Der „AGA Therapiealgorithmus der Patellainstabilität“ (ATAPI) basiert auf der klinischen Untersuchung, der Bildgebung und dem daraus resultierenden Risikoprofil (Abb. 1). Nach der Anamnese und klinischen Untersuchung folgt die Röntgenabklärung des Kniegelenks in 3 Ebenen (a.-p., Patella seitlich und tangential). Ergänzend wird eine Magnetresonanztomographie (MRT) zum sicheren Ausschluss eines Knorpel-(Knochen‑)Abscherfragments, eine sog. Flake-Fraktur, empfohlen.

Abb. 1
figure 1

AGA Therapiealgorithmus der Patellainstabilität (ATAPI). (Mit freundl. Genehmigung, © 2023 AGA-Komitee-Knie-Patellofemoral, alle Rechte vorbehalten)

Die MRT ermöglicht außerdem die erweiterte Untersuchung anatomischer Risikofaktoren. Dazu zählen u. a. die Trochleadysplasie, die Patella alta und der TT-TG(Tuberositas tibiae zu Trochlea „groove“)-Abstand. Eine weiterführende Bildgebung zur Bestimmung der Beinachse in der Frontalebene (Ganzbeinröntgenaufnahme) und der Transversalebene (Torsions-MRT oder -Computertomographie [CT]) wird in Abhängigkeit von der klinischen Untersuchung empfohlen.

Risikoprofil

Um das individuelle Risikoprofil einer Reluxation zur erfassen, sind neben den anatomischen Risikofaktoren zusätzliche epidemiologische Parameter wie das Patientenalter und eine kontralaterale Instabilität relevant (Tab. 1). Für weitere Faktoren wie Geschlecht, Aktivitätsniveau, generelle Hyperlaxizität oder Body-Mass-Index (BMI) fehlt ein höherer Evidenzgrad [17].

Tab. 1 Risikofaktoren einer Patellareluxation

Das Risiko einer Reluxation in Abhängigkeit der vorliegenden Risikofaktoren wurde u. a. von Lewallen et al., Balcarek et al., Jaquith und Parikh, Arendt et al., und Hevesi et al. ermittelt (Tab. 2; [1, 2, 16, 19, 22]).

Tab. 2 Reluxationsrisiko in Abhängigkeit der Anzahl an vorliegenden Risikofaktoren

Alle Autoren zeigen, dass die Trochleadysplasie (1), junges Patientenalter (2) und/oder offene Wachstumsfugen wesentliche Risikofaktoren zur Einschätzung einer Reluxation sind. Drei der 5 Studien zeigen, dass der Patellahochstand (3) ein relevanter Risikofaktor ist. Die Definition einer Patella alta variiert jedoch (Insall-Salvati > 1,2 und ≥ 1,3; Caton-Deschamps > 1,2 und > 1,45). Hier dienen weitere Messmethoden zur Beurteilung der patellotrochleären Überlappung in der MRT, wobei die Aufnahmetechnik hinsichtlich Kniestellung und Muskelkontraktion einen relevant Einfluss auf die Beurteilung einer Patella alta haben [4, 5].

Jeweils eine weitere Studie zeigt, dass der erhöhte TT-TG-Abstand (4) und eine kontralaterale Instabilität (5) relevante Risikofaktoren einer Reluxation sind.

Der Patellar-Instability-Probability(PIP)-Rechner stellt ein zusätzliches Tool zur Risikoeinschätzung einer Reluxation dar (Abb. 2). Dieser basiert auf den Faktoren Patientenalter, Trochleadysplasie und kontralaterale Instabilität [32].

Abb. 2
figure 2

QR-Code für den Patellar-Instability-Probability-Rechner (www.pipmyknee.com)

Weitere Faktoren wie das Genu valgum und eine Torsionsfehlstellung wurden als relevante anatomische Risikofaktoren beschrieben, aber in den genannten Studien zur Risikoeinschätzung einer Rezidivluxation bislang nicht ausreichend untersucht. Dennoch werden sie als integraler Bestandteil einer individuellen Therapieplanung (Tab. 1) gesehen [11, 15, 20, 33].

Therapie

Die konservative Therapie wird empfohlen, wenn keine Flake-Fraktur bei niedrigem Risikoprofil vorliegt. Sollte es zu einer Rezidivluxation kommen, wird nach Reevaluation des Risikoprofils die operative Therapie angestrebt.

Rezente Meta- und Netzwerkanalysen berichten neben der Reduktion der Reluxationsrate und Instabilität auch eine statistisch signifikante Verbesserung subjektiver Werte (Kujala-Score) nach operativer Therapie im Vergleich zur konservativen Therapie. Dabei zeigt die Rekonstruktion des medialen patellofemoralen Ligaments (MPFL) signifikant bessere Ergebnisse als die MPFL-Naht und stellt somit den Grundpfeiler der operativen Therapie dar. Weitere Zusatzeingriffe sollten je nach Risikoprofil in Erwägung gezogen werden, um einer Rezidivinstabilität vorzubeugen.

Aufgrund der teils heterogenen Studienlage ist ein positiver Effekt der operativen Therapie bei Erstluxation ohne osteochondrale Läsion auf das mittel- bis langfristige Ergebnis in Abhängigkeit der jeweiligen Therapierisiken noch nicht abschließend geklärt [3, 7, 12, 18, 23, 24, 28, 30, 31].

Das historische Dogma, dass jede Erstluxation konservativ zu behandeln ist, wird durch die Evaluation des individuellen Risikoprofils und einer daraus resultierenden Therapieempfehlung abgelöst.

Das Vorliegen einer Flake-Fraktur stellt die Indikation zur operativen Therapie. Hierbei sollte eine Refixation des Fragments, soweit Größe und Beschaffenheit dies zulassen, angestrebt werden. Sollte eine Refixation nicht mehr möglich sein, kommen Techniken wie die einzeitige Implantation partikulierter autologer Knorpelgewebe („minced cartilage“), autologe matrixinduzierte Chondrogenese (AMIC) oder die autologe Knorpelzelltransplantation (ACT) zur Anwendung.

Die isolierte Therapie der Flake-Fraktur ohne Adressierung des MPFL führt zu einer hohen Reluxationsrate, sodass eine zeitgleiche MPFL-Rekonstruktion bzw. in ausgewählten Fällen eine MPFL-Refixation/-Naht empfohlen wird. Dabei bietet sich die MPFL-Rekonstruktion mittels gestielten Quadrizeps- oder Patellarsehnenstreifen an, um einen Tunnelkonflikt mit dem refixierten Flake an der Patella zu vermeiden. Je nach Risikoprofil werden weitere Zusatzeingriffe in Erwägung gezogen [6, 8,9,10, 13, 14, 21, 25,26,27, 29].

Fazit für die Praxis

  • Das individuelle Risiko einer Reluxation wird anhand anatomischer und epidemiologischer Parameter bestimmt.

  • Bei niedrigem Risikoprofil ohne Flake-Fraktur wird primär die konservative Therapie empfohlen.

  • Bei hohem Risikoprofil und/oder Flake-Fraktur wird die operative Therapie empfohlen.

  • Die Rekonstruktion des medialen patellofemoralen Ligaments (MPFL) stellt den Grundpfeiler der operativen Therapie dar.

  • Weitere Zusatzeingriffe werden je nach Risikoprofil in Erwägung gezogen.

  • Je nach Größe und Zustand der Flake-Fraktur werden die Refixation, Resektion oder knorpelrekonstruktive Verfahren angestrebt.