Komplementarität der unterschiedlichen Positionen innerhalb der Gewaltforschung durch einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu verdeutlichen. Kurz: Das Erklärungsmodell darf hier nicht mit der in diesem Modell häufig verwendeten Handlungstheorie verwechselt werden.

Das Fundament des Grundmodells soziologischer Erklärung bildet die Annahme, dass man eine Situation zum Zeitpunkt t2 nicht direkt aus einer Situation des Zeitpunkts t1 ableiten kann. Niemand bezweifelt, dass diese Kernannahme auch für zu erklärende Gewaltsituationen gilt. Zur Erklärung – auch von Gewaltphänomenen – sind deshalb drei logisch getrennte Erklärungsschritte zu gehen, welche die Veränderungen der Situation zum Zeitpunkt t2 gegenüber der Situation zum Zeitpunkt t1 erklärend darlegen: Im ersten Schritt wird die Logik der Situation analysiert, also die Frage, wie die relevanten Akteure die Situation zum Zeitpunkt t1 wahrnehmen und ausdeuten. Im zweiten Schritt wird rekonstruiert, wie die Akteure unter der gegebenen Rahmung der Situation eine Handlung unter verschiedenen Handlungsalternativen auswählen: Es muss die Logik der Selektion rekonstruiert werden, d.h. die im konkreten Fall vorliegende Handlungsentscheidung der Akteure. Im letzten und dritten Schritt wird die Logik der Aggregation ermittelt und das handelnde Zusammenwirken der Akteure rekonstruiert. Das Ergebnis der Aggregation ist die zu erklärende und mit den drei Schritten dann auch erklärte Situation zum Zeitpunkt t2.

2.1 Logik der Situation

Wenn Collins davon ausgeht, dass die Hinwendung zur Gewalt „situativ entschieden“ wird, dann bedeutet dies übersetzt in das Modell der soziologischen Erklärung nichts anderes, als dass die Akteure mittels der von ihnen hervorgebrachten Definition der Situation eine Gewalthandlung auswählen. Collins betont besonders die „emotionale Energie“ bei der Wahl einer Gewalthandlung und geht davon aus, dass es sich nicht um eine kognitiv-rationale Handlungsentscheidung handelt, sondern um die Überwindung unserer „physiologischen Programmierung […], die nach Einbindung in ein mikrointeraktives Ritual strebt“ (Collins 2011, S. 125; vgl. Kron 2020a). Insbesondere Hartmut Esser (2000a) hat sich darum verdient gemacht aufzuzeigen, wie strukturelle und kulturelle Bedingtheiten derartig auf die Orientierung der Akteure einwirken können, dass quasi-automatische Handlungsreaktionen folgen – und nichts anderes sind nach Collins die Hinwendungen zur Gewalt von Akteuren in Situationen hochgradiger Konfrontationsanspannung. Die Wirkung struktureller und kultureller Einflüsse auf die Definition der Situation kann grundsätzlich von einer rein rationalen Abwägung bis hin zu unmittelbar wirkenden Faktoren der Situationsbedingungen reichen. Jene Unmittelbarkeit der Situationsbedingungen meint, dass Akteure automatisch das abrufen, was sie mental in Form von möglichen Situationsdeutungen (Frames) und Handlungsoptionen (Skripte) gespeichert haben. Dies geschieht unter Umständen gänzlich ungestört und ohne Zwischenschaltungen rationaler Überlegungen, wenn die Bedingungen der Situation perfekt mit den verfügbaren mentalen Modellen des Akteurs zusammenpassen („matchen“).Footnote 13

In Bezug auf die Modellierung von Gewaltsituationen kommt bei Collins der perfekte Match dadurch zustande, dass bestimmte situative Gegebenheiten zum Zeitpunkt t1 vorliegen, welche die anthropologisch jedem Menschen gegebene „Konfrontationsangst“ überwinden helfen, insofern sich die Akteure durch die Gegebenheiten in spezifische situative emotionale Zustände versetzen lassen. Eine solche eindeutige Automatik des darauffolgenden Handelns beschreibt Collins (2011, S. 130 ff., 2015) als „Vorwärtspanik“, welche dann in den neuen Aggregatzustand zum Zeitpunkt t2 führt.Footnote 14 Nassauer (2016, 2015c; vgl. Collins 2011, S. 185 ff.) erklärt diesen Zusammenhang exemplarisch am Ausbruch kollektiver Gewalt zwischen Polizist:innen und Demonstrant:innen bei an sich friedlichen Demonstrationen, indem sie aufzeigt, wie durch bestimmte kritische Situationsparameter zum Zeitpunkt t1 bei den Akteuren emotionale Dynamiken in Gang gesetzt werden, die dann zur Überwindung der Konfrontationsangst sowie zur Erzeugung emotionaler Dominanz bei einer Gruppe und damit zur Selektion von Gewalthandlungen führen. Mit den Situationsbedingungen sind im konkreten Untersuchungsfall das Eindringen in den Raum der jeweils anderen Gruppe (Polizei oder Demonstrierende), organisatorische Schwierigkeiten bei der Polizei und Sachbeschädigungen durch Demonstrant:innen sowie Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Demonstrierenden und Polizei gemeint. Diese Situation ist emotional durch einen Anstieg von Anspannung und Angst auf beiden Seiten geprägt. Fühlt sich eine der beiden Gruppen dann im Vorteil emotionaler Dominanz (z.B. weil die andere Gruppe in Unterzahl erscheint), kann sich diese Anspannung und Angst in einem von Vorwärtspanik getriebenen Angriff auf den vermeintlich Schwächeren entladen.

Im Modell der soziologischen Erklärung erfolgt die Klärung der Logik der Situation vor der Klärung der Selektionslogik. Dieser Reihung entspricht Nassauer mit dem Vorschlag, aus „Collins’ Ansatz herauszuzoomen und sich nicht rein auf die Emotionen in den Minuten und Sekunden vor der Gewaltentstehung, sondern auch auf die Interaktionen und Interpretationen von Akteuren in den Stunden und Minuten vor der Gewaltentstehung zu konzentrieren“ (Nassauer 2015c, S. 501). Hier zeigt sich die relevante Differenz des situationistischen Ansatzes im Vergleich zu den „Mainstreamern“ in dem für erklärungsrelevant befundenen Zeitausschnitt: Während die Vertreter einer situationistischen Gewaltanalyse einen sehr kurzen Zeitausschnitt vor dem Gewalthandeln als Fokus bevorzugen, gehen die „Mainstreamer“ in der Regel weiter in der Zeit zurück und betrachten dabei allgemeinere – eben strukturelle und kulturelle – „transsituative“ Parameter.Footnote 15 Geht man noch weiter in der Zeit zurück, könnte man gar evolutionär bedingte neurobiologische Parameter als Teil der Situationslogik in die Erklärung einspeisen (Meyer 2004; Thornhill und Palmer 2000), sofern der theoretische Rahmen der Untersuchung deren Wirkungsweise postuliert. Welcher Zeitausschnitt für soziologische Erklärungen angemessen ist, ist bislang nicht generell geklärt worden, und man darf behaupten, dass dies bestenfalls am jeweils vorliegenden empirischen Fall fruchtbar diskutiert werden kann. Noch wahrscheinlicher ist, dass sich unterschiedliche Zeitrahmen berücksichtigende Erklärungen empirischer Fälle komplementär ergänzen können.Footnote 16

Schon dieser knappe Abgleich des allgemeinen Modells der soziologischen Erklärung mit der „situationalen Gewaltanalyse“ genügt, um einen Großteil der Missverständnisse des Gewaltforschungsdiskurses zu entschärfen. So ist auf der Grundlage dieser Erklärungsschablone z.B. grundsätzlich klar, dass Gewalthandlungen immer auch strukturell und kulturell mitbedingt sind, denn in diesem Modell gibt es überhaupt kein Handeln ohne jegliche strukturelle oder kulturelle Einflüsse. Damit ist die Forderung etwa von Endreß (2014, S. 100) nach einer „sozial- und gesellschaftsanalytischen Einbindung“ quasi eingepreist. Die erklärungstheoretisch relevante Frage ist, an welcher Stelle und in welcher Form die strukturelle Bedingtheit berücksichtigt wird – keine Frage ist indes, ob diese explanatorische Berücksichtigung finden muss. Im Grundmodell der soziologischen Erklärung ist der Platz zur Berücksichtigung struktureller und kultureller Einflüsse mindestens in der Analyse der Logik der Situation. Wie Nassauer (2015c, S. 510 f.) folglich zu Recht anmerkt, bedeutet die Konzentration auf jene die Konfrontationsangst beeinflussenden kurzfristigen Situationsbedingungen nicht, dass strukturelle und kulturelle Faktoren explanatorisch überhaupt keine Rolle spielen würden. Wenn es darum geht, Gewalthandeln zu erklären, dann können die strukturellen und kulturellen Randbedingungen relevante Parameter der Erklärung sein, z.B. um die Definition der spezifischen Situation zum Zeitpunkt t1 darzulegen, welche dann zur Vorwärtspanik geführt hat. Und auch die Beschreibung einer Situation als „reziproke Sinn- und Deutungsprozesse“ (Endreß 2004, S. 199) kann als Teil der Situationsanalyse zur Aufklärung der sozialen, sachlichen, zeitlichen und räumlichen Bedingungen von Gewalthandlungen beitragen. Zugleich ist Darlegung der Situationslogik inklusive möglicher struktureller und kultureller Faktoren natürlich noch keine abschließende Erklärung des untersuchten Gewaltphänomens. Anders formuliert: Mit einer solchen Situationsanalyse ist nicht festgelegt, dass „die strukturelle Öffnung des objektiven Möglichkeitsraums des Handelns das den Gewaltexzessen zugrundeliegende Phänomen darstellt, um die es der Analyse von Gewaltverhältnissen gehen muß“ (ebd., S. 180; Hervorh. T. K. u. L. V.). Für eine vollständige Erklärung muss es neben der Rekonstruktion der Situationslogik ebenso um die Rekonstruktion der Logik der Selektion und der Aggregation gehen.

2.2 Logik der Selektion

Der nächste Schritt im Erklärungsmodell ist die Analyse der Logik der Selektion, die – immer vor dem Hintergrund der Situationslogik – den Fokus auf die Wahl einer Handlung aus einer Alternativmenge von Handlungsmöglichkeiten legt. Auch ein automatisches Reagieren, etwa das unreflektierte Umsetzen internalisierter normativer VorgabenFootnote 17 oder emotionsgeleitete Handlungsentscheidungen, ist als spezifischer Modus der Handlungsselektion zu verstehen. Automatisches Reagieren bedeutet, bestimmte Wahrnehmungs‑, Deutungs- und Selektionsvorgänge bereits derart gelernt und verinnerlicht zu haben, dass die Handlung unhinterfragt in einer Situation selegiert und eben nicht in jeder Situation einer Reflexion unterzogen wird: Nicht nur die Selektion der dann tatsächlich gewählten Handlungsalternative, auch die Wahl des SelektionsalgorithmusFootnote 18 selbst kann automatisiert erfolgen. Die Selektion einer Handlung kann also „abgekürzt“ werden, sofern Akteure im Rahmen des perfekten Matchings zwischen Situationsdeutung und Handlungsoption (etwa bei Routinen oder Ritualen) automatisch bzw. prompt reagieren und agieren. Die Erklärung einer Handlung ist nur dann vollständig, wenn auch die Handlungsselektion rekonstruiert wurde – eine situationistische Erklärung von Gewalt im Sinne von Collins benötigt somit die Rekonstruktion der Selektionslogik für eine gewaltsame Handlung durch Darlegung der Mechanismen der Überwindung der Konfrontationsangst sowie der Erzeugung emotionaler Dominanz.

Auch die Rekonstruktion der Selektionslogik für Collins’ Ansatz kommt nicht ohne Kontextualisierung aus. Ob eine spezifische situative Konstellation zum Zeitpunkt t1 zur Überwindung der Konfrontationsanspannung und zu emotionaler Dominanz führt, ist nämlich durchaus abhängig vom jeweiligen strukturellen und kulturellen Kontext dieser Konstellation: Vergleichbare Situationen mögen in dem einen Fall etwa in Vorwärtspanik resultieren, in anderen Fällen aber eventuell eher zur Flucht, zur Schockstarre oder zu anderen „menschlichen“ Verhaltensweisen in Konflikten wie z.B. Dominanzverhalten oder Unterwürfigkeit (Miller 2011, S. 120 f.) führen. Die Ausprägung der westlichen Kultur beinhaltet in Deutschland beispielsweise die Vorstellung, dass die innerliche Freiheit des Einzelnen von außen durch den Staat geschützt werden müsse (Münch 1986). Gewalt soll folglich möglichst aus dem Privaten herausgehalten und bei Polizei und Militär als Mittel zum Schutz der Verteidigung der individuellen Freiheiten verortet werden. Selbstschutz angesichts einer Konfliktsituation, die in Gewalt enden könnte, bedeutet z.B. dann, die Polizei zu involvieren, was die Wahrscheinlichkeit situativer Vorwärtspanik verringern dürfte.Footnote 19 Die US-amerikanische Variante der modernen Kultur sieht dagegen die Freiheit des Einzelnen in den sozialen Bezügen aufgehen, weshalb es so wenige Einflüsse wie möglich von außen geben dürfe. Selbstschutz beinhaltet dann folgerichtig das Recht, sich selbst schützen zu können, die eigene Freiheit im sozialen Bezug herzustellen, indem man zum Selbstschutz etwa selbst zur Schusswaffe greift. Während in Deutschland der Besitz und das Mitführen von Schusswaffen folglich nur als Ausnahme erlaubt ist, ist es in den USA ausdrücklich gestattet und geradezu Ausdruck dieses spezifischen Individualismus, sich ggf. auf diese effektive Art und Weise verteidigen zu können. Akteure, die diese unterschiedlichen Deutungsmuster internalisiert haben, werden vermutlich entsprechend anders auf Angriffe reagieren, nämlich eher mit Flucht auf der einen (Deutschland) und mit Angriff auf der anderen Seite (USA).

Derart bestimmen kulturelle und strukturelle Muster also ebenfalls mit, welche Ereignisse situativ geeignet sind, um z.B. eine Vorwärtspanik auszulösen. Wenn in den USA im Jahr 2015 ein Höchststand erreicht wurde an jungen schwarzen Männern, die durch Polizisten erschossen wurden (Swaine et al. 2015), dann gilt der in den USA verwurzelte Rassismus gegenüber Schwarzen als ein wesentlicher kultureller Erklärungsfaktor – der gleichwohl für sich als Erklärungsfaktor nicht hinreichend ist. Und auch zur Erklärung der Gewalt von israelischen Soldaten gegenüber palästinensischen Terroristen – zur Erklärung, warum die meisten Terroristen in Israel getötet („neutralisiert“) und nicht verhaftet werden – wird man kulturelle, insbesondere historisch-religiöse Randbedingungen genauso wie politische Bedingungen in der wechselseitigen Wahrnehmung für eine vollständige sozialwissenschaftliche Erklärung wohl berücksichtigen müssen. Ähnliches dürfte sich für verschiedene Subkulturen feststellen lassen: Rockergruppen, Kampfsportler oder Kirchenchorsänger dürften durchaus unterschiedliche Schwellen und Trigger zur Überwindung ihrer Konfrontationsangst aufweisen (vgl. Staack 2015).

Auch ein enger Gewaltbegriff entlastet nicht von dem explanatorischen Einbezug struktureller (oder kultureller) Bedingungen für die Erklärung von Gewaltphänomenen.Footnote 20 Wichtig für den Gewaltforschungsdiskurs ist die Verortung der strukturellen und kulturellen Bedingungen als Teil der Gesamterklärung von Gewaltphänomenen, ohne den Gewaltbegriff an sich mit Kultur oder Struktur aufzuladen und damit explanatorische Kurzschlüsse zu suggerieren. Die Begriffe von „kultureller“, „struktureller“ oder „symbolischer“ Gewalt selbst haben keine eindeutigen erklärungstheoretischen Implikationen, sondern die Adjektivbildung markiert eine Präferenz für eine bestimmte Dimension bzw. für eine bestimmte Gestalt des Gewaltphänomens, hinter der dann eine spezifische Logik der Gewaltausübung und Gewaltverursachung stecken mag, dessen Analyse wiederum Teil der Erklärung ist. Dementsprechend ist Collins zuzustimmen, dass strukturelle oder kulturelle Faktoren Gewalthandeln allein nicht hinreichend erklären können.

Bei Collins wird allerdings ebenso wie bei den „Mainstreamern“ und anderen „Innovateuren“ die Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen nicht expliziert. Diese Unterscheidung ist für soziologische Erklärungen aufgrund der Komplexität sozialer Phänomene und der unterschiedlichen kausalen Relevanz der involvierten Bedingungen zentral (Ragin 2000) und kann an dieser Stelle zur weiteren Aufschlüsselung der Collins’schen Argumentation herangezogen werden.Footnote 21 Bedingungen sind dann notwendig für ein soziales Phänomen, wenn die Bedingungen jedes Mal zusammen mit dem betreffenden Phänomen auftreten. Bezogen auf Collins’ These zur Gewalt könnte man formulieren: Die Überwindung der Konfrontationsangst ist eine notwendige Bedingung der Gewaltausübung, denn jedes Mal, wenn Gewalt ausgeübt wurde, ist die Konfrontationsangst überwunden worden, und wenn sie nicht überwunden worden ist, kommt es auch nicht zur Gewaltanwendung. Folgerichtig zeigt Collins, wie die Konfrontationsangst in verschiedenen empirischen Situationen zuvor überwunden wurde, wenn es de facto zur Gewaltanwendung gekommen ist. Zudem führt er viele Beispiele an, wo ein gewaltsames Handeln von Akteuren gefordert oder erwartet wurde, es aber nicht dazu kam, weil die Konfrontationsanspannung und -angst nicht überwunden werden konnte. Im militärischen Kampf etwa führt die verbreitete Konfrontationsangst oft zu einer Nichterfüllung der von den Soldaten geforderten Leistung, wie sich an der erstaunlich niedrigen Schieß- und Trefferquote zeigt (Collins 2011, S. 70 ff.).

Mit dieser These der Überwindung der Konfrontationsanspannung und -angst als einer notwendigen Bedingung von Gewalthandlungen ist nicht gesagt, dass diese Überwindung auch eine hinreichende Bedingung für die Gewaltanwendung ist. Eine Bedingung gilt dann als hinreichend, wenn ihr Auftreten das betreffende soziale Phänomen mit Notwendigkeit nach sich zieht. Mitnichten führt jedoch die Überwindung von Konfrontationsangst immer auch zur Gewaltanwendung: So besteht die Kompetenz von Türstehern gerade darin, nicht auf Provokationen der Gäste mit körperlicher Gewalt zu reagieren, obwohl man unterstellen darf, dass die grundsätzlich vorhandene Konfrontationsangst bei diesen professionalisierten Akteuren rasch überwunden und die emotionale Dominanz im Regelfall gegeben ist. Es ist der juristische, berufsethische und geschäftliche Auftrag, als Türsteher (oder „Security“) „besonnen“ auf Provokationen zu reagieren und von körperlicher Gewalt solange wie möglich abzusehen, auch wenn Gewalt als Thema dort sicherlich überproportional häufig kommuniziert wird (Preiser 2016).

Vor diesem Hintergrund lässt sich die Kritik von Collins an den „Mainstreamern“ sowie sein situationistischer Gegenvorschlag evaluieren: Strukturelle Bedingungen von Gewalt sind handlungsprägend und nicht handlungsfähig (Schimank 1985), Strukturen üben keine Gewalt aus. Ob Strukturen – wie etwa der Begriff der „strukturellen Gewalt“ suggeriert – hinreichend zur Erklärung von Gewalt sind, müsste die jeweilige Erklärung erst nachweisen; sie können es empirisch sein, müssen es aber nicht. Hier setzt Collins’ Kritik an: „Being a racist is not sufficient to make someone violent; nor is being poor, subaltern, shamed, hopeless, angry, or filled with religious fervor.“ (Collins 2012, S. 135) Aus diesem Grund rückt Collins die notwendigen Bedingungen von Gewalt in den Vordergrund. Der danach folgende Satz verdeutlicht allerdings Collins’ Vernachlässigung von Bedingungen, welche möglicherweise (in Kombination mit notwendigen Bedingungen) hinreichend sind: „It does not matter [sic!] how angry or alienated someone is; they still have to get past the barrier of confrontational tension.“ (ebd.) Der epistemologische Fehlschluss bei Collins ist eindeutig: Weil eine Bedingung – die Überwindung der Konfrontationsanspannung – notwendig ist, spielen andere Faktoren keine Rolle.

Es ist für den Gewaltforschungsdiskurs lohnenswert, sowohl die Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Gewalthandeln explanatorisch zu berücksichtigen als auch die analytische, für die Erklärung wichtige Differenz zwischen der Logik der Situation und der Logik der Selektion zu erkennen.Footnote 22 Denn dadurch lässt sich verdeutlichen, dass Strukturen einen maßgeblichen, wenngleich verschiedenartigen Einfluss auf das Gewalthandeln haben (nämlich in Form von unterschiedlichen Beiträgen zu notwendigen und hinreichenden Bedingungskonfigurationen). Die Strukturen der Ausgangssituation sind explanatorisch zu berücksichtigen als handlungsprägende Strukturen – als handlungsermöglichende bzw. als bestimmte Handlungen nahelegende Strukturen –, aber sie allein vermögen die konkrete Hinwendung zum Gewalthandeln (noch) nicht zu erklären. Anders formuliert: Selbstverständlich gibt es empirisch Situationen, deren Strukturen eine hochgradige Wahrscheinlichkeit innewohnt, dass Gewalt als Handlungsoption selegiert wird. Beispielsweise impliziert die Struktur der Intimbeziehungen in Deutschland aktuell eine höhere Wahrscheinlichkeit für Frauen, physische Gewaltopfererfahrungen mit (Ex‑)Partnern zu machen als mit fremden Personen im Rahmen der Struktur des öffentlichen Lebens und öffentlicher Orte.Footnote 23 Allerdings führt eine solche strukturelle Prägung eben nicht zwangsläufig zu Gewalt. Selbst eine als „Krieg“ definierte soziale Struktur (Rotte 2019) muss nicht zwingend zu Gewalt führen, sondern kann zu kooperativ-friedlichen Interaktionen führen (Axelrod 2000, S. 67 ff.). Ein Begriff wie „strukturelle Gewalt“ verkürzt die Erklärung durch die Suggestion einer Unbedingtheit, so als würden bestimmte Strukturen „immer“ zu Gewalthandeln führen. Semantische Ausweichbewegungen wie die (richtige) Feststellung, dass die „symbolische Ordnung des Staats nicht selbst schon Gewalt“ sei, „aber die gewaltsamen Effekte ihr deutlich eingeschrieben [...] sind“ (Imbusch 2017, S. 49), zeigen nur allzu deutlich die Mängel einer Erklärungsheuristik, die nicht sauber zwischen Situations‑, Selektions- und Aggregationslogik trennt. Man muss immer grundsätzlich die Logik der Selektion darlegen.

Wir können festhalten: Erstens ist nach Collins die Überwindung von Konfrontationsangst eine notwendige Bedingung zur Gewaltausübung, deshalb muss eine Erklärung von Gewaltereignissen diese Bedingung mit einbeziehen. Zweitens ist die Überwindung von Konfrontationsangst keine hinreichende Bedingung für Gewalthandlungen: Gewalt ist zwar ein allen Menschen zugängliches Handlungspotenzial, eine stets vorhandene „Aktionsmacht“ (Popitz 1992, S. 48), aber ob diese Option gezogen wird oder nicht, ist entscheidungsoffen, und folglich muss in der soziologischen Erklärung dieser Entscheidungsprozess der Akteure rekonstruiert werden. Damit gilt drittens: Aus einer bestimmten Struktur kann nicht unmittelbar abgeleitet werden, dass die Akteure Gewalt als Handlungsoption selegieren. Und selbst wenn sich die Akteure für Gewalthandlungen entscheiden, liegt das soziologische Explanandum letztlich auf der sozialen Aggregationsebene, sodass man, viertens, das handelnde Zusammenwirken der (gewalttätigen und gewalterleidenden) Akteure zu rekonstruieren hat.

2.3 Logik der Aggregation

Aus einer bestimmten sozialen Situation zum Zeitpunkt t1 kann analytisch nicht unmittelbar abgeleitet werden, dass zu einem Zeitpunkt t2 weitere Strukturen entstehen, die den Folgen von Gewalthandlungen ähnlich sind (Leid, Schmerzen, Elend, etc.). Diese aus dem Modell der soziologischen Erklärung abgeleitete Kritik an den „Mainstreamern“ verweist auch auf die oftmals vernachlässigte Explikation der Logik der Aggregation. Während diejenigen Forscher:innen, die sich dem situativen Ansatz im Anschluss an Collins verschrieben haben, die Aggregationsdynamiken als „mikrointeraktionalen Verstrickungen“ rekonstruieren und wie Nassauer (2015c) Gewaltereignisse als Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens von Polizisten und Demonstranten unter bestimmten situativen Randbedingungen konzipieren, vermisst man bei den Vertreter:innen einer strukturellen oder kulturellen Gewaltkonzeption oftmals eine Explizierung dieser Aggregationsprozesse. Suggeriert wird mit dem Begriff der „strukturellen Gewalt“ etwa der direkte Durchgriff von sozialen Strukturen zum Zeitpunkt t1 – vermittelt über unterschiedliche, auch nicht-gewalttätige Arten des Handelns – auf das Aggregationsergebnis (z.B. kollektive Gewalt) zum Zeitpunkt t2. Gemessen an der Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen bleibt allerdings unklar, was genau der Begriff „strukturelle Gewalt“ an dieser Stelle der Erklärung ausdrücken möchte: Wird von „struktureller Gewalt“ gesprochen, da bestimmte Strukturen immer vorliegen müssen, damit eine bestimmte Art von Gewaltaggregat entsteht? So wäre etwa Zygmunt Baumans (1989, 1991) Erklärung des Holocaust zu lesen, welcher die Struktur bzw. die „gärtnerische“ Kultur der Moderne zur notwendigen Bedingung für den Holocaust erklärt hat. Allerdings ist die moderne Gesellschaft – man möchte sagen: glücklicherweise – keine hinreichende Bedingung für den Holocaust. Eine solche notwendige Struktur müsste im Rahmen des Modells soziologischer Erklärung als Teil der Situationsanalyse ermittelt und dann noch gezeigt werden, welche Bedingungen empirisch hinzukommen, damit über das handelnde Zusammenwirken der Akteure tatsächlich das zu erklärende Gewaltaggregat entsteht. Eine starke strukturelle Erklärung von Gewalt würde demnach aufzeigen, dass eine bestimmte Struktur immer zu Gewaltaggregaten führt und in diesem Sinne eine hinreichende Bedingung für ihre Entstehung ist. Unseres Wissens nach sind derartige Strukturen bislang nicht gefunden worden, weil es in komplexen, selbstkritikalen (Kron und Grund 2009), durch Transintentionalität (Greshoff et al. 2003) gekennzeichneten Gesellschaften unwahrscheinlich ist, dass eine bestimmte soziale Struktur immer bestimmte Folgen zeitigt, die den Konsequenzen von Gewalthandlungen ähnlich sind oder nicht.

Es ist nicht zu sehen, bei welchen Strukturen zum Zeitpunkt t1 empirisch immer ein bestimmtes Gewalt-Aggregationsergebnis zum Zeitpunkt t2 erzeugt wird. Schroer (2004, S. 164 f.) stellt zu dieser Gleichsetzung einer Ausgangsstruktur zum Zeitpunkt t1 mit einer Gewalthandlung zum Zeitpunkt t2 die Frage, ob „Armut und Abhängigkeitsverhältnisse im Nord-Süd-Konflikt etwa letztlich nicht auf das Töten anderer Menschen hinaus[laufe]“. Es ist offenkundig, dass dieses Gleichsetzen der Situation zum Zeitpunkt t1 (inklusive Armut und Abhängigkeit) mit den aggregierten Konsequenzen zum Zeitpunkt t2 (Töten anderer Menschen) fehlläuft, denn grundsätzlich endet Armut genauso wenig zwingend im Tod wie andere Abhängigkeitsverhältnisse. Letztlich liefe diese Argumentation darauf hinaus, dass das Leben in Strukturen tödlich ist – eine soziologisch unbefriedigende Erkenntnis, sofern man diese nicht weiterführt (wie z.B. Simmel 1922, S. 96 ff.).

Damit soll selbstverständlich nicht bezweifelt werden, dass es Strukturen sozialer Ungleichheit gibt, die Mehrheit der reichen Industrieländer im globalen Norden, die meisten armen Entwicklungsländer im globalen Süden liegen und dies im Ergebnis für viele Menschen im globalen Süden ein elendiges und ein – gemessen an der Lebenserwartung reicher Länder – vorzeitig beendetes Leben bedeutet. Eine soziologische Erklärung hat jedoch zu rekonstruieren, wie ein solcher Aggregatzustand zum Zeitpunkt t2 als Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens von kollektiven und korporativen globalen Akteuren zustande kommt, wenn Letztere spezifische Handlungsentscheidungen unter gegebenen (wirtschaftspolitisch-)strukturellen und (westmodern-)kulturellen Randbedingungen zum Zeitpunkt t1 treffen (siehe Lessenich 2016). Auf diese Weise kann eine im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung geführte Erklärung z.B. aufzeigen, wie die Implementation des Paragraphen § 16e in das Zweite Buch des Sozialgesetzbuches – die Einführung eines Beschäftigungszuschusses zur dauerhaften Beschäftigungsförderung von zuvor Langzeitarbeitslosen – letztlich im handelnden Zusammenwirken der verschiedenen Akteure scheiterte und zu leidvergrößernden enttäuschten Erwartungen bei vielen Akteuren führte (Bauer et al. 2012). Das Gesetz als solches bedingt aber weder die Handlungswahlen der relevanten Akteure noch das kollektive Leid unmittelbar zwingend und hinreichend.

Eine (erschöpfende) Erklärung von Gewaltereignissen ist erst dann geleistet, wenn der transformierende MechanismusFootnote 24 analysiert wurde, unter welchen zusätzlichen (ggf. kulturellen oder strukturellen) Bedingungen die Überwindung von Konfrontationsangst hinreichend zum Übergang in Gewaltaggregate durch das handelnde Zusammenwirken der Akteure ist. Es müssen phänomenspezifisch die Kombinationen der notwendigen und/oder hinreichenden Bedingungen aufgeführt und in ihrer prozessualen Entwicklung „seziert“ (Hedström 2005) werden.Footnote 25 Collins (2016, S. 17 ff.) selbst konzentriert sich in seinem Modell auf die Darlegung der Handlungsselektion als Entstehung von Konfrontationsanspannung über emotional-soziale Mechanismen sowie ihrer situativen Überwindung im Rahmen von „mikrointeraktionalen Verstrickungen“ – und vernachlässigt in der Regel die weitere Erklärung der sozialen Aggregation.

Gerade aufgrund der zumeist nicht hinreichend eindeutigen sozialen Zusammenhänge zwischen den Ausgangsbedingungen und der aggregierten Gewalt besteht die soziologische Erklärungskunst darin, den Mechanismus ihres Entstehungszusammenhangs zu entschlüsseln und derart das kollektive Gewaltphänomen zu erklären. Ist der Mechanismus dieses spezifischen Zusammenhangs aufgedeckt, erlaubt dessen Erkennen dann ggf., gezielte Interventionen einzuführen. Der situative Ansatz von Collins kann solche Interventionspunkte ausschließlich in der situativen Stabilisierung der Konfrontationsangst finden (siehe Collins 2011, S. 700 ff.). Strukturelle oder kulturelle Präventionsmöglichkeiten bzw. Interventionen, die auf das handelnde Zusammenwirken der bereits gewalttätigen Akteure zielen, um etwa Gewaltspiralen zu unterbinden (Brücher 2011), geraten dadurch aus dem Blick.

3 Schluss

Wir möchten in diesem Beitrag den Standpunkt vertreten, dass der Diskurs um den Begriff der Gewalt keinen nennenswerten Fortschritt für die Gewaltforschung mit sich führen wird, solange sich das argumentative Hin und Her um die Begrifflichkeit dreht, ohne die Auseinandersetzung auf der Ebene der Erklärungsmodelle zu suchen. Es ist an der Zeit, wie auch Knöbl (2017, S. 11) resümiert, „den vielfach geforderten Mikro-Makro-Link tatsächlich herzustellen“.Footnote 26 Dazu ist es allerdings erforderlich, jene Erklärungsmodelle zu benennen, welche den Mikro-Makro-Link – die Verbindung der Prägung des Handelns der Akteure durch die Situation mit ihrer Handlungsentscheidung und dem Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens der Akteure – herstellen sollen, denn bekanntlich gibt es dazu mehrere Alternativen (vgl. Alexander et al. 1987; Greve et al. 2009).Footnote 27

Je nachdem, welcher explanatorische Bezugsrahmen gewählt wird, löst sich die Spannung zwischen den „Mainstreamern“ mit der Betonung „struktureller Gewalt“ und den „Innovateuren“ mit der Konzentration auf einen engen Gewaltbegriff mehr oder weniger auf. Zugleich wird die Provokation durch Randall Collins und seiner geforderten „situationalen Gewaltforschung“ entschärft, die Konzentration der Gewaltforschung auf Strukturen und Motive könnte „nichts“ zu einer Erklärung des Gewalthandelns beitragen.

Wenn die Erklärung von Gewalt beinhaltet, den Mechanismus (Hedström und Swedberg 1998b; Schmid 2006) zu entschlüsseln, der ausgehend von einer Situation zum Zeitpunkt t1 zu den Handlungen der relevanten Akteure sowie zur Aggregation eines Gewaltgeschehens zum Zeitpunkt t2 geführt hat, dann wird man nicht darum herumkommen, fallspezifisch den untersuchten sachlichen, zeitlichen und sozialen Ausschnitt anzupassen und ggf. mal enger, mal weiter zu fassen. Die Konzentration ausschließlich auf jene Situationsbedingungen, welche Einfluss auf die aktuelle emotionale Dynamik der beteiligten Akteure nehmen, ist für eine soziologische Erklärung bestimmter empirischer Fälle in der Regel genauso wenig ausreichend wie die reine Beschreibung des Gewalthandelns oder der ausschließliche Hinweis auf strukturelle oder kulturelle Faktoren. Keiner dieser Ansätze genügt gemessen am struktur-individualistischen Grundmodell der soziologischen Erklärung für sich allein einer soziologischen Erklärung. Akzeptiert man, dass eine soziologische Erklärung sozialer Phänomene über Mechanismen erfolgen sollte, bedeutet das zu zeigen, wie ein sozialer Zustand zu einem Zeitpunkt t2 sich über dazwischenliegende Schritte (des Handelns und des handelnden Zusammenwirkens von Akteuren) aufgrund bestimmter Bedingungen aus einem bestimmten sozialen Zustand zu einem Zeitpunkt t1 herausgebildet (aggregiert) hat (siehe Kron 2006). Es reicht weder aus, die „ursächlichen“ Faktoren zu beschreiben, ohne den Weg zu erläutern, der von diesen „Ursachen“ zum Explanandum führt, noch genügt eine Beschreibung eines situativen Prozessverlaufes ohne die Angabe der Randbedingungen.

Zum Schluss seien einige Rückschlüsse für den Gewaltbegriff aus der Perspektive des Modells soziologischer Erklärung nur angedeutet: Die Rede von „struktureller Gewalt“ ist in diesem explanatorischen Rahmen obsolet, weil jede Erklärung immer fallspezifisch die strukturellen Kontexte berücksichtigen muss, welche die Orientierung der Akteure beeinflussen und derart auf die Handlungsentscheidungen einwirken. Ebenso sind soziale Strukturen explanatorisch in ihrem aggregierenden Einfluss auf das handelnde Zusammenwirken der Akteure zu berücksichtigen. Auch hier wird kein Begriff „struktureller Gewalt“ benötigt. Aufgrund der genannten Probleme, die mit dem Begriff „struktureller Gewalt“ einhergehen und dessen heuristischen Nutzen konterkarieren, liegt es nahe, diesen Begriff gänzlich fallenzulassen.Footnote 28 Ganz ähnlich dürfte das Argument zur Vermeidung des Begriffs „kultureller Gewalt“ angelegt sein: Weder Strukturen noch Kulturen sind handlungsfähig. Sie können keine Gewalt ausüben. Kulturen können aber ebenso wie Strukturen wesentliche Faktoren einer Erklärung von Gewalt sein – so wie es das Modell der soziologischen Erklärung vorsieht.