Zusammenfassung
Dem sog. Anschluss vom März 1938 folgte die Verdrängung „jüdischer“ Ärztinnen und Ärzte aus Wien mit höherem Tempo und noch größerer Brutalität als im „Altreich“. Nach nationalsozialistischen (NS) Kriterien als „nichtarisch“ galten an der Universität Wien 92 % der Neurologen. Zentrale Vertreter werden exemplarisch vorgestellt. Von Vertreibung betroffen waren so prominente Persönlichkeiten wie der Leiter des Neurologischen Instituts Otto Marburg (1874–1949), ein namhafter Multiple-Sklerose-Forscher, und sein Schüler Ern(e)st Spiegel (1895–1985), ein Pionier der Stereotaxie. Ähnlich wie in Berlin wurden auch außeruniversitäre „Nervenabteilungen“ von Ärzten geleitet, die als Professoren der Hochschule amtierten. Zu ihnen zählen Josef Gerstmann (1878–1967) und sein Mitarbeiter Ilya Mark Scheinker (1902–1954). Während die vier Genannten ihre Karriere in den Vereinigten Staaten fortsetzten, konnte der Begründer der Neuroradiologie Arthur Schüller (1874–1957) nach Australien fliehen. Zur kleinen Gruppe der Remigranten gehört Hans Hoff (1897–1969), der 1950 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie berufen wurde. Außergewöhnlich erscheint das Schicksal der Nervenärzte Ernst Sträussler (1872–1959) und Erwin Stransky (1877–1962), die als Angehörige der Psychiatrisch-neurologischen Universitätsklinik zwar entlassen und mit Berufsverbot belegt wurden, aufgrund ihrer „arischen“ Ehefrauen jedoch von weitergehenden Verfolgungen verschont blieben. Insgesamt verlor das neurologische Wien innerhalb kurzer Zeit einen Großteil seiner hochangesehenen Kliniker und Forscher, die ihre Ideen und Innovationen nach 1945 teilweise im Ausland weiterentwickelten.
Abstract
Austria’s so-called annexation (Anschluss) to Germany from March 1938 was followed by the ousting of “Jewish” doctors out of Vienna which happened faster and with more brutality than in the “Old Reich”. According to National Socialist (NS) criteria, 92% of the neurologists at Vienna University were understood as being “non-Aryan”. Victims of these expulsions were prominent figures, such as the head of the Neurological Institute Otto Marburg (1874–1949), a renowned multiple sclerosis researcher, and his pupil Ern(e)st Spiegel (1895–1985), a pioneer of stereotaxis. Similar to Berlin, nonuniversity departments of neurology were run by doctors who served as professors at the university, e.g., Josef Gerstmann (1878–1967) and his assistant Ilya Mark Scheinker (1902–1954). While these four continued their careers in the USA, the founder of neuroradiology Arthur Schüller (1874–1957) was able to flee to Australia. Hans Hoff (1897–1969) was part of the small group of returning emigrants, who in 1950 was appointed as the chair of psychiatry and neurology. The fate of the neurologists Ernst Sträussler (1872–1959) and Erwin Stransky (1877–1962) appears to be exceptional: both were dismissed and banned from teaching and practicing, but being married to “Aryan” wives spared them further persecution. Overall, within a short period of time neurology in Vienna lost a large number of its highly respected clinicians and researchers. Some of them refined their ideas and innovations abroad after 1945.
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Martin, M., Fangerau, H. & Karenberg, A. Radikalisierung und „forcierte Emigration“: die Entlassung und Vertreibung von Neurowissenschaftlern und Neuropsychiatern aus Wien. Nervenarzt 93 (Suppl 1), 80–91 (2022). https://doi.org/10.1007/s00115-022-01326-x
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- Zwangsemigration
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- Geschichte der Neurologie
- Geschichte der Neurowissenschaften
- Medizin im Nationalsozialismus