Zusammenfassung
Um die Mechanismen und Hintergründe der Verfolgung und Vertreibung vor allem als „jüdisch“ etikettierter Ärztinnen und Ärzte im nationalsozialistischen Deutschland begreiflich zu machen, skizziert der vorliegende Aufsatz deren schrittweise Entrechtung durch Gesetze und Verordnungen in den Jahren von 1933 bis 1939. Da der öffentlich wahrnehmbare Terror unmittelbar nach der Machtübernahme in weiten Teilen der Gesellschaft auf Ablehnung stieß, setzte das Regime bereits frühzeitig auf vermeintlich legale Formen der Ausgrenzung. Mit dem Berufsbeamtengesetz vom 07.04.1933 konnten „nichtarische“ (§ 3) und politisch unzuverlässige (§ 4) Personen, notfalls auch ohne weitere Angabe von Gründen (§ 6), aus dem Dienst entfernt werden. Allerdings schränkten eine Altbeamtenregel sowie das „Frontkämpferprivileg“ die beabsichtigte Wirkung z. B. in der Hochschulmedizin aus Sicht der Machthaber in ungeahnter Form ein. Das Reichsbürgergesetz von 1935 führte als Teil der sog. Nürnberger Gesetze das Kriterium der „Deutschblütigkeit“ ein und resultierte in einer zweiten großen Entlassungswelle. Jenseits der Universitäten zielte eine Fülle weiterer diffamierender Rechtsnormen – von der Regelung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen und dem Gesetz über Ehrenämter (beide 1933) über den sog. Flaggenerlass (1937) bis hin zum Entzug der Approbation (1938) – auf die sukzessive „Ausschaltung“ jüdischer Medizinerinnen und Mediziner, die für nicht wenige von ihnen im Holocaust endete. Diese sich über Jahre erstreckende Vorgehensweise, die auf einer eigens konstruierten Jurisdiktion basierte, ist im Rückblick sehr treffend als „legales Unrecht“ bezeichnet worden.
Abstract
In order to provide a deeper understanding of the mechanisms and background leading to the persecution and expulsion, particularly of physicians labelled as “Jewish” in Nazi Germany, this article outlines their gradual disenfranchisement, through laws and decrees in the years 1933–1939. As the publicly visible terror immediately after the Nazi takeover was rejected in large parts of society, the regime resorted early on to supposedly legal forms of exclusion. With the Law for the Restoration of the Professional Civil Service of 7 April 1933, “non-Aryan” (§ 3) and politically unreliable (§ 4) persons could be removed from office, if necessary, even without any further comment (§ 6). However, regulations for long-standing civil servants as well as the “front-line fighter privilege” reduced the desired effect, e.g. in university medicine in a way that was not intended by those in power. The Reich Citizenship Law of 1935, as part of the so-called Nuremberg Laws introduced the criterion of “German blood”. This resulted in a second large wave of dismissals. Outside the universities, a plethora of further defamatory legal norms, from the regulation on the approval of physicians for activities with the health insurances and the Law on Honorary Appointments (both in 1933), the so-called Flag Decree (1937) and withdrawal of the approbation (1938), aimed at the gradual “elimination” of Jewish physicians, which for many of them ended in extermination in the Holocaust. This practice implemented over years was based on a jurisdiction devised especially for that purpose and in hindsight it has been perfectly defined as “legal injustice”.
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Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Michael Martin ist nach Ende der gemeinsamen Arbeit am Manuskript verstorben.
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Martin, M., Karenberg, A. & Fangerau, H. Legalisierte Entrechtung: zur juristischen Konstruktion von Entlassung und Vertreibung im Nationalsozialismus. Nervenarzt 93 (Suppl 1), 9–15 (2022). https://doi.org/10.1007/s00115-022-01308-z
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