1 Einleitung

Restaurationskonzepte für Fließgewässer – zum Beispiel im Rahmen von EU LIFE-Projekten – sehen in der Regel Aufweitungen des Flussbetts und vermehrt Wiederanbindungen verlandeter oder zugeschütteter Nebenarme vor. In regulierten Flussabschnitten sind jedoch Reaktivierungen einstiger Nebenarme des Öfteren mit einem größeren Erhaltungsaufwand verbunden. Sie neigen leicht zur neuerlichen Verlandung, wodurch der Einströmbereich entweder (mehrfach) adaptiert oder Buhnen zur Ablenkung der Strömung in den Nebenarm eingebaut werden müssen. Wie kann das sein, wo doch die meisten der neu geschaffenen Arme auf historischen Leitbildern beruhen? Im vorliegenden Artikel wird der Frage nachgegangen, was die Gründe dafür sein mögen und wessen es bedarf, einen langfristigen Restaurationserfolg zu gewährleisten.

Aktuelle Konzepte zur Restauration von Fließgewässern sehen meist eine „Redynamisierung“ regulierter Gewässerabschnitte vor, um flusstypische Umlagerungsprozesse wieder zu ermöglich und zu initiieren (Palmer et al. 2005; Jungwirth et al. 2014; Muhar et al. 2018). Dies betrifft nicht nur die Gerinne selbst, sondern auch terrestrische Bereiche ehemaliger Flusslandschaften. So beschreiben Stanford et al. (2005) die Bedeutung eines „shifting habitat mosaics“ für Fluss-Auen-Ökosysteme. Ein bestimmtes aquatisches oder terrestrisches Habitat mag zum Beispiel bei einem Hochwasser lokal verloren gehen, dafür entstehen in einer unregulierten Flusslandschaft andernorts neue Habitate, die – nach einer bestimmten Entwicklungsdauer – Ersatz dafür bieten. Über eine größere Fläche und mittel- bis langfristig betrachtet, bleibt damit der Flächenanteil der verschiedenen Habitattypen innerhalb einer kleinen Schwankungsbreite annähernd gleich. Als Resultat ergibt sich dadurch nicht nur quantitativ betrachtet ein räumliches Mosaik unterschiedlicher Habitate, sondern auch qualitativ, da die einzelnen Habitate auch unterschiedliche Entwicklungsstadien (Habitatsukzession) aufweisen. Ein solches „shifting habitat mosaic“ wurde von Hohensinner et al. (2011, 2014) für die Donau im oö./nö. Machland für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nachgewiesen. Durch die Regulierung der Fließgewässer kam diese Habitatdynamik zum Erliegen, neue Habitate wie zum Beispiel Pionierstandorte können sich kaum mehr bilden. Regulierte Flusslandschaften werden dominiert von „überalterten“ Habitaten, geprägt von Ver- bzw. Auflandung, Kolmation des hyporheischen Interstitials in Gewässersohlen und veränderten Stoffkreisläufen (Hein et al. 2004; Sieczko et al. 2016; Hohensinner et al. 2022).

Für eine Redynamisierung von Gewässern bzw. Regeneration fluvialer Habitate braucht es typischerweise mehr Raum. Deshalb sind Entfernung von Uferschutzbauten, Aufweitung von Gerinnen und Wiederanbindung von Neben- oder Altarmen aktuell präferierte Maßnahmen zur ökologischen Aufwertung von Gewässern (Rhode et al. 2004; Kondolf et al. 2006; Muhar et al. 2018). Aber nicht nur aus ökologischen Gründen wird heute darüber nachgedacht, Fließgewässern wieder mehr Raum zu geben. Auch aus schutzwasserwirtschaftlicher und damit auch raumplanerischer Sicht erscheint dieser Ansatz sinnvoll (Junger et al. 2022). In diese Richtung weisen unter anderem die „Room for River Directive“ in den Niederlanden und in Kanada sowie Analysen zur praktischen Umsetzung einer Strategie, um Flüssen in Deutschland mehr Raum zuzugestehen (Hartmann 2011; Rijke et al. 2012; Warner et al. 2012). Habersack et al. (2010) präsentierten mit der „Floodplain Evaluation Matrix“ (FEM) einen neuen integrativen Managementansatz, um den flussmorphologischen Raumbedarf eines Gewässers zu bestimmen.

Um zu bestimmen, wie viel Raum ein Fließgewässer benötigt, ist ein Blick in die Zeit vor der Regulierung hilfreich (Muhar 1994; Wohl 2005; Haidvogl et al. 2011). Jeder morphologische Flusstyp – z. B. verzweigt, gewunden oder mäandrierend – ist nicht nur durch eine typische Habitatkomposition, sondern auch durch eine individuelle Intensität der flussmorphologischen Dynamik gekennzeichnet (Hohensinner et al. 2021). Die Kenntnis der jeweiligen flusstypischen Dynamik bietet eine fundierte Grundlage zur Konzeption von Restaurationsprojekten degradierter Flussabschnitte. Dabei sind im Besonderen die Dynamik und die Lebensdauer bestimmter fluvialer Strukturen wie z. B. von Neben- oder Altarmen von Interesse. Dieser Zugang ermöglicht auch eine bessere Beurteilung des mittel- bis langfristigen Verlandungsrisikos wiederangebundener Neben- oder Altarme. Als Beispiel für die gegenständliche Studie dient der 54 km lange, heute großteils noch frei fließende Abschnitt der Oberen Mur zwischen Fisching bei Zeltweg und Leoben.

2 Untersuchungsgebiet

Der untersuchte Abschnitt der Oberen Mur beginnt bei der Ausmündung des Ausleitungskanals des Kraftwerks Fisching (Fkm 317,1) und endet beim Wasserkraftwerk in Leoben (Fkm 263,1; Abb. 1). Fischökologisch ist dieser Abschnitt in der Biozönotischen Region (Fischregion) „Hyporhithral mit Huchenvorkommen“ (Äschenregion) zuzuordnen (BMLRT 2020). Entsprechend dem fischökologischen Leitbild sind hier die Leitarten Äsche (Thymallus thymallus), Bachforelle (Salmo trutta fario) und Huchen (Hucho hucho) charakteristisch. Typische Begleitarten sind hier Koppe (Cottus gobio), Ukrainisches Bachneunauge (Eudontomyzon mariae), Bachschmerle (Barbatula barbatula), Elritze (Phoxinus phoxinus), Aitel (Squalius cephalus), Strömer (Telestes souffia) und Aalrutte (Lota lota). Gemäß Nationalem Gewässerbewirtschaftungsplan weist der untersuchte Abschnitt einen „guten ökologischen Zustand“ auf. Hinsichtlich struktureller Belastungen (Morphologie) wird er abhängig vom Grad der Regulierung als „wenig“ (2) bis „mäßig verändert“ (3) eingestuft. Eine direkte hydrologische Beeinflussung besteht nur im 4 km langen Stauraum des Kraftwerks Leoben. Im Vergleich zu anderen größeren Fließgewässern in Österreich ist der untersuchte Abschnitt insofern herausragend, als dass es sich um eine relativ lange, hydrologisch weitgehend unbeeinflusste Strecke ohne Kontinuumsunterbrechung handelt. Zahlreiche Unterliegerkraftwerke an der Mur behindern allerdings die Migration von Fischen, v. a. des Huchens.

Abb. 1
figure 1

Untersuchter Flussabschnitt der Oberen Mur zwischen Fisching und Leoben (rot: Nebenarme, die im Zuge von LIFE-Projekten zwischen 2003 und 2016 neu geschaffen bzw. reaktiviert wurden; Hintergrundkarte: Geoland.at)

Im Rahmen der beiden von der EU geförderten LIFE-Projekte „Inneralpines Flussraum-Management Obere Mur“ („Murerleben I und II“) wurden zwischen 2003 und 2016 zahlreiche Renaturierungsprojekte umgesetzt. Dabei wurden auch mehrere neue Nebenarme geschaffen bzw. verlandete Altarme wiederangebunden. Ziel war es auch, den passiven Hochwasserschutz durch eine zusätzliche Sicherung und Reaktivierung von Überflutungsgebieten zu verbessern (Amt der Stmk. Landesregierung 2015).

3 Datengrundlagen und Methodik

Zur Bewertung des aktuellen flussmorphologischen Zustands der Oberen Mur wurde primär die „Große Murstromkarte“, erstellt in den Jahren zwischen 1809 und 1815 im Maßstab von ca. 1:6800, herangezogen (Steiermärkisches Landesarchiv, Kartensammlung, Sign. M35‑2; Abb. 2). Dieses Kartenwerk weist nicht nur unterschiedliche fluviale Strukturen, sondern auch Wassertiefen entlang des Stromstrichs, Tiefen in vereinzelten Querprofilen und Höhen von Ufern sowie von Inseln auf. Die Tiefen bzw. Höhenkoten sind auf den damaligen Aufnahmewasserstand bezogen, der gemäß einer detaillierten vergleichenden Analyse ca. bei Mittelwasser gelegen sein dürfte (Schachner 2022). Für den aktuellen Zustand wurden Orthofotos, Geländedaten basierend auf Laserscans und Wassertiefen aus Abflussuntersuchungen verwendet (werner consult 2010; Summer und Pöyry 2010).

Abb. 2
figure 2

Ausschnitt aus der „Großen Murstromkarte“ 1809–1815 (Steiermärkisches Landesarchiv, Kartensammlung, Sign. M35-2)

Neben zweidimensionalen GIS-Auswertungen wie Gewässertypen (Makrohabitate), Sinuosität, laterale Anbindungsintensität (Vernetzung Hauptstrom-Nebengewässer) und Breiten des aktiven Gerinnes (= Wasser- und unbewachsene Sedimentflächen) konnten somit auch Vergleiche der historischen und aktuellen Wassertiefen sowie der Uferhöhen vorgenommen werden. Die Klassifizierung der Gewässertypen (Makrohabitate) beruht auf dem von Amoros et al. (1987) entwickelten System der Biotoptypen, das für historische flussmorphologische Analysen von Hohensinner (2008) weiterentwickelt wurde (Tab. 1). Jeder Typ bietet einer speziell darauf angepassten Biozönose und insbesondere Fischgilde adäquate Lebensraumbedingungen (Schiemer und Waidbacher 1992). Durch die Zuhilfenahme des Franziszeischen Katasters (Urmappe) aus den Jahren 1823/24 konnten auch jährliche Migrationsraten (laterale Verlagerung) des Hauptgerinnes berechnet werden.

Tab. 1 Klassifikation historischer und aktueller Gewässertypen (Makrohabitate) basierend auf Amoros et al. (1987), weiterentwickelt von Hohensinner (2008)

Bei der Analyse historischer Wassertiefen und Uferhöhen wurde besonders auf eine statistische Vergleichbarkeit der Datensets geachtet. Das bedeutet, dass für jeden historischen Messpunkt ein korrespondierender aktueller zugeordnet wurde. Dabei musste die seitliche Verlagerung des Flusslaufs seit Anfang des 19. Jahrhunderts berücksichtig werden.

Abschließend wurde auch das Verlandungsrisiko historischer und aktuell vorhandener Nebenarme basierend auf Mosselman (2001) bestimmt. Zur Risikobeurteilung werden vier Parameter herangezogen: (1) das Längenverhältnis zwischen Nebenarm und Hauptarm, (2) der Verzweigungswinkel bei der flussauf gelegenen Abzweigung, (3) der Winkel zwischen der Achse des Nebenarms und der Strömungsrichtung am Talboden bei Hochwässer und (4) ob der Nebenarm am Gleit- oder Prallufer vom Hauptstrom abzweigt. Die Geometrie eines Nebenarms gilt als ungünstig, wenn zwei oder drei der folgenden Bedingungen erfüllt sind:

  1. 1.

    Das Längenverhältnis ist größer als 1,5.

  2. 2.

    Der Verzweigungswinkel beträgt 90° oder mehr.

  3. 3.

    Der Winkel zwischen Nebenarm und Strömung bei Hochwässern beträgt 45° oder mehr (in der vorliegenden Studie wurde mangels vorhandener Daten vereinfacht die Achse des Talbodens als Hauptströmungsrichtung bei größeren Hochwässern angenommen).

  4. 4.

    Der Nebenarm zweigt an einem Gleitufer vom Hauptarm ab.

4 Ergebnisse

4.1 Genereller Flusstyp und aquatische Makrohabitate

Vor der Regulierung, zwischen 1809 und 1815 (kurz: um 1812), entsprach die Mur im untersuchten Abschnitt primär einem „gewundenen Flusstyp“, wies aber auch gestreckte, zwischen den Talhängen oder älteren Flussterrassen pendelnde, mäandrierende und verzweigte Abschnitte auf (vgl. Abb. 2; Hohensinner et al. 2021). Die historische Sinuosität (Laufentwicklung) des Hauptarms betrug 1,34, was die primäre Einstufung als „gewundener Flusstyp“ bestätigt. Die längste „typische“ verzweigte Strecke mit stärkerer Umlagerungsdynamik erreichte eine Länge von 1,5 km. In diesem Zusammenhang erscheint es widersprüchlich, dass um 1812 dennoch 28 % des untersuchten Flussabschnitts im weitesten Sinne als „verzweigt“ bezeichnet werden können. Dabei handelte es sich aber zumeist um längere, den Hauptarm begleitende Alt- und Nebenarme mit sehr geringer Umlagerungsdynamik.

Typisch für gewundene, pendelnde oder mäandrierende Fließgewässer ist der hohe Anteil des Hauptarms am gesamten Gewässersystem. Dies trifft auch auf die Obere Mur zu, bei der um 1812 rund 87 % des aktiven Gerinnes (Wasserflächen und unbewachsene Sedimentflächen) dem Hauptarm (Eupotamon A) zuzuordnen waren (Abb. 3). Nebenarme (Eupotamon B) machten ca. 9 % aus, wodurch sich der Anteil eupotamaler (lotischer) Makrohabitate auf insgesamt 96 % des aktiven Gerinnesystems belief. Die restlichen 4 % entfielen auf verschiedene Typen von Altarmen. Somit bot die Obere Mur primär rheophilen (strömungsliebenden) aquatischen Organismen adäquate Habitate. Durch die Regulierung der Mur im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verschwanden zahlreiche Nebengewässer und der Hauptarm nimmt heute 97 % des Gewässersystems ein.

Abb. 3
figure 3

Gewässertypen (Makrohabitate) der Oberen Mur um 1812 und 2020

4.2 Gerinnebreiten und laterale Konnektivität

Die Auswirkungen der Regulierung spiegeln sich am stärksten in den Breiten des aktiven Gerinnes und in der Intensität der lateralen Konnektivität wider. So verringerte sich der Medianwert der Gerinnebreiten um 31 % von 70 m um 1812 auf 48 m aktuell (Abb. 4; Schachner 2022). Die Breitenvarianz verringerte sich noch stärker von 249 auf 91, was klar das regulierungsbedingt monoton ausgeformte Gerinne belegt. Einhergehend mit der Einengung des Gerinnes erfolgte auch eine Abtrennung zahlreicher Nebengewässer. Einige verbliebene Nebengewässer verschwanden durch fortschreitende Verlandung erst nach der Regulierung.

Abb. 4
figure 4

Breitenverteilung des aktiven Gerinnes (m) um 1812 und 2020

Um 1812 existierten pro Kilometer Flusslauf 107 m lange Anbindungen zwischen Hauptarm und verschiedenen Nebengewässern (bezogen auf MQ). Somit wiesen 11 % des Hauptarms Anbindungen zu anderen Gewässertypen auf. Dem gegenüber sind es heute bei Mittelwasser nur noch 19 m pro Kilometer Flusslauf (rund 2 % bezogen auf den Flusslauf). Folglich reduzierte sich die Intensität der lateralen Konnektivität gemessen anhand der verfügbaren Anbindungen zwischen Hauptarm und abzweigenden Nebengewässern seit Anfang des 19. Jahrhunderts um 82 %.

4.3 Wassertiefen und Uferhöhen

Die Mur war einstmals nicht nur um rund ein Drittel breiter als heute, bei einem hypothetisch angenommenen gleichbleibenden Abfluss sollte das Gerinne im Mittel auch seichter als heute ausgeprägt gewesen sein. Wie an vielen anderen regulierten Flüssen zu beobachten, ist auch an der Oberen Mur von einer regulierungsbedingten Sohleintiefung auszugehen, die durch den Rückhalt von Geschiebe in der Oberliegerstrecke verstärkt wurde. Diese Annahme lässt sich anhand der historischen Daten aber nur in sehr geringem Ausmaß belegen. So konnte nur eine Zunahme der Median-Wassertiefe von 1,26 m um 1812 auf nunmehr 1,36 m bei Mittelwasser nachgewiesen werden (Mittelwerte: von 1,29 m um 1812 auf 1,53 m aktuell; Schachner 2022). Der Unterschied erscheint überraschend klein, jedoch konnte bei der Durchführung eines einseitigen Zweistichproben-T-Tests mit p < 0,01 (n = 302, t = −4,57, df = 596) zumindest ein statistisch signifikanter Unterschied der Wassertiefenverteilung festgestellt werden, was jedoch der hohen Stichprobenanzahl geschuldet ist (vgl. Abb. 5). Der Unterschied von 10 cm liegt jedenfalls innerhalb der methodischen Unschärfen, die sich aus der unsicheren Bestimmung des historischen Mittelwasserspiegels sowie der unterschiedlichen Messweise historischer und aktueller Wassertiefen ergeben. Historische Aufzeichnungen von Fließgeschwindigkeiten an der Donau zeigen jedoch, dass auch im unregulierten Zustand entlang des Stromstrichs hohe Fließgeschwindigkeiten verbunden mit großen Wassertiefen (ausgeprägten Kolken in Flussbögen) vorgekommen sind, die ähnlich wie in der regulierten (aber noch nicht gestauten) Donau waren (Hohensinner und Jungwirth 2016; Hohensinner, unpubliziert). Im Unterschied zum regulierten Zustand wies das frühere Flussbett der Donau jedoch seitlich des Stromstrichs seichtere Bereiche mit wesentlich geringeren Fließgeschwindigkeiten auf. Dieser laterale Gradient unterschiedlicher Strömungsintensitäten und Wassertiefen ist im regulierten Flussbett stark reduziert. Einzelne in der „Großen Murstromkarte“ eingezeichnete Profilmessungen belegen eine solche heterogene Ausformung des Flussbetts für den hier untersuchten Abschnitt der Mur vor der Regulierung.

Abb. 5
figure 5

Verteilung der Wassertiefen bei Mittelwasser (MW) um 1812 und 2020

Die Eintiefung des Gerinnes lässt sich zum Teil aber anhand der gemessenen Uferhöhen belegen. An der Oberen Mur gibt es abgesehen von lokalen Aufschüttungen kaum uferbegleitende Hochwasserschutzdämme. Lagen die Oberkanten der Uferbereiche Anfang des 19. Jahrhunderts im Median lediglich um 1,26 m höher als der Mittelwasserspiegel, so sind es nunmehr 2,54 m, was einer Sohleintiefung von ca. 1,3 m entsprechen würde (Abb. 6). Diese Zunahme könnte aber nicht nur regulierungsbedingter Sohleintiefung und lokalen Anschüttungen geschuldet sein, sondern es könnte auch die Ablagerung von Feinsedimenten (Schwebstoffen) bei Hochwässern im Ufergehölzsaum eine Rolle dabei gespielt haben. Jedoch ist eine ausgeprägte Tendenz für eine natürliche Uferwallbildung in den Laserscandaten nicht erkennbar.

Abb. 6
figure 6

Verteilung der Uferhöhen bezogen auf Mittelwasser um 1812 und 2020. Die hohen aktuellen statistischen „Ausreißer“ lassen sich auf künstliche Anschüttungen zurückführen

Die historischen Daten erlauben auch einen Vergleich der Höhenlage von bewachsenen Inseln in Bezug zum Mittelwasserstand (= Flurabstand bei MW). Hier verdoppelte sich der Medianwert von 0,95 m um 1812 auf 1,78 m aktuell. Dies bedingt verringerte Überflutungshäufigkeit, verstärktes Aufkommen von Vegetation und insgesamt eine Stabilisierung der Inseln.

4.4 Gerinnedynamik und Verlandungsprozesse

Aus restaurationsökologischer Sicht sind Daten zur Gerinnedynamik besonders interessant. So betrug die jährliche laterale Verlagerung der Flussbögen (Gerinne- bzw. Ufermigration) Anfang des 19. Jahrhunderts im Median zwischen 1,9 und 3,6 m (gemessen an den äußeren Prallufern; Schachner 2022). Der Schwankungsbereich des Medianwerts ergibt sich aus der Tatsache, dass unklar ist, wann die „Große Murstromkarte“ im untersuchten Abschnitt zwischen 1809 und 1815 konkret erstellt wurde. Am wahrscheinlichsten dürfte der Medianwert der jährlichen Verlagerung um 2,6 m gelegen haben. Dementsprechend sind auch die größten statistischen „Ausreißer“ mit 14,0 bis 26,3 m sehr unterschiedlich (im Mittel um 19,0 m). Während die größten Werte auf eine sehr hohe Dynamik einzelner Flussbögen hindeuten, gab es viele andere Bereiche entlang des Flusslaufs, in denen kaum eine Verschiebung des Ufers bzw. des Gerinnes zu verzeichnen war (mit Minimalwerten zwischen 0,13 und 0,25 m pro Jahr).

Bewertet man die Disposition der Nebenarme um 1812 im Hinblick auf ihre Verlandungstendenz entsprechend der von Mosselman (2001) definierten Kriterien (siehe Kapitel zur Methodik), so zeigt sich, dass im untersuchten Flussabschnitt 15 von insgesamt 46 Nebenarmen von Verlandung gefährdet waren. Dies entspricht einem Drittel der damals vorhandenen Nebenarme.

5 Diskussion

5.1 Flussmorphologische Charakteristika der unregulierten und regulierten Mur

Wenngleich die Obere Mur vor der Regulierung auch Abschnitte mit pendelnden, verzweigten und sogar mäandrierenden Gerinneformen aufwies, so war sie primär einem „gewundenen“ (sinuous) Flusstyp zuzuordnen. Ein mäßig gewundener Flusslauf mit lokalen Aufweitungen, Inseln und Verzweigungen sind dafür ebenso charakteristische Merkmale wie flach abfallende Gleituferbereiche und steile Pralluferböschungen (Hohensinner et al. 2021). Das Transportvermögen des Flusses reichte meist aus, das verfügbare Geschiebe weiterzutransportieren, ohne es längere Zeit im Gerinne ab- bzw. zwischenzulagern. Einem groben, nicht kalibrierten Feststoffbilanzmodell zufolge wies die Mur rund 170 km flussab der Quelle (zwischen Zeltweg und Knittelfeld) potenziell nur 22 % jener Feststoffmenge (Geschiebe und Schwebstoffe) auf, die zum Beispiel der Rhein bereits in derselben Distanz von der Quelle mit sich führte (basierend auf Hohensinner et al. 2021). Im Vergleich zur Salzach hatte die Mur potenziell um 44 % weniger Feststoffe zur Verfügung. Die Gründe für die „Feststoffarmut“ der Mur liegen in den tektonischen und lithologischen Rahmenbedingungen des Einzugsgebiets (Hohensinner et al. 2021). Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es nachvollziehbar, dass die Obere Mur nur wenige stärker verzweigte Flussabschnitte hervorbrachte.

Für dynamische Umlagerungsprozesse benötigt ein Fließgewässer Raum. Das bedeutet, dass eine geringfügige „Überbreite“ des bordvollen Gerinnes im Verhältnis zum bordvollen Abfluss ausreicht, dass sich lokal an der Sohle Geschiebe ablagert (Leopold und Wolman 1957). Durch die damit erhöhte hydraulische Rauigkeit lagert sich vermehrt Material ab und es entsteht zuerst eine Kiesinsel oder Kiesbank am Ufer, die sich in weiterer Folge zu einer bewachsenen Insel oder einem Gleituferbereich weiterentwickeln können. Dadurch werden derartige fluviale Strukturen selbst zu „Akteuren“ der Gerinneausformung: Sie zwingen das strömende Wasser auszuweichen und das daneben liegende Ufer zu erodieren. Dieser Prozess kann als Initialstadium zur Entstehung von Flussbögen – oder bei ausreichender Geschiebeverfügbarkeit – von größeren Verzweigungen angesehen werden. Durch die Verringerung des aktiven Gerinnes (Wasser- und unbewachsene Sedimentflächen) um rund ein Drittel im Zuge der Regulierung (Vergleichsabfluss MQ) wurde das Potenzial für solche Ablagerungs- und Verlagerungsprozesse stark beeinträchtigt. Dies umso mehr, wenn man auch das bordvolle Gerinne in die Überlegungen miteinbezieht. Nicht regulierte Fließgewässer weisen innerhalb des bordvollen Gerinnes neben dem aktiven Gerinne auch flache, bewachsene Gleituferbereiche und tiefliegende Inseln auf, die es in regulierten Gewässern nur mehr in sehr eingeschränktem Ausmaß gibt. So würde ein Vergleich der historischen und der aktuellen bordvollen Breite eine wesentlich größere Breitenreduktion als 31 % ergeben.

Die künstliche Einengung des Gerinnes führt bei regulierten Flüssen generell nicht nur zu einer räumlichen (lateralen) Separation von Habitaten des Fluss- und Auenlebensraums, sondern auch zu einer vertikalen Entkoppelung der Fluss- und Auenniveaus (Hohensinner et al. 2018). Die laterale Abtrennung spiegelt sich an der Oberen Mur einerseits im erheblichen Verlust von Neben- und Altarmen wider, andererseits in der Reduktion der lateralen hydrologischen Konnektivität um 82 %. Die vertikale Entkoppelung hingegen ist ein Produkt der regulierungsbedingten Sohleintiefung und eventuell der Aufhöhung des Ufer- bzw. Auenniveaus durch die Ablagerung von Hochwassersedimenten (Hohensinner et al. 2022). Damit werden Ausuferungen bei höheren Wasserständen oder bei Hochwässern immer schwerer möglich und aquatische Organismen können dem hydraulischen Stress immer schwerer in strömungsberuhigte Bereiche ausweichen. Insbesondere Jungfische sind auf gering durchströmte Uferbereiche angewiesen. Ein Fehlen dieser Habitate bei Hochwasser kann zu einer deutlichen Reduktion oder zum Ausfall ganzer Jahrgänge führen (Schiemer et al. 2001; Unfer et al. 2011).

Ebenso schwindet durch die Regulierung das Potenzial für die Entstehung neuer Habitate für Pioniervegetation. Dies lässt sich im untersuchten Flussabschnitt gut anhand der Flurabstände belegen. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden bewachsene Inseln bereits bei einem Wasserstand von knapp einem Meter über Mittelwasser (im Median) überflutet und boten dementsprechende Habitate für darauf angewiesene Pflanzen- und Tierarten. Bis heute ist nicht nur die Fläche der bewachsenen Inseln signifikant um 42 % geschrumpft, die verbliebenen Inseln werden erst bei einem Wasserstand von rund 1,8 m über Mittelwasser überströmt. Analog dazu lässt sich auch eine Verdoppelung des Flurabstands bezogen auf Mittelwasser in Uferbereichen feststellen.

5.2 Entstehung von Nebenarmen und Verlandung

Bereits zuvor wurde angesprochen wie natürlicherweise eine Verlagerung des Gerinnes mit der damit verbundenen Ufererosion angestoßen wird. Ist der Migrationsprozess eines Flussbogens einmal in Gang, dann schreitet dieser soweit voran, bis der Bogen bzw. Mäander seine maximal mögliche Ausdehnung erreicht hat. Wie schnell diese Verlagerung bzw. Ausdehnung vor sich geht und wie weit sich der Bogen überhaupt ausdehnen kann, hängt vom Flusstyp und dieser wiederum von den flussmorphologischen Rahmenbedingungen ab. Dazu zählen neben dem Abflussregime und der Sedimentverfügbarkeit auch das Gefälle des Talbodens und die sediment- und vegetationsbedingte Uferstabilität (Knighton 1998; Brierley und Fryirs 2005). Mit zunehmender Ausdehnung eines Flussbogens verringert sich das Gefälle des Gerinnes und damit die Fließgeschwindigkeit und die Möglichkeit, Geschiebe zu transportieren, immer mehr. Erste Ablagerungsprozesse im Flussbogen reduzieren zusätzlich die Transportkapazität und erschweren den Abflussprozess. Erreicht ein Flussbogen abhängig von den genannten Faktoren seine potenziell größte mögliche Ausdehnung, so wird er früher oder später im Zuge eines Avulsionsprozesses durch ein neues, kürzeres und damit steileres Gerinne, das eine größere „Stream power“ aufweist, abgekürzt. Das bedeutet, dass Verlandungsprozesse wie das allmähliche Verschwinden von Neben- oder Altarmen auch vor der Regulierung ganz normale Prozesse waren. Beweis dafür ist unter anderem das Vorhandensein dynamischer Altarme vom Typ Parapotamon A als Übergangsstadium von permanent durchströmten Nebenarmen zu einseitig angebundenen Altarmen. Das Beispiel der Oberen Mur zeigt, dass um 1812 rund ein Drittel aller Nebenarme Verlandungskandidaten waren. Dies war aber kein Problem, da andernorts ja wieder neue Nebenarme entstehen konnten. Eine signifikante Ab- oder gar Zunahme von Nebenarmen war nur zu erwarten, wenn sich die flussmorphologischen Kontrollfaktoren wie Abfluss- und Sedimentregime änderten.

Eine Untersuchung der aktuell im untersuchten Flussabschnitt vorhandenen Nebenarme unter Verwendung der vier von Mosselman (2001) definierten Kriterien ergibt, dass aktuell 11 von 18 Gewässer, somit 61 %, von Verlandung bedroht sind; darunter auch alle fünf der im Rahmen von LIFE-Projekten reaktivierten Alt- bzw. Nebenarme. Dieser theoretische Befund, dass die neu geschaffenen Nebenarme von Verlandung bedroht sind, wird durch den Vergleich von Orthofotos der letzten Jahre und Feldbegehungen gestützt (Abb. 7). Warum ist das der Fall, wo es sich doch dabei zumeist um historisch einstmals vorhandene Gewässer handelt?

Abb. 7
figure 7

Vergleich des 2014 neu angelegten Nebenarms bei Feistritz-St. Lorenzen im August 2015 (a) bei einem Abfluss von 44 m3/sec (76 % MQ) mit dem Zustand im September 2021 bei 34 m3/sec (59 % MQ; b). Wenn auch die Abflusssituationen nicht ganz vergleichbar sind, so ist eine zunehmende Verlandung im Nebenarm ersichtlich (Google Earth, Landsat/Copernicus)

Bei der Zugrundelegung historischer Informationen für die Restauration von Fließgewässern muss man sich dessen bewusst sein, dass solche Quellen (Karten, Ansichten, Berichte) meist nur eine Momentaufnahme eines früheren Zustands darstellen. So ist zum Beispiel anhand eines im Franziszeischen Kataster 1823/24 eingezeichneten Nebenarms nicht erkennbar, in welchem hydromorphologischen Entwicklungsstadium er sich befindet. Wurde damals gerade die Entstehung eines neuen Hauptgerinnes dokumentiert? Oder doch eher das Verlanden eines einst größeren und dynamischeren Arms? Diese Frage lässt sich nur in der chronologischen Zusammenschau mehrerer historischer Quellen klären (Hohensinner et al. 2013). Selbst eine 2D-tiefengemittelte hydrodynamische Simulation eines projektierten Nebenarms spiegelt meist nur einen stationären Zustand wider. Meist werden im Zuge solcher Modellierungen keine Sedimentationsprozesse mitabgebildet, es wird quasi von einem „eingefrorenen“ Zustand der Gerinnetopografie ausgegangen. Sind Ufer und Sohle nicht geschützt, so resultiert jedoch jeder Fließprozess in zeitlich potenziell sich selbst verstärkenden Erosions- und vor allem Sedimentationsvorgängen. Eine fortschreitende Verlandung im Einströmbereich kann deshalb nur mit höherem zeitlichem und damit finanziellem Aufwand simuliert werden. Die Tatsache, dass man in historischen Kartenwerken mehrere Nebengewässer erkennen kann, sagt noch nichts über deren Lebensdauer bzw. Vergänglichkeit aus. Vielmehr spiegelt sich darin die flussmorphologische Resilienz im Sinne eines „shifting habitat mosaics“ unregulierter Fließgewässer wider (Stanford et al. 2005).

Der konkrete Grund, warum vor allem die vor wenigen Jahren restaurierten Nebenarme an der Oberen Mur erheblich verlandungsgefährdet sind, ist primär in der Lage der Abzweigungen vom Hauptarm zu finden. Sämtliche dieser Abzweigungen befinden sich in Gleituferbereichen oder am Übergang zu derartigen Bereichen. Von Natur aus sind solche Areale entlang des Hauptarms aufgrund der dort vorherrschenden geringeren Fließgeschwindigkeiten von Verlandungsprozessen geprägt. Warum wurden dann diese Gewässer genau in solchen Bereichen neu geschaffen oder reaktiviert? Wie bereits zuvor erwähnt, sagt die Tatsache, dass historische Karten in einem bestimmten Areal Nebenarme aufweisen, nichts über die Lebensdauer dieser Gewässer aus. Es sprechen auch praktische Gründe für das Heranziehen dieser Flächen für Restaurationsmaßnahmen. So ist in (ehemaligen) Gleituferbereichen oft das Niveau des Geländes niedriger, was Baggerkosten spart. Ohne es im gegenständlichen Fall konkret recherchiert zu haben – solche Grundstücke befinden sich oft noch aus der Zeit der Regulierung in öffentlicher Hand, was ebenfalls für deren projektspezifische Nutzung spricht (Muhar et al. 2010). Selbst wenn solche Flächen im privaten Eigentum sind, so sind sie oft auch aufgrund des geringeren Geländeniveaus, des Flurabstands oder des Bewuchses von geringerem ertragswirtschaftlichem Wert. Es sprechen somit einige nachvollziehbare Punkte dafür, solche Flächen für Restaurationsmaßnahmen zu nutzen. Dies bedeutet aber nicht, dass es aus flussmorphologischer und naturschutzfachlicher Sicht langfristig optimal ist. Oft sind wiederholte Erhaltungsmaßnahmen wie der Einbau von Ablenkbuhnen erforderlich, um reaktivierte Nebengewässer zu erhalten. Mittel- und langfristig betrachtet kommt eine auf flussmorphologische Prozesse ausgerichtete Maßnahme jedenfalls günstiger, da Erhaltungsmaßnahmen meist nur sehr eingeschränkt notwendig sind.

6 Schlussfolgerungen

Die historische flussmorphologische Untersuchung der Oberen Mur sowie anderer Flüsse wie der Enns, Traisen und der Donau ermöglicht fundierte Erkenntnisse für eine langfristig erfolgversprechende Sanierung degradierter Fließgewässer (Haidvogl et al. 2011; Muhar et al. 2011; Hohensinner und Lotter 2020). Das grundlegende Problem bei der Planung von Restaurationsmaßnahmen ist – nicht zuletzt aus praktischen und finanziellen Gründen –, dass noch immer von einer zu statischen Betrachtungsweise der Fließgewässer und der Flusslandschaften ausgegangen wird. Was einmal im Rahmen eines Renaturierungsprojekts geschaffen wurde, soll möglichst lange Zeit in dem geplanten Zustand verharren oder einem vorgegebenen Entwicklungspfad folgen. Dynamische Prozesse sind oft nur kleinräumig möglich oder vorgesehen (vgl. einschränkende Rahmenbedingungen beim Projekt LIFE+ Traisen; Eberstaller et al. 2018; Hohensinner et al. 2020). Dabei sind Verlagerungs- und Umlagerungsprozesse als Schlüssel für eine langfristig erfolgreiche Habitatrestauration anzusehen. Ein neu geschaffener oder reaktivierter Flussarm unterliegt einem ständigen (natürlichen) Wandel. Liegt er an einer hydraulisch besonders optimalen Stelle, kann er durchaus langfristig Bestand haben. Die meisten werden jedoch früher oder später verlanden, sofern nicht aufwendige Instandhaltungsmaßnahmen vorgenommen werden. Um den Selbsterneuerungsprozess für aquatische Habitate in Gang zu setzen und langfristig zu gewährleisten, benötigen Fließgewässer Raum. Dies betrifft einerseits die Breite des für Umlagerungen zur Verfügung stehenden Korridors und andererseits die Möglichkeit der lateralen Migration (Ausweitung) von Flussbögen. Aus ökologischen aber auch aus finanziellen Gründen wäre „passiven“ oder „initiierenden“ Restaurationsmaßnahmen der Vorzug zu geben. Dies bedeutet im einfachsten Fall, Uferverbauungen zu entfernen, um Gerinneaufweitungen zu ermöglichen, kann aber auch den zusätzlichen Einbau von Ablenkbuhnen für eine verstärkte Prallufererosion umfassen. Dadurch könnte die Entwicklung eines Flussbogens initiiert werden, in dessen Entwicklungszyklus zwei Phasen zu beobachten wären. In der ersten Phase weitet sich der Bogen aus, wobei am Innenufer größere Gleituferbereiche mit Pionierstandorten entstehen. Passen die lokalen Rahmenbedingungen, so können sich bei fortgeschrittener Laufentwicklung in ausgedehnten Innenuferbereichen auch Neben- oder Altarme ausbilden (jedoch mit Ablaufdatum). In der zweiten Phase, nachdem der neue Flussbogen vom Fluss aufgegeben und der Lauf wieder verkürzt wurde, entsteht aus dem vormaligen Hauptarm ein neuer Neben- bzw. Altarm. Um solche flussmorphologischen Prozesse zu ermöglichen, bedarf es jedoch abschnittsweise eines sehr breiten, zur Verfügung stehenden Korridors. An der Oberen Mur wäre für den Ablauf beider Phasen aufgrund der vergleichsweise geringen Gerinne‑/Ufermigration von 2 bis 3 m im Mittel pro Jahr von einem jahrzehntelangen Prozess auszugehen.

Daher könnte man diesen Entwicklungszyklus auch umkehren, um rascher neue und vor allem großflächigere aquatische und (semi-)terrestrische Lebensräume zu schaffen. Bei entsprechender Flächenverfügbarkeit empfiehlt es sich dabei, Anleihen vom historischen Flussbau zu nehmen. Damals wurden zur Flussbegradigung Künetten im Augebiet oder durch größere Inseln gegraben, in die danach die Strömung hineingelenkt wurde. Der Fluss schürfte sich sein eigenes Bett aus, während sich der alte Lauf zeitgleich zu einem Neben- oder Altarm entwickelte. Die selbständige Ausweitung des neuen Flussbetts wurde durch zuvor im Boden eingebaute Blockwürfe (= späteres Ufer) begrenzt. Verwendet man diese Methode nicht zur Regulierung, sondern zur Schaffung neuer (semi-)aquatischer Lebensräume, so wären solche Sicherungen vorab nur dort anzubringen, wo es besonderen Schutzes bedarf (z. B. bei Infrastruktur). Eine solche ambitionierte Restaurationsmaßnahme sei hier exemplarisch für die Mur direkt flussab der Schnellstraßenbrücke bei St. Michael in der Obersteiermark skizziert (Abb. 8). In diesem Fall würde man einen neuen, kürzeren Flusslauf in Form eines schmalen Gerinnes ausheben, in das mittels Ablenk- und Fangbuhnen die Strömung geleitet werden würde. Das derzeitige Flussbett würde dabei nicht vollständig abgetrennt werden, sondern bei Mittelwasser als Nebenarm weiterhin dotiert werden. Für eine eigenständige dynamische Entwicklung des neuen Flussarms ist der sogenannte „bettbildende Abfluss“, einem ungefähren bordvollen Abfluss entsprechend, erforderlich. Dieser Abfluss entspricht an den meisten Flüssen einem ein- bis zweijährlichen Hochwasser und wird meist mit HQ1,5 angenommen (Van den Berg 1995; Powell et al. 2006; Klasz et al. 2016). Erst bei dieser Größe des Durchflusses im neuen Gerinne ist von einer merklichen Laufverlagerung auszugehen. Dieser Prozess würde vermutlich im dargestellten Beispiel über einige Jahrzehnte erfolgen. Dabei würden sich am Innenufer immer wieder neue Gleituferhabitate oder auch Altwässer bilden, während das Prallufer fortschreitender Erosion ausgesetzt ist. Damit würde auch laufend Geschiebe für die Unterliegerstrecke freigesetzt werden. Dieser Prozess würde sich solange fortsetzen, bis der neue Arm den aktuell bestehenden Flusslauf erreicht. Das derzeitige Flussbett würde sich zwischenzeitlich von einem Nebenarm zu einem großen Altarm entwickeln. Das Resultat wäre eine strukturreiche Flusslandschaft mit unterschiedlichen aquatischen und (semi-)terrestrischen Habitaten, die einem langfristigen ökologischen Sukzessionsprozess unterliegen.

Abb. 8
figure 8

Konzeptioneller Maßnahmenvorschlag für eine innovative „Redynamisierung“ dargestellt am Beispiel der Oberen Mur direkt flussab von St. Michael in der Obersteiermark (orange 1: Aushub eines Initialgerinnes, orange 2: Ablenk- und Fangbuhne für Umlenkung der Strömung, hellblau 3: Phasen der langfristigen Gerinneverlagerung, bestehendes Flussbett (Orthofoto) 4: späterer Neben- oder Altarm, gelb 5: lokaler Schutz von Infrastruktur)

Das historische Beispiel der Oberen Mur gibt Hinweise darauf, welche Rahmenbedingungen für einen zukunftsorientierten restaurationsökologischen Ansatz unter Einbeziehung der natürlichen Gewässerdynamik notwendig sind. Ziel ist es, dem Fluss die Möglichkeit einer eigenständigen Erneuerung seiner Habitate zu geben, die erforderlichen Instandhaltungsmaßnahmen zu minimieren und damit einen langfristigen Erfolg von Restaurationsmaßnahmen zu gewährleisten.