Verletzungen des Schultergelenkes haben ihre beiden Häufigkeitsgipfel im jungen Erwachsenenalter und in der Bevölkerungsgruppe ab dem 65. Lebensjahr. Die Bevölkerungszahl der letzten Gruppe hat sich nach aktuellen Angaben des Bundesamtes für Statistik seit 1960 fast verdoppelt. Rekonstruktive Behandlungsverfahren führen im ersten Altersgipfel zu guten Behandlungsergebnissen, während bei der zweiten Altersgruppe der Gelenkersatz jetzt häufiger angewendet werden muss.

Die Endoprothetik der oberen Extremität ist zweifelsfrei ein etabliertes Verfahren mit guten Langzeitergebnissen. Bei stürmisch voranschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis über das Schultergelenk und einhergehender Entwicklung der Implantate haben sich auch die Indikationen ausgeweitet. Mit steigender Anzahl der implantierten Schulterprothesen nimmt auch die Zahl der Revisionsoperationen stetig zu [2].

Für Hüft- und Knieendoprothetik ist eine kontinuierliche statistische Auswertung in Deutschland etabliert. Für die Schulterendoprothetik hingegen werden in Deutschland keine statistischen Daten erhoben. In Einzelveröffentlichungen ist eine geschätzte Inzidenz von 10,8/100.000 Einwohner/Jahr für den Eingriff Schulterendoprothese herausgearbeitet worden [3].

Am BG Klinikum Bergmannstrost wurden im 5‑Jahres-Zeitraum (2011–2015) 395 Schulterendoprothesen implantiert. Hier waren allein 38 Revisionsoperationen (bei periprothetischen Frakturen) in den Jahren 2014 und 2015 zu verzeichnen.

Der 11.03.1893 war der Beginn der Schulterendoprothetik. Jules Èmile Péan (1830–1898) implantierte hier die erste Schulterendoprothese. Charles S. Neer, II, M.D. (1917–2011) setzte 1953 mit seiner Neer-II-Humeruskopfprothese die Entwicklung fort. Die letzte bedeutende Innovation auf dem Gebiet der Schulterendoprothetik wurde durch Paul Grammont (1940–2013) mit der inversen Schulterendoprothese getätigt.

Zunächst wurde mit dem Ersatz des Humeruskopfes als Hemiendoprothese begonnen. Der Glenoidersatz trat später hinzu.

Die komplexe anatomische Form des Schultergelenkes wurde durch die Weiterentwicklung der Prothesentypen immer besser berücksichtigt. Die Tab. 1 führt die Messwerte der komplexen Morphologie auf. Deren Kenntnis ist bei der präoperativen Planung hilfreich.

Tab. 1 Morphologische Parameter des proximalen Humerus
  • Den Höhepunkt der ersten Generation der anatomischen Schulterprothesen stellte die Neer-II-Prothese 1953 dar. Diese besaß einen integrierten Prothesenkopf, 2 unterschiedliche Schaftgrößen, nur einen Kopfradius mit 2 verschiedenen Kalottenhöhen und einen Glenoidersatz mit gleichem Durchmesser wie der Kopf. Eine Roll-Gleit-Bewegung des Gelenkes war nicht möglich. Eine Variabilität des Inklinationswinkels bestand nicht.

  • Die zweite anatomische Prothesengeneration war ein modulares Kopf-Schaft-System mit Mismatch zwischen Kopf und Glenoid für eine Roll- und Gleitbewegung. Die exzentrische Positionierung der Kalotte war möglich. Bipolarköpfe standen zur Verfügung (z. B. modulares Schultersystem der Fa. Biomet®).

  • Bei der dritten Prothesengeneration wurden modulare Winkeladapter zur Rekonstruktion der Inklination und ein Exzentersystem hinzugefügt (z. B. Äqualis®-Prothese Fa. Tonier).

  • Die vierte Generation der anatomischen Prothesen ist um 3 Achsen stufenfrei modular einstellbar (z. B. Univers 3D®, Fa. Arthrex).

  • Schaftfreie Humeruskopfprothesen und Humeruskopfteilprothesen stehen heute ebenfalls in technisch ausgereifter Form zur Verfügung (z. B. Eclipse® Fa. Arthrex, Hemicyp® Arthrossurface Inc.).

  • Die Erkenntnis, dass eine gute Funktionalität einer anatomischen Schulterprothese an die gute Funktion der Rotatorenmanschette gekoppelt ist, führte zur Weiterentwicklung der Schulterprothese. Trotz Verlust der Rotatorenmanschette sollten gute Ergebnisse möglich sein. Paul Grammont hatte in den 1970er-Jahren die Idee der Umkehrung der normalen Biomechanik der Schulter. Er ließ einen konvexen Glenoidkörper mit einem konkaven Gelenkpartner im Humerus artikulieren und erreichte ein stabiles Drehzentrum des Gelenkes auch ohne Rotatorenmanschette. Eine gleichzeitige Medialisierung und Distalisierung des Drehzentrums verbesserte den Kraftvektor des M. deltoideus. Der Prototyp der Prothese wurde 1985 von der Fa. Medinov aus Frankreich vorgestellt. Erst 1991 standen die modernen Prothesen dieses Designs bereit (Delta CTA DePuy Orthopaedics, Warsaw, Indiana, USA).

  • Als Prothesen der fünften Generation stehen heute Systeme zur Verfügung, die vollständig modular sind und es dem Operateur ermöglichen, intraoperativ anatomisch oder invers das Gelenk zu ersetzten (z.B. Agilon®-System der Fa. Implantcast).

Als Indikationsgebiete für den rekonstruktiv tätigen Unfallchirurgen und Orthopäden soll auf die primäre Endoprothetik nach Fraktur, die sekundäre Schulterendoprothetik nach Gelenkverletzungen und Folgenzuständen und auf die Revisionsendoprothetik eingegangen werden.

Primäre Schulterendoprothetik nach Fraktur

Frakturen des proximalen Humerus stellen mit einer Inzidenz von 100 Fällen/100.000 Einwohner/Jahr eine häufig auftretende Fraktur dar; 5 % aller Frakturen sind diesem Frakturtyp zuzuordnen. Die Frakturen sind vor Therapie genauestens zu klassifizieren. Es stehen mehrere Klassifikationssysteme zur Verfügung. Als praktikable Klassifikation wird heute die Neer-Klassifikation neben der Müller Klassifikation der Arbeitsgemeinschaft Osteosynthese angesehen. Stabile, einfache Frakturen können konservativ behandelt werden. Bei Stellung der Operationsindikation sollte das oberste Gebot natürlich der Rekonstruktionsversuch durch Osteosynthese sein (siehe Tab. 2). Die Osteosynthese mit winkelstabilen Implantaten ist nach jetziger Kenntnis aber trotz allem mit Komplikationsraten von über 30 % behaftet. Das Alter des Patienten, die lokale Knochendichte, die Qualität der Reposition, insbesondere die Restaurierung der medialen kortikalen Abstützung sind entscheidende Faktoren für eine erfolgreiche Osteosynthese. Nur die beiden letztgenannten Faktoren sind beeinflussbar. Die intraoperative Differenzialindikation zwischen Osteosynthese und Prothese ist somit schwierig und trotz vorhandener Scores vom Erfahrungsstand des Operateurs in weiten Teilen abhängig [6] (siehe Tab. 3).

Tab. 2 Indikation und Kontraindikation der primären Schulterendoprothetik

In der eigenen operativen Praxis hat sich die Anwendung des Scores nach Nijs (Tab. 3) als hilfreich erwiesen [8].

Tab. 3 Score nach Nijs

Bei mehr als 3 Punkten ist das Osteosyntheseversagen signifikant erhöht, und es sollte die Implantation einer Prothese erfolgen. Als Kontraindikation für eine endoprothetische Versorgung werden auch hier ein florider Infekt, eine Schädigung des Plexus brachialis, auch des N. axillaris und mangelnde Patientencompliance angesehen.

Das Ergebnis der Implantation ist von der suffizienten Befestigung und späteren Einheilung der Tuberkula mit anhängender Rotatorenmanschette und der Rekonstruktion der Höhe und der Retrotorsion des Humeruskopfes abhängig [1, 7].

Bei insuffizienter Rotatorenmanschette und zu erwartendem höherem Funktionsanspruch sollte nach unseren Erfahrungen bereits ab dem 60. Lebensjahr im Frakturfall auf ein inverses System ausgewichen werden. Die Indikationen werden hier noch diskutiert. Der Nachweis der besseren Ergebnisse ist noch zu erbringen [4, 5].

Abb. 1
figure 1

Behandlungsverlauf nach Osteosynthese bei Humeruskopffraktur AO 11 A3. a Frakturbild, b postoperatives Röntgen, c Röntgen 8 Wochen post operationem, d Röntgenuntersuchung nach inverser Schulterendoprothese

Sekundäre Schulterendoprothetik nach Fraktur und Verletzungsfolgezuständen

Fehlschläge einer Osteosynthese am proximalen Humerus stellen neben der Humeruskopfnekrose häufige Indikationen für eine sekundäre Schulterendoprothetik dar (siehe auch Tab. 4). Ein typischer Verlauf ist unter Abb. 1 dargestellt.

Tab. 4 Indikation und Kontraindikation der sekundären Schulterendoprothetik

Revisionsendoprothetik der Schulter

Die steigende Zahl bisher implantierter Schulterendoprothesen lässt selbstverständlich auch die absolute Zahl implantatassoziierter Komplikationen ansteigen. Epidemiologische Daten für Deutschland sind bisher nicht veröffentlicht. Indikationen für die Revisionsendoprothetik sind Tab. 5 zu entnehmen. Ein typischer Verlauf nach periprothetischer Fraktur ist in Abb. 2 ersichtlich.

Tab. 5 Indikationen für Revisionsendoprothetik der Schulter
Abb. 2
figure 2

Behandlungsverlauf nach periprothetischer Humerusfraktur AO USC I.1 B3, Typ Worland B3. a Frakturbilder, bc postoperatives Röntgen nach inverser Schulterendoprothese mit proximalem Humerusersatz

Fazit für die Praxis

  • Die Endoprothetik der Schulter ist ein etabliertes Verfahren.

  • Die Verfahrensweise in der Frakturendoprothetik der Schulter ist derzeit in der Diskussion (Hemiprothese vs. inverse Prothese).

  • Die Anzahl der Revisionsoperationen steigt (BG Klinikum Halle: 6 Fälle im Jahr 2012 auf 27 Fälle im Jahr 2015).